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ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
61
2016
1937 Dronsch Strecker Vogel
Rainer Kampling Antijudaismus im Neuen Testament - Zur Erkundung der Relevanz einer theologischen Kategorie Steve Mason Das antike Judentum als Hintergrund des frühen Christentums Dagmar Börner-Klein Was ist Rabbinisches Judentum? Manuel Vogel Von der schlechten Gewohnheit, schlecht über einander zu reden: Hellenistisch-römische Selbst- und Fremdwahrnehmungen der Judäer im Kontext antiker Ethnographie Parting(s) of the ways? James D.G. Dunn vs. Tobias Nicklas Martin Rothgangel / Julia Spichal Antijudaismus in Schulbüchern und Lehrplänen: Zwischen Reform und Stagnation Buchreport PERSPEKTIVEN DES JÜDISCHEN ISSN 1435-2249 ZEITSCHRIFT NEUES TESTAMENT F Ü R Das Neue Testament in Universität, Kirche, Schule und Gesellschaft Herausgegeben von Stefan Alkier, Eckart Reinmuth, Manuel Vogel Heft 37 · 19. Jahrgang (2016) Impressum Inhalt Heft 37 · 19. Jg. (2016) Herausgeber Stefan Alkier Eckart Reinmuth Manuel Vogel in Verbindung mit Peter Busch Kristina Dronsch Ute E. Eisen Richard B. Hays Matthias Klinghardt Tobias Nicklas Hanna Roose Günter Röhser Angela Standhartinger Christian Strecker François Vouga Anschrift der Redaktion Prof. Dr. Manuel Vogel Friedrich-Schiller-Universität Theologische Fakultät Fürstengraben 6 07743 Jena Manuskripte Zuschriften, Beiträge und Rezensionsexemplare werden an die Adresse der Redaktion erbeten. Eine Verpflichtung zur Besprechung unverlangt eingesandter Bücher besteht nicht. Anzeigen Narr Francke Attempto Verlag Telefon: (0 70 71) 97 97-0 Bezugsbedingungen Die ZNT erscheint halbjährlich (April und Oktober) Einzelheft: € 26,50 zuzügl. Versandkosten Bezugspreis jährlich: € 42,- Vorzugspreis für Studenten jährlich Print: € 32,- Bezugspreis jährlich Print+Online: € 52,00 © 2 016 · Narr Francke Attempto Verlag Alle Rechte vorbehalten ISSN 1435-2249 Umschlagentwurf: Werner Rüb, Bietigheim-Bissingen. Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Tübingen Dischingerweg 5 · 72070 Tübingen Telefon (0 70 71) 97 97-0 · Telefax (0 70 71) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Editorial Editorial .............................................................. 1 Neues Testament Rainer Kampling aktuell Antijudaismus im Neuen Testament - Zur Erkundung der Relevanz einer theologischen Kategorie............................ 3 Zum Thema Steve Mason Das antike Judentum als Hintergrund des frühen Christentums .................................... 11 Dagmar Börner-Klein Was ist Rabbinisches Judentum? ...................... 23 Manuel Vogel Von der schlechten Gewohnheit, schlecht über einander zu reden: Hellenistisch-römische Selbst- und Fremdwahrnehmungen der Judäer im Kontext antiker Ethnographie...................... 35 Kontroverse Einleitung zur Kontroverse Parting(s) of the ways? (Manuel Vogel) .................................................... 47 James D.G. Dunn Juden und Christen: Ein Dialog mit Tobias Nicklas .......................... 48 Tobias Nicklas Juden und Christen? Sollen wir weiter von den Wegen sprechen, die sich trennten? .... 53 Hermeneutik Martin Rothgangel / Julia Spichal und Vermittlung Antijudaismus in Schulbüchern und Lehrplänen: Zwischen Reform und Stagnation .. 58 Buchreport Daniel Boyarin Die jüdischen Evangelien. Die Geschichte des jüdischen Christus (rez. von Manuel Vogel) .................................... 67 ZNT 37 (19. Jg. 2016) 1 Editorial Liebe Leserin, lieber Leser, das Thema des aktuelles Heftes der ZNT heißt nicht einfach »Judentum«. Vielmehr haben wir versucht, die Themenformulierung so weit als möglich zu öffnen und zu verflüssigen, um deutlich zu machen, dass wir jedenfalls nicht meinen, uns einer feststehenden Größe annähern zu können. Zumal auf dem Boden des Neuen Testaments sind allenfalls »Perspektiven des Jüdischen« möglich, in der doppelten Bedeutung des subjektiven und objektiven Genitivs, sodass »das Jüdische« als Gegenstand wie auch als Standpunkt der Betrachtung vorkommt. Mit Blick auf die neutestamentlichen Schriften lässt sich beides gar nicht trennen. Oder anders: Wie sich beides zueinander verhält, ist bis heute eine offene Frage, denn der weithin jüdische Charakter der neutestamentlichen Schriften ist mittlerweile genauso unbestritten, wie das Neue Testament von Christen fraglos als Teil der christlichen Bibel gelesen wird. Man kann sagen: Die Neutestamentliche Wissenschaft ist dasjenige Fach innerhalb der christlichen Theologie, dem die Aufgabe zufällt, diese Doppelperspektive zu erforschen und zu verstehen. Dass damit freilich immer auch ihre eigenen Vorannahmen in Frage stehen, zeigt gleich der erste Beitrag von Rainer Kampling unter der Rubrik »NT aktuell«. Kampling führt anhand der wichtigsten forschungsgeschichtlichen Wegmarken die Schwierigkeiten vor, die sich ergeben, sobald man sich dem Phänomen »Antijudaismus im Neuen Testament« zu nähern versucht: Ist »das Christentum« ausweislich seiner Gründungsdokumente von Anfang an »antijüdisch«? Oder geht es um binnenjüdische Konflikte des pluralen Judentums des 1. Jh.? Oder genügt keiner dieser beiden Zugänge? Der erste Beitrag »Zum Thema« von Steve Mason macht deutlich, dass schon die Verwendung des Begriffs »Judentum«-- für sich selbst und erst Recht als Gegenbegriff zu »Christentum«-- auf Vorannahmen beruht, die quellensprachlich nicht gedeckt sind. Unversehens gerät man bei der Lektüre des Beitrages in die Weite und Vielfalt der hellenistisch-römischen Welt, in der es keine »Religion« namens »Judentum« gab, wohl aber »Judäa« und »Judäer« mit ihren besonderen Gesetzen, Bräuchen und ihrer besonderen Weise der Gottesverehrung. Manuel Vogel schließt an diesen Beitrag insofern an, als auch er das »Judentum« aus seinem starren Gegenüber zum »Christentum« löst und es in den Horizont antiker Ethnographie stellt. Abermals wird erkennbar, dass der antike Diskurs nicht zwischen »Religionen« unterschied, sondern zwischen Ethnien, und dass »die Judäer« (wie sie nun korrekterweise heißen) sich in einem antiken Wettbewerb positionierten, der (vorwiegend aus griechischer und römischer Perspektive) die Vorzüge der eigenen Geschichte und Kultur nach Kräften herausstellte. Mit dem Beitrag von Dagmar Börner-Klein erschließt das Heft eine weitere »Perspektive des Jüdischen«, die keinesfalls fehlen darf und doch in der neutestamentlichen Forschung vielfach nicht die gebührende Beachtung erfährt, nämlich das rabbinische Judentum. Der Beitrag führt anhand ausgewählter Quellentexte aus der rabbinischen Literatur in die Eigenart rabbinischen Denkens ein, das sich Außenstehenden nicht leicht erschließt, das aber bei näherem Hinsehen durch seinen schriftgelehrten Scharfsinn und seine eigentümliche Diskussionskultur für sich einnimmt. Die von James D.G. Dunn und Tobias Nicklas bestrittene Kontroverse des Heftes nimmt ein Thema auf, das die neutestamentliche Forschung seit zweieinhalb Jahrzehnten nachhaltig beschäftigt: Das »Auseinandergehen der Wege« (»Parting of the ways«) zwischen Jesusbewegung bzw. frühem Christentum und antikem Judentum. Das Gespräch zwischen Dunn und Nicklas führt vor Augen, dass auch hier keine einfachen Antworten möglich sind, v. a. aber, dass man keinesfalls schon für das 1. Jh. (und das heißt: für die neutestamentlichen Schriften) von einer Trennung beider Größen ausgehen kann. Die Rubrik »Hermeneutik und Vermittlung« ist im aktuellen Heft dem Bereich der Schulbuchforschung gewidmet. Martin Rothgangel und Julia Spichal vermitteln einen Eindruck von der Kunst des Verfassens von Schulbuchtexten: Die Herausforderung besteht, soweit es um biblische Themen geht, stets darin, den Ertrag differenzierter exegetischer Debatten in Texten abzubilden, die nur scheinbar einfach sind, tatsächlich aber in jeder Formulierung sorgfältig gearbeitet sein wollen. Der Beitrag zeigt anhand ausgewählter Schulbuchtexte das Bemühen, antijüdische Stereotype in Darstellungen Jesu und der frühen Christen zu vermeiden. 2 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Editorial Der von Manuel Vogel verfasste ausführliche Buchreport stellt das im vergangenen Jahr auf Deutsch erschienene Buch »Die jüdischen Evangelien« von Daniel Boyarin vor. Als jüdischer Talmud-Gelehrter eröffnet Boyarin »Perspektiven des Jüdischen« auf die synoptischen Evangelien, die geeignet sind, einige etablierte Denkschemata christlicher Exegese neu auf die Tagesordnung zu setzen und in ihrer Selbstverständlichkeit zu hinterfragen. Boyarin plädiert u. a. für ein Verständnis von »hoher Christologie« nicht als »christliche Innovation«, sondern als ureigene Denkmöglichkeit biblisch-jüdischer Tradition. In eigener Sache begrüßen wir Frau Prof. Dr. Angela Standhartinger im erweiterten Kreis der Herausgeberinnen und Herausgeber der ZNT. Wir heißen sie an dieser Stelle herzlich willkommen und freuen uns auf die Zusammenarbeit. Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, wünschen wir eine ertragreiche Lektüre. Stefan Alkier Eckart Reinmuth Manuel Vogel ZNT 37 (19. Jg. 2016) 3 1. Ein Wort zuvor 1 Der Begriff Antijudaismus, dessen Funktion in der Historiographie als einigermaßen geklärt gelten kann, 2 hat im Jahr 2013 eine bemerkenswerte Aufwertung erfahren, und zwar durch David Nirenbergs Buch Anti- Judaism. The Western Tradition. 3 Nach Nirenberg ist der Antijudaismus keine periphere Erscheinung der Vergangenheit, sondern gehört konstitutiv zum westlichen Denken als Deutungsgröße negativer Erscheinungsformen hinzu. Das Konstrukt des Juden als des Anderen ist mithin ein epistemischer Grundpfeiler der westlichen Ideengeschichte. Dabei geht es nach Nirenberg nicht um »reale« Juden, sondern um die Idee vom »Juden«, die in je verschiedenen historischen Kontexten funktionalisiert werden konnte. Dieses Buch von David Nirenberg hat im englischsprachigen Raum große Beachtung gefunden, auch außerhalb wissenschaftlicher Diskurse. Das liegt zweifelsohne auch daran, dass hier in einem weit ausgreifenden Narrativ Vernetzungen und Verknüpfungen hergestellt werden, die Bekanntes, oft Disparates zusammenfügen und durch das behauptete konstituierende Gemeinsame den Antijudaismus als Zusammenhängendes und Kontinuierliches erweisen. Freilich immunisiert sich David Nirenberg weitgehend gegen historische Nachfragen und Überprüfbarkeiten. Unschwer ist zu erahnen, welche Texte als Basis für diese Kategorie vom Juden als Anderen herangezogen werden. Auch wenn Nirenberg pagane, hellenistische Texte erwähnt, so ist es doch das Neue Testament, das er als für die gesamte westliche Kultur und den ihr innewohnenden Antijudaismus grundlegend ansieht. Bis zur frühen Neuzeit bestehe der Antijudaismus weithin in Variationen der neutestamentlichen Vorgaben, die freilich nach dem Transfer des Antijudaismus in nichtreligiöse Kontexte weiterhin den Subtext bildeten. Es zeigt sich, dass das Thema Antijudaismus im Neuen Testament je neu aktuell wird. Die vorliegenden Reflexionen haben insofern einen Anknüpfungspunkt an David Nirenberg, als es darum zu tun ist, einen Versuch des Verstehens zu unternehmen, worin das bleibend Aufstörende dieses Themas begründet ist. Diese Überlegungen zum Antijudaismus haben ihren Ort in der theologischen Arbeit. Damit unterscheiden sie sich signifikant von denen in anderen wissenschaftlichen Disziplinen. 4 Zweifelsohne wird auch hier danach zu fragen sein, was die antijüdischen Polemiken und Aktionen für die bedeuteten, die deren Opfer waren. Doch ist im Rahmen der Theologie ebenso danach zu fragen, wie sehr der Antijudaismus nach innen schädlich war, insofern er als Entstellung der biblischen Botschaft gelten muss. An einem Beispiel aus der Geschichte der Exegese sei das illustriert: Origenes beschreibt in seinem Matthäuskommentar das Verhältnis von Christus, Synagoge und Kirche folgendermaßen: 5 Die Synagoge ist die erste Gattin Christi. Er kündigt ihr die Treue und scheidet sich von ihr, weil er Mängel an ihr findet. Während die Synagoge sich den Teufel zum Mann nimmt, erwählt Christus die Kirche aus den Heiden. Der Preis, den Origenes für diese Interpretation zahlen muss, ist hoch. Denn trotz seiner Erklärungen bleibt es bei der Aussage: Christus ist untreu geworden. Der Antijudaismus hat die Vorstellung eines wankelmütigen untreuen Gottes als Voraussetzung. Nach dem Antijudaismus in der Theologie, der Kirche und der Geschichte der christlichen Kirchen zu fragen bedeutet zugleich, danach zu fragen, was er dem Wort Gottes und denen, die es hörten, angetan hat. 2. Ein Blick in die Geschichte Die Annahme, dass das Neue Testament eine antijüdische Schrift ist, war für Generationen von Schriftauslegern fraglos. Seit Beginn der christlichen Spätantike wurde es unter dieser Voraussetzung interpretiert. Es war mithin eine gängige Lesart. Auch wenn es in der Spätantike, im Mittelalter und in der frühen Neuzeit Anfragen an dieses Konzept gab, die wohl immer noch nicht ausreichend erforscht sind, 6 so kann diese Aussage in ihrer Grundsätzlichkeit bestehen bleiben. Nicht nur der Galaterbrief, wie Tertullian meinte, 7 war contra Iudaeos geschrieben, sondern alle Texte des Neuen Testaments konnten gleichsam als Adversus-Iudaeos-Literatur gelesen werden. Diese Lesart hat die Jahrhunderte überdauert, und das Modell der Selbstfindung durch Abgrenzung fand auch Eingang in die neuzeitliche Exegese. 8 Rainer Kampling Antijudaismus im Neuen Testament - Zur Erkundung der Relevanz einer theologischen Kategorie Neues Testament aktuell 4 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Neues Testament aktuell […] entsprang hier das Licht; sondern, wie Johannes sagt, aus einem mit hartem Dunkel umschlossenen hellen Lichte. Ein so sonderbarer Schritt mußte geschehen, damit das Licht hervorbräche; eben aus dem harten Judenthum entsprang der reinste Anti-Judaismus, Religion der Völker.« Nun spiegelt sich in dieser Aussage fraglos der Nationen- und Volksbegriff Herders wider. 15 Aus dem Judentum entsteht dessen Negierung, das Christentum mit seinem behaupteten universalen Charakter. Damit wird der Begriff zu einer Kurzformel des Verhältnisses zwischen Judentum und Christentum. Mit ihm können, wie die weitere Entwicklung in der neutestamentlichen Exegese des 19. Jahrhunderts zeigt, 16 die Haltung der christlichen Akteure, ihre Aktionen und die Tendenz ihrer Schriften benannt werden, und zwar mit einer positiven Konnotation. Durch die Schriften von Ferdinand Christian Baur (1792-1860) wurde die Kategorie Antijudaismus endgültig etabliert und das Gemeinte wissenschaftlich diskutiert. Bei Baur wurde das Wort Antijudaismus bzw. antijüdisch zu einem heuristischen Mittel der Neuschreibung frühchristlicher Geschichte. Da er es auch bei der Unterscheidung von Paulinen und Deuteropaulinen einsetzte, waren die folgenden heftigen Kontroversen vorgezeichnet. Es lässt sich feststellen, dass auch die, die dieses Kriterium zur Beurteilung der Echtheit neutestamentlicher Schriften ablehnten, durchaus bereit waren, die Konzeption eines Antijudaismus zu übernehmen und sie auf fast alle Schriften des Neuen Testaments anzuwenden. Nun könnte man vielleicht vermuten, der aufkommende rassistische Antisemitismus des 19. Jahrhunderts hätte Exegeten veranlasst, mit der Zuschreibung des Antijudaismus an das Neue Testament zurückhaltender umzugehen. Es gab aber sehr wohl exegetische Positionen, die das Neue Testament in Einklang mit der neuen politischen Bewegung bringen konnten. In dieser Sicht hatten die neutestamentlichen Autoren mit dem ihnen eigenen Antijudaismus eine antizipierende Funktion. 1Thess 2,15 f. wird zu einem Basistext für die Konstruktion einer Geschichte des Antisemitismus stilisiert, nicht nur von Exegeten, aber auch von Exegeten. Unschwer kann man bei diesen Autoren den Willen feststellen, die Bibel an gesellschaftlichen Prozessen teilhaben zu lassen, um sie als aktuell und zeitgemäß erscheinen zu lassen. Der hohe Wissenschaftsanspruch der Exegese des 19. Jahrhunderts sorgte dafür, dass solche Aussagen als Ergebnisse objektiven Arbeitens angesehen, angenommen und verbreitet wurden. Es gab selbstredend auch im 19. Jahrhundert solche Exegeten, die sich dem Mainstream widersetzten. Als Sammelbegriff ist im Bibliothekssystem und in Bibliographien des 18. Jahrhunderts die Bezeichnung Anti-Iudaica nachweisbar. 9 Darunter wurden Schriften zusammengefasst, deren Inhalt auf Widerlegung, Ablehnung und Polemik gegen Judentum und jüdischen Glauben zielte. Ganz offensichtlich wird damit ein Wissen um die Besonderheit dieser literarisch-theologischen Gattung und die ihr zugrundeliegenden gemeinsamen Aspekte angezeigt. Von diesem Gebrauch ist dann wohl auch die Begriffsbildung des Wortes Antijudaismus herzuleiten, mit dem diese gegen das Judentum gerichtete Tendenz und Gesinnung benannt wird. Der Begriff begegnet vermutlich 10 erstmals 1794 bei Johann Friedrich Kleuker, (1749-1827), 11 und zwar in Ausführungen zum Jakobus-Brief: »Dem Briefe selbst wird dadurch aber nichts von seinem innern Werthe benommen; vielmehr lernt man daraus, daß es neben den zwölf Aposteln einen Jacobus als Diener Christi gegeben hat, der seinen eigenen Charakter trug,-- den Charakter der Innigkeit und Strenge, der Weisheit und Milde,-- der das Mittel hielt zwischen dem Anti-Judaismus eines Paulus und der peinlichen Anhänglichkeit am Aeußern des Judenthums […].« 12 Dass Kleuker ohne jede Erklärung von einem »Anti-Judaismus eines Paulus« sprechen kann, wird man wohl so lesen dürfen, dass er bei seinen Lesern ein Wissen um das Gemeinte voraussetzen konnte. Tatsächlich war die Vorstellung von Paulus als Antijudaist im 18. Jahrhundert bereits etabliert. 13 Wenige Jahre später findet sich der Begriff bei dem mit Kleuker bekannten Johann Gottfried von Herder in seinem 1798 veröffentlichen Werk Von Religion, Lehrmeinungen und Gebräuchen; 14 es heißt in § 26: »Offner Gang der Vorsehung! Nicht aus dem tiefsten Dunkel Prof. Dr. Rainer Kampling, geb. 1953, ist seit 1992 Professor für Biblische Theologie/ NT an der Freien Universität Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählt die Theologie und Geschichte der Jüdisch-Christlichen Beziehungen. Er ist Mitglied des Direktoriums des Zentrums Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. Prof. Dr. Rainer Kampling ZNT 37 (19. Jg. 2016) 5 Rainer Kampling Antijudaismus im Neuen Testament Hier sei nur der Name Franz Delitzsch genannt. 17 Bemerkenswerterweise waren es oft konservative Wissenschaftler, die in der Vorstellung eines Antijudaismus im Neuen Testament als Deutungskategorie eine historische Entwurzelung der Schriften sahen. Genauerhin waren es zumeist solche, die an der Frühdatierung neutestamentlicher Schiften festhielten. Damit befanden sie sich im 19. Jahrhundert in einer zweifach begründeten Minderheitenposition. Die Exegese des 19. Jahrhunderts hat die traditionelle Vorstellung des Antijudaismus im Neuen Testament nicht nur übernommen, sondern wissenschaftlich fundiert. Da das Thema nicht am Rand der exegetischen Debatten stand, sondern mit deren Zentren verbunden war, war es mit methodischen und hermeneutischen Fragen auf das Engste verschränkt. Es gibt wenig Grund daran zu zweifeln, dass auf die Frage, ob das Neue Testament Antijudaismus enthalte, die meisten Exegeten des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts ohne Zögern mit »Ja« geantwortet hätten. Der behauptete Antijudaismus im Neuen Testament wurde nicht etwa als Problem empfunden, sondern vielmehr als eine historische und theologische Selbstverständlichkeit angesehen. Er war Beleg für die Entwicklung einer vom Judentum losgelösten, selbstständigen Religion. Zu welchen Auswüchsen das während der Zeit des Nationalsozialismus geführt hat, in der bemerkenswert zahlreiche Exegeten sich zu Handlangern der rassistischen Ideologie machten, bedarf hier keiner eigenen Ausführungen. 18 3. Die Infragestellung oder: Beim Wort genommen Dass die Aufarbeitung dieser Verstrickung so lange Zeit in Anspruch nahm, ist angesichts des Beschweigens in beiden deutschen Staaten wenig verwunderlich. Die Wenigen, die sich äußerten, ergingen sich in Entschuldungsmythen. Viele exegetische Arbeiten der 50er und frühen 60er Jahre lassen erkennen, dass ein Umdenken in der exegetischen Wissenschaft nicht eingesetzt hatte. Die Anfrage an das Konzept des Antijudaismus im Neuen Testament kam daher von außen. 19 Sie ist unlöslich mit dem Namen Jules Isaac (1877-1963) 20 verbunden. In seinem Werk Jésus et Israël, noch während des Krieges geschrieben und 1948 publiziert, hatte er einerseits die engen Bindungen Jesu ans Judentum herausgehoben. Andererseits aber hatte er eine Verbindung zwischen dem Antijudaismus des Neuen Testaments und dem genoziden Antisemitismus hergestellt, indem er den einen als die Ursache des anderen betrachtete. Ihm zufolge konnten und mussten das Neue Testament und die Judenvernichtung zusammengedacht werden. Auf diese These reagierten die ersten, meist christlichen Rezensenten mit Verstörung, worauf Jules Isaac sich späterhin mehrfach bezogen hat. 21 Dass die zeitgenössische Rezeption zunächst in einer Abwehrhaltung verharrte, ist zweifelsohne auch dadurch zu erklären, dass seine Analyse als historische Herleitung unter Benennung von Verantwortlichen geschah. Jules Isaac gehörte zu den Ersten, die eine historische und darin rationalisierende Deutung der Shoa versuchten. Jules Isaacs Ansatzpunkte waren die Erfahrung der Shoa und die weitgehende Teilnahmslosigkeit von Christen gegenüber diesem Geschehen. Dieser Befund wurde von ihm dahingehend gedeutet, dass Christen den Positionen des Antisemitismus wenn nicht zustimmten, so doch wenigstens indifferent gegenüber standen. Als verantwortlich für diese Haltung sah er die lange Tradition der Judenfeindschaft im Christentum an, der Doktrin der Verachtung. Deren Wurzeln fand er wiederum im Neuen Testament. Mit ihm wird die Grundlage für das gelegt, was in der Shoa geschah. Für Jules Isaac ergab sich aus seiner Analyse die Notwendigkeit zum jüdisch-christlichen Gespräch, um über die Gefahren aufzuklären. Die Konferenz von Seeligsberg 1947 war der Auftakt zu vielen ähnlichen Initiativen. Unbeschadet dessen, ob man Isaacs These teilt, ist doch festzustellen, dass er mit seiner Analyse des Neuen Testaments als antijüdische Schrift dem Mainstream der damaligen exegetischen Forschung entsprach. Er hat diese Annahme des Antijudaismus des Neuen Testaments vom Text in den Bereich der Rezeption transferiert, indem er ihm eine historische Wirkmächtigkeit zusprach. Wenn eine kanonische Schrift die Verachtung der Juden lehrt, und diese Lehre über die Jahrhunderte fortgeschrieben wird, kann das, so die Konsequenz Jules Isaacs, nicht folgenlos bleiben. Recht betrachtet hat er die Exegeten beim Wort genommen. »Jules Isaac gehörte zu den Ersten, die eine historische und darin rationalisierende Deutung der Shoa versuchten.« »Die Exegese des 19. Jahrhunderts hat die traditionelle Vorstellung des Antijudaismus im Neuen Testament nicht nur übernommen, sondern wissenschaftlich fundiert.« 6 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Neues Testament aktuell Diese haben aber bis in die 60er Jahre auf diese Anfrage nicht reagiert, auch hierin in einer Tradition verharrend, die darin bestand, jüdische Stimmen zum Neuen Testament einfach zu ignorieren. Allerdings wurde die Infragestellung außerhalb universitärer Wirkungsstätten durchaus zur Kenntnis genommen, obwohl die Monographie von Isaac erst 1968 ins Deutsche und 1971 ins Englische übersetzt wurde. Es waren engagierte Christinnen und Christen, die sich mit dem von Isaac behaupteten Zusammenhang auseinandersetzten, oftmals in kleinen Zirkeln, die aber eine erstaunliche Strahlkraft besaßen. Sie waren es, die dieses Problem in die Kirchen und Universitäten brachten und eine Antwort einforderten. Sie wurden oftmals von dem Schrecken vor der Möglichkeit, dass Isaac recht haben könne, motiviert; diesen horror veritatis findet man auch bei Gregory Baum. In seinem Werk The Jews and the Gospel (1961), in dem er zwischen Text und antijüdischer Rezeption trennt, vertritt er vehement die Meinung, »man könnte nicht daran glauben, daß das Neue Testament die göttliche Offenbarung und die Quelle des menschlichen Heils darstellt, wenn man wirklich überzeugt wäre, daß es Verachtung und Haß gegen das jüdische oder irgendein anderes Volk einflößt«. 22 Wer, wie Gregory Baum, sein Bekenntnis oder besser: seine Furcht dieses Bekenntnis zu verlieren, als methodisch-hermeneutische Voraussetzung zur Beurteilung historischer und literarischer Sachverhalte wählt, kann wohl zu keinem anderen Ergebnis kommen als dem, dass es keinen Antijudaismus im Neuen Testament gibt. Das Buch, das breite Rezeption gefunden hat, ist nicht so sehr eine kritisch-exegetische Auseinandersetzung, als vielmehr der Versuch, nicht in den Abgrund blicken zu müssen, den Jules Isaac aufgewiesen hat. Ob diese verständliche Abwehrhaltung nicht auch noch heutige Diskussionen begleitet, sei wenigstens angefragt. Die Annahme, nach der Shoa habe es eine Änderung in der exegetischen Wissenschaft und ihrer Wahrnehmung des Judentums gegeben, ist zu präzisieren. Die Veränderung ist keine Reaktion auf die Shoa, sondern eine auf die Anfrage, ob das Neue Testament in einem ursächlichen Zusammenhang mit der Shoa steht. 4. Keine Antwort, aber viele Versuche Nachdem sich die neutestamentliche Exegese der Frage nach dem Antijudaismus im Neuen Testament und damit ihrer eigenen Geschichte gestellt hatte, geschah das mit der ihr eigenen Gründlichkeit, Genauigkeit und Intensität. Wann man diesen Zeitpunkt veranschlagen kann, ist umstritten. Es spricht doch einiges dafür, den Türöffner im deutschsprachigen Raum in Erich Grässers Marburger Vorlesung im Januar 1964, Die antijüdische Polemik im Johannesevangelium, zu sehen. 23 Er war dann auch Referent bei der Arnoldshainer Tagung im Frühsommer 1966, bei der jüdische, katholische und evangelische Theologen über die Frage »Antijudaismus im Neuen Testament? « diskutierten. Die Publikation 1967 etabliert das Thema zwar noch nicht, aber macht es »wissenschaftsfähig«. Und wenn in den folgenden Jahrzehnten auch eine solche Fülle von Literatur erschien, dass sie dem, der sie verfolgen will, wirklich zur Legion werden kann, ist doch nicht zu übersehen, dass dort in Arnoldshain bereits viele Lösungsmodelle, aber auch Aporien antizipierend benannt wurden, die bis heute die Debatten begleiten. In ihnen haben sich verschiedene Modelle der Interpretation herausgebildet, die sich mit einiger Vorsicht folgendermaßen kategorisieren lassen: 24 Zunächst sollte man nicht übersehen, dass sich durchaus noch Vertreter einer affirmativen Position finden lassen, die nicht nur bejahen, dass es einen Antijudaismus im Neuen Testament gibt, sondern ihn als wichtigen Bestandteil der neutestamentlichen Theologie betrachten. Die Rezeptionsgeschichte der Texte wird dabei ausgeblendet und ein Zusammenhang mit dem Antisemitismus heftig bestritten. Der neutestamentliche Antijudaismus wird zwar als fundamental für die eigene Glaubensexistenz angenommen, aber als folgenlos für die aktuelle Wahrnehmung und Beurteilung von Juden und Judentum behauptet. 25 Ein weiteres Modell ist das einer historischen Lektüre der Texte. Freilich ist dieses Modell selbst wieder aufgesplittet. Einmal geht es um die Annahme einer innerjüdischen Kontroverse, da die Autoren der neutestamentlichen Schriften selbst Juden waren und sich als Juden verstanden. Mit anderen Juden hätten sie über ihre Erfahrung im Glauben an Jesus als Christus gestritten. Die Streitkultur sei zur Zeit des Zweiten Tempels »Die Annahme, nach der Shoa habe es eine Änderung in der exegetischen Wissenschaft und ihrer Wahrnehmung des Judentums gegeben, ist zu präzisieren.« ZNT 37 (19. Jg. 2016) 7 Rainer Kampling Antijudaismus im Neuen Testament und hernach heftig und polemisch gewesen. Erst aber in der paganen-christlichen Rezeption seien die Aussagen antijüdisch funktionalisiert worden. Das Bestechende an dieser Deutung ist zweifelsohne, dass sie den Begriff Antijudaismus, angewendet auf die neutestamentlichen Schriften, als sprachlichen Nonsens zu entlarven versucht: Antijudaismus zwischen Juden kann es nicht geben. Aber so anziehend dieser Entwurf ist, so sehr dient er dazu, das Problem zu verlagern. Es sind nun die Heidenchristen, die gegen die Intention des Textes aus nicht erklärbaren Gründen in einen rigorosen Antijudaismus verfallen. In der Konsequenz der Argumentation muss man schlussfolgern, dass die neutestamentlichen Autoren intentional ausschließlich für jüdische Rezipienten schrieben, was weder für alle Evangelien, noch gar für die Briefe anzunehmen ist. Hinzu käme, dass der Transfer von den jüdischen Rezipienten zu den Christen paganer Herkunft ohne jede Einflussnahme verlaufen wäre. Ob man all dies historisch wahrscheinlich machen kann, sei doch angefragt. Allerdings tut sich bei diesem Modell ein theologisch weit bedeutsameres Problem auf: Selbst wenn man meint, die einzelnen Autoren und einzelnen Schriften auf diese Art erklären zu können, so stellt sich dann mit Blick auf die Kanonwerdung die Frage nach dem Antijudaismus mit aller Schärfe. So war die Kanonizität von Hebräerbrief und Apokalypse auch im 4. Jahrhundert noch strittig. Beide wurden zeitgleich fast durchgängig antijüdisch ausgelegt. Man kann mithin nicht ausschließen, dass bei ihrer Aufnahme in den Kanon die antijüdische Interpretation ausschlaggebend war. In letzter Konsequenz heißt das: Der Antijudaismus hätte zwar nicht bei der Abfassung der Schriften Pate gestanden, wohl aber bei der Kanonisierung. Einen Grund für eine Beruhigung kann man darin wohl nicht feststellen. Grundsätzlich zu bedenken ist freilich auch die Frage, ob angesichts der Tragik der jüdischchristlichen Beziehung die Reduzierung auf ein kulturell bedingtes Missverständnis am Anfang wirklich erträglich ist. Zum historischen Erklärungsmodell wird ebenfalls der Versuch gezählt, die Polemik religionssoziologisch aus dem Minoritätsstatus der Getauften herzuleiten. Sie gilt als üblicher Begleitumstand von Ablösungs- und Selbstfindungsprozessen, die mit denen der Selbststigmatisierung einhergehen. Bei der Rekonstruktion dieser Abläufe wird das Modell der kognitiven Dissonanz miteinbezogen. 26 In dieser Herangehensweise wird der Begriff des Antijudaismus im Neuen Testament als heuristisches Instrument vermieden, weil mit dem Terminus selbst die Ergebnisse der Analyse präjudiziert werden können, da somit indirekt ein den Schriften zugrundeliegendes System behauptet wird. Die polemischen Ausfälle werden als Versprachlichung negativer Erfahrungen, seien sie nun real oder imaginiert, gedeutet, die sich verbreiteter religiöser Sprachmuster bedienen. Eine theologische Relevanz solcher Äußerungen wird bestritten, da es sich um situative handelt, die in sich nicht den Anspruch auf Gültigkeit tragen, sondern ihren Ort in ihren je eigenen historischen Prozessen haben. Dieser Ansatz hat zweifelsohne den Vorteil, dass er dazu in der Lage ist, nicht nur die Polemiken gegen jüdische, nichtmessianische Gruppen, sondern auch solche gegen die pagane Umwelt zu erklären. Zweifelsohne wird theologiegeschichtlich das Problem weder geleugnet noch vermindert; denn die Frage, die damit aufgeworfen wird, lautet nun, aus welchen Gründen spätantike christliche Theologen die neutestamentlichen Vorgaben transferierten und in ein System des Antijudaismus integrierten, obwohl die Situation der Bedrohung der der Konsolidierung und Stabilisierung gewichen war. 27 Ein anderer Entwurf, der etwa von Ernst Ludwig Ehrlich 28 vertreten wurde, geht davon aus, dass eine symbolhafte Interpretation der antijüdischen Stellen ihren eigentlichen Aussagegehalt erheben könnte. Dazu gehört die Interpretation solcher Texte als innergemeindliche Polemiken und Kritiken, in denen Juden nur figurieren. So wurden die Ioudaioi des Johannesevangeliums als Symbole der Welt gesehen. Es war Gerd Theißen, 29 der mit allem Recht zur Vorsicht mahnte. Der Jude als Symbol des Anderen, als Symbol des Gegners oder der Welt entspricht aufs Genaueste den Denkmustern des modernen Antisemitismus. Das, was man eigentlich vermeiden will, fällt verschärft auf einen zurück. Läßt man den Radikalentwurf der Streichung vermeintlicher Antijudaismen im Neuen Testament beiseite, bleibt noch das methodische Modell der historischen Rezeptionsforschung zu erwähnen. 30 Bei diesem Modell geht es nicht primär um die biblischen Texte selbst, sondern um deren Interpretation und Funktionalisierung in »Antijudaismus zwischen Juden kann es nicht geben.« »Der Jude als Symbol des Anderen, als Symbol des Gegners oder der Welt entspricht aufs Genaueste den Denkmustern des modernen Antisemitismus.« 8 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Neues Testament aktuell bestimmten historischen Kontexten. Dabei ist die Leitfrage nicht, ob die Texte selbst antijüdisch sind, sondern aus welchen Gründen sie so ausgelegt wurden. Methodische Probleme gibt es freilich auch hierbei genug. Trotz vieler vollmundiger Erklärungen kann die Nachzeichnung aller verschiedenen Konstanten des Rezeptionsprozesses nicht gelingen, zumal bei historischen Autoren der subjektive Faktor kaum zu rekonstruieren ist. Ein neuerer Ansatz, insbesondere in der reception history zu finden, 31 geht davon aus, dass vorhandene Texte einen kulturellen Pool bildeten, an dem alle Akteure partizipieren konnten. Die Prozesse der behaupteten Rezeption entraten weitgehend der Nachprüfbarkeit, wobei aber eben diese Fraglichkeit methodisch gewollt ist. Letztlich wird die Assoziationsfähigkeit und Assoziationsmöglichkeit des gegenwärtigen Rezipienten als die ausgegeben, die auch historisch anzunehmen ist. Damit ist ein weiteres Problem benannt, nämlich das der imaginierten Rezeption. Texte aus dem Neuen Testament werden u. a. als Antijudaismen qualifiziert, weil man ihnen eine antijüdische Rezeptionsgeschichte unterstellt. Dass es sich dabei um einen methodischen Fehlschluss handelt, bedarf keiner weiteren Begründung. Es wurde und wird hier eine Unmittelbarkeit der Wirkung eines Textes behauptet, der als historisches Subjekt des Objekts Rezipient gedacht ist. 32 Im Zuge der Rezeptionsforschung erwies sich oftmals, dass sich die Annahme einer antijudaistischen Rezeptionsgeschichte keineswegs durchgängig belegen ließ. So führt etwa 1Thess 2,15, die sog. Judenpolemik, in den Diskursen durch die Jahrhunderte eine untergeordnete Rolle. Erst mit der neuzeitlichen Exegese setzt die antijudaistische Lesart ein. Die bisherigen Arbeiten auf diesem Feld führen zu einem vielleicht irritierenden Ergebnis: Für die Ausbildung des Antijudaismus als theologisches System in der christlichen Spätantike sind alttestamentliche Texte als Belegtexte qualitativ und quantitativ von größerer Bedeutung als neutestamentliche. Selbst die Aussage, Jesus sei von den Juden gekreuzigt worden, wird von vielen antiken Theologen nicht allein auf der Basis neutestamentlicher Texte getroffen, sondern durch bisweilen hermeneutisch kühne Verschränkungen von Typologie und Allegorese, Altem und Neuem Testament. 33 Gewiss muss sich auch dieser Ansatz kritischen Anfragen aussetzen. Gemäß der Hermeneutik des Verdachts wird ihm unterstellt, auf diese Weise sollten die kanonischen Texte exkulpiert werden. Allerdings ist dieser Vorwurf nahezu absonderlich, da gerade in der Rezeptionsforschung die Isolation des Textes aufgebrochen und er als Bestandteil eines vielschichtigen Prozesses analysiert wird. Völlig verkannt wird dabei das kritische Potential der Rezeptionsforschung, insofern sie als Bestandteil der exegetischen Wissenschaft verstanden wird. Sie ist nicht dazu da, archivarisch tätig zu sein, sondern die je eigene Bedingtheit angesichts des Textes vor Augen zu führen. Damit gibt sie den Texten auch etwas von der ihnen zustehenden Fremdheit zurück, die sie vor der distanzlosen Aneignung schützen kann. Allerdings wird man der EKD-Denkschrift Christen und Juden III aus dem Jahre 2000 zustimmen müssen, wenn sie formuliert: »Es scheint noch kaum ausgelotet, wie grundsätzlich die Anfragen an den christlichen Umgang mit der Schrift sind, die sich aus der Aufdeckung der negativen Seiten ihrer Wirkungsgeschichte ergeben.« 34 Überspitzt könnte man sagen, dass die Rezeptionsgeschichte die Probleme nicht löst, sondern sie noch deutlicher vor Augen stellt. Die Übersicht über die verschiedenen Modelle des Umgangs mit dem Thema »Antijudaismus im neuen Testament« hat vielleicht gezeigt, dass es trotz intensiver Bemühungen immer noch keinen exegetischen Konsens hinsichtlich der Frage des Antijudaismus im Neuen Testament gibt. Dieser Befund ist allemal in dem begründet, was Ingo Broer in seiner Franz-Delitzsch-Vorlesung 1994 die »Pluralität der Exegese« genannt hat, 35 wobei er von der Vielfalt der Exegetinnen und Exegeten nobel schwieg. Man kann und soll die Offenheit dieser Debatte jedoch eher als Zeichen dafür deuten, wie ernst diese Frage genommen wird und wie wenig man dazu neigt, sie abzutun. Nach meiner Meinung ist die Unentschiedenheit ein Zeichen der Stärke der Exegese und derer, die sie betreiben. Denn in dem Themenfeld Antijudaismus werden nicht nur schwerwiegende Fragen an die Texte gestellt, sondern die der Wissenschaft eigene Geschichte, aus der man sich nicht verabschieden kann, wird befragt und durchaus infrage gestellt. Gerade die Infragestellung gründet in dem Wissen, dass das Neue Testament selbst zum Opfer seiner Interpreten werden konnte, die, wenn nicht unmittelbar, aber doch mittelbar daran mittaten, dass seine Botschaft verschattet wurde und dass aus dem Evangelium ein Materiallager des Hasses werden konnte. Die Frage nach »Überspitzt könnte man sagen, dass die Rezeptionsgeschichte die Probleme nicht löst, sondern sie noch deutlicher vor Augen stellt.« ZNT 37 (19. Jg. 2016) 9 Rainer Kampling Antijudaismus im Neuen Testament einem Antijudaismus im Neuen Testament entbirgt mithin eine solche Fülle an Implikationen, dass sie sich einer Antwort entzieht. Es wäre schon viel gewonnen, wenn man sicher sein könnte, die richtige Frage zu stellen. Wenn es ein bibelwissenschaftliches Thema gibt, dessen man nur Herr würde, um den Preis es zu destruieren, dann das des Antijudaismus im Neuen Testament. 5. Ein kurzer Schluss Ohne eine Monokausalität behaupten zu wollen, ist forschungsgeschichtlich nicht zu übersehen, dass im Umfeld der Debatten um einen möglichen Antijudaismus im Neuen Testament innerhalb der Exegese ein neues Problembewusstsein entstand. Dieses bezog sich nicht nur auf das Judentum als je gegenwärtiges, sondern auch auf die Wissensbestände der Exegese. Relativ rasch wurde man inne, dass auch das als Sachwissen Ausgegebene nicht zu geringen Teilen aus einer vorurteilsbehafteten Lektüre gesammelt worden war. Und ohne Kolleginnen und Kollegen anderer Disziplinen zurücksetzen zu wollen, sei doch festgestellt, dass das, was innerhalb der neutestamentlichen Exegese in den letzten Jahrzehnten geleistet wurde, mehr als beeindruckend ist. Hier fand tatsächlich Aufarbeitung statt. Zu dem Mehrwert gehört aber eben auch, dass es einen hohen Grad an Aufmerksamkeit gibt für Thematiken, die bisher ein Schattendasein führten. Die Auseinandersetzungen der 60er Jahre waren offensichtlich auch eine Einübung darin, sich anderen Bereichen zu öffnen. Und dass heutigentags ein jüdisch-christlicher Dialog ohne Beteiligung von Exegetinnen und Exegeten undenkbar ist, mag die beste Bestätigung sein, dass exegetische Arbeit aller Mühe wert ist. Falls man auch wenig lernte aus der Arbeit an der Rezeptionsgeschichte der Schrift, so müsste man schon sehr verhärtet sein, wenn man nicht wenigstens verstünde, dass zur Arbeit der Exegetinnen und Exegeten zwei Dinge hinzugehören: Demut und Geduld. Beides hat man bei dem Thema Antijudaismus bitter nötig. Anmerkungen 1 Der vorliegende Text geht auf die am 1. 12. 2014 gehaltene Franz-Delitzsch-Vorlesung an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster zurück. 2 Vgl. immer noch J. Heil, »Antijudaismus« und »Antisemitismus«-- Begriffe als Bedeutungsträger, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 6 (1997), 92-114; dass der Begriff auch zu blühendem Unsinn führt, kann man sehen bei D. Kertzer, The Popes Against the Jews. The Vatican’s Role in the Rise of Modern Anti-Semitism, New York 2001, 7: »The […] neat distinction between anti-Judaism and anti-Semitism was not new to the 1998 document. In the wake of the Second World War, scholars and theologians close to the Church began to look for a way to defend the Church from the charge of having helped lay the groundwork for the Holocaust. The anti-Semitism/ anti-Judaism distinction soon became an article of faith that relieved the Church of any responsibility for what happened. Before long, millions of people came to assume its historical reality.« 3 New York 2013; dt.: Anti-Judaismus. Eine andere Geschichte des westlichen Denkens, München 2015. 4 R. Kampling, Theologische Antisemitismusforschung. Anmerkungen zu einer transdisziplinären Fragestellung, in: W. Bergmann/ M. Körte (Hg.), Antisemitismusforschung in den Wissenschaften, Berlin 2004, 67-83. 5 Mt Com 14,19 (GCS 40), 330-332. 6 Es bedürfte einer tiefgreifenden Relecture der Quellen, ob und inwieweit sie eine andere Lesart als die antijüdische erkennen lassen; vorläufig kann man sagen, dass sich insbesondere in heterodoxen Schriften Spuren davon finden lassen. 7 Vgl. Adversus Marcionem 5,2,1: Principalem adversus Iudaismum epistulam nos quoque confitemur quae Galatas docet. 8 Vgl. etwa die umfangreiche Auflistung der Auctores contra Iudaeos bei J.A. Fabricius, Delectus argumentorum et Syllabus Scriptorum qui veritatem religionis Christianae etc., Hamburg 1725, 571-633. 9 Vgl. etwa N. Elert (Hg.), Catalogus bibliothecae Thottianae I,2, Hanau 1789, 382. 10 Während die Geschichte des Wortes Antisemitismus gut erforscht ist, fehlt es noch an einer eingehenden Untersuchung für die Entstehung des Begriffs Antijudaismus. 11 Vgl. zu ihm J. Alwast, Geschichte der Theologischen Fakultät. Von ihrer Gründung an der gottorfisch-herzoglichen Christian-Albrechts-Universität bis zum Ende der gesamtstaatlichen Zeit, Teil 1: 1665-1865, Norderstedt 2008, 180-182; W. Schmidt-Biggemann, Politische Theologie der Gegenaufklärung: Saint-Martin, De Maistre, Kleuker, Baader, Berlin 2004, 81-108. 12 Neue Prüfung und Erklärung der vorzüglichsten Beweise für die Wahrheit und den göttlichen Ursprung des Christenthums, wie der Offenbarung überhaupt etc. III, Riga 1794, 187. 13 Vgl. R. Kampling, Und so kam Paulus unter die Antisemiten. Transformation des Verstehens in der Auslegung von 1Thess 2,14-16 im 19. Jahrhundert, in: W. Eisele/ Chr. Schaefer, H.-U. Weidemann (Hg.), Aneignung durch Transformation. Beiträge zur Analyse von Überlieferungsprozessen im frühen Christentum (HBS 74), Festschrift für Michael Theobald, Freiburg 2013, 358-374. 14 Vgl. V. Leppin, Für »junge Lehrer der Religion«. Theologische und religionsphilosophische Klarstellungen in Herders Schrift »Von Religion, Lehrmeinungen und Gebräuchen« (1798), in: A. Beutel/ V. Leppin (Hg.), Religion und Aufklärung. Studien zur neuzeitlichen »Umformung 10 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Neues Testament aktuell des Christlichen« (Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte 14), Leipzig 2004, 123-130. 15 A. Gerdmar, Roots of theological anti-Semitism. German biblical interpretation and the Jews, from Herder and Semler to Kittel and Bultmann (SJHC 20), Leiden 2009, 51-60. 16 Vgl.-- auch zum Folgenden-- Kampling, Paulus, Anm. 13. 17 Vgl. Gerdmar, Roots, 213-237, Anm. 15. 18 Vgl. etwa S. Heschel, The Aryan Jesus. Christian Theologians and the Bible in Nazi Germany, Princeton 2008. Wie schwer sich deutsche Universitäten mit dieser Geschichte immer noch tun, zeigt ein Blick auf den Professorenkatalog der Universität Leipzig; zu Johannes Leipoldt findet sich kein Hinweis auf seinen Antisemitismus oder seine nationalsozialistische Ideologie (http: / / www. uni-leipzig.de/ unigeschichte/ professorenkatalog/ leipzig/ Leipoldt_94/ ; abgerufen am 2. 12. 2014.). 19 Eine vollständige Aufarbeitung wird hier nicht behauptet, noch wird eine komplette Bibliographie angestrebt; gewiss wäre auch auf den Einfluss von James Parkes (vgl. H. Chertok, He also spoke as a Jew. The life of James Parkes, London 2006; R.A. Everett, Christianity without antisemitism. James Parkes and the Jewish-Christian encounter, Oxford 1993) hinzuweisen, der übrigens gemeinsam mit seiner Frau Dorothy unter dem Titel »Has Anti-Semitism Roots in Christianity? « 1961 eine Übersetzung von Isaac vorlegte. 20 A. Kaspi, Jules Isaac ou la passion de la vérité, Paris 2002; P. Berger Marx, Les relations entre les juifs et les catholiques dans la France de l’après-guerre: 1945-- 1965, Paris 2009. 21 Vgl. etwa J. Isaac, Expériences de ma vie, Paris 1959; L’ Enseignement du Mépris. Vérité historique et mythes théologiques, Paris 1962. 22 G. Baum, Die Juden und das Evangelium, Einsiedeln 1963, 15. 23 NTS 10 (1964), 74-90. 24 Vgl. M. Blum, Art. Neues Testament, in: W. Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart 3, Berlin 2010, 235-244; immer noch beeindruckend scharfsinnig: G. Theißen, Aporien im Umgang mit den Antijudaismen des Neuen Testaments, in: E. Blum u. a. (Hg.), Die Hebräische Bibel und ihre zweifache Nachgeschichte, Neukirchen-Vluyn 1990, 535-553. 25 Trotz seiner gegenteiligen Beteuerungen nenne ich hier R. H. Bell, The Irrevocable Call of God. An Inquiry into Paul’s Theology of Israel (WUNT 184), Tübingen 2005; zu anderen bisweilen verschatteten Antijudaismen vgl. M. Neubrand, Ist das Neue Testament antijüdisch? Nostra Aetate 4 als bleibende Herausforderung für die neutestamentliche Exegese, in: S. Schreiber (Hg.), Antijudaismen in der Exegese? Eine Diskussion 50 Jahre nach »Nostra Aetate«, Freiburg i. Br. 2015, 278-314. 26 Als Pionierarbeit kann gelten: J. G. Gager, The origins of anti-semitism. Attitudes toward Judaism in pagan and Christian antiquity, New York 1985; zur Integration des Ansatzes in der Exegese vgl. N. H. Taylor, Conflicting Bases of Identity in Early Christianity. The Example of Paul, in: A. J. Blasi u. a. (Hg.), Handbook of Early Christianity. Social Science Approaches, Walnut Creek 2002, 577-597. 27 Vgl. R. Kampling, Art. Antijudaismus, in: W. Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart 3, Berlin 2010, 10-13. 28 Vgl. E. L. Ehrlich, Paulus und das Schuldproblem, erläutert an Römer 5 und 8, in: W.P. Eckert (Hg.), Antijudaismus im Neuen Testament? Exegetische und systematische Beiträge (ACJD 2), München 1967, 44-49. 29 Vgl. Theißen, Aporien 535-553, hier: 538. 30 Ohne die Standardwerke von Heinz Schreckenberg zur Adversus-Iudaeos-Literatur wäre die Rezeptionsforschung in diesem Bereich nicht da, wo sie jetzt ist. 31 Als nicht gelungenes Beispiel kann gelten M. Lieb (Hg.), The Oxford Handbook of the Reception History of the Bible, Oxford 2011. 32 Dabei ist man bisweilen unkritischer als zeitgenössische Beobachter, die die Berufung auf biblische Texte als Legitimation judenfeindlicher Aktionen als Heuchelei brandmarkten. 33 Vgl. R. Kampling, Das Kreuz, die Historie und die christliche Judenfeindschaft. Nachdenken über Ursprünge und Zusammenhänge, in: H. Piegeler u. a. (Hg.), Gelebte Religionen. Untersuchungen zur sozialen Gestaltungskraft religiöser Vorstellungen und Praktiken in Geschichte und Gegenwart (FS H. Zinser), Würzburg 2004, 97-105. 34 Http: / / www.ekd.de/ EKD-Texte/ 44 597.html; abgerufen 2. 12. 2014. 35 I. Broer, Das Verhältnis von Judentum und Christentum im Matthäus-Evangelium, in: J. C. Vos/ F. Siegert (Hg.), Interesse am Judentum. Die Franz-Delitzsch-Vorlesungen 1989-- 2008 (Münsteraner judaistische Studien 23), Berlin 2008, 194-223, hier: 197. ZNT 37 (19. Jg. 2016) 11 Wie und wann hat sich die Tochterreligion Christentum von der Mutterreligion Judentum getrennt? Warum haben römische Behörden die ältere Religion als legal betrachtet, ihren Ableger aber als illegal, und warum haben sie diesen Ableger verfolgt? Im Blick auf beide Religionssysteme: Wie wurde und wie blieb man ein Teil desselben? Wie sind Anhänger beider Religionen in den Jahrhunderten vor und während des Aufstiegs des Christentums zur Staatsreligion miteinander umgegangen? Wie verhalten sich antike jüdische und christliche Erfahrungen von Konversion zu unseren sozialwissenschaftlichen Modellen von religiöser Bekehrung? Seit dem Aufstieg der Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert haben solche Fragen die Forschung beschäftigt. Mein Lehrer E.P. Sanders, ein Gelehrter auf dem Gebiet des antiken Judentums und des frühen Christentums, hat im Jahr 1977 seine epochemachende Studie Paul and Palestinian Judaism. A Comparison of Patterns of Religion veröffentlicht. 1 Er hat den Schutt von Generationen fortgeschafft und über Jahrzehnte mit seiner These eines Kontrasts zwischen paulinischer Mystik und jüdischem Bundesnomismus die Debatten befeuert. Es war die »neue Paulusperspektive«, die bis heute die Diskussion über die »Trennung der Wege« bestimmt-- eine Trennung zweier Religionen. Heutzutage betonen viele Forscher, dass Judentum und Christentum nicht Mutter und Tochter waren, sondern Bruderbzw. Schwesterreligionen, die sich ausgehend vom gemeinsamen biblischen Erbe in unterschiedliche Richtungen entwickelten. 2 Auch dann konzeptualisieren wir allerdings Judentum und Christentum als Religionen. Diese ganze Forschung verdankt sich einem ernsthaften Interesse an besserem historischen Verstehen, doch erst an der Wende zum 21. Jahrhundert haben einige Forscher angefangen, die grundlegenden Kategorien infrage zu stellen: Religion, Judentum, Christentum, religöse Identitätsmarker und Konversion. 3 Ein Schrittmacher dieser neuen Weise des Fragens ist die Annäherung zwischen Neutestamentlicher Wissenschaft und Altertumswissenschaft. Besonders in Nordamerika, wo Fakultäten aus pragmatischen Gründen verhältnismäßig leicht umstrukturiert werden können, machen Forscher aus den Feldern des antiken Judentums und des frühen Christentums zunehmend die Erfahrung, dass sie Seite an Seite mit Althistorikern arbeiten, mit ihnen zusammen lehren und gemeinsam Seminare halten. Aber auch dort, wo es nicht zu solchen Kooperationen kommt, befruchten sich Forschungen zum Judäa der Römerzeit oder zum frühen Christentum durch die Spätantike hindurch über die Fachgrenzen hinweg. Einige der bekanntesten Althistoriker, die zunächst durch ihre Arbeiten zur römischen Kaiserzeit bekannt geworden sind, haben sich später in überaus fruchtbarer Weise mit Sachgebieten befasst, die bis dahin der Theologie vorbehalten waren: Judäa in römischer Zeit, die jüdische Diaspora, das Christentum vom 3. bis zum 6. Jahrhundert. 4 Für mich selbst war die Vorsicht beim Überschreiten der Grenze zwischen antiken und modernen Diskursen, wie sie mir bei meinen althistorischen Kollegen begegnete- - imperium ist nicht eine moderne Großmacht, princeps nicht dasselbe wie ein Kaiser neuzeitlichen Zuschnitts, provincia mehr als ein Territorium-- ein wichtiger Anstoß, die Übersetzungssprache zu überdenken, die wir üblicherweise auf das antike Judentum und das frühe Christentum anwenden. In diesem Beitrag möchte ich (1.) zu zeigen versuchen, dass das uns vertraute Wortpaar »Juden und Judentum« und die Gattungsbezeichnung »Religion« nicht in den antiken Diskurs passen. Dann möchte ich (2.) die sehr unterschiedlichen Konturen dieser Diskurse skizzieren und schließlich (3.) einige Konsequenzen zu bedenken geben, die sich aus der »Richtigstellung der Namen« (um mich etwas unscharf eines konfuzianischen Konzepts zu bedienen) im Blick auf ihren Gebrauch ergeben. 1. Judentum-- und Juden als seine Vertreter? Wir kennen wohl alle in irgendeiner Version den folgenden Witz: Die Manager einer Warenhaus-Spedition verdächtigen einen ihrer Angestellten, dass er stiehlt, weil sein luxuriöses Zuhause und seine aufwendigen Urlaube nicht zu seinen Einkommensverhältnissen passen. Tag für Tag, wenn er mit seinem weißen Firmen- Lieferwagen das Tor passiert, um nach Hause zu fahren, wird er vom Wachpersonal nach Diebesgut durchsucht. Da sie immerzu nichts finden, suchen sie immer gewissenhafter, weisen das Personal an, auch unter dem Fahrzeugboden und in den Radkästen zu suchen, ja so- Steve Mason Das antike Judentum als Hintergrund des frühen Christentums Zum Thema 12 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Zum Thema »Warum konnte Ioudaismos nicht ›Judentum‹ bedeuten? « historisch korrekt von Judentümern sprechen sollte, eine Terminologie, die es zuließ, eine bestimmte Spielart des »Christentums« auch als ein Judentum gelten zu lassen. 5 Anhaltend sind wir damit befasst, das Judentum zu untersuchen und theoretisch zu durchdringen. Aber was ist eigentlich mit besagtem Lieferwagen selbst? Haben wir vor lauter Konzentration auf den Kontext das Rahmenkonzept ungeprüft nach draußen geschmuggelt? Wenn wir verstehen wollen, was vor zwei Jahrtausenden passiert ist, und wie es die Menschen damals aufgefasst haben, müssen wir zunächst einige philologische Fakten in Rechnung stellen. Erstens: Die Antike kannte, auch wenn die geläufige Forschungssprache dies nicht erkennen lässt, kein griechisches, lateinisches oder hebräisches Wort für Judentum. Sie sprachen nicht über Judentum, weil sie es gar nicht konnten, denn weder gab es hierfür einen Terminus, noch eine Klasse von »-ismen«, denen man Judentum hätte zuordnen können. Das ist eine verzwickte Sache, weil man den griechischen Terminus Ioudaismos nahe genug an »Judentum« wähnte, um unseren Sprachgebrauch zu rechtfertigen. Aber dieses Wort kann, meine ich, nicht »Judentum« bedeuten. In der außerchristlichen Literatur begegnet es nur im spezifischen Zusammenhang des 2. Makkabäerbuches (2,21; 8,1; 14,38 [2x]) und im davon abhängigen 4. Makkabäerbuch (4,26). Es ist im (von uns so genannten) Judentum, das wir in anderen apokryphen Texten, in den umfangreichen Schriften des Philo und des Josephus, aber auch (trotz seines Titels) in der großartigen dreibändigen Quellensammlung Greek and Latin Authors on Jews and Judaism von Menachem Stern vorfinden, nicht gebräuchlich. Ioudaismos gibt es dort nicht, obwohl es doch, würde es »Judentum« bedeuten, der nächstliegende Terminus wäre. Auch gibt es kein semitisches Gegenstück in den Schriften vom Toten Meer oder in der rabbinischen Literatur. Warum konnte Ioudaismos nicht »Judentum« bedeuten? Der durch den wissenschaftlichen Sprachgebrauch vermittelte gegenteilige Eindruck rührt von der Ähnlichkeit des griechischen -ismos mit dem englischen -ism bzw. dem deutschen -ismus her. Griechische Nomina auf -ismos decken sich jedoch nicht mit unseren Termini für Überzeugungssysteme wie etwa Marxismus, Katholizismus, Protestantismus oder Theismus. Diese Klasse griechischer Nomina hat dagegen eine Entsprechung in Termini wie Exorzismus, Ostrakismus, englisch auch gar die Innenverkleidungen der Türen zu demontieren. Sie kommen dem Kerl erst dann auf die Schliche, als ihnen schließlich dämmert, dass er weiße Firmen-Lieferwagen gestohlen hat. Es gibt hier eine Parallele zur Erforschung des antiken Judentums: Wir ahnen, dass etwas nicht stimmt und untersuchen den Inhalt des Laderaumes immer gründlicher: Sollen wir unser Material Früh-, Spät- oder Mittel- (oder zwischentestamentliches oder nachbiblisches) Judentum nennen? War es eine legalistische, eine tolerierte legale Religion (wie erklären wir dann die Vertreibungen aus Rom und die Unruhen in Alexandria? ), eine missionarische oder eine Proselyten- Religion? Wie hellenistisch oder hellenismusresistent war das Judentum? Wie haben antike Zeitgenossen »Juden und Judentum« wahrgenommen? Was müssen wir uns unter »Diaspora-Judentum« vorstellen, und wie lässt es sich mit dem Judentum in Eretz-Israel vergleichen? Wer wurde als Jude anerkannt, und wie sahen antike Konversions- Rituale aus? War bei Männern immer die Beschneidung erforderlich, wie es die rabbinischen Vorschriften wollen? In welchem Verhältnis standen Jesus und Paulus zum Judentum? Wie vielfältig war das Judentum? In der Zeit, als ich meine Doktorarbeit abschloss, bestanden viele Forscher darauf, dass man Prof. Dr. Steve Mason, geb. 1957, ist seit 2015 Professor für Ancient Mediterranean Religions and Cultures der Faculty of Theology and Religious Studies der Universität Groningen. Mason gilt als ein Experte auf dem Gebiet der Josephus-Forschung. Er ist Hauptherausgeber der Reihe: »Flavius Josephus: Translation and Commentary« (Leiden [u. a.]: Brill, 2000-). Daneben ist er Autor des Werkes: »Josephus and the New Testament« (Peabody 22003), welches auch in deutscher Übersetzung vorliegt: »Flavius Josephus und das Neue Testament« (Tübingen [u. a.] 2000). Prof. Dr. Steve Mason »Die Antike kannte, auch wenn die geläufige Forschungssprache dies nicht erkennen lässt, kein griechisches, lateinisches oder hebräisches Wort für Judentum.« ZNT 37 (19. Jg. 2016) 13 Steve Mason Das antike Judentum als Hintergrund des frühen Christentums baptism (Taufe) oder plagiarism (Nachahmung). Dies sind nicht Überzeugungssysteme, sondern Handlungen. Exorzismus ist der Akt des Exorzierens, Ostrakismus der Akt der Ächtung bzw. Verbannung. Von besonderer Bedeutung für Ioudaismos ist die klassische griechische Verwendung von Nomina auf -ismos für bestimmte kulturelle Bewegungen. Als während der Perserkriege griechische Bevölkerungsgruppen der Parteinahme für die Perser beschuldigt wurden, nannte man dies Mēdismos. Schlug sich während des Peloponnesischen Krieges jemand auf die Seite der Spartaner oder Athens, hieß das Lakōnismos oder Attikismos. 6 Diese Art der Ausrichtung an den Interessen anderer Ethnien war bei allen momentanen Sachzwängen keinesfalls ein rühmliches oder auch nur übliches politisches Verhalten. Deshalb sind diese Wörter selten, und man findet sie gehäuft in Zeiten politischer Krisen. Beachtet man die Wortform und die genannten Parallelen, müsste Ioudaismos für griechische Ohren so etwas wie »Judaisieren« bedeutet haben: Loyalität und Parteinahme für judäische Interessen in einer Zeit der Krise. Genau das ist es auch, was wir in den wenigen außerchristlichen Belegen finden, hauptsächlich im 2. Makkabäerbuch. Wie gesagt verwendet Josephus das Wort nicht, obwohl er dreißig Bücher über die judäische Geschichte und Kultur geschrieben hat. Zweimal verwendet er das eng verwandte ioudaizō. In Bellum 2,454 fleht Metilius, Kommandeur der Jerusalemer römischen Garnison, um sein Leben, während seine Kameraden massakriert werden, und er verspricht »zu judaisieren« bis hin zur Übernahme der Beschneidung. Das heißt: Er verspricht unter dem Zwang der Situation, sich gänzlich mit den Gesetzen der Judäer zu identifizieren. Kurz nach diesem Passus (2,463) geht es um die Reaktion syrischer Städte auf judäische Attacken. Josephus behauptet, dass die meisten dieser Städte die bei ihnen lebenden judäischen Minderheiten getötet und die zweifelhaften Elemente der übrigen Bevölkerung unter verstärkte Bobachtung genommen haben, d.h, die Nichtjudäer unter ihnen, die gleichwohl »judaisierten«. Hierbei kann es sich um ein Sympathisieren mit der judäischen Sache aus dem Moment heraus handeln, wahrscheinlicher aber um eine bereits länger zurückliegende Übernahme judäischer Bräuche, die in der Krise Zweifel an ihrer Loyalität aufkommen ließ (2,569). 7 Josephus hätte in diesen Passagen auch das Wort Ioudaismos verwenden können und wäre, wie ich meine, ebenso verstanden worden. Seine Wortwahl war entweder zufällig, oder er wollte das Gewicht des Nomens Ioudaismos vermeiden, das auf sein römisches Publikum möglicherweise abschreckend gewirkt hätte. Ganz sicher war das Wort für Philo und Josephus zur Darstellung judäischer Gesetze, Bräuche und Kultur ungeeignet: Das war nicht Ioudaismos. Wir verstehen nun, warum die wenigen Belege für Ioudaismos in der außerchristlichen Literatur auf das 2. und 4. Makkabäerbuch beschränkt sind: In beiden Texten geht es um kulturelle Konflikte und Loyalitäten in Krisensituationen. Das 2. Makkabäerbuch verwendet zu Beginn der Haupthandlung zwei weitere Wörter, die auf -ismos enden, in beiden Fällen die ersten Belege überhaupt. Jerusalem war, so lesen wir, konfrontiert mit »einer Blüte der Hellenisierung und dem Abfall zu fremden Gebräuchen« (akmē tis Hellēnismou kai prosbasis allophylismou, 4,13). 8 In dieser Krise war Ioudaismos die angemessene Antwort. Während unter normalen Umständen Judäer nicht »judaisieren« mussten, wurde es notwendig wegen des Abfalls zu fremden Gebräuchen. Ioudaismos meint hier entschiedene Taten der Loyalität zum judäischen Gesetz und Brauchtum. Der erste Beleg (2,21) formuliert klar diese Bedeutung: »Um des Judaisierens willen« vollbrachte eine kleine Gruppe Männer unglaubliche Heldentaten, die die Barbaren wie Vieh davonjagten, um das Land wieder zu »judaisieren« (vgl. 8,1). Belege von Ioudaismos (und dem lateinischen Iudaismus) in christlichen Texten sind viel zahlreicher, weil das Wort bald eine neue Bedeutung erhält. Paulus verwendet es nur in einem sehr spezifischen Zusammenhang, nicht aber andernorts, etwa im Römerbrief, zur Bezeichnung dessen, was wir Judentum nennen. In Gal 1,13 f. geht es prägnant um seine früheren Versuche, die Jesusbewegung zu zerstören, die »Versammlung Gottes«, wie er sagt. Er ruft dies als Beweis für seine gesteigerte Aktivität im Ioudaismos auf, und für seinen leidenschaftlichen Einsatz für die althergebrachten Gebräuche. Dem 2. Makkabäerbuch nicht unähnlich sieht Paulus einen Mangel an Loyalität und die Notwendigkeit, die Abtrünnigen zu (re-)judaisieren. Eine andere maßgebliche Figur für die Herausbildung christlicher Identität war Ignatius von Antiochien (ca. 100 n. Chr.). Für ihn war Christianismos das passende Wort, um Schritt für Schritt zu lernen, ein Schüler Christi zu sein (Magn 10,1). Auch er könnte das 2. Makkabäerbuch im Blick gehabt haben, denn er invertiert kunstvoll dessen Rhetorik. Das Problem des Ignatius war, dass nichtjüdische Christusverehrer judaisierten, d. h. für ihn war der Ioudaismos die Bedrohung, und nicht etwa, wie im 2. Makkabäerbuch, die Rettung. Loyalität Christus gegenüber forderte deshalb energischen Christianismos: Christusverehrer zu ihrer (von Ignatius jedenfalls so verstandenen) ureigenen Loyalität zurückzurufen. Ignatius prangert das Judaisieren an: »Wenn 14 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Zum Thema euch jemand das Judaisieren (Ioudaismos) darlegt, hört nicht auf ihn! Es ist besser, Christianisieren (Christianismos) von einem Beschnittenen zu hören, als Judaisieren (Ioudaismos) von einem Unbeschnittenen«. 9 Wiederum geht es nicht um Überzeugungssysteme, sondern um die Bewegung von einer Loyalität zu einer anderen. Das Christianisieren durch Judäer ist in Ordnung, das Judaisieren durch Christen ist es nicht. Ignatius hat den Grund gelegt für den genannten christlichen Bedeutungswandel des Wortes, und zwar mit seiner ironischen Wortbildung Christianismos. Christliche Autoren benötigten ein Wort für das ganze Unternehmen, das darin bestand, ein Christ zu sein, und das wir so leichthin »Christentum« nennen, denn die vorherrschenden sozialen Kategorien (dazu gleich) enthielten kein solches Wort: Es gab keinen Gattungsbegriff für Glaubenssysteme, unter den das Christentum als eine Art zu fassen gewesen wäre. Deshalb hat man sich die von Ignatius ins Spiel gebrachte Wortschöpfung zu eigen gemacht, sie aber auch im weiteren Verlauf ihrer Verwendung verändert. Dies ist zumal am lateinischen Christianismus zu beobachten, denn das Latinische kennt ursprünglich keine Nomina auf -ismus oder zugehörige Verben auf -izō. Doch nun diente Christianismus zur Bezeichnung des ganzen christlichen Glaubenssystems einschließlich seiner Praktiken. In der Folge veränderte sich auch die Bedeutung von Ioudaismos und Hellēnismos. Sie verloren ihren ursprünglichen Wortsinn. Sie wurden zu begrifflichen Gegenstücken des Systems Christentum und bezeichneten nun das Glaubenssystem der Juden und das der gesamten griechischrömischen Welt. Mit anderen Worten: Nach Jahrhunderten der Heimatlosigkeit schrieben die Christen das sozio-politische Lexikon um. Sie erfanden ein Judentum und ein Griechentum um den Preis der Reduktion komplexer lebendiger Gesellschaften auf Glaubenssysteme, die dann für den abwertenden Vergleich mit dem einzigartigen, offenbarten Christentum herhalten mussten. Judaismus schrumpfte nun zu einer Chiffre für »Werke des Gesetzes, Beachtung des Sabbats und der Beschneidung«. So ist es bei Viktorinus (4. Jh.), dessen Sprachgebrauch (Comm. Gal. 1,1,20) uns bei Epiphanius (gest. 403) voll entwickelt vorliegt. Er nennt Juden-tum neben Samaritaner-tum, Griechen-tum, Barbaren-tum und Skythen-tum als die »Mütter« zahlreicher Irrlehren (Anc. 12,7-9). Doch schon Tertullian hat mehr als ein Jahrhundert früher Christianismus und Judentum in dieser Weise einander gegenübergestellt. Christliche Autoren konnten Ioudaismos und Iudaismus jeder dutzendweise verwenden, 10 in augenfälligem Kontrast zur geringen Zahl an vorchristlichen Belegen, denn das Wort hatte nun nicht mehr die spezielle Bedeutung des aktiven Eintretens für judäische Lebensweise in Krisensituationen. Es bezeichnete nun ein Bündel trockener, abstrakter Glaubensdinge, dessen sich christliche Polemik bedienen konnte. 2. Antike sozio-politische Kategorien Paradoxerweise verhält es sich nun so, dass wir bei allem Streben, das Judentum auf historisch immer angemessenere (und weniger christliche) Weise zu verstehen, noch immer mit der elementarsten christlichen Konstruktion arbeiten: Judentum. Diese christlich-theologische Bequemlichkeit ist, vermittelt durch die Rede von den Offenbarungsreligionen (Judentum, Christentum, »Mohammedanertum«) in der Aufklärung, unser akademisches Fundament geblieben. Aber in der gelebten Realität vor zweitausend Jahren wusste niemand etwas von Judentum. Was man sah, war ein Volk (ethnos), die Judäer, mit dem man (nach ihrem Auszug aus Ägypten) ein Ursprungsland verband, bestimmte Gesetze, einen Gesetzgeber, ein System der Regierung, allseits bekannte Bräuche, ein erbliches Priestertum an der Spitze des Volkes, eine berühmte königliche Familie, eine weltbekannte Mutter-Polis und Kolonien, eine bildlose Gottheit, ein Kalender mit heiligen Tagen, und besondere Arten des Gottesdienstes. Judäische Kultur war formal vergleichbar mit anderen Kulturen der mediterranen Welt. Die Lesenden werden nun einwenden, dass wir eine Menge Begriffe aus reiner Bequemlichkeit verwenden (die von mir soeben benannte »Kultur« inbegriffen), welche die Menschen in der Antike nicht kannten. Warum dann nicht auch Judentum? 11 Wir sprechen von Platonismus, Stoizismus, Epikureismus, ebenfalls Begriffe ohne antikes Pendant. Dies ist eine wichtige Frage, und hier ist meine Antwort: Erstens können auch unsere philosophischen »-ismen« ziemlich irreführend sein. Wenn wir beispielsweise annehmen, dass Seneca oder Epiketet Stoizismus lehrten, kann es gut sein, dass wir unse- »[I]n der gelebten Realität vor zweitausend Jahren wusste niemand etwas von Judentum. Was man sah, war ein Volk (ethnos), die Judäer.« »Judäische Kultur war formal vergleichbar mit anderen Kulturen der mediterranen Welt.« ZNT 37 (19. Jg. 2016) 15 Steve Mason Das antike Judentum als Hintergrund des frühen Christentums re Zeit mit Überlegungen vertun, wie genau sie dieser Abstraktion entsprechen, anstatt zu verstehen, was sie tatsächlich geschrieben haben. Zweitens ist das »Juden-« in »Judentum« nicht dasselbe wie »Platon-« in »Platonismus« oder »Pythagoreer« in »Pythagoreismus«. Diese Leute haben ein Gedankensystem gelehrt, deshalb ist es kein weiter Sprung, im Blick auf das, was Platon selbst lehrte, von »Platonismus« oder dergleichen zu sprechen. Offensichtlich war dagegen Judäa kein Denker oder System-Erfinder. Drittens verwende ich die Abbreviaturen Kultur oder Zivilisation nicht, ohne vorher und nachher klarzustellen, dass es sich um umbrella-terms handelt, die die antiken Begriffe unter sich fassen und sie nicht etwa übergehen. Es handelt sich um Gattungsbegriffe, die ich in derselben Weise auf römische, spartanische oder ägyptische Kulturen anwende und damit wiederum ihre besonderen Gesetze und Bräuche meine, ihre althergebrachten Traditionen, Marksteine in ihrer Geschichte, Strukturen ihrer Eliten, ihre sozio-politischen Institutionen, ihre Götter und Formen der Gottesverehrung, und so weiter. Juden-tum stünde hier allein, denn niemand spricht in derselben Weise (wenn überhaupt) von Römer-tum, Spartaner-tum oder Ägypter-tum. Da »Kultur« umfassend und offen ist, können wir nicht-- es sei denn, wir sind antike Christen-- komplexe Gesellschaften auf »-ismen« reduzieren. Warum sollte man die namhafte Kultur Judäas hier ausnehmen und sie dergestalt reduzieren, austrocknen und einfrieren? Das Gemeinte wird noch klarer, wenn wir unsere Aufmerksamkeit von dem, was es nicht gab (Judentum) auf das richten, was es gab, also darauf, wie antike Menschen ihre eigene sozio-politische Welt kategorisierten. Dann mag es uns gelingen, die antiken Verhältnisse mit den Augen antiker Menschen zu sehen. Wir sollten uns an dieser Stelle klarmachen, dass der Diskurs nicht einfach die Ebene der bloßen Fakten um eine Beobachterebene ergänzt. Wir sind, um zu denken, allesamt auf Sprache angewiesen. Wenn antike Menschen ihre Welt in etwa so verstanden haben, wie ich es nun zu beschreiben versuche, dann haben sie diese Welt physisch und sozial auch so konstruiert. Griechische Elite-Diskurse im östlichen Mittelmeerraum sind durch zwei Basiskategorien gekennzeichnet, die uns auf jeder Seite ihrer Texte in die Augen springen: ethnos und polis. Bevor wir jede Kategorie für sich betrachten, will ich meine Behauptung mit einigen statistischen Daten unterlegen: Herodot bietet 611 Belege. Der Reisebericht des PsSkylax (4. Jh. n. Chr.) enthält in nur 144 Paragraphen 369 Belege. 12 Diodorus Siculus, näher am 1. Jh., verwendet beide Wörter bzw. Wortgruppen 13 3368mal, Strabo 1913mal, Philo von Alexandria 911mal, Josephus 2416mal, Plutarch 3774mal, Dion von Prusa 878mal und Pausanias 851mal. Die bloßen Zahlen sagen natürlich nicht viel, zeigen aber doch, dass diese Kategorien im Unterschied zu den -ismos-Nomina gängiger Sprachgebrauch waren und mit der Erwartung verwendet wurden, verstanden zu werden. Hiervon vermittelt PsSkylax in seinem knappen Abriss zur antiken Levante einen anschaulichen Eindruck (Periplous 104- 106): 14 »Hinter Kilikien kommt ein ethnos, die Syrer. In Syrien leben entlang des Meeres die Phönizier, ein ethnos. […] Eine polis der Tyrer ist Sarapta, eine andere polis ist Tyrus. Sie verfügt über einen Hafen innerhalb der Stadtmauern. Diese ist die königliche Insel der Tyrer. […] Und Akko, eine polis. […] Arad, die polis der Sidonier. […] Joppe, eine polis […]. Askalon ist eine polis der Tyrer, und zwar eine königliche. Dort ist die Grenze Koile-Syriens. […] Nach Syrien [ostwärts] kommen die Araber, ein ethnos, berittene Nomaden, die über Weideflächen für jedwede Art von Vieh verfügen, Schafe, Rinder, Kamele […].« Deutlich wird: jeder gehört zu einem ethnos, nicht aber notwendigerweise auch zu einer polis. Wir wenden uns nun diesen und weiteren antiken Kategorien der Reihe nach zu: 2.1 Ethnos und verwandte Termini In der Antike stand umstandslos fest, dass jeder zu einem ethnos gehört, weil der Begriff so elastisch war. Er bezeichnete einfach die (angenommene) verwandtschaftliche Gruppe, in die man hineingeboren und in der man aufgewachsen war. Es gab hierfür keine Normalgröße oder -form. Perser, Ägypter und Inder waren je ein ethnos, ebenso Makedonen oder Asiaten. Die griechischen ethnē umfassten Ionier, Dorer, Achäer, Ätolier, Böotier und andere. Sowohl Syrer als auch Untergruppen wie etwa die Phönizier oder die Bewohner von Gaza oder Azot wurden als ethnē bezeichnet. 15 Da ethnē für gewöhnlich durch Separation von älteren ethnē entstanden, 16 wie etwa die Judäer als Abkömmlinge der Ägypter galten, wurde der distinkte Charakter eines ethnos durch seine jeweilige besondere Umwelt geprägt: von Lufttemperatur und -qualität, von Boden und Wasser, und von der jeweiligen Entfernung zu den idealen Lebensbedingungen auf dem Boden Griechenlands. Bergregionen schufen ein mutiges und zähes ethnos; Ebenen, Moore und Wüsten begünstigten andere Eigenschaften. Die von der Natur (physis) abhängige Prädisposition wurde modifiziert durch charakterbildende Erfahrungen, etwa durch weitere Wanderungen, Gründerfiguren, Gesetz- 16 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Zum Thema »Gebildete Griechen waren fasziniert von einer Welt, die von unterschiedlichen Völkern mit unterschiedlichen körperlichen Merkmalen, Mythen, Gesetzen und Gepflogenheiten (nomoi) bewohnt war, und sie haben sich viele Gedanken darüber gemacht, wie die Welt so geworden ist, wie man sie vorfand.« geber, Kriege (in Siegen und Niederlagen), Beziehungen zu Nachbarn, durch den Umfang und die Eigenschaften des kontrollierten Landes, durch Gottheiten und Formen der Gottesverehrung, durch Entwicklungen des politischen Systems. Besonders wichtig war, wenn das ethnos eine polis gründete und damit zu einem zivilisierten Volk wurde (s. u.). Gebildete Griechen waren fasziniert von einer Welt, die von unterschiedlichen Völkern mit unterschiedlichen körperlichen Merkmalen, Mythen, Gesetzen und Gepflogenheiten (nomoi) bewohnt war, und sie haben sich viele Gedanken darüber gemacht, wie die Welt so geworden ist, wie man sie vorfand. Autoren wie Strabon, Plinius oder Solinus erzählten unterhaltsame Geschichten über bizarre Gebräuche und gruselige Körperformen bestimmter ethnē. Herodes’ produktiver Helfer Nikolaus von Damaskus hat solch eine Sammlung kompiliert. Darin erfährt man etwa vom staunenswerten illyrischen Stamm der Dardaner, dass man dort nur bei der Geburt, bei der Hochzeit und auf dem Totenbett gewaschen wurde. Das skythische ethnos ernährte sich ausschließlich von Milchprodukten, trank Pferdemilch, aß Käse und hatte Frauen und Kinder gemeinsam. Wie man bei Pausanias (2. Jh.) sehen kann, bestaunten die Griechen auch die Diversität im griechischen Kernland, wo man in poleis lebte. 2.2 Polis und verwandte Termini Das gebirgige griechische Kernland (einschließlich der heutigen Westtürkei) brachte zahlreiche isoliert lebende Bevölkerungsgruppen hervor, die natürlicherweise Mauern errichteten, um auf einer Fläche von einem oder zwei Quadratkilometern ihre elementaren Institutionen zu umfrieden, also Märkte, Geschäfte, Versammlungs-, Rats- und Gerichtsgebäude, gymnasia, Tempel, einige Wohnhäuser. Dies war das eigentliche Stadtgebiet (astu), auch wenn die weitaus größere chōra, das Hinter- oder Umland mit der Stadtbevölkerung assoziiert sein konnte. Dort war Raum für Gehöfte, Landwirtschaft, Viehhaltung, unter entsprechend günstigen Bedingungen auch Fischerei oder Bergbau, dazu kleinere Dörfer. Während die Größe einer polis durch begrenzte Ressourcen an Baumaterial, Arbeitskraft und durch andere situative Beschränkungen limitiert war, konnte sich das territorium über einen Radius von einigen wenigen bis zu hunderten von Kilometern erstrecken. Von Griechenland aus verbreitete sich nach Alexander die Struktur von in poleis konzentrierten regionalen Bevölkerungen über den gesamten Osten. Hellenistische Monarchen und nach ihnen die Römer gründeten zahllose neue poleis als nützliche Instrumente ihrer Herrschaftsausübung. In Syrien verschmolzen die ptolemäischen und seleukidischen Neugründungen die griechische Kultur und ihre typischen Institutionen (Tempel, gymnasia, Versammlungs- und Ratsgebäude, Märkte) mit den seit alters bestehenden semitischen Siedlungen. Um die Zeit des 1. Jh. v. Chr. gab es im südlichen Teil Syriens zahlreiche stolze poleis: entlang der Küste von Gaza bis Sidon und Berytus, im Landesinneren die Zehn Städte, darunter Skythopolis, Gadara und Gerasa, die sich entlang des Jordan aufspreizten, dazu die Neugründungen oder namhaften Erweiterungen des Herodes, darunter auch Jerusalem. Eine Mutter-polis (mētropolis) war eine solche, die Kolonien hervorgebracht hatte, die wiederum im Zuge der Übertragung ihrer Gesetze und städtischen Strukturen ihren eigenen polis-Charakter herausbildeten. Die Judäer gesellten sich spät den Kolonisierern bei, und sie gründeten keine neuen poleis als solche, abgesehen von der Judaisierung regionaler Städte während der hasmonäischen Eroberungen. Doch Philo und Josephus verwenden die Terminologie von Mutter-polis und Kolonie, letzeres besser bekannt unter dem nicht so klangvollen Namen der »jüdischen Diaspora« (»Zerstreuung«). 17 »Mutter-polis« konnte auch die Hauptstadt innerhalb einer römischen Provinz bezeichnen. Man kann die Bedeutung des polis-Lebens im östlichen Mittelmeerraum kaum überschätzen. Die polis war die primäre Resource von Identität (man merkt das an Namen wie Nikolaus von Damaskus, Demetrius von Gadara oder auch Paulus von Tarsus), Loyalität und Zugehörigkeit. Im klassischen griechischen Denken sicherte die polis die Freiheit ihrer Bürger. Es war der einzige Platz, wo man wirklich hingehörte, wo die eigenen Gesetze und Bräuche das Gesetz waren. Was wir überdies leicht vergessen: Die antike Welt hatte keine einheitliche Zeitrechnung in Jahre, Monate, Wochen, Tage, besonders Feiertage. Jede polis hatte ihren eigenen Kalender, der vom Jahr der Gründung an zählte, mit einem passend gewählten Jahresbeginn, üblicherweise im Frühjahr oder im Herbst, mit eigenen Monatsna- ZNT 37 (19. Jg. 2016) 17 Steve Mason Das antike Judentum als Hintergrund des frühen Christentums men und -einteilungen (keineswegs selbstverständlich in Siebentage-Wochen), eigenen Göttern und heiligen Tagen. 18 Außerhalb der eigenen Heimat-polis, wenn man anderswo zu Besuch war oder sich dort niederließ, hatte man keinen garantierten Schutz. Poleis wachten sorgfältig über ihr Bürgerrecht, das grundsätzlich nur Kindern von Bürgern offenstand. Nur die Bürger der Stadt hatten vollen Anteil an allen Rechten und Zugang zu den bürgerlichen, kulturellen und bildungsmäßigen Einrichtungen. Fremde, auch wenn sie lange Zeit in der Stadt lebten, blieben Außenstehende. Sie wurden toleriert, solange ihr Aufenthalt für die Stadt von Nutzen war, etwa durch ihre Handelsbeziehungen oder besondere Fertigkeiten, aber als Nicht-Bürger blieben sie auch dann angreifbar durch Verachtung und möglicherweise auch durch härtere Behandlung von Seiten der Bürgerschaft. Die römische Herrschaft brachte einige entscheidende Veränderungen des polis-Lebens mit sich. Erstens führten die Römer, je mehr sie ihre Macht ausdehnten, eine exzellente Innovation ein: Anstatt ihr Bürgerrecht eifersüchtig zu bewachen, so wie es andere taten, boten sie es ausgewählten Eliten in den eroberten poleis an, als einen Anreiz, ihre eigenen Ambitionen mit denen Roms zu vermählen. Zweitens hatten die römischen Provinzgouverneure das letzte Wort bei den Belangen der poleis in ihrem Machtbereich. Das bedeutete nicht, dass das polis-Leben bedeutungslos wurde. In mancherlei Hinsicht wurde es beflügelt, etwa, wenn neue poleis gegründet wurden oder ältere florierten, zumal seit dem späten 1. Jh. Der Wettstreit unter den poleis war heftiger denn je, nun auch um die imperiale Gunst, um den Status der Hauptstadt, und um das Privileg, den Kaiser und Rom mit Tempelkult und Opferdarbringung zu ehren. Mit Hilfe der poleis verwalteten die Statthalter ihre Provinzen, die sie nicht als eine Masse an Territorium ansahen, sondern als Ensemble städtischer Zentren mit unterschiedlichen Eigenschaften. Ein großer Teil der Arbeit, die ein Statthalter zu leisten hatte, bestand darin, diese Zentren regelmäßig zu besuchen und die Beziehungen zu ihren Eliten zu pflegen. So weit als möglich würde er die inneren Angelegenheiten in deren Verantwortung belassen, etwa ihre Gesetze, Kalenderfragen, Brauchtum und Besonderheiten in der Lebensweise. Aber die Oberschicht der römischen Bürger oberhalb der Stadtbürger und das wachsame Auge des Statthalter sorgten miteinander für ein gemäßigtes Auftreten der poleis, besonders in Beziehung auf andere poleis und im Blick auf Minderheiten. Sie durften nicht andere poleis angreifen oder Fremde vertreiben oder sie so schlecht behandeln, dass es zu Aufständen kam. 2.3 Frömmigkeit und Opferkult Wir bewegen uns entlang eines Spektrums von Identitäts- Ressourcen, die durch die Umstände vorgegeben waren hin zu solchen, die in gewisser Hinsicht mit einer Wahl verbunden waren. Während jeder zu einem ethnos gehörte und Verbindungen außerhalb desselben nicht gern gesehen waren, hinderte das Hineingeborensein in eine Stadt niemanden daran, sich anderswo niederzulassen. Dies war kein Stigma, solange die Loyalitäten klar waren. Eine noch größere Wahlfreiheit war mit der dritten Identitäts-Ressource verbunden, ohne einen notwendigen Ortswechsel. Jedes ethnos und jede polis hatte eigene traditionelle Götter (Athene in Athen, Jupiter in Rom, Artemis in Ephesus), deren gewissenhafte Verehrung selbstverständlich niemals vernachlässigt werden durfte. Aber jeder erkannte an, dass benachbarte poleis andere Gottheiten verehrten, und es gab schwerlich Gründe, dies in Frage zu stellen. Die meisten poleis konnten unter bestimmten Umständen sogar Tempel auswärtiger Götter akzeptieren. Viele Götter hatten überall eine exotische Anziehungskraft (etwa Mithras, Isis, Dionysos), sodass es verhältnismäßig einfach war, sie an verschiedenen Orten zu verehren, wenn die lokalen Entscheidungsträger zustimmten. Jenseits der Pflicht, die Hauptgottheit(en) der polis zu verehren, deren Gottesdienst mit dem politischen und sozialen Leben eng verwoben war, war man frei, mit anderen in Beziehung zu treten, solange dies nicht zu einem Konflikt führte. Der Aspekt des antiken Lebens, der für uns wahrscheinlich am schwersten zu begreifen ist, ist die Wirklichkeit eines blutigen, übelriechenden Opfergottesdienstes. Wir tendieren unwillkürlich dazu, den antiken Gottesdienst hygienisch zu machen, wenn wir über dessen Götter und Tempel reden. Wir haben auch keine Vergleichsgrößen für die ernste Angelegenheit von Verunreinigung und Reinigung oder für das Überschreiten der Grenze zwischen heiligen und profanen Räumen. Jede polis hatte aber solche klar markierten Bereiche. Heilige Räume enthielten den Kultort der Gottheit, ein in höchstem Maße heiliger Ort, sowie Altäre in unterschiedlicher Form und Größe, einige von imposanten Ausmaßen (wie etwa der Pergamon- Altar, der jetzt in Berlin steht). Das Areal um die Altäre »Der Aspekt des antiken Lebens, der für uns wahrscheinlich am schwersten zu begreifen ist, ist die Wirklichkeit eines blutigen, übelriechenden Opfergottesdienstes.« 18 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Zum Thema diente der Schlachtung der Tiere, die nach Art und Alter der Gottheit entsprechend sorgfältig ausgewählt und vor der Schlachtung geschmückt wurden. Ein Teil des Fleisches wurde von den Flammen verzehrt, die gebratenen Stücke wurden zwischen den Priestern und der Bevölkerung aufgeteilt. Die Stadtoberen und hohen Abgeordneten durften sich, wie es in Athen, Rom und Jerusalem der Fall war, ausschließlich in heiligen oder geheiligten Räumen versammeln, deren Schwelle nur nach rituellen Waschungen und speziellen Opfern überschritten werden durfte. Die Häuser der Gottheiten durften niemals dem Geschehen von Werden und Vergehen wie etwa Geburt und Tod, Krankheit oder körperlichen Ausscheidungen ausgesetzt werden. Deshalb bedurften sie der kultischen Reinigung derer, die sie betraten. 2.4 Freiwillige Vereine, einschließlich philosophischer Schulen Wenn wir das Spektrum zunehmender Wahlmöglichkeiten weiter abschreiten, gelangen wir schließlich zu den freiwilligen Gruppenbildungen des antiken Vereinswesens (thiasos, collegium). Da sie von den Autoren der Eliten ignoriert wurden, wenn sie nicht Unruhe stifteten, verdanken wir einen großen Teil der Zeugnisse über diese Gruppen den Inschriften, die in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten Gegenstand intensiver Forschungen waren. 19 Einige Vereine waren rein lokaler Natur, etwa Händler- oder Handwerkergilden (Bäcker, Leder- oder Metallhandwerker), oder ethnische Minderheiten. Andere waren Ortsgruppen translokaler Vereinigungen, sei es, dass sie Isis, Mithras oder Christus verehrten, oder dass sie Anhänger einer philosophischen Schule waren, etwa der pythagoreischen, der platonischen oder der stoischen. Die Inschriften zeigen bei aller Vielfalt der Befunde, dass diese Gruppen sich durch private Mitgliedschaft konstituierten, die man durch spezielle Initiationsriten erlangen konnte. Ebenso geben sie Auskunft über die Beitragszahlungen für den Unterhalt des Vereins, gruppeninterne Verhaltensregeln und regelmäßige (oft monatliche) Zusammenkünfte für Geschäftliches und Geselligkeit, zur Verehrung der Gottheit, und für die Pflege der Kranken oder die Bestattung der Verstorbenen, was in der Antike in privater Zuständigkeit lag. Diese knappe Skizze soll genügen als ein kurzer Ausflug in die längst vergangenen Elite-Diskurse der Welt des antiken östlichen Mittelmeerraumes. Bevor wir nach deren Bedeutung für das Studium von »Judentum und Christentum« fragen, möchte ich auf eine eklatante Leerstelle dieses Diskurses hinweisen, nämlich das Fehlen jedweder Begrifflichkeit, die unserer Auffassung von »Religion« nahe käme. Ich meine damit nicht, dass die antiken Menschen nicht die Götter beachteten, alles andere als das, auch nicht, dass Religion in unserer Welt einfach zu definieren wäre. Was ich meine, ist dies: Seit dem Aufstieg des Christentums im 4. Jh., besonders aber seit der Aufklärung im 18. Jh., arbeitet das westliche Denken mit einer Kategorie namens »Religion«. Obwohl die Definition für Spezialisten ein notorisches Problem darstellt, ist der Begriff doch klar genug, dass beim Militär oder auch in der Verwaltung der Hospitäler oder Gefängnisse nach der Religionszugehörigkeit gefragt wird. Es handelt sich um eine separat benennbare Kategorie, die wir gewohnheitsmäßig oder aus Überzeugung von Politik, Wirtschaft, sportlichen Ereignissen, Unterhaltung, Militärdienst, medizinischer Versorgung oder öffentlicher Bildung unterscheiden. Eine Person, die sich für nichtreligiös erklärt, kann von einer Partizipation in diesem Segment des sozialen Lebens absehen, zugleich aber ungehindert Teil aller anderen Segmente sein. Obwohl wir vielleicht keine suffiziente Definition von Religion vorlegen können, meinen wir doch mit »Religion« alles, was mit Glauben an das Göttliche, mit Gottesdienst und religiösen Versammlungen, mit Ideen über Seele und Jenseits und den damit verbundenen moralischen Überzeugungen zu tun hat. In der antiken Welt war solch eine Segmentierung nicht möglich. Jeder verehrte die polis-Götter, unabhängig davon, was man persönlich glaubte, einfach in der Rolle des polis-Bürgers. Cicero und Plinius gehörten zum Priesterkollegium der Auguren, ohne persönlich von dieser Art der Wahrsagung etwas zu halten. 20 Kaisern und Militärführern oblag die Pflicht, Opferhandlungen zu leiten. Standards von Verunreinigung und Reinheit im Zusammenhang der Tieropfer waren notwendiger Bestandteil der polis-Lebens. Dasselbe gilt für Unterhaltung (das Athenische Drama war Dionysos gewidmet und wurde mit einem Opfer eingeleitet), Bildung, Sport, Medizin (alle berühmten Ärzte kamen aus Asklepios- Tempeln) und für militärisches Handeln, das ohne Opferrituale nicht denkbar war. Selbst wenn man irgendwie die Aspekte der Reinheit und des Opfers aus dem antiken Leben verdrängen könnte, wäre das im Ergebnis doch nicht das, was wir unter Religion verstehen, weil beides in unserer Lebenswelt so gut wie gar nicht vorkommt. »Seit dem Aufstieg des Christentums im 4. Jh., besonders aber seit der Aufklärung im 18. Jh., arbeitet das westliche Denken mit einer Kategorie namens ›Religion‹.« ZNT 37 (19. Jg. 2016) 19 Steve Mason Das antike Judentum als Hintergrund des frühen Christentums Obwohl Arbeiten zu griechischer und römischer »Religion« sich tendenziell auf Kult und Opfer beziehen, hat doch das, was wir heute als charakteristisch »religiöses« Verhalten bezeichnen, das, was man in Synagogen, Kirchen oder Moscheen tut, wenig bis gar nichts mit bluttriefenden Opferaltären zu tun. Und andererseits: Das Lesen und Interpretieren ehrwürdiger Texte, Gespräche über die Seele, das Göttliche und das Jenseits, moralische Ermahnung verbunden mit Pflichten gegenüber Gott und den Menschen, selbst die Sprache der Umkehr und der Bekehrung, selbst die Wiedergeburt zu einem spirituellen Leben der Disziplin und Kontemplation, das für weltliche Dinge unempfänglich war: All dies waren Themen der philosophischen Schulen, und diese waren ihrerseits sehr verschieden von unseren heutigen philosophischen Fakultäten. 21 Kurzum: Die antiken Menschen hatten keine Vorstellung von dem, was wir im Gefolge des isolierten Religionsbegriffs der Aufklärung und der amerikanischen und französischen Revolution unter »Religion« verstehen. Es gibt in der Antike kein vergleichbares Wort. Die nächstgelegenen Termini im Griechischen (thrēskeia), Lateinischen (religio) und Hebräischen (dat) haben eine wesentlich engere Bedeutung. Dabei steht der Religionsbegriff nur für einen von vielen Bereichen-- etwa das Bankwesen, Ländergrenzen, Landkarten, Gesundheitswesen, Polizei, Gefängnisse, Mittelklasse, Menschenrechte, Schulwesen, Hygiene, Abwasserwirtschaft und sanitäre Einrichtungen--, in denen wir die antike Welt keinesfalls einfach mit der unsrigen gleichsetzen können. 3. Einige Konsequenzen Wenn wir versuchen, uns in den antiken Diskurs hineinzudenken, kann dies erhebliche Auswirkungen auf unsere Vorannahmen und unsere wissenschaftliche Beschreibungssprache haben. Ich benenne abschließend fünf Gebiete, auf denen wir von einer Überprüfung unserer Terminologie profitieren können. 3.1 Judäer und Christen Die wichtigste Folgerung ist, dass Judäer und Christen zwei völlig unterschiedliche Arten von Gruppen darstellten. Sie kategorial gleichzustellen würde bedeuten, die Schweiz mit der Heilsarmee zu vergleichen oder Sommerurlauber mit Italienern. Es wäre schlicht ein Kategorienfehler. Keiner hat damals bezweifelt, dass die Judäer ein altehrwürdiges ethnos mit einem berühmten Gesetzgeber und weithin gerühmten Gesetzen waren, mit besonderen Bräuchen und Essgewohnheiten, mit eigenem Kalender und Kleidungssitten, mit einer weithin bekannten mētropolis und chōra, wo ihre besonderen Regeln respektiert wurden (etwa: keine Statuen oder figürlichen Darstellungen, kein Schweinefleisch, keine Arbeit am siebten Wochentag), mit einem erblichen Priestertum, einem spektakulären Tempel und Opferkult, einer besonderen Auffassung von Gott, einer einflussreichen Königsfamilie, mit regionalen Eroberungen und mit Soldaten, die als Söldner überall im Osten anzutreffen waren, was hie und da zur Bildung großer Auslandsgemeinden führte. Bei Philo und Josephus finden wir Beschreibungen judäischer Vereine, einschließlich philosophischer Schulen (Therapeuten, Pharisäer, Sadduzäer, Essener), wenngleich wir oft darauf bestehen, dass es sich eigentlich um »religiöse« Gruppen handelt. Wenn wir uns die Stellung der Judäer in der Alten Welt klarmachen, wird deutlich, dass Christus-Verehrung eine gänzlich andere Angelegenheit war. Christus-Verehrer in unterschiedlichen poleis bildeten definitionsgemäß freiwillige Vereine. Ob sie toleriert waren oder nicht, hing von den örtlichen Verhältnissen ab. Von Anfang an gestaltete sich, wovon die frühen Paulusbriefe und seine wiederholten Inhaftierungen zeugen, ihr Verhältnis zur polis-Kultur spannungsvoll, was sie angreifbar machte. Wir finden in den Quellen verschiedene Antworten auf dieses Problem. Einige erwarteten, aus diesem bösen Äon bald entrückt zu werden. Andere warben um rechtmäßige Anerkennung oder wenigstens Tolerierung für ihre Vereine. Andere verstanden sich als Schüler Christi als Gründer einer philosophischen Richtung oder als Weisheitslehrer, besonders seit Justin, dem Philosophen und Märtyrer, aber möglicherweise bereits im Umfeld des Lukasevangeliums, in Alexandria oder in den Paulus fern stehenden Zirkeln in Korinth. Viele andere fanden es dagegen völlig folgerichtig, sich den Judäern anzuschließen, dem Volk des Christus, und die judäischen Gesetze zu übernehmen. Die Kritik des Kaisers Julian, der in den Jahren 361-363 kurzzeitig versuchte, die vorchristlichen Verhältnisse wieder herzustellen, bezog sich genau hierauf: Ich bin, meinte er, kein großer Bewunderer der hebräisch-judäischen Kultur, verglichen »Die antiken Menschen hatten keine Vorstellung von dem, was wir im Gefolge des isolierten Religionsbegriffs der Aufklärung und der amerikanischen und französischen Revolution unter ›Religion‹ verstehen.« 20 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Zum Thema mit den kulturellen Leistungen der griechischen poleis, aber sie ist jedenfalls alt, etabliert und von einem Gott beschützt-- wie ich durch den Wiederaufbau ihres Tempels erweisen werde. Ihr Christen hättet eurer Herkunfts-polis treu bleiben oder aber, falls ihr denn Teil eines anderen ethnos werden wollt, Judäer/ Hebräer werden sollen. So wie die Dinge aber liegen, habt ihr keinen irgendwie nachvollziehbaren Ort in der Welt! 22 Unsere hartnäckige Angewohnheit, »Judentum und Christentum« zu vergleichen, verfehlt die elementaren Gegebenheiten antiken polis-Lebens. 3.2 Judaisierende Christen Diese Beobachtung führt direkt zu der zweiten. Von den frühesten christlichen Texten an bis mindestens ins 4. Jh. besitzen wir Zeugnisse von nichtjüdischen Christus-Verehrern, die das judäische Gesetz samt Schriften und Brauchtum übernommen haben, manchmal bis dahin, dass männliche Konvertiten sich der Beschneidung unterzogen und für sich und ihre Familie einen Platz im judäischen Gemeinwesen erstrebten. Wir wissen davon hauptsächlich von Polemiken gegen dieses Bestreben, angefangen von den scharfen Angriffen des Galaterbriefes über den Hebräerbrief und die Ignatiusbriefe, den ratlosen Eusebius bis hin zu Johannes Chrysostomus im Antiochien des 4. Jh. 23 Nachdem traditionelle Abwertungen solchen Judaisierens als marginal und häretisch im Verein mit dem Bild eines schwächer werdenden Judentums nach 70 das Plädoyer Marcel Simons für ein kräftiges Judentum herausgefordert hatte, das mit dem Christentum in einem engagierten Wettbewerb um Konvertiten stand, 24 stützen neuere Studien die Annahme, dass die Judäer gar kein Interesse an Konvertiten hatten. Diese Arbeiten wenden sich zunehmend linguistisch-theologischen Erklärungen des Judaisierens zu, die dasselbe hauptsächlich als eine innere Angelegenheit verschiedener christlicher Gruppen verstehen, die mit judäischen Gemeinwesen kaum etwas zu tun hatte. Aus Sicht des vorliegenden Beitrags nehme ich freilich an, dass die Dringlichkeit und Heftigkeit der in den Quellen greifbaren Kritik einen realen Hintergrund hatte: Die Bewohner der ostmediterranen poleis, die den christlichen Glauben annahmen, waren einem bedrängenden und real erfahrenen Dilemma ausgesetzt, das notwendigerweise auch die lokalen judäischen Gemeinwesen betraf. Die Folgen von Versuchen, sich diesen Gemeinwesen anzunähern oder anzuschließen, waren aus genau den Gründen absehbar, die Julian genannt hat: Christen mussten in der Welt der ethnē und der poleis ihren Platz finden. Wenn sie ihr Glaube dazu brachte, mit dem gewohnten Leben der polis zu brechen, etwa in Ephesus, Rom, Antiochien oder Thessalonich, dann bedurfte es einer anderen Gruppe. Der Wechsel in eine andere polis würde die Lage nur verschärfen. Das ethnos Jesu selbst, das eine zahlreiche und respektierte Präsenz in vielen ostmediterranen poleis vorweisen konnte, war ein naheliegender Ort, um Sicherheit, Rechtsstellung und Glaubwürdigkeit zu erlangen-- falls man dort willkommen war, wenn man auf diese oder jene Weise sein Christusbekenntnis beibehielt und den eigenen Glauben in einer Weise praktizierte, dass es keine Probleme gab. 3.3 Wie sollten wir Ioudaioi übersetzen? Es gibt keine für jeden denkbaren Fall richtige oder falsche Übersetzung. Die traditionelle und gängige, Juden, ist nicht per se falsch, und ich verwende sie oft aus Gründen der Zweckmäßigkeit. In einem althistorischen Verwendungszusammenhang ergeben sich freilich folgende Probleme: (a) Juden fügt sich glatt zu Judentum, wie man überall im Sprachgebrauch der Forschung sehen kann. Wenn man in der Antike nichts von einem Judentum wusste, wofür standen dann Juden? Die Antwort scheint mir klar zu sein: Ioudaioi standen für die in Judäa ursprünglich praktizierte Kultur. Sie standen für Judäa und ihr Name bedeutete Judäer. (b) Im Griechischen, Lateinischen und Hebräischen ist die enge Beziehung zwischen Ioudaioi/ Iudaei/ Yehudim und Ioudaia/ Iudaea/ Yehudah unübersehbar. Die linguistische Beziehung ergab sich natürlicherweise innerhalb des ethno-politischen Paradigmas. Das Volk von Syrien/ Syria waren Syroi, von Aigyptos Aigyptioi, von Idoumaia Idoumaioi, von Rōmē Rōmaioi, und so weiter. In anderen Fällen übersetzen wir ja auch so: Syrer, Ägypter, Idumäer, Römer, Gallier, Germanen, Spanier. Wenn unser Interesse darin besteht, den antiken Diskurs zu verstehen, was spricht dann dagegen, Ioudaioi in eben dieser Weise mit Judäer zu übersetzen? (c) Es scheint eine verbreitete Annahme zu geben, dass diese Übersetzung die mit Ioudaioi bezeichnete Größe unhintergehbar auf permanente Bewohner Judäas eingrenzt, und dass es deshalb einer anderen Übersetzung im Falle derjenigen Ioudaioi bedarf, die nicht in Judäa leben. Aber mit allen anderen genannten Begriffspaaren existiert die Möglichkeit einer solchen Alternativ- Übersetzung nicht, und wir haben auch keine Probleme damit, von in Rom lebenden Alexandrinern, Ägyptern, Syrern oder Spaniern zu sprechen. 25 Warum nicht auch von in Rom lebenden Judäern? Wenn wir diese Sprachregelung ablehnen, gesellen wir uns dem judäerfeindlichen Autor Apion bei, der ZNT 37 (19. Jg. 2016) 21 Steve Mason Das antike Judentum als Hintergrund des frühen Christentums so tat, als verstünde er nicht, was ein »alexandrinischer Judäer« sein soll. Josephus hat das mit Lust als Bluff entlarvt, indem er die elementaren Fakten der Migration erläuterte (Ap 2,38). Wir sind dann auch nicht in der Lage, stadtrömische Klagen über judäische (und ägyptische) fremde Sitten zu verstehen, weil wir nicht verstehen, dass hier ethno-politische Identitäten kollidieren. 26 3.4 Verfolgung Die gängigen Kategorien befördern unsere Sicht behördlicher Schikanen gegen Christen und Juden als gleichermaßen religiöse Verfolgung, als ob beide Gruppen die römische Ordnung in gleicher Weise bedroht hätten. 27 Dagegen veranlasst uns der antike Diskurs, beide Fälle durchaus zu unterscheiden. Auf der judäischen Seite war für diejenigen, die in Judäa lebten, römische Einmischung nie ein Thema-- ihre Gesetze wurden respektiert und sie wurden von Rom begünstigt- -, bis im Jahr 66 Unruhen ausbrachen und das Massaker an einer römischen Garnison eine römische Antwort erforderte. An anderen Orten hatten die Judäer die typischen Probleme ethnischer Minderheiten mit ihrer prekären Rechtssituation. In Cäsarea hat eine namhafte und wohlhabende judäische Minderheit den Versuch unternommen, die Stadt als judäische polis zu reformieren. Als Nero dieses Ansinnen ablehnte und die dortigen Spannungen sich gewaltsam entluden, wurden die Judäer umgebracht oder vertrieben. In Skythopolis und anderen poleis der Dekapolis führten judäische Vergeltungsschläge dazu, dass die Einwohner die judäischen Minderheiten bestraften oder töteten, die dort bisher in Frieden gelebt hatten (Dies ist so vorhersehbar wie beklagenswert. Man denke an die Internierung von Japanern im Westen während des 2. Weltkrieges). Die schwelenden Konflikte in Alexandria erfahren in einem Brief des Kaisers Claudius 41 n. Chr. höchstamtlich eine Klarstellung. Der Herrscher ordnet an, dass die alexandrinischen Bürger ihre große und alteingesessene judäische Minderheit weiterhin zu tolerieren haben und missbilligt ihre Gewaltbereitschaft. Die Judäer werden dazu verpflichtet, weitere judäische Zuwanderung zu unterbinden, keine weiteren Forderungen zu stellen und keine weiteren Versuche zu unternehmen, in Belangen der Stadt mitzuentscheiden-- in einer polis, die nun einmal nicht die Ihre ist. In einer aufschlussreichen Episode schildert Josephus, wie die Bürger Antiochiens versuchen, ihre judäische Minderheit zu vertreiben, der sie nach dem Krieg mit Rom Fehlverhalten vorwerfen. Titus antwortet (Bell 7,108): »Ihre Vaterstadt (patris), wohin man sie, da sie Ioudaioi sind, vertreiben müsste, ist zerstört, und sonst gibt es keinen Ort mehr, der sie aufnehmen würde«. 28 Hierbei handelt es sich keinesfalls um religiöse Verfolgung, sondern um ein Beispiel für die generelle antike Angreifbarkeit von Minderheiten, die außerhalb ihrer Heimat-polis lebten. Christliche Probleme mit den Behörden waren von gänzlich anderer Art. Christen waren keine migrierenden ethnischen Minderheiten, sondern zumeist Bürger einer polis, die, indem sie sich vom gemeinschaftlichen Gottesdienst, von öffentlichen Ämtern und allen Veranstaltungen, bei denen geopfert wurde (also von praktisch allen), zurückzogen, die Gesetze und Bräuche ablehnten, mit denen sie aufgewachsen waren. Konflikte mit den Mitbürgern waren vorprogrammiert. Probleme im alltäglichen Leben und in wirtschaftlichen Dingen mussten früher oder später die Aufmerksamkeit der Statthalter auf sich ziehen. 29 3.5 Konversion Abschließend verweise ich auf ein ähnlich gelagertes Problem im Blick auf unseren Sprachgebrauch der »Konversion« zum Judentum bzw. zum Christentum als parallele Beispiele »religiöser Bekehrung«. Auch hier legt der antike Diskurs nahe, dass es sich um völlig unterschiedliche Phänomene handelt. Auf Seiten der Judäer-- sei es, dass wir Philos Bemerkungen über Moses’ Fürsorge für die Außenstehenden heranziehen, die sich dem ethnos anschließen und dafür ihre althergebrachten Traditionen und familiären Bande hinter sich lassen (Virt 102 f.), sei es, dass wir Josephus’ elaborierte Erzählung vom Königshaus in Adiabene betrachten, das das judäische Gesetz übernimmt (Ant 20,17-96)-- geht es stets um die Übernahme einer fremden Identität, den folgerichtigen Ärger der Landsleute mit allen erwartbaren Risiken, den göttlichen Schutz für diejenigen, die sich diesen Risiken aussetzen, und in letzterem Fall um neue Bande zwischen der Königsfamilie und der judäischen Haupt-polis, wo sie sich einen Palast baut, wohin sie ihre Söhne zur Erziehung schickt, und die sie sich als Begräbnisort ausersieht. Die Gefahren, die mit dem Verlassen des eigenen ethnos und der althergebrachten Bräuche verbunden sind, gleichen denen, die bereits Herodot Jahrhunderte vorher beschrieben hat (4,76-80). Christliche »Konversion« hatte keine solchen ethnonationalen Charakteristika. Es war eine Änderung des Denkens, des Seelenlebens und der Überzeugungen, vielleicht nicht weniger tiefgreifend, aber doch viel ähnlicher dem neuen Leben eines Philosophen, wie es etwa Lukian im Nigrinus beschreibt (1-3). 22 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Zum Thema Anmerkungen 1 E. P. Sanders, Paul and Palestinian Judaism: A Comparison of Patterns of Religion, London 1977. 2 A. F. Segal, Rebecca’s Children: Judaism and Christianity in the Roman World, Cambridge 1986. 3 Vgl. u. a. D. Boyarin, Dying for God: Martyrdom and the Making of Christianity and Judaism, Stanford 1999; D.-Boyarin, Border Lines: The Partition of Judaeo-Christianity, Philadelphia 2004; S. Mason, ›Jews, Judaeans, Judaizing, Judaism: Problems of Categorization in Ancient History‹, in: Journal for the Study of Judaism 38 (2007), 457-512; B. Nongbri, Before Religion: A History of a Modern Concept, New Haven 2013. 4 Zu denken ist etwa an Erich S. Gruen, Werner Eck, Fergus Millar, Timothy Barnes und Glen Bowersock, deren reichhaltige Publikationen leicht auffindbar sind. Hinzuweisen ist auch auf die rapide Zunahme interdisziplinärer Studien- und Promotionsprogramme, ebenso auf Forschungsverbünde, die alle Aspekte der Alten Geschichte umfassen, schließlich auf die weithin bekannte Bryn Mawr Classical Review, die seit ihrer Gründung in den 1990er Jahren zunehmend auch Publikationen zum antiken Judentum und Christentum bespricht. 5 E. g. E. S. Frerichs/ W.S. Green/ J. Neusner, Judaisms and their Messiahs at the Turn of the Christian Era, Cambridge 1987; A. F. Segal, The Other Judaisms of Late Antiquity, Atlanta 1987; G. Boccaccini, Middle Judaism: Jewish thought, 300 B. C. E. to 200 C.E., Minneapolis 1991; A.F. Segal, Paul the Convert: The Apostolate and Apostasy of Saul the Pharisee, New Haven 1992. Jeffrey Siker bespricht diese erhebliche Zunahme des Interesses an den jüdisch-christlichen Beziehungen unter http: / / www.ancientjewreview.com/ articles/ 2014/ 12/ 9/ jewishchristian-relations-at-25-retrospect-prospect. 6 Herodot 4,144.165; 7,138-139 205.233; 8,30-134 u. a.; Thucydides 1,95,5; 1,132,1-2; 3,62,1; 3,63.1; Isokrates, Pan 157; Demosthenes, Arist 205. 7 Einige Sätze später verwendet Josephus einen kunstvollen Kontrast: Auch nachdem eine römische Legion mordend und brandschatzend in Judäa eingefallen war, hielten einige führende Judäer an ihrer Loyalität Rom gegenüber fest bzw. vertraten ohne jede Neigung, sich den neuen anti-römischen Truppen anzuschließen, die römischen Interessen (rhōmaizōn). 8 Letzterer Terminus begegnet nach 2Makk 6,24 nicht mehr. 4Makk 8,15 verwendet das verwandte Verb allophyleō, woran deutlich wird, wie der Verfasser das Nomen im 2Makk verstanden hat. Aber auch das Verb verschwindet sogleich wieder aus der griechischen Literatur. 9 Ignatius Phil. 6,1. Ähnlich sagt er es in Magn 10,3: »Es ist widersinnig, Jesus Christus zu sagen und zu judaisieren, denn der Ioudaismos hat an den Christianismos geglaubt, nicht umgekehrt.« 10 Origenes 32x, Eusebius 24x, Epiphanius 43x, Johannes Chrysostomus 36x, Viktorinus ca. 40x, Ambrosiaster 21x, Augustin 27x. 11 So teilweise S. Schwartz, ›How Many Judaisms were There? A Critique of Neusner and Smith on Definition and Mason and Boyarin on Categorization‹, in: Journal of Ancient Judaism 2 (2011), 203-238. 12 Hierzu G. Shipley, Pseudo-Skylax’s Periplous: the Circumnavigation of the Inhabited World. Text, Translation and Commentary, Exeter 2011. 13 Die ganannten Autoren habe ich via tlg.uci.edu durchsucht nach polis, politēs, politeia, mētropolis, ethnos, ethnikos, homoethnēs, alloethnēs. 14 Eigene Übersetzung nach dem im TLG gebotenen griechischen Text. 15 Vgl. etwa Strabo Geog 8,1; 16,2,2; Pausanias 7,16,10; Josephus Ant 1,122-139. 16 Vgl. Herodot 7,91 über die diversen Ursprünge der Zyprioten. 17 Philo Conf 78; Flacc 46; Legat 281-282; Josephus Apion 2,38. 18 A. E. Samuel, Greek and Roman Chronology: Calendars and Years in Classical Antiquity, München 1972. 19 Darunter J. S. Kloppenborg/ S. G. Wilson (Hg.), Voluntary Associations in the Graeco-Roman World, London, 1996; I. N. Arnaoutoglou, Roman Law and collegia in Asia Minor, in: Revue internationale des droits l’antiquité 49 (2002), 27-44; I.N. Arnaoutoglou, Collegia in the Province of Egypt in the First Century CE, in: Ancient Society 35 (2005), 197-216; P. A. Harland, Associations, Synagogues, and Congregations: Claiming a Place in Ancient Mediterranean Society, Minneapolis 2003; J. S. Kloppenborg/ R. Ascough/ P. A. Harland, Greco-Roman Associations: Texts, Translations, and Commentary, Berlin 2011; R. S. Ascough/ P. A. Harland/ J. S. Kloppenborg, Associations in the Greco-Roman World: A Sourcebook, Waco 2012. 20 Cicero Div 2,33; Plinius, Ep 4,8; 10,13. 21 A. D. Nock, Conversion: the Old and the New in Religion from Alexander the Great to Augustine, London 1933. 22 So lässt sich die bei Julian (Contra Galilaeos 42e-43b, 49ac, 96c-e, 100e-106e, 194d-202a, 253a-e, 305d, 314c-e, 319d-20c, 343c-58e) formulierte Position paraphrasieren. 23 Vgl. dazu M. Murray, Playing a Jewish Game: Gentile Christian Judaizing in the First and Second Centuries, CE, Waterloo 2004. 24 M. Simon, Verus Israel: étude sur les relations entre Chrétiens et Juifs dans l’Empire romain, Paris 1948, 135-425; dagegen M. S. Taylor, Anti-Judaism and Early Christian Identity: A Critique of the Scholarly Consensus, Leiden 1995. 25 Vgl. D. Noy, Foreigners at Rome: Citizens and Strangers, London 2000. 26 Tacitus Hist 5; Ann 2,85; Josephus Ant 18,83-84; Sueton Tib 36; Cassius Dio 57,18,5; 60,6,6; 67,14,2; 68,1,2. 27 So etwa R. Macmullen, Enemies of the Roman Order: Treason, Unrest and Alienation in the Empire, Cambridge 1966, 145-162. 28 Übersetzung nach Flavius Josephus, De Bello Judaico-- Der jüdische Krieg, Bd. II,2, Darmstadt 1969, 97 (mit Änderungen). Vgl. weiter Bell 2,266-70; 284-92; 458-80; P. Lond. 1912 = CPJ II.36-60 [Nr. 153]. 29 1Thess 2,2.14; Apg. 19,23-28; Plinius, Ep 10,96. ZNT 37 (19. Jg. 2016) 23 1. Die Anfänge des rabbinischen Judentums Die Anfänge des rabbinischen Judentums gehen zurück in die Zeit nach der Zerstörung des zweiten Tempels im Jahre 70 unserer Zeitrechnung. Zuvor war der Tempel das Kultheiligtum Israels, in dem Priester und Leviten den Opferdienst versahen. Das einfache Volk wirkte durch seine Abgaben an den Tempel, etwa durch Zehntgaben zur Unterstützung der Priester und Leviten, am Opferkult indirekt mit. Daneben gab es vermutlich schon zur Zeit des zweiten Tempels eine private Frömmigkeit und wohl auch schon eine Art des synagogalen Gottesdienstes. 1 1.1 Das Religionsgesetz: Die Mischna-- Leben nach Regeln Die frühesten rabbinischen Texte, nämlich die Traktate des in der Mischna zusammengestellten rabbinischen Religionsgesetzes, geben ein anschauliches Bild, wie sich die Rabbinen ein gottesfürchtiges Leben für alle Israeliten vorstellten: Männer sollen morgens den Tag mit einem Gebet beginnen und den Tag auch mit einem Gebet beschließen. Der Traktat Berachot regelt darüber hinaus minutiös den Tagesablauf. So sollte der Glaube an den Gott Israels das Leben bis in die alltäglichen Kleinigkeiten hinein prägen. Bereits um 200 in unserer Zeitrechnung haben die Rabbinen ein in sechs Ordnungen aufgeteiltes Religionsgesetz erarbeitet, das das gesamte Leben strukturiert. In der ersten Ordnung wird hauptsächlich das Steuerrecht behandelt, das an die früheren Abgaben an den Tempel anknüpft. Die zweite Ordnung enthält die Regeln für die Fest- und Feiertage. Die dritte Ordnung verhandelt das Familienrecht und Fragen, die assoziativ mit dem Familienrecht verbunden sind (etwa: Wie werden Gelübde abgelegt, oder: Wie verhalte ich mich, wenn meine Frau oder meine Tochter ohne mein Wissen ein Gelübde abgelegt hat, mit dem ich nicht einverstanden bin). Die vierte Ordnung ist dem Strafrecht gewidmet, die fünfte Ordnung enthält Reinheitsvorschriften und die sechste Ordnung archiviert die Vorschriften, die für den Tempelkult relevant sind. Zusätzlich zu den Vorschriften in der Mischna, die nur jeweils knapp und zumeist ohne Begründung zusammengestellt worden sind, haben die Rabbinen zusätzlich Kommentare zur hebräischen Bibel, vor allem zu den fünf Büchern der Tora verfasst, um darin die Grundlagen für das Religionsgesetz noch einmal aus der Bibel selbst abzuleiten. In diesen Kommentaren, den Midraschim, wird die hebräische Bibel aus der Sicht der Rabbinen erklärt. Unverständliche Begriffe werden vor dem Hintergrund des rabbinischen Sprachgebrauchs erläutert, die einzelnen Aussagen der Bibel werden so ausgelegt, dass neue Erkenntnisse aus der Bibel deduziert werden können. Dazu benutzte man die Middot, die Auslegungsregeln, auf deren Anwendung die Rabbinen sich einigten. Programmatisch stehen die Middot dem ersten Buch, das in der rabbinischen Tradition studiert wird, voran, der Auslegung des Buches Leviticus, dem Midrasch Sifra. 1.2 Die Rabbinen Das rabbinische Judentum formierte sich in Gestalt zahlreicher einzelner Gelehrter, die die Bibel studierten, auslegten, in Bezug auf religiöse Entscheidungen gefragt wurden und wohl auch Recht sprachen. Sie traten einzeln auf und scharten einen Schülerkreis um sich. Die an den verschiedenen Lehrorten entwickelten Lehren fanden ihren ältesten Niederschlag in der Mischna, die, so die Überlieferung, Rabbi Jehuda ha-Nasi (»Jehuda der Fürst«) maßgeblich geprägt hat. Dabei konnte er freilich, so die Auskunft des Rab Scherira Gaon (Oberhaupt der babylonischen Akademie des 10. Jh.), auf ganze Traktate zurückgreifen, die bereits vorlagen. 2 In der Forschung wurde immer wieder der Versuch unternommen, die soziale Situation der Rabbinen aus der rabbinischen Literatur zu erschließen. 3 Dem sind freilich enge Grenzen gesetzt: Die Texte selbst sind in erster Linie als theologische Schriften konzipiert, die nicht über die historische Lebenswirklichkeit ihrer Protagonisten berichten wollen. Wenn diese Lebenswirklichkeit zur Sprache kommt, geschieht dies im Dienst idealisierter Lehrbeispiele. Rabbinische Gelehrte in der rabbinischen Literatur dienen als leuchtende Vorbilder, 4 oder sie werden in Situationen Dagmar Börner-Klein Was ist Rabbinisches Judentum? Zum Thema »Rabbinische Gelehrte in der rabbinischen Literatur dienen als leuchtende Vorbilder.« 24 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Zum Thema den frühen Christen und mit der sonstigen umgebenden Kultur zu finden. 7 Tatsache ist jedoch, dass jede einzelne rabbinische Schrift ohne diese Bezüge als eigenständige Textkomposition lesbar ist, die sich mit spezifisch rabbinischen Fragestellungen auseinandersetzt und mit rabbinischen Methoden konzipiert wurde. Jede Einzelschrift, d. h. jeder einzelne Traktat und jeder einzelne Midrasch, weist eine eigene Textkomposition auf, arbeitet mit eigenen sprachlichen Mustern und fokussiert bestimmte Themen. 8 Zur Beantwortung der themagebenden Frage »Was ist rabbinisches Judentum? « stehen uns zwei Wege offen: Wir können diese Frage literaturgeschichtlich angehen und die rabbinischen Schriften in der Reihenfolge ihrer Entstehung daraufhin untersuchen, welche Themen immer wiederkehren und das besondere Interesse der Rabbinen auf sich zogen. Wir würden diesen Weg mit den Traktaten der Mischna beginnen, dann zum Vergleich die Traktate der Tosefta heranziehen und in einem dritten Schritt die halachischen Midraschim, die hebräisch verfassten Kommentare zu Exodus, Leviticus, Numeri und Deuteronomium zu Rate ziehen. In einem weiteren Schritt würden wir den hebräisch-aramäisch verfassten Kommentar zur Genesis (Genesis Rabba) und die Kommentierung des palästinischen Talmud zur Mischna befragen, die aufgrund sprachlicher Indizien in das 5. Jh. unserer Zeitrechnung datiert werden. In einem weiteren Arbeitsgang würden wir das Kommentarwerk des babylonischen Talmud sichten. Das bis dahin zusammengetragene Material könnten wir sodann durch die übrigen Midraschim sowie durch die Kommentarliteratur des Mittelalters zu den rabbinischen Schriften ergänzen. Diese literaturgeschichtliche Betrachtungsweise, die die rabbinischen Schriften chronologisch nach ihrer Entstehungszeit ordnet, eröffnet einen Blick auf die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte rabbinischen Denkens. Ich wähle aber einen weniger aufwendigen Weg, der ebenso geeignet ist, uns einen lebendigen Eindruck dessen zu verschaffen, was rabbinisches Judentum ist. Ich greife exemplarisch zwei Schriften heraus, die ich auf ihre Hauptaussagen hin untersuche, und zwar anhand einiger ausgewählter Beispieltexte, damit Leserinnen und Leser, die mit dieser Literatur sonst gar nicht in Berührung kommen, aus den Texten selbst einen eigenen Eindruck gewinnen können. Zuerst stelle ich eine Schrift vor, die sich nicht nur-- wie die Traktate der Mischna es tun-- einem spezifischen Thema des rabbinischen Religionsgesetzes widmet, sondern sowohl Religion als auch Ethik des rabbinischen Judentums in den Blick nimmt. Es handelt sich um das »Seder Elijahu Rabba« (SER) geschildert, in denen sie sich bewähren. In erster Linie aber sind sie Repräsentanten ihrer Lehren. Auch die überlieferten Dialoge sind kaum Protokolle tatsächlicher Lehrgespräche von Angesicht zu Angesicht. Die zahlreichen Parallelüberlieferungen mit ihren größeren und kleineren Abweichungen lassen eher auf unterschiedliche literarische Traditionsprozesse schließen. In einem frühen Stadium waren die Rabbinen daran interessiert, das Zusammenleben der unterschiedlichen Gruppen in Israel zu organisieren. Wir wissen von Josephus und aus den Schriften des Neuen Testaments, dass es Pharisäer, Sadduzäer und Schriftgelehrte gab, die unterschiedliche politische und theologische Ansichten vertraten. Aus den Qumranschriften wissen wir außerdem, dass es noch andere Gruppierungen in Israel gab, die in den rabbinischen Schriften gar nicht erwähnt werden. Nur ganz am Rande erwähnen sie Gruppen Andersdenkender wie etwa die Boethusier, die wohl den Sadduzäern zuzurechnen sind. 5 Ansonsten gehen sie nur sehr allgemein auf die Frage ein, wie man sich vom Götzendienst fernhält, und wie man sich davor hüten kann, auf den falschen Weg zu geraten. Dazu gehört aus rabbinischer Sicht auch, sich nicht mit nichtbiblischen Schriften zu beschäftigen, vor allem, wenn sie in Griechisch geschrieben sind. 6 2. Die rabbinische Literatur Die Forschung hat in den letzten Jahren einige Anstrengungen unternommen, zwischen den Zeilen der rabbinischen Schriften Spuren der Auseinandersetzung mit Dagmar Börner-Klein, 1990 promoviert in Judaistik an der Universität Wien, 1996 habilitiert in Judaistik an der Universität zu Köln, ist Professorin für Jüdische Studien mit dem Schwerpunkt rabbinische Literatur an der Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf. Ihr derzeitiger Forschungsschwerpunkt ist der Jalkut Schimoni, ein Bibelkommentar zur gesamten hebräischen Bibel, zusammengestellt aus Lehren aus Talmud und Midrasch. Prof. Dr. Dagmar Börner- Klein ZNT 37 (19. Jg. 2016) 25 Dagmar Börner-Klein Was ist Rabbinisches Judentum? auch »Tanna debe-Elijahu« genannt. Dieses Werk aus dem 8. Jh. unserer Zeitrechnung wird bereits der Autorenliteratur zugordnet, wenngleich der Verfasser anonym bleibt. Das Buch war weit verbreitet und in regem Gebrauch und weist daher eine lebhafte Texttradition auf, auf die wir hier nicht einzugehen brauchen. 2.1 Das rabbinische Judentum nach Seder Elijahu Rabba (SER) In der Einleitung zu ihrer englischen Übersetzung des Werkes geben William G. (Gershon Zev) Braude und Israel J. Kapstein 9 die folgende zusammenfassende Einleitung zu SER: 10 Der Leser wird schnell […] die grundlegenden Lehren des Judentums erkennen: Gott ist einzig, der Schöpfer und Erhalter der Welt, dessen Wort, die Tora, solange als Leitlinie für Israel dienen soll, bis der Messias erscheinen wird, um die immerwährende Gottesherrschaft in der kommenden Welt beginnen zu lassen. Im Einklang mit diesem Summarium-- interessant ist übrigens das skizzierte Verhältnis von Tora und Messias-- präsentiere ich im Folgenden einige Abschnitte, die die Eigenart des rabbinischen Judentums deutlich herausstellen. Dabei spielt die Erwählung Israels vor den anderen Völkern der Welt durch Gott, die durch das Annehmen der Gebote der Tora besiegelt wird, eine entscheidende Rolle. 2.1.1 Die Bedeutung der Tora für Israel Die Bedeutung der Tora für Israel wird insbesondere in einem Abschnitt aus dem vierten Kapitel 11 deutlich. Dort wird der Gelehrte in Israel beschrieben, wie er darum bemüht ist, die Tora, das Wort Gottes zu studieren und auszulegen. Mit seiner Gelehrsamkeit bringt er Ruhm und Ehre über Jerusalem, in dem einst der Tempel stand, auf dem Gottes Gegenwart ruhte. Er ehrt mit seinem Studium aber auch das Lehrhaus, das ihn in die Traditionskette von Gelehrten einreiht, die, seit Mose die Tora am Sinai vermittelt wurde, die Lehren der Tora von Generation zu Generation weiterreichen. So bezieht SER die Worte aus Jes 63,11 vom Ruhen des Geistes Gottes auf den Gelehrten: Auf ihm, der die Tora studiert, ruht der Geist. Studiert er die Tora, gibt Gott seinen Geist »in ihn«. Diese Formulierung lautet im Hebräischen wörtlich »in seine Mitte« (b e qirbo). Auch im Hebräischen gäbe es hierfür einfachere Formulierungen, eine Textbeobachtung, die das gelehrte Interesse der Rabbinen auf sich zieht: Birgt die aufwändigere Formulierung einen tieferen Sinn? Das Wort b e qirbo wird jedenfalls einer eigenen Auslegung unterzogen: Durch das Vertauschen der beiden letzten Buchstaben liest er aus dem Wort heraus, dass Gott »bald« (b e qaroḇ) für Israel Erlösung erwirkt, wenn die Gelehrten sich voll und ganz mit dem Studium der Tora beschäftigen. Der Abschnitt in SER lautet: [Und ebenso] jeder einzelne Weise aus Israel, in dem wahrhaftig die Worte der Tora sind, der seufzt um Willen der Ehre des Heiligen, gepriesen sei er, und um Willen der Ehre Israels, all seine Tage. Und der begehrt und ersehnt und Ausschau hält nach der [Wiederherstellung der] Ehre Jerusalems und nach der Ehre des Lehrhauses und auf Erlösung, die du bald ( b e qaroḇ ) hervorbringst, und auf die Versammlung der in der Zerstreuung Lebenden. Der Geist des Heiligen ist in seinen Worten. [Denn es heißt: ] Der den Geist seines Heiligen in ihn ( b e qirbo ) gab. (Jes 63,11) Von hier sagten sie: Jeder Schüler eines Weisen, der sich beständig den ganzen Tag lang mit der Tora beschäftigt, um die Ehre des Himmels zu mehren, bedarf keines Schwertes, noch einer Lanze, noch eines Speeres, denn der Heilige, gepriesen sei er, bewacht ihn selbst. Und seine Dienstengel stehen um ihn herum, sie alle mit Schwertern in der Hand. [Und sie bewachen] ihn, denn es heißt: Gottes Erhebung ist in ihrer Kehle und zweischneidiges Schwert in ihren Händen. (Ps 149,6) Ganz nebenbei wirft dieser Text ein kleines Licht darauf, dass es in der Welt der Rabbinen beileibe nicht nur die Tora gab, sondern etwa auch Engel, die die Rabbinen beim Torastudium beschützen. Schon das Judentum des zweiten Tempels kannte eine ausgeprägte Engellehre. 2.1.2 Gottes Erwählung von Israel SER 6 (7) hebt hervor, dass Gott zu Israel ein besonderes Verhältnis pflegt. Um dies zu verdeutlichen, benutzt der anonyme Autor die Midraschform, d. h. er legt einen Vers der hebräischen Bibel aus, in diesem Fall Hld 1,4 »Zieh mich hinter dir her, wir wollen laufen«: 12 Hld 1,4 Zieh mich hinter dir her, wir wollen laufen. Dies ist die Gemeinde Israels, die gezogen wird und hinter ihrem Herrn herläuft, denn es heißt: Aus der Ferne ist mir JHWH erschienen und mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt, daher habe ich dich gnadenvoll gezogen. (Jer 31,3) Es heißt nicht »mit viel Liebe« sondern »[mit] ewiger Liebe«. 26 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Zum Thema Vielleicht sagst du, die Liebe, mit der der Heilige, gepriesen sei er, liebt, ist eine von drei Jahren oder eine Liebe von zehn Jahren oder eine Liebe von hundert Jahren. Sie ist nichts anderes als eine Liebe auf alle Ewigkeiten, denn es heißt: Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt. (Jer 31,3) Dass dieses Lieben aber mit einer verantwortlichen Lebenspraxis einhergeht, verdeutlicht SER in Kapitel 7: 13 Daher lieben dich Welten (olamot). 14 (Hld 1,2) Liest ein Mensch [Bibel] und lernt nicht [Mischna], steht er noch außerhalb [der rabbinischen Tradition]. Lernt er, liest aber nicht, steht er noch außerhalb. Liest er und lernt er, dient aber nicht den Weisen, gleicht er jemandem, dem die Worte der Tora [aus dem Gedächtnis] entschwinden ( nä´älmu ), denn es heißt: Nachdem ich zurückgekehrt bin, habe ich bereut. (Jer 31,19) Liest aber ein Mensch Tora, Propheten und Schriftwerke und lernt Mischna, Midrasch, Halachot und Aggadot 15 und dient den Weisen, selbst, wenn er um deinetwillen stirbt, selbst, wenn er um deinetwillen getötet wird, so ist er in Freude für ewig (l e olam). Daher ist gesagt: Daher lieben dich Verewigte (olamot). (Hld 1,2) Ich habe in dem zitierten Textstück bei einigen Wörtern das entsprechende hebräische Wort hinzugesetzt. Es handelt sich um wichtige Bezugswörter, die im Hebräischen ähnlich klingen und durch diese Klangähnlichkeit Querbezüge zwischen entlegenen Bibelstellen schaffen. Das ist wichtig, um zu verstehen, wie Hld 1,2 ausgelegt wird: Der Vers müsste nach der geltenden Vokalisierung übersetzt werden mit: Darum lieben dich Mädchen (alamot). Der Ausleger liest nun nicht »alamot«, sondern »olamot« (»Welten«) und spielt im Folgenden mit der Klangähnlichkeit dieser und anderer Wörter. Da uns nur eine Welt bekannt ist, muss geklärt werden, was der Plural olamot bedeutet. Da es im rabbinischen Hebräischen ein Verb gibt, das ähnlich klingt, wird zunächt erklärt, dass demjenigen die Worte der Tora »entschwinden« (nä´älmu), der zwar lernt, aber nicht den Weisen dient. Dann wird betont, dass, wenn jemand die Tora und die rabbinischen Schriften lernt, die Freude »ewig« ist, was im Hebräischen mit l e olam wieder eine Klangähnlichkeit zu olamot aufweist. Die Bedeutungsvariante, die von l e olam (»ewig«) herzuleiten ist, wird wiederum auf olamot in Hld 1,2 übertragen. »Olamot« sind dann die »Verewigten«, diejenigen, die sich mit dem Studium der rabbinischen Schriften die Ewigkeit erworben haben. An diesem Textbeispiel wird ein zentrales Merkmal rabbinischer Hermeneutik anschaulich: Die biblischen Texte werden dadurch in ihrer Tiefe erschlossen, dass zwischen Bibelstellen unterschiedlicher biblischer Bücher, die auf den ersten Blick überhaupt nichts miteinander zu tun haben, durch Stichwortassoziationen Bezüge hergestellt werden und einander gegenseitig erklären. 2.1.3 Erwählung verpflichtet: Gerechtigkeit, Wohltätigkeit, Beschneidung Aber nicht nur das Studium der rabbinischen Schriften, sondern auch Gerechtigkeit und Wohltätigkeit, die ein Mensch seinen Mitmenschen erweist, ist im rabbinischen Judentum von zentraler Bedeutung. In Kapitel (10) 11 16 wird in SER die Geschichte von zwei Priesterfamilien erzählt, die ratsuchend vor Rabban Jochanan ben Sakkai treten und zu ihm sagen: »Meister, unsere Söhne sterben alle im Alter von achtzehn, fünfzehn und zwölf Jahren.« Woraufhin Jochanan ben Sakkai zu ihnen sagte: »Ein solcher vorzeitiger Tod kann nur bedeuten, dass ihr Nachkommen von Eli seid, über den in 1. Sam 2,33 die Verwünschung ausgesprochen wurde, dass alle Nachkommen seines Hauses in jungen Jahren sterben sollen.« Die Frage, was dagegen zu tun sei, beantwortet ben Sakkai dann folgendermaßen: »Wenn ein Sohn die Pubertät erreicht, soll sein Wert in Gütern und Geld abgewogen und alles für wohltätige Zwecke gestiftet werden, da es in Prov 10,2 heiße: »Wohltätigkeit errettet vom Tode«. Die Familien verfuhren nach diesem Rat und konnten sich so vor dem Tode retten. Kapitel (13) 14 enthält einen Katalog dessen, was Gott von den Menschen erwartet. Maßgeblich ist hierbei Ps 15,2-5: 1) Untadelig zu wandeln und 2) Recht zu üben und 3) mit Herzen die Wahrheit zu sprechen,-4) niemanden zu verleumden, 5) seinem Nächsten nichts Böses zuzufügen und 6) gegen Verwandte keine Schmähungen zu erheben. 7) Ein Verächtlicher soll einem nicht wichtig sein, 8) man solle den Ewigen fürchten. 9) Man schwört zum Schaden [des Schuldigen] 17 und verändert es nicht, 10) man gibt sein Geld nicht auf Zins und 11) nimmt keine Bestechung gegen den Unschuldigen an. Kapitel 18 ergänzt weitere Hinweise zum richtigen Verhalten: 18 Stets soll ein Mann zuvorkommend in seinem Auftreten sein, bescheiden (fromm, »chassid«) beim Hinsetzen (d. h. er soll lieber den Stuhl als den Sessel wählen) und umsichtig in Bezug auf die Gottesfurcht. Er soll den Frieden mit seinen Geschwistern, seinem Vater und seiner Mutter pflegen, ebenso mit seinem Lehrer, der ihm die Bibel gelehrt hat, und mit seinem Lehrer, der ihm die Mischna gelehrt hat. Ja, er soll sogar mit jedem Menschen in der Welt in Frieden leben. Er ZNT 37 (19. Jg. 2016) 27 Dagmar Börner-Klein Was ist Rabbinisches Judentum? sei ein Mann, der die Wahrheit anerkennt und das sagt, was in Wahrheit in seinem Herzen ist, denn »eine milde Antwort, wendet den Zorn ab.« (Prov 15,1) SER betont in Kapitel (24) 22 außerdem, dass der Bund der Beschneidung eingehalten werden muss. 19 In Kapitel (26) 24 wird hervorgehoben, dass es selbstverständlich auch darum geht, die Gebote einzuhalten, 20 und Kapitel (28) 26 stellt heraus, wie wichtig es ist, Gott zu lieben. Das zeigt sich darin, dass man diese Liebe auch nach außen zeigt. Man spricht daher das »Höre Israel« 21 nicht leise, sondern vernehmlich. 22 Außerdem verhält sich ein Tora-Gelehrter so, dass sein Gott und den Menschen wohlgefälliges Verhalten stets sichtbar ist. Diese hier zur Sprache gebrachten ethisch-moralischen Aspekte sind in SER eingebettet in eine Auslegung der Geschichte Gottes mit Israel. Geschichten zu erzählen, um den Leser aufzubauen und ihn zu belehren, ist überhaupt ein weiteres wichtiges Element des rabbinischen Judentums, das ich nun anhand eines Beispiels einer zweiten rabbinischen Schrift vorstellen will. Ich wähle dazu den Traktat Berachot des babylonischen Talmud. 2.2 Der babylonische Talmud, Traktat Berakhot Die folgende Geschichte (Ber 5b) handelt von einem finanziellen Schicksalsschlag und der Frage, ob dieser etwa als ein Fingerzeig Gottes zu verstehen sei: 23 R. Hona wurden vierhundert Fässer Wein sauer. Da besuchte ihn R. Jehuda, Bruder R. Sala des Frommen und die Rabbanan 24 , manche sagen, R. Ada b. Ahaba und die Rabbanan, und sie sprachen zu ihm: Möge der Meister seine Taten prüfen. Er erwiderte ihnen: Bin ich in euren Augen verdächtig [etwas falsch gemacht zu haben und dafür von Gott bestraft zu werden]? Sie entgegneten: Ist denn etwa der Heilige, gepriesen sei er, verdächtig, eine Strafe ohne Recht zu verhängen? Da erwiderte er ihnen: Wenn jemand etwas über mich gehört [hat], so möge er es sagen. Da sprachen sie zu ihm: Dies haben wir gehört, der Meister gäbe seinem Gärtner keine Weinranken [als Geschenk für seine Arbeit im Garten]. Er erwiderte ihnen: Lässt er mir etwa davon etwas übrig, er stiehlt sie mir ja alle. Da sprachen sie zu ihm: Das ist es, was die Leute sagen: Stiehl vom Dieb, und du empfindest den Geschmack. Daraufhin sprach er zu ihnen: Ich nehme [die Verpflichtung] auf mich, sie ihm zu geben. Manche sagen, der Essig wurde wieder Wein, und mache sagen, der Essig wurde so teuer, dass er zum Weinpreis verkauft wurde. Rab Hona hat hier das Problem, dass er seinen Gärtner verdächtigt, ihn zu bestehlen. Das Sprichwort, das geboten wird, um den Sachverhalt auf den Punkt zu bringen, sagt, dass Hona nicht besser ist als der Gärtner, den er verdächtigt, ein Dieb zu sein. Dem Verdacht müsste er nämlich nachgehen und den Gärtner zur Rede stellen, damit der Verdacht aufgelöst wird. Tut Hona das nicht, nutzt er diese Situation aus, um den Gärtner vielleicht zu Unrecht verdächtigen zu können, um ihm keine Weinranken, also kein Trinkgeld für seine Dienste, geben zu müssen. Dafür wird er bestraft, sein Wein wird zu Essig. Erst als er den Gärtner angemessen behandelt, sind seine Geschäfte wieder erfolgreich. Der Epilog dieser kleinen Geschichte, der davon handelt, wie R. Honas Eingeständnis und seine Verhaltensänderung gegenüber dem Gärtner belohnt wurden, ist im Übrigen nicht ohne Humor: Die Wege, den strafhalber erlittenen Wertverlust wieder auszugleichen, sind wunderbar: Die wundersame Rückverwandlung des Essigs in Wein und die wundersame Preissteigerung des Essigs erfüllen beide denselben Zweck. 2.2.1 Gebete und Segen Neben dem narrativen Aspekt der rabbinischen Literatur gibt der Traktat Berachot auch eine reiche Anschauung von Gebets- und Segenstexten, die wesentlich zur rabbinischen Lebensweise und Gottesverehrung dazugehören. Einen Einblick in den von Gebet geprägten Tagesablauf der rabbinischen Gelehrten in talmudischer Zeit-- und davon, wie alles im gelehrten Disput in der Länge und Breite verhandelt wurde-- gibt Ber 11b: Rabbi Jehuda sagte im Namen Samuels: Wer früh aufsteht, um zu lernen, muss, bevor er das »Höre Israel« 25 spricht, den Segensspruch [»mit großer Liebe«] 26 sprechen und, nachdem er das »Höre Israel« gesprochen hat, muss er keinen [Segensspruch] sprechen, denn er ist bereits durch »mit großer Liebe« davon befreit. R. Hona sagte: Zum [Studium der] Bibel muss man einen Segensspruch sprechen, zum [Studium] des Midrasch braucht man keinen zu sprechen. Rabbi Eleasar sagte: Zum [Studium] der Bibel und des Midrasch muss man einen Segensspruch sprechen, zum [Studium] der Mischna braucht man keinen zu sprechen. »Geschichten zu erzählen, um den Leser aufzubauen und ihn zu belehren, ist [...] ein [...] wichtiges Element des rabbinischen Judentums.« 28 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Zum Thema Und R. Jochanan sagte: Auch zum Studium der Mischna muss man einen Segensspruch sprechen [aber man braucht keinen zum Studium des Talmud zu sprechen]. Und Rabba sagte: Auch zum [Studium] des Talmud muss [man einen Segensspruch sprechen], denn Rab Chijja bar Aschi sagte: Zeitweise stand ich vor Rab, um Abschnitte aus dem [Buch] Sifra 27 der Schule Rabs zu lernen. Er wusch zuerst seine Hände, sprach einen Segensspruch und lehrte uns [dann] einen Abschnitt. Wie lautet der Segensspruch? Rab Jehuda sagte im Namen von Samuel: Der uns durch seine Gebote geheiligt und uns befohlen hat, uns mit den Worten der Tora zu befassen. R. Jochanan beendete ihn so: Lass angenehm sein, oh Herr, unser Gott, die Worte deiner Tora in unserem Munde, sowie in dem Munde deines Volkes, des Hauses Israel. Mögen wir alle, unsere Nachkommen und die Nachkommen deines Volkes, des Hauses Israel, deinen Namen erkennen und uns mit deiner Tora befassen. Gepriesen seist du, o Herr, der sein Volk Israel die Tora lehrt. Rab Hamnuna sagte: Der uns von allen Völkern erwählt und uns seine Tora gegeben hat. Gepriesen seist du, o Herr, der du die Tora gegeben hast. Rab Hamnuna sagte: Dieser ist der beste unter den Segenssprüchen. Daher sage man sie alle. Dieses Textbeispiel veranschaulicht ein weiteres wichtiges Merkmal der rabbinischen Literatur: Eine normative Lehrentscheidung sucht man hier vergeblich. Vielmehr werden einfach Lehrmeinungen mehrerer Rabbinen nebeneinander gestellt. Man kann diese Eigenheit der rabbinischen Texte durchaus »undogmatisch« nennen: Auch in einer solch wichtigen Frage, zu welchen Gelegenheiten Gott wie gelobt werden soll, geht es offenbar nicht um verbindliche Festlegungen, sondern um eine Sammlung möglicher Auffassungen und Verfahrensweisen. So gesehen hat der rabbinische Diskurs den Charakter eines unabgeschlossenen Lehrgesprächs, das bis heute andauert. Der folgende Abschnitt Ber 16b leitet die Schlusskommentierung zum zweiten Kapitel von Berachot ein (Ber 16b-17a): Wenn R. Eleasar sein Gebet beendete, pflegte er folgendes zu sagen: Möge es dein Wille sein, oh Herr, unser Gott, dass du uns in unserem Schicksal Liebe, Brüderschaft, Frieden und Freundschaft angedeihen lassest, dass du unsere Grenze mit Schülern erweiterst, dass du unser Ende mit Erfolg und Hoffnung gelingen lassest, dass du unseren Anteil in den Garten Eden setzest, dass du uns in deiner Welt mit guten Sitten und mit gutem Trieb ausrüstest, dass wir auferstehen und das Verlangen unseres Herzens finden, deinen Namen zu fürchten, und dass vor dich unser Seelenwunsch zum Guten komme. In der rabbinischen Überlieferung, in der der Text zunächst ohne Satzzeichen fortlaufend geschrieben wurde, werden größere Sinneinheiten häufig durchstrukturiert, indem Dreier-, Neuner- Zehner- oder Zwölferreihen von ähnlichen Beispielen zusammengestellt werden. Diese Beispielketten dienen dazu, den Anfang oder das Ende von Sinneinheiten inhaltlich zu kennzeichnen. Der obige Abschnitt, wie Gebete beendet werden, bildet den ersten Abschnitt in folgender Zehnerreihe: 2 Wenn R. Jochanan sein Gebet beendete, pflegte er folgendes zu sagen: Möge es dein Wille sein, oh Herr, unser Gott, dass du auf unsere Schmach blickest und auf unser Elend schaust, dass du dich mit deiner Barmherzigkeit bekleidest und mit deiner Macht bedeckst, dich in deine Liebe hüllst und mit deiner Gnade umgürtest. So möge doch deine Eigenschaft der Güte und der Sanftmut vor dich treten. 3 Wenn R. Zera sein Gebet beendete, pflegte er folgendes zu sagen: Möge es dein Wille sein, oh Herr, unser Gott, dass wir nicht sündigen und uns nicht vor unseren Vätern schämen und zu Schanden werden. 4 R. Chijja pflegte, nachdem er gebetet hatte, folgendes zu sagen: Möge es dein Wille sein, oh Herr, unser Gott, dass deine Tora unsere Beschäftigung sei, und dass unser Herz nicht betrübt und unsere Augen nicht verdunkelt werden. 5 Rab pflegte nach seinem Gebet folgendes zu sagen: Möge es dein Wille sein, oh Herr, unser Gott, dass du uns ein langes Lebens gibst, ein Leben des Friedens, ein Leben der Güte, ein Leben des Segens, ein Leben des Erwerbs, ein Leben der Körperkraft, ein Leben, in dem Sündenscheu sei, ein Leben ohne Schande und Schmach, ein Leben des Reichtums und der Ehre, ein Leben, in dem die Liebe zur Tora und Gottesfurcht in uns sei, ein Leben, in dem du uns alle unsere Herzenswünsche zum Guten erfüllst. »[D]er rabbinische Diskurs [hat] den Charakter eines unabgeschlossenen Lehrgesprächs, das bis heute andauert.« ZNT 37 (19. Jg. 2016) 29 Dagmar Börner-Klein Was ist Rabbinisches Judentum? 6 Rabbi pflegte nach seinem Gebet folgendes zu sagen: Möge es dein Wille sein, oh Herr, unser Gott und Gott unserer Väter, dass du mich schützest vor Frechlingen und vor Frechheit, vor einem bösen Menschen und einem bösen Ereignis, vor dem bösen Trieb, vor schlechtem Umgang, vor einem bösen Nachbarn, vor dem verderblichen Satan, vor strengem Gericht, und vor einem hartherzigen Prozessgegner, sei er Glaubensgefährte oder sei er kein Glaubensgefährte.-- Obgleich Rabbi von Bedienten umgeben war. 7 R. Safra pflegte nach seinem Gebet folgendes zu sagen: Möge es dein Wille sein, oh Herr, unser Gott, dass du Frieden stiftest in der oberen und in der unteren Familie, und unter den Schülern, die sich mit deiner Tora befassen, sei es, dass sie es um ihrer selbst willen tun, sei es, dass sie es nicht um ihrer selbst willen tun. Alle aber, die sich damit nicht um ihrer selbst willen befassen, mögen, so sei es dein Wille, sich damit um ihrer selbst willen befassen. 8 R. Alexandri pflegte nach seinem Gebet folgendes zu sagen: Möge es dein Wille sein, oh Herr, unser Gott, dass du uns in eine Ecke des Lichts stellst und nicht in eine Ecke der Finsternis, dass unser Herz nicht betrübt und unsere Augen nicht verdunkelt werden. Manche sagen: Dies pflegte R. Hamnuna zu sagen, R. Alexandri aber pflegte, nachdem er gebetet hatte, folgendes zu sagen: Herr des Weltalls, offen und bekannt ist es vor dir, dass es unser Wille ist, deinen Willen zu vollziehen, doch verhindert dies nichts anderes als das Saure im Teig und die Knechtschaft der Regierung. Möge es dein Wille sein, dass du sie vor und hinter uns wirfst, und dass wir zurückkehren, die Gesetze deines Willens mit ganzem Herzen auszuüben. 9 Raba pflegte nach seinem Gebet folgendes zu sagen: Mein Gott, bevor ich gebildet wurde, war ich nichts wert, und auch jetzt, da ich gebildet worden bin, ist es ebenso als wäre ich nicht gebildet worden. Staub bin ich in meinem Leben, umso mehr nach meinem Tode. Siehe, ich bin vor dir wie ein Gefäß voll Scham und Schmach. Möge es dein Wille sein, oh Herr, mein Gott, dass ich nimmer sündige. Was ich aber vor dir gesündigt habe, spüle weg mit deiner großen Barmherzigkeit, jedoch nicht durch Züchtigungen und böse Krankheiten. Dies war auch das Sündenbekenntnis von R. Hamnuna, des jüngeren, am Versöhnungstag. 10 Wenn Mar, der Sohn Rabinas, sein Gebet beendet hatte, pflegte er folgendes zu sagen: Mein Gott, bewahre meine Zunge vor Bösem, meine Lippen vor trügerischem Reden. Denen, die mir fluchen, schweige meine Seele, und wie Staub sei meine Seele gegen jedermann. Öffne mein Herz für deine Lehre, und deinen Geboten jage meine Seele nach. Beschütze mich vor einem bösen Ereignis, vor dem bösen Trieb, vor einer bösen Frau und vor allem Übel, das in die Welt zu kommen sich drängt. Der Rat derer, die wider mich Böses sinnen, vereitle schnell, und ihre Anschläge zerstöre. Mögen zum Wohlgefallen sein die Worte meines Mundes und die Gedanken meines Herzens vor dir, oh Herr, mein Fels und Erlöser. Zu dieser Sammlung von Schlussgebeten nur einige wenige Anmerkungen: In Abschnitt 2 treten Eigenschaften Gottes (Güte und Sanftmut) wie Personen vor Gott hin, und zwar wohl in anwaltlicher Funktion: Beide Eigenschaften Gottes sind »vor« Gott Anwältinnen der Menschen. In Abschnitt 7 geht es einmal mehr um die Engel: Sie sind die »obere Familie«, die in der »unteren Familie«, den Menschen, ihr irdisches Gegenstück hat. Beide sollen friedlich sein, und das heißt auch: Die Engel sollen Frieden mit den Menschen halten. Hier schimmert der Gedanke durch, dass es auch Rivalität zwischen Menschen und Engeln gibt, ein Gedanke, der schon im vorrabbinischen Judentum belegt ist. 28 In Abschnitt 8 gibt es ein Zuschreibungsproblem, aber auch hier werden unterschiedliche Meinungen nur wiedergegeben, nicht entschieden. Im zweiten R. Alexandri zugeschriebenen Gebet ist das, was das Leben sauer macht, der Alltag. Er hält die Gelehrten vom Studium ebenso ab wie die »Knechtschft der Regierung«, die Tatsache, dass man weltliche Gesetze zu befolgen und Steuerabgaben zu leisten hat. Der Gelehrte möchte daher unter Gottes Regentschaft leben, in der er sich ausschließlich den Gesetzen der Tora widmen kann. Es schließt sich ein Gebet Rab Scheschets an, das er nach jedem Fasten zu sprechen pflegte und ein Gebet Rabbi Jochanans, das er sprach, als er das Studium des Buches Hiob beendet hatte. Darauf folgen diese vier ethischen Lehrsprüche: 1 Ein Lieblingsspruch im Munde der Rabbinen von Jabne war: Ich bin ein Geschöpf und mein Nächster ist ein Geschöpf. Meine Arbeit ist in der Stadt und seine Arbeit ist auf dem Feld. Ich stehe morgens zu meiner Arbeit auf, und er steht morgens zu seiner Arbeit auf. Wie er sich nun nicht anmaßt, meine Arbeit zu tun, maße auch ich mir nicht an, seine Arbeit zu tun. »Beide Eigenschaften Gottes [Güte und Sanftmut] sind ›vor‹ Gott Anwältinnen der Menschen.« 30 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Zum Thema Und sage nicht: Ich tue viel und er tut wenig. Einerlei, ob einer viel oder wenig tut, solange er dabei nur sein Herz auf Gott richtet. 2 Ein Lieblingsspruch war im Munde Abbajes: Stets sei der Mensch klug in der Gottesfurcht. Eine sanfte Antwort stillt den Zorn. Man mehre den Frieden mit seinen Brüdern, mit seinen Verwandten und mit jedermann, selbst mit einem Nichtjuden auf der Straße, damit man droben beliebt und hienieden gewogen sei und wohlgelitten unter den Menschen. Man erzählte von Rabbi Jochanan ben Sakkai, dass ihm niemals jemand mit einem Gruß zuvorgekommen sei, nicht einmal ein Nichtjude auf der Straße. 3 Ein Lieblingsspruch war im Munde Rabbas: Der Endzweck der Weisheit ist Umkehr [vom falschen Weg] und gute Werke, dass der Mensch nicht lese und lerne, sich dann aber gegen Vater und Mutter auflehne, gegen seine Lehrer und gegen den, der größer als er ist in Weisheit und Zahl. So heißt es: Der Weisheit Anfang ist die Gottesfurcht, ein gutes Ansehen für alle, die sie ausüben. (Ps 111,10) Es heißt nicht »lernen«, sondern »ausüben«. Nur denen, die sie um ihrer selbst willen ausüben, nicht aber denen, die sie nicht um ihrer selbst willen ausüben. Für jeden aber, der sie nicht um ihrer selbst willen ausübt, wäre es besser, er wäre nicht erschaffen worden. 4 Ein Lieblingsspruch war im Munde Rabs: In der zukünftigen Welt gibt es weder Essen noch Trinken, noch Fortpflanzung und Vermehrung, noch Kauf und Verkauf, noch Neid, Hass und Streit. Vielmehr sitzen die Gerechten mit ihren Kronen auf ihren Häuptern und erfreuen sich an dem Glanze der Göttlichkeit, denn es heißt: Sie schauten Gott und aßen und tranken. (Ex 24,11) Im Blick auf die strenge Auffassung in Abschnitt 3 (Wer die Gottesfurcht »nicht um ihrer selbst willen« ausübt, wäre besser nicht erschaffen worden) ist Ber 16b-17a Abschnitt 7 zu vergleichen. Hier wird immerhin für diejenigen, die die Tora »nicht um ihrer selbst willen« studieren, gebetet, dass sie es doch tun mögen. Als fünfter Abschnitt folgt ein Passus über das Verdienst der Frauen: Größer ist das Versprechen, das der Heilige, gepriesen sei er, den Frauen gegeben hat, als das, das er den Männern gegeben hat, denn es heißt: Stehet auf, sorglose Frauen, höret auf meine Stimme; ihr zuversichtlichen Töchter, horchet auf meine Rede. (Jes 32,9) Rab sagte zu R. Chijja: Wodurch erwerben Frauen Verdienst? Dadurch, dass sie ihre Kinder im Bethaus unterrichten lassen, ihre Männer im Lehrhaus lernen lassen und auf ihre Männer warten, bis sie aus dem Lehrhause heimkehren. Zu Mischna Berachot 3,3 (Frauen, Sklaven und Minderjährige sind vom Lesen des »Höre Israel« und den Gebetsriemen befreit) erklärt der Talmud dann später in Ber 20b, dass Frauen von allen Geboten befreit sind, die von der Ausübung an eine bestimmte Zeit gebunden sind. 29 Den kritischen feministischen Blick auf Texte, in denen Frauen vorkommen-- oder eben nicht vorkommen! -- gibt es selbstredend längst auch im Judentum, entsprechend der feministischen Theologie in der Bibelexegese bzw. im Christentum überhaupt. Die Textprobe, die ich hier biete, ist aus einer emanzipierten Sicht zwiespältig: Einerseits gelten mit Verweis auf Jes 32,9 Frauen als religiös in besonderer Weise ausgezeichnet; andererseits ist von einem »Verdienst« die Rede, das sie sich dadurch erwerben, dass sie ihre Männer darin unterstützen, sich der Lehre widmen zu können. 2.2.2 Ber 27b: Diskussion um das Abendgebet Dass das rabbinische Judentum gewissermaßen aus vielen einzelnen Mosaiksteinen besteht, die zu einem stimmigen Bild erst geformt werden mussten, bezeugt die nachfolgende lange Diskussion zu der Frage, ob für das Abendgebet eine feste Zeit vorgeschrieben sei oder nicht. Nach Ber 27b entwickelte sich über dieser Frage eine Kontroverse, in deren Folge das Oberhaupt des Lehrhauses abgesetzt wurde: Rabbi Jehuda sagte im Namen Samuels: Das Abendgebet ist, wie Rabban Gamliel sagte, Pflicht, und wie Rabbi Jehoschua sagte: Freigestellt. Die Halacha 30 ist wie derjenige, der »es ist Pflicht« sagt. Rab sagt, die Halacha ist wie derjenige, der »es ist freigestellt« sagt. Die Rabbanan lehrten: Einst trat ein Schüler vor Rabbi Jehoschua und fragte ihn: Ist das Abendgebet freigestellt oder Pflicht? Er antwortete: Freigestellt. Hierauf kam er vor Rabban Gamliel und fragte ihn: Ist das Abendgebet freigestellt oder Pflicht? Er erwiderte: Pflicht. [Der Schüler sagte: ] Rabbi Jehoschua sagte mir aber, es ist freigestellt. Dieser sagte: Warte, bis die Gelehrten 31 in das Lehrhaus kommen[, dann werden sie das Problem lösen]. Als die Gelehrten kamen, stellte sich der Fragesteller hin und fragte: Ist das Abendgebet freigestellt oder Pflicht? Rabban Gamliel sagte: Pflicht. ZNT 37 (19. Jg. 2016) 31 Dagmar Börner-Klein Was ist Rabbinisches Judentum? Dann sagte Rabban Gamliel zu den Weisen: Gibt es jemanden, der dies bestreitet? Rabbi Jehoschua sagte zu ihm: Nein. Jener sagte: Man sagte mir ja in deinem Namen, es sei freigestellt! Daraufhin sagte [Gamliel]: Jehoschua, steh auf, damit du verwarnt wirst. Da stand R. Jehoschua auf und sagte: Wäre ich lebendig und er tot, könnte der Lebende dem Toten widersprechen. Nun aber, da ich lebe und er ebenfalls lebt, wie kann der Lebende dem Lebenden widersprechen! ? 32 R. Gamliel saß und trug vor, während R. Jehoschua auf seinen Füßen stand, 33 bis das Volk sich anfing zu beschweren und dem Übersetzer Chutzpit zurief: Steh auf! -- Da stand er auf. [Das Volk] sagte: Wie lange noch will er fortfahren, ihn zu quälen! ? Wegen des Neujahres quälte er ihn im Vorjahr, 34 wegen der Erstgeburt beim Ereignis mit R. Zadok quälte er ihn, 35 und jetzt quält er ihn wieder. Wir wollen ihn [als Schuloberhaupt] absetzten! Wen aber setzen wir ein? Es wird dann erzählt, dass man Eleasar ben Asarja auswählte, weil er weise, reich und in zehnter Generation ein Nachkomme von Esra gewesen sei. Unter Eleasar ben Asarjas Vorsitz wird dann das Lehrhaus für alle, die studieren möchten, geöffnet und alle offenen Fragen werden geklärt. Interessanterweise geht aber der Streit zwischen Gamliel und Jehoschua weiter. Ber 28a berichtet, Jehuda, ein amonitischer Proselyt, sei ins Lehrhaus gekommen und habe gefragt, ob er in die Gemeinde Israels aufgenommen werden könnte. Gamliel vertrat die Ansicht, dies sei nicht möglich, Jehoschua vertrat die Ansicht, dies sei möglich. Dann werden folgende Gründe genannt: Rabban Gamliel sagte zu ihm: Heißt es nicht bereits: Amoniter und Moabiter sollen nicht in die Gemeinde JHWHs kommen. (Dtn 23,4) R. Jehoschua sagte zu ihm: Sind denn Amon und Moab noch an ihrem Ort? Vor langem kam doch Sanherib, König von Assyrien, und vermischte alle Völker, denn es heißt: Ich habe die Grenzen der Völker entfernt und ihre Vorräte geraubt, ich ließ die Macht der Bewohner sinken. (Jes 10,13) Und wer ausscheidet, scheidet aus der Mehrheit aus. R. Gamliel sagte zu ihm: Heißt es nicht bereits: Und danach führe ich die Gefangenschaft der Kinder Amon zurück, spricht JHWH. (Jer 49,6) Sie sind also zurückgekehrt. R. Jehoschua sagte: Heißt es nicht bereits: Ich führe die Gefangenschaft meines Volkes Israel zurück. (Am 9,14) Und sie sind noch nicht zurückgekehrt. Hierauf erlaubten sie, ihn in die Gemeinde aufzunehmen. Da sagte Rabban Gamliel: Wenn dem so ist, will ich gehen und R. Jehoschua um Verzeihung bitten. Nachdem also die Gelehrten im Lehrhaus für Jehoschuas und gegen Gamliels Auslegung gestimmt haben, zeigt Gamliel Reue, dass er Jehoschua nicht früher hat zu Wort kommen lassen. Er geht offenbar das erste Mal zu Jehoschua nach Hause und findet dann bei seinem Besuch heraus, dass Jehoschua als Köhler sein Geld verdient. Jehoschua wirft Gamliel vor, dieser wisse nichts über das Leben der Gelehrten in seinem Lehrhaus, schon gar nichts darüber, wie hart diese ihren Lebensunterhalt verdienen müssen. Gamliel bitte daraufhin Jehoschua um Verzeihung, was umgehend den Gelehrten im Lehrhaus zugetragen wird. Akiba fordert nach dem Gehörten die Kollegen auf, die Türen zu verschließen, damit »nicht die Diener Gamliels kommen und die Rabbanan (die gelehrten Rabbinen im Lehrhaus) quälen«. Diese Formulierung lässt darauf schließen, dass Gamliel Druck auf die Gelehrten auszuüben pflegte, um seine Lehrentscheidungen durchzusetzen. Da dies impliziert, dass Gamliel seine Absetzung nicht akzeptiert, muss man sich mit Gamliel einigen. Letztlich bieten die Gelehrten Gamliel an, dass er an drei Sabbaten im Monat den Lehrvortrag hält und Eleasar ben Asarja an dem verbleibenden Sabbat des Monats. 2.2.3 Ber 47b: Die Rabbinen und das einfache Volk Dass die rabbinischen Gelehrten sich von nicht gelehrten Menschen, das heißt von der Mehrzahl der Personen in ihrer Umgebung, abgrenzten, deutet Ber 47b an: Es wird gelehrt, dass man einen Mann aus dem einfachen Volk nicht zum Tischsegen mitzähle? […] Wer ist ein Mann aus dem einfachen Volk? Wer seine profane 36 [Speise] nicht in Reinheit isst, Worte R. Meirs. [Aber] die Weisen sagen: Wer seine Früchte nicht richtig verzehntet. 37 […] Die Rabbanan lehrten: Wer ist ein Mann aus dem einfachen Volk? Wer morgens und abends das »Höre Israel« nicht liest, Worte R. Eliesers. 32 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Zum Thema R. Jehoschua sagt: Wer keine Gebetsriemen 38 anlegt. Ben Assai sagt: Wer keine Schaufäden an seinem Gewand hat. R. Natan sagt: Wer keine Mesusa 39 an seiner Türe hat. R. Jonatan ben Josef sagt: Wer Kinder hat und sie nicht zum Studium der Tora erzieht. Andere sagen: Selbst wenn einer die Schrift gelesen und die Mischna gelernt, aber bei den Schriftgelehrten nicht gedient hat, ist er ein Mann aus dem einfachen Volk. R. Hona sagte: Die Halacha ist wie »andere [sagen]«. 40 Zum einfachen Volk gehören nach der strengen Auffassung vor allem die Menschen, die sich das Studium bei den Rabbinen-- aus welchen Gründen auch immer-- nicht leisten können. 41 Das einfache Volk kennt damit die Regeln nicht, die man für Tag und Nacht benötigt, um ein aus der Sicht der Rabbinen gottwohlgefälliges Leben zu leben. Die rabbinischen Gelehrten, die so urteilten, hielten daher ihren Abstand zum einfachen Volk und blieben lieber unter sich. Allerdings: Auch hier liegt eine bloße Sammlung von Lehrmeinungen vor, und darunter gibt es auch liberalere Auffassungen, etwa die, dass man sich bereits mit einer Mesusa an der Tür vom »einfachen Volk« unterscheidet. 2.2.4 Ber 60b: Das Leben der Frommen Im letzten Abschnitt (Ber 60b) wird deutlich, dass der Tagesablauf der Rabbinen minutiös geregelt ist. Das bedeutet einerseits: Wer diese Regeln nicht kennt und befolgt, entspricht nicht den hohen Anforderungen rabbinischer Frömmigkeit. Andererseits wird hier doch auch ein weiterer Grundzug des rabbinischen Judentums sichtbar, der etwas mit der Sehnsucht nach einer völligen Durchdringung des Lebens mit dem Lob Gottes bis in seiner kleinsten Kleinigkeiten zu tun hat: 1 Wer sich ins Bett schlafen legt, rezitiere von »Höre Israel« bis »wenn ihr hören werdet«. 42 Dann spreche er: Gepriesen sei er, der die Bande des Schlafes auf meine Augen und den Schlummer auf meine Lider fallen lässt, und dem Augapfel Licht gewährt. Möge es dein Wille sein, oh Herr, mein Gott, dass du mich zum Frieden hinlegen lassest, und gib mir Anteil an deiner Tora. Gewöhne mich zu gottwohlgefälligen Handlungen und gewöhne mich nicht an Übertretung, lass mich nicht zur Sünde kommen, noch zur Versuchung, noch zur Schmach. Lass den bösen Trieb nicht über mich herrschen, und schütze mich vor bösem Begegnis und vor bösen Krankheiten. Mögen schlechte Träume und böse Gedanken mich nicht beunruhigen, mein Lager sei makellos vor dir, und erleuchte meine Augen, damit ich nicht des Todes entschlafe. Gepriesen seist du, oh Herr, der die ganze Welt mit seiner Herrlichkeit erleuchtet. 2 Wenn man aufwacht, spreche man: Mein Gott, die Seele, die du mir gegeben, ist rein; du hast sie gebildet, du hast sie mir eingehaucht, und du bewahrst sie in mir; du wirst sie einst von mir nehmen, und du wirst sie mir in Zukunft wiedergeben. Solange die Seele in mir ist, danke ich dir, oh Herr, mein Gott und Gott meiner Väter, Gebieter aller Welten und Herr aller Seelen. Gepriesen seist du, oh Herr, der den toten Körpern die Seele wiedergibt. 3 Wenn man das Krähen des Hahnes hört, spreche man: Gepriesen sei er, der dem Hahn Verstand verliehen hat, zwischen Tag und Nacht zu unterscheiden. 4 Wenn man die Augen öffnet, spreche man: Gepriesen sei er, der die Blinden sehend macht. 5 Wenn man sich aufrichtet und hinsetzt, spreche man: Gepriesen sei er, der die Gefesselten löst. 6 Wenn man sich ankleidet, spreche man: Gepriesen sei er, der die Nackten bekleidet. 7 Wenn man sich hinstellt, spreche man: Gepriesen sei er, der die Gebeugten aufrichtet. 8 Wenn man den Boden betritt, spreche man: Gepriesen sei er, der die Erde auf dem Wasser ausspannt. 9 Wenn man einen Schritt macht, spreche man: Gepriesen sei er, der die Schritte der Menschen richtet. 10 Wenn man die Schuhe anzieht, spreche man: Gepriesen sei er, der mir all meinen Bedarf gewährt. 11 Wenn man sich den Gürtel umlegt, spreche man: Gepriesen sei er, der Israel mit Stärke umgürtet. 12 Wenn man das Tuch um das Haupt windet, spreche man: Gepriesen sei er, der Israel krönt. 13 Wenn man sich in das Schaufädengewand hüllt, spreche man: Gepriesen sei er, der uns durch seine Gebote geheiligt und uns geboten hat, sich in die Schaufäden zu hüllen. 14 [Wenn man die Gebetsriemen] an seinem Haupt anlegt, spreche man: Gepriesen sei er, der uns seine »Zum einfachen Volk gehören nach der strengen Auffassung vor allem die Menschen, die sich das Studium bei den Rabbinen [...] nicht leisten können.« ZNT 37 (19. Jg. 2016) 33 Dagmar Börner-Klein Was ist Rabbinisches Judentum? Gebote geheiligt und uns das Schaufädengebot anbefohlen hat. 15 Wenn man die Hände wäscht, spreche man: Gepriesen sei er, der uns durch seine Gebote geheiligt und uns das Händewaschen befohlen hat. 16 Wenn man das Gesicht wäscht, spreche man: Gepriesen sei er, der Schlaf von meinen Augen und Schlummer von mein Lidern entfernt. Möge es auch dein Wille sein, oh Herr, mein Gott, dass du mich an deine Tora gewöhnst; lass mich an deiner Tora und an deinen Geboten festhalten. Für den modernen Blick, zumal den christlichen, erschließt sich der Sinn und der Scharfsinn rabbinischer Exegesen zwar oft erst durch Kommentierungen in der modernen judaistischen Forschungsliteratur. Mit seinen Lehren hat das rabbinische Judentum aber die Fundamente für das Judentum bis heute gelegt. Es bietet eine Fülle von Auslegungen zur hebräischen Bibel, die alle dazu dienen sollen, das tägliche Leben zu einem gottwohlgefälligen Leben gestalten zu können. In den rabbinischen Lehren findet sich darüber hinaus eine geradezu unbändige Lust, der (hebräischen) Sprache auf den Grund zu kommen, ein wunderbarer Sinn für Witz und Humor und eine beharrliche Weigerung, dogmatisch zu sein. Anmerkungen 1 Siehe S. Krauss, Synagogale Altertümer, Berlin, Wien 1922, Ndr. Hildesheim 1966. Der babylonische Talmud in Berachot 26b führt die Gebete entweder auf die Erzväter oder in wesentlich spätere Zeit zurück: »Es wurde gelehrt: R. Jose ben Chanina sagte: Die Gebete haben die Erzväter angeordnet. R. Jehoschua ben Levi sagte: Man hat die Gebete den täglichen Opfern entsprechend angeordnet.« 2 M. Schlüter, Auf welche Weise wurde die Mischna geschrieben? Das Antwortschreiben des Rab Sherira Gaon. Mit einem Faksimile der Handschrift Berlin Qu. 685 (Or. 160) und des Erstdrucks Konstantinopel 1566, Tübingen 1993. 3 Siehe z. B. C. Hezser, The Social Structure of the Rabbinic Movement in Roman Palestine, Tübingen 1997. 4 Siehe etwa die Erzählung über Chanina ben Dosa in bBerachot 33a, der eine Schlange überwindet und dann sagt: »Seht meine Kinder, nicht die Wasserschlange tötet, sondern die Sünde tötet.« In dieser Stunde sagte man: Wehe dem Menschen, dem eine Wasserschlage begegnet und wehe der Wasserschlange, der R. Chanina ben Dosa begegnet. 5 Siehe G. Stemberger, Pharisäer, Sadduzäer, Essener, Stuttgart 1991, 50-64. 6 Siehe dazu im palästinischen Talmud Pea 15c und D. Krochmalnik, »Du sollst darüber nachsinnen Tag und Nacht«-- Glauben und Lernen in der jüdischen Tradition, in: Glaube und Lernen. Zeitschrift für theologische Urteilsbildung 11 (1996) 1, 73-83. 7 Siehe etwa D. Boyarin, Abgrenzungen. Die Aufspaltung des Judäo-Christentums, Berlin/ Dortmund 2009. 8 Einer der produktivsten rabbinischen Gelehrten der Gegenwart ist Jacob Neusner. Eine Liste seiner außerordentlich zahlreichen Publikationen ist zugänglich unter http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ List_of_books_by_Jacob_Neusner (letzter Zugriff 28. 05. 2015). 9 W. G. Braude/ I. J. Kapstein, Tanna debe Eliyyahu. The Lore of the School of Elijah, Philadelphia 1981, xxv. 10 Die Übersetzung aus dem Englischen stammt von mir. 11 M. Friedmann, Seder Eliahu Rabba and Seder Eliahu Zuta (Tanna d´be Eliahu). According to a Ms. edited with Commentaries and Additions, Wien 1902, Jerusalem 1969, 18. 12 Friedmann, SER, 31. 13 Friedmann, SER, 37. 14 Braude/ Kapstein, 88, Anm. 70: »The word alamot (»maidens« or »worlds«) is now construed as a nominal form of the verb ´lm, »to hide, conceal«; and is also construed as ´al mut, »unto death«, meaning that he who understands Torah´s inner meanings so loves Torah that he is willing to die for it.« 15 Die gesetzlichen und erzählenden Passagen der hebräischen Bibel. 16 Friedmann, SER, 53; vgl. GnR 59,1. 17 Nach Ps 15,4 ist gemeint: Man muss sein Wort halten, auch wenn es mit einem Schwur verbunden ist, der einem selbst zum Schaden gereichen kann. 18 Friedmann, SER, 104. 19 Friedmann, SER, 124. 20 Friedmann, SER, 130-135. 21 Dtn 6,4-9, Dtn 11,13-21 und Num 15,37-41. 22 Friedmann, SER, 140.-- Das in Matthäus 6,6 geforderte »Beten im Verborgenen« wäre nach dieser Auffassung geradezu ein Verleugnen der Liebe zu Gott. 23 Ich zitiere Berachot mit leichten Veränderungen nach der Übersetzung von L. Goldschmidt, Der Babylonische Talmud. Nach der ersten zensurfreien Ausgabe unter Berücksichtigung der neueren Ausgaben und handschriftlichen Materials neu übertragen (1929) Königsstein 3 1980, Bd. 1, hier: 16. 24 Die rabbinischen Gelehrten. 25 Die Rezitation von Dtn 6,4-9, Dtn 11,13-21 und Num 15,37-41. Siehe dazu I. Elbogen, Der jüdische Gottesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung, Frankfurt a. M. 3 1931, 16-26. 26 Siehe http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Ahawa_rabba (aufgerufen am 29. 05. 2015). 27 Die Auslegung des Buches Leviticus. 28 Für das rabbinische Judentum vgl. P. Schäfer, Rivalität zwischen Engeln und Menschen. Untersuchungen zur rabbinischen Engelvorstellung, Berlin 2 2015. 29 Zur Frage der Stellung der Frau im rabbinischen Judentum vgl. S. J. Berman, The Status of Women in Halakhic 34 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Zum Thema Judaism, in: Tradition 14: 2 (1973), 5-28; B.J. Brooten, Women Leaders in the Ancient Synagogue. Inscriptional Evidence and Background Issues, Atlanta 1982; G. Ellinson, Woman and the Mitzvot. A Guide to the Rabbinic Sources. Bd. 1: Serving the Creator, Jerusalem 1986; J. Hauptman, A New View of Women and Torah Study in the Talmudic Period, in: Jewish Studies, an Internet Journal 9 (2010), 249-292. 30 Die Regel, nach der man sich richtet. 31 Wörtlich: die [mit Wissen] Ausgerüsteten. 32 Jehoschua ist anderer Meinung als Rabban Gamliel. Da Gamliel aber das Oberhaupt des Lehrhauses ist, hat es keinen Zweck, Gamliel zu widersprechen, da dieser grundsätzlich das letzte Wort hat. 33 Jehoschua wird nun-- wie er es erwartet hat-- von Gamliel mit einer Disziplinarstafe belegt. Während alle anderen Schüler zum Studium sitzen, muss er allein Stehen, und das Stehen ist nicht nur ermüdend sondern beschämend. 34 Siehe bRosch haSchana 25a. Es handelt sich also nicht um die erste Auseinandersetzung zwischen Gamliel und Jehoschua, bei der Gamliel Jehoschua seine Macht spüren ließ. 35 Siehe bBechorot 36a. 36 Das tägliche Essen ist gemeint. 37 Vgl. Lev 27,30. 38 Nach Dtn 11,13-23 sollen die Worte der Tora als Zeichen auf Hand und Stirn gebunden werden. 39 Siehe Dtn 6,9 und Dtn 11,20. 40 Die Regel nach der man sich verhält, lautet: »Selbst wenn einer die Schrift gelesen und die Mischna gelernt, aber bei den Schriftgelehrten nicht gedient hat, ist er ein Mann aus dem einfachen Volk«. 41 Siehe A. Büchler, Der galiläische Am-Ha´arets des zweiten Jahrhundert. Beiträge zur innern Geschichte des palästinischen Judentums in den ersten zwei Jahrhunderten, Wien 1906, Ndr. Hildesheim 1968. 42 Dtn 11,13. Helmut Spelsberg Aber Hutten kehrte nicht um Betrachtungen zu Leben und Werk Ulrich von Huttens 2015, 163 Seiten € [D] 29,99 ISBN 978-3-7720-8586-4 Oh Jahrhundert! Oh Wissenschaften! Es ist eine Lust, zu leben. Ulrich von Hutten Neben Erasmus von Rotterdam und Martin Luther repräsentiert Ulrich von Hutten (1488-1523) in besonderer Weise den Zeitgeist des 16. Jahrhunderts. In seiner brilliant geschriebenen Biographie en miniature lässt Helmut Spelsberg diesen „heißen und ungeduldigen Kriegsmann des Geistes“ (Stefan Zweig), der in seinem gefahrvollen und abenteuerlichen Leben sowohl dem Humanismus als auch der Reformation zu dienen versuchte, in seinen Stärken und Schwächen plastisch hervortreten. Ergänzt wird die Biographie durch eine kommentierte Bibliographie der Werke Huttens, die deutlich macht, auf welch unterschiedlichen Feldern der Wissenschaft, der Literatur, der Kunst und der Politik der erste Reichsritter zu Hause war. NEUERSCHEINUNG Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (07071) 9797-0 \ Fax +49 (07071) 97 97-11 \ info@francke.de \ www.francke.de NEU ZNT 37 (19. Jg. 2016) 35 In der Literatur der griechischen und römischen Antike erfährt man eine Menge über »die Juden«. Die einschlägigen Quellentexte sind in dem dreibändigen Werk Greek and Latin Authors on Jews and Judaism von Menachem Stern samt englischen Übersetzungen und Anmerkungen leicht zugänglich. 1 Für die griechischen und lateinischen Autoren war »das Judentum« (ein quellensprachlich im fraglichen Zeitraum praktisch unbekannter Terminus) allerdings keine »Religion« und »die Juden« nicht die Anhänger einer »Judentum« genannten »Religion«. Sie waren vielmehr, wie »die Griechen« oder »die Phönizier« auch, nach antiker Auffassung grob gesagt ein Volk, das in einem bestimmten Land lebte. Was wir heute »Religion« nennen, war einfach ein Teil ihrer Lebensweise und Gottesverehrung, kurz gesagt, ihres Brauchtums, so wie jedes andere Volk auch ein eigenes Brauchtum hatte, das, wie sollte es anders sein, auch eine spezifische Weise der Gottesverehrung einschloss. Wir verwenden im Folgenden für »Volk« überwiegend den dem griechischen ethnos entlehnten Terminus »Ethnie«, und wir reden auch nicht selbst (sondern nur bei Bezugnahmen auf den Sprachgebrauch der Forschung) von »Juden« (für unsere Ohren klingt das eben nach den Anhängern einer »Judentum« genannten »Religion«), sondern von »Judäern« und ihrem Land »Judäa«. Judäer, die nicht in Judäa lebten, sondern in der Diaspora, hörten, so die antike Auffassung, nicht auf, Judäer zu sein. Sie waren sozusagen Auslandsjudäer. In der Quellensammlung von Menachem Stern kann man nun viele unfreundliche bis feindselige Dinge über »die Judäer« lesen. In der modernen Forschung hat man dies auf den Begriff des »antiken Antijudaismus« 2 , der »antiken Judenfeindschaft« 3 oder der »Judäophobie« 4 gebracht. Diese Begriffe bezeichnen sämtlich etwas Richtiges, aber das darin implizierte verengte Blickfeld auf die Judäer lässt doch etwas sehr Einfaches und zugleich entscheidend Wichtiges außer acht, dass nämlich das abschätzige Reden über andere Ethnien (auch) in hellenistisch-römischer Zeit eine unhinterfragte Gewohnheit war, und nicht nur eine Gewohnheit, sondern auch eine Wissenschaft, und diese Wissenschaft nennen wir »Ethnographie«. Der folgende Beitrag versucht zu skizzieren, wie sich die Judäer im ethnographischen Diskurs der hellenistisch-römischen Zeit positioniert haben. Dabei wird sich zeigen: Sie waren nicht nur Objekte der im Titel dieses Aufsatzes genannten schlechten Gewohnheit, sondern-- wie denn anders! -- auch ihre Akteure. 1. Erkundung des Umfelds: Antike Ethnographie Schon in prähistorischer Zeit sind Stämme und Ethnien miteinander in Berührung gekommen, durch Wanderungsbewegungen, durch Handelsbeziehungen, durch Kriege, durch Siegen und Besiegtwerden, durch Herrschen und Beherrschtwerden. In der klassischen Antike haben die Kriege zwischen Griechenland und dem Perserreich die deutlichsten Spuren hinterlassen. Im Zeitalter des Hellenismus machten sich die Diadochenstaaten gegenseitig ihren Einfluss in Griechenland und dem Vorderen Orient streitig, und seit dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert meldete mehr und mehr Rom seinen Anspruch auf die Vorherrschaft im gesamten Mittelmeerraum und darüber hinaus an. Intensive Begegnungen und Berührungen von einander bis dato unbekannten und einander zunächst oder aber bleibend fremden Ethnien waren der geschichtliche cantus firmus (auch) dieser Jahrhunderte, unter je unterschiedlichen historischen Vorzeichen. Das vitale Interesse an den fremden Ethnien, mit denen man es teils unter friedlichen, teils unter mehr oder weniger kriegerischen Rahmenbedingungen zu tun bekam, wird gemeinhin unter den Begriff der antiken Ethnographie gefasst. 5 Darunter fallen ethnographische Exkurse in größeren Geschichtswerken ebenso wie ganze Werke, die sich der Erkundung einer einzigen Ethnie widmeten. Wir finden in diesen Texten teilweise ein echtes Interesse an fremdem Brauchtum, etwa an den Tischsitten der Perser, oder Manuel Vogel Von der schlechten Gewohnheit, schlecht über einander zu reden Hellenistisch-römische Selbst- und Fremdwahrnehmungen der Judäer im Kontext antiker Ethnographie Zum Thema »Das vitale Interesse an den fremden Ethnien, mit denen man es teils unter friedlichen, teils unter mehr oder weniger kriegerischen Rahmenbedingungen zu tun bekam, wird gemeinhin unter den Begriff der antiken Ethnographie gefasst.« 36 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Zum Thema »Ethnographische Stereotype sind feststehende Muster, die im Kern unverändert über große Zeiträume tradiert werden und fortwirken.« Der Nexus Inferiorität/ Superiorität ist eines unter zahlreichen ethnographischen Grundmustern, die sich bis in Geographie und Klimakunde hinein auswirken. So finden wir in griechischen Texten die Anschauung, dass in einem rauen Klima kriegerische Ethnien von minderer Intelligenz leben, in klimatisch milden Regionen dagegen kultivierte Ethnien, die jedoch weichlich und feige sind. Griechenland liegt nun (jedenfalls aus Sicht der Griechen) in der goldenen Mitte, sodass die Griechen sich rühmen können, sowohl in der Kriegskunst wie auch in der Kultur bewandert zu sein. Erste Spuren dieser »Ethno-Geographie« finden wir bei Herodot, der in der Schlusspassage der Historien die Perser dafür rühmt, dass sie der Versuchung widerstanden hätten, in weniger unwirtliche Gebiete umzusiedeln, weil dies notwendig Verweichlichung und das Erlahmen jeglicher militärischer Widerstandskraft zur Folge gehabt hätte (Historien 9,122). Die Theorie von der Wirkung des Klimas auf einen kollektiv zu bestimmenden »Volks-Charakter« finden wir bei Hippokrates in der Schrift Über Luft, Wasser und Ortslagen systematisch ausgeführt. 7 Aus griechischer Perspektive verhält es sich nun so-- wir ahnen es schon-- dass Griechenland über das ideale Klima verfügt und daher auch das beste Volk hervorbringt. Als Textbeispiel dient uns Platons Politeia 435e-436a. 8 Es geht um die Frage der Formung eines Staatswesens durch die Eigenschaften Einzelner. Abgewiesen wird die Meinung, […] das Mutige [to thymoeides] sei nicht aus den Einzelnen in die Staaten hineingekommen, die vorzüglich diese Kraft in sich haben, wie die in Thrakien und Skythien und fast überall in den oberen [d. h. nördlichen] Gegenden, oder das Wissbegierige [to philomathes], was man vorzüglich unseren Gegenden zuschreiben kann, oder das »Erwerbslustige« [to philochrēmaton], wovon man sagen könnte, dass man es nicht am schlechtesten bei den Phoinikiern und Ägyptern antrifft. Für Platon sind die Thraker und die Skythen mutig, weil sie im rauen und unwirtlichen Norden leben. Aber die Wissbegierde ist ihre Sache nicht, das ist Sache der Griechen. Als weiteres Beispiel klimatisch-geographischer Charaktervarianten nennt Platon die Phönizier und Ägypter. Platon konstruiert hier ein Nord- Süd-Gefälle, in dessen Mitte Griechenland liegt. Im Norden leben die kriegerischen Wilden und die weit im Süden lebenden Völker sind »erwerbslustig«, wie es die zitierte Übersetzung Schleiermachers überaus freundlich ausdrückt. To philochrēmaton ist aber meist negativ konnotiert im wie die Germanen wilde Tiere erlegen. Solche Neugier auf ’s Detail darf indes nicht dazu verleiten, antike Ethnographie an modernen wissenschaftlichen Standards zu messen. Das gelehrte Interesse an der ethnographischen Einzelheit kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass antike Völkerkunde auf weite Strecken mit Stereotypen arbeitet, d. h. mit fest gefügten Beschreibungs- und Deutungsmustern, die nur eingeschränkt etwas mit empirischer Realität zu tun haben. Ethnographische Stereotype sind feststehende Muster, die im Kern unverändert über große Zeiträume tradiert werden und fortwirken. Sie dienen der Profilierung der eigenen Identität mittels Abgrenzung und Selbstunterscheidung, und dies mit einer deutlichen Tendenz zum konkurrierenden Vergleich, der der Demonstration der eigenen Überlegenheit dient. Antiker Ethnographie geht es so gesehen nicht nur um wissenschaftliche Beschreibung, sondern auch um ein konstruktives Spiel mit Identitäten, und dies mit einem starken kompetitiven Grundzug: Ethnien werden nicht objektiv beschrieben, sondern mit dem Mittel ethnographischer Beschreibung zueinander in Beziehung gesetzt und in einer Weise miteinander verglichen, dass die Inferiorität des zu beschreibenden Ethnos eine notwendige Voraussetzung dafür bildet, um die Superiorität des eigenen behaupten zu können. 6 Prof. Dr. Manuel Vogel, geb. 1964 in Frankfurt/ Main, Studium der Evangelischen Theologie in Erlangen, Heidelberg und Frankfurt, 1994-1996 Vikariat in Bayern, 1995 Promotion in Heidelberg, 1996-2003 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institutum Judaicum Delitzschianum in Münster, 2003 Habilitation in Münster, 2003-2006 Pfarramt in Hessen-Nassau, 2006-2008 Pfarrer im Hochschuldienst an der Goethe-Universität Frankfurt, seit 2009 Professor für Neues Testament an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Veröffentlichungen u.a. zu Paulus, Josephus und zum Hellenistischen Judentum. Prof. Dr. Manuel Vogel ZNT 37 (19. Jg. 2016) 37 Manuel Vogel Von der schlechten Gewohnheit, schlecht über einander zu reden Sinne von »Habsucht« oder »Geldgier«. Der Nord-Süd- Dreischritt setzt zwei geographische Randlagen voraus, in deren einer die Leute, weil sie nichts als mutig sind, bevorzugt Krieg führen und in deren anderer, sozusagen als merkantile Variante, man den ganzen Tag nur ans Geldverdienen denkt. In der Mitte zwischen beiden Rändern leben die Griechen, die weder an Kriegen noch am Handel interessiert sind (oder eben an beidem nur in Maßen), sondern an der philosophischen Bildung. Diese Art von Ethno-Geographie, die aus ethnozentrischer Perspektive die eigene Überlegenheit gegenüber anderen Ethnien konstatiert, ist an zahlreichen weiteren Quellen bis in römische Zeit belegt. Für das lateinische 2. Jh ist ein Passus in Tertullians De anima ein sprechendes Beispiel (De anima 20): 9 Denn auch bei ihr [d. i. bei der Seele] kommt auf den Ort etwas an. Zu Theben kommen, wie berichtet wird, stumpfsinnige und dumme Menschen zur Welt, zu Athen seien die Leute flink und gewandt im Denken und Sprechen; daselbst, in Colyttus, lernen die Kinder immer noch einen Monat früher sprechen, weil frühreifer Zunge. Plato behauptet im Timäus, Minerva habe, als sie mit Gründung der Stadt umging, auf nichts mehr gesehen, als auf die Beschaffenheit des Ortes, welcher dergleichen Talente hervorzubringen versprochen habe. Deshalb schreibt er selbst auch in der Schrift über die Gesetze dem Megillus und Klinias vor, auf Auswahl einer Stelle für die zu gründende Stadt bedacht zu sein […]. Eine bekannte Sache sind die Volkseigentümlichkeiten. Die Phrygier werden von den Komikern als furchtsam verspottet, Sallust stichelt auf die Mauren als eitle Leute und auf die Dalmatier als wild und unbändig; die Kreter brandmarkt sogar der Apostel als verlogen. Es ist kein Zufall, dass die Ethnien, die für Tertullian als Beispiele geographisch und insofern ethnographisch determinierter Eigenschaften der Seele herhalten müssen, überwiegend schlecht wegkommen: Die Fremden sind die Anderen, und da die Anderen anders sind als man selbst und man selbst sich gern für vollkommen hält, können die Anderen nur unvollkommen sein, woraus sich das negative ethnographische Stereotyp dann von selbst ergibt. Die seit Hippokrates in der griechischen Literatur gerühmte und noch von Tertullian als fraglos gegeben vorausgesetzte besondere Qualität des athenischen Klimas ist mit all ihren ethnographischen Konsequenzen nur ein besonders anschauliches Beispiel hierfür, keineswegs aber ein Extrem- oder Sonderfall. Der zu verzeichnende große Variantenreichtum ethnographischer Stereotype ergibt sich daraus, dass jede Ethnie sich im antiken Spektrum anders positionierte und deshalb von sich selbst und den ihr fremden Ethnien ein jeweils anderes Bild entwarf. Dieser Variantenreichtum hat manche Ähnlichkeit mit einer ausdifferenzierten und insofern wissenschaftlich oder wenigstens protowissenschaftlich zu nennenden Ethnographie, sollte aber damit nicht verwechselt werden. Im Grunde handelt es sich um Scheindifferenzierungen, die sich dadurch ergeben, dass jedes Ethnos eigene Varianten gängiger ethnographischer Muster entwickelt. In hellenistischer Zeit sind nun, wie kaum anders zu erwarten, auch über die Judäer zahlreiche Stereotype entstanden und in Umlauf gebracht worden. Nicht nur die Phönizier waren so und so, nicht nur die Phrygier, sondern auch die Judäer. Wenn wir »antike Judäerfeindschaft«, auf deren Spuren wir in der apologetischen Literatur hellenisierter Judäer zu Hauf stoßen, als Spielart einer von der Sache her zur Abschätzigkeit tendierenden Ethnographie auffassen, sind wir von vornherein der Notwendigkeit enthoben, diese Feindschaft essentialistisch zu lesen. Was antijudäische von antiphönizischen oder antiägyptischen Stereotypen unterscheidet, ist ihre nahtlos bis in die Neuzeit reichende christliche Rezeptionsgeschichte und nicht etwa, wie jede historisierende Frage nach den »Ursachen des antiken Antisemitismus« voraussetzt, ihre irgendwie geartete Sach- oder Stichhaltigkeit. Der Grund für die christliche Rezeption antijudäischer Stereotype ist leicht einzusehen, nämlich die im Laufe der ersten christlichen Jahrhunderte zunehmend sich verschärfende Konkurrenz und gegenseitige Hostilität zweier einander sehr nahe stehender Religionen. Es war-- leider, muss man sagen-- gar nicht anders zu erwarten, als dass das »Christentum« in seinem Bestreben, sich gegen das (nun spiegelbildlich zum eigenen Selbstverständnis als »Religion« konzeptualisierte) »Judentum« abzugrenzen, mit vollen Händen aus dem Repertoire ethnographischer Stereotype schöpfen und diese gegen »Die Fremden sind die Anderen, und da die Anderen anders sind als man selbst und man selbst sich gern für vollkommen hält, können die Anderen nur unvollkommen sein, woraus sich das negative ethnographische Stereotyp dann von selbst ergibt.« »Was antijudäische von antiphönizischen oder antiägyptischen Stereotypen unterscheidet, ist ihre nahtlos bis in die Neuzeit reichende christliche Rezeptionsgeschichte.« 38 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Zum Thema die ungeliebte Mutterreligion einsetzen würde, noch gesteigert und verschärft durch den Christusmordvorwurf, 10 womit die christliche Welt bis in die Moderne hinein ein für jeden nur erdenklichen Zweck aufrufbares Feindbild zur sicheren Verfügung hatte. Die Besonderheit antiker »antijudäischer« Stereotype besteht mithin darin, dass sie durch ihre christliche Rezeptionsgeschichte bis in die Gegenwart überdauert haben. In der Sache sind sie nicht mehr und nicht weniger begründet wie antiphönizische oder antigallische Stereotype. Sie wurden unter bestimmten historischen Bedingungen weiterverwendet, bleiben damit aber, was sie sind, Stereotype eben, d. h. keine empirischen Beschreibungen, sondern interessegeleitete Zuschreibungen. Diese Einsicht widerrät einem Positivismus, der den durch und durch rhetorischen bzw. konstruktiven Charakter seiner Quellen verkennt. Wenn Redesituation, historischer Kontext, Darstellungsinteresse und Wirkabsicht eines Quellentextes nur hinreichend erkannt und berücksichtigt werden, ergibt sich von selbst, dass die einschlägigen Texte nicht unmittelbar historische Wirklichkeit darstellen, sondern diese Wirklichkeit in einem kontingenten literarischen oder rhetorischen Kontext konstruieren. Wie disponibel die Glorifizierung des Griechischen war, die für Platon selbstredend unbezweifelbar fest stand, wird deutlich, sobald man die höchst ambivalente bis ablehnende römische Einstellung gegenüber allem Griechischen dagegen hält, 11 wie sie massiv beim älteren Cato auftritt 12 und bis weit in die Kaiserzeit hinein fortgeschrieben wurde: 13 Das Griechische wurde wegen seiner kulturellen Leistungen bewundert, aber aus diesem Grund auch beargwöhnt und verachtet. Die Römer haben zwar die Griechen militärisch besiegt, aber das hatte zur Folge, dass römische Lebensart je länger desto mehr griechisch beeinflusst wurde. Plinius d. Ä. beklagt mit Blick auf den Einfluss der griechischen Medizin: »[J]e mehr das römische Volk an Macht und Größe seiner Besitzungen gewonnen, desto mehr hat es seine alten Sitten und Gebräuche verloren, durch Siege sind wir besiegt worden und gehorchen den Ausländern« (NH 24,5), 14 und Horaz notiert: »[D]as besiegte Griechenland [fing] durch seiner Künste Reiz den rohen Sieger […] und [verpflanzte] seine feinen Künste ins bäur’sche Latium« (Ep. 2,1,156) 15 . Man kann hier beobachten, wie sich in die imperiale Genugtuung militärischer Überlegenheit der Wermutstropfen eines kulturellen Unterlegenheitsgefühls mischt und die Angst, auf einer anderen Ebene als der militärischen von den Besiegten beherrscht zu werden. In einer Zeit, in der Rom längst städtisches Zentrum einer antiken Weltmacht war, wurde das Ideal einer einfachen, aber authentischen bäuerlichen Lebensweise beschworen und in einen Gegensatz zum überfeinerten griechischen Kunstsinn gestellt. Hier schlägt der alte ethnographische Gegensatz von ursprünglicher Wildheit und weichlichem Ästhetizismus durch, wie er seit Herodot und Hippokrates nachweisbar ist. War Griechenland in den griechischen Quellen noch in der goldenen Mitte zwischen beidem positioniert, ist das römische Urteil weit weniger freundlich. Griechenland tendiert bereits deutlich in Richtung der noch weiter östlich lokalisierten asiatischen Weichheit, und zu beklagen ist, dass durch die hohe Präsenz des Griechischen in Rom auf allen Ebenen der ursprüngliche Geist des einfachen, erdverbundenen Römertums (für reiche Stadtrömer nichts weiter als ein wohlfeiles Klischee) kompromittiert wird. 2. Judäerfeindliche Ethnographie aus römischer Feder: Der Judäerexkurs des Tacitus Die griechenfeindlichen Ressentiments unter der stadtrömischen Elite der frühen Kaiserzeit sind geeignet, die judäerfeindlichen Äußerungen etwa eines Tacitus zu den ethnographischen Gepflogenheiten ihrer Zeit ins Verhältnis zu setzen. Der bekannte Judäerexkurs aus dem 5. Buch der Historien des Tacitus 16 ist ein Meisterstück ethnographischer Rhetorik (Historien 5,5): 17 Beim Essen, beim Schlafen halten sie [d. i. die Judäer] auf strenge Trennung und kennen trotz der starken Neigung der Volksart zur Sinnlichkeit keinen Geschlechtsverkehr mit fremden Frauen; unter ihnen selbst ist nichts verboten. Die Beschneidung haben sie als ein besonderes Unterscheidungsmerkmal bei sich eingeführt. Wer zu ihrem Kult übertritt, hält sich auch an diesen Brauch; auch wird den Proselyten zu allererst das Gebot beigebracht, die Götter zu verachten, das Vaterland zu verleugnen, ihre Eltern, Kinder und Geschwister gering zu schätzen. Doch ist den Judäern sehr an Bevölkerungszuwachs gelegen; selbst von den nachgeborenen Kindern eines zu töten, ist in ihren Augen eine Sünde. Und sie halten die Seelen der im Kampf oder durch Hinrichtung Umgekommenen für unsterblich; daher rühren ihre Liebe zur Fortpflanzung und gleichzeitig ihre Todesverachtung. Tacitus montiert in diesem Text positive und negative Elemente ethnographischer Eigenschaftszuschreibungen so zusammen, dass ein ganz und gar negatives Bild entsteht. Die für sich genommen positiven Eigenschaften werden in einen negativen Interpretationsrahmen ZNT 37 (19. Jg. 2016) 39 Manuel Vogel Von der schlechten Gewohnheit, schlecht über einander zu reden eingefügt, sodass den Judäern schließlich alles zum Nachteil gereicht. Zunächst konstruiert Tacitus einen Zusammenhang zwischen Absonderung und sexueller Zügellosigkeit. Dass die Judäer sich trotz ihrer »Neigung zur Sinnlichkeit« des Verkehrs mit nichtjudäischen Frauen enthalten, soll heißen, dass ihr von Menschenhass motiviertes Bedürfnis nach Abgrenzung so stark ist, dass es sogar ihre Triebhaftigkeit überwiegt. Die nach antiken ethnographischen Standards positive Variante dieses Stereotyps würde lauten: Die Judäer achten darauf, dass sie sich nicht mit anderen Völkern vermischen, und sie beweisen ihre Fähigkeit, die eigene Lust zu zügeln, auch das eine wichtige antike Charaktertugend. Aber Tacitus ist an positiven Stereotypen gar nicht interessiert, weil nämlich die Judäer im 5. Buch seiner Historien den Widerpart zu den glorreichen Flaviern spielen. Deshalb rückt er auch die judäische Beschneidung in ein möglichst schlechtes Licht, indem er sie im Schnittpunkt von Fremdenhass und sexueller Zügellosigkeit ansiedelt, gleichsam als Erkennungszeichen für einen Binnenraum, innerhalb dessen sexuell alles erlaubt ist. Man vergleiche dagegen Philons allegorische Deutung der Beschneidung in De specialibus legibus 1,1-10: Hier steht die Beschneidung in diametralem Gegensatz zu Tacitus für eine umfassende freiwillige Selbstbeschränkung des Trieblebens. Auch die doch eigentlich sehr zu lobende judäische Ablehnung der Kindstötung oder -aussetzung gerät dadurch ins Zwielicht, dass Tacitus darin eine Strategie zum zahlenmäßigen Wachstum des judäischen Ethnos erblickt. Ihre Unerschrockenheit im Kampf, die sich dem Glauben an die Unsterblichkeit der im Kampf Gefallenen verdankt, macht sie doppelt gefährlich, und sie wertet den in der historiographischen Synkrisis zu preisenden Sieg der Flavier doppelt auf: Aufgrund ihrer durch Absonderung von allem Nichtjudäischen exklusiv auf das eigene Ethnos fixierten sexuellen Regsamkeit, sowie aufgrund ihrer im judäischen Aberglauben verwurzelten Todesverachtung, die jeden Angriff von außen mutig abzuwehren erlaubt, vermehren sie sich unaufhaltsam und stellen dementsprechend eine wachsende Gefahr dar-- und die Flavier als diejenigen, die dieser Gefahr Herr geworden sind. Dass der judäische Glaube an die Unsterblichkeit der Seele außer den im Krieg Gefallenen auch die Hingerichteten einbezieht, heißt schließlich nichts anderes, als dass bei Judäern die Todesstrafe als Abschreckung vor schweren Verbrechen wirkungslos ist, womit sie für die römische Obrigkeit vollends zu einer unkalkulierbaren Größe werden. Die Tacitusstelle macht deutlich, wie antike Ethnographie ihren Gegenstand konstruiert, ganz so, wie es der Absicht der Darstellung und dem literarischen Kontext entspricht: Die Akzente müssen nur geringfügig verschoben und wenige Details umarrangiert werden, um von einer (»nach Aktenlage« ebenso gut möglichen) lobenden zu einer tadelnden Darstellung zu gelangen. 3. Apologetische Ethnographie bei Josephus 3.1 Griechen Hellenistisch-judäische Apologetik versteht es, wie der Hinweis auf Philon bereits andeutete, ihrerseits mühelos, sich ethnographischer Rhetorik zu bedienen. Sie steigt aus jenem konstruktiven Spiel mit Identitäten keineswegs aus, sondern spielt es nach genau denselben Regeln mit wie diejenigen, die die gegen die Judäer gerichtete Variante dieses Spiels forcieren. Judäische Apologetik kritisiert ethnographische Stereotype nicht, sondern beherrscht ihren Umgang perfekt. Wie subtil in diesen Texten die Akzente verlagert und die Kulissen verschoben werden, um negative Hetereostereotype in positive Autostereotype umzuschreiben, merkt man erst, wenn man durch die vergleichende Lektüre der einschlägigen Texte die Wertigkeit scheinbar wertneutraler ethnographischer Details wahrnimmt. Namentlich Josephus weiß sich auf dem Parkett antiker Ethnographie trittsicher zu bewegen. Der folgende Passus aus Contra Apionem portraitiert die Judäer als selbstgenügsames, erdverbundenes Volk, das sich des Kontakts mit den Griechen von jeher enthalten hat. Das war Musik für römische Ohren, und so war es auch gemeint: Josephus macht sich die griechenfeindlichen Ressentiments seiner römischen Adressaten zunutze, um die Judäer den Römern anzudienen (Ap. 1,60 f.): 18 Wir bewohnen nämlich weder eine Küstenregion, noch liegt uns der Fernhandel, noch der daraus entstehende Verkehr mit Fremden; unsere Städte sind vielmehr fern vom Meer errichtet, und da wir gutes Land besitzen, bebauen wir dieses; auch sind wir ja am meisten von allen (Völkern) auf das Aufziehen von Kindern bedacht und haben uns die Beachtung der Gesetze und der in diesen überlieferten Gottesverehrung zur notwendigsten Aufgabe des ganzen Lebens »Judäische Apologetik kritisiert ethnographische Stereotype nicht, sondern beherrscht ihren Umgang perfekt.« 40 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Zum Thema »Einem Römer aus der konservativen stadtrömischen Oberschicht vom Schlage eines Plinius, der sich zum Verächter von städtischer Dekadenz stilisierte und dem romantischen Bild einer einfachen, erdverbundenen Lebensweise nachhing, muss die judäische Lebensart allen Respekt abgenötigt haben. Josephus jedenfalls hat gehofft, sein römisches Publikum auf diese Weise beeindrucken zu können.« »Der den Samaritanern traditionell anhaftende Synkretismusvorwurf steht zum Konservativismus der auf den Pentateuch konzentrierten Jahwe- Verehrung in evidentem Widerspruch.« gemacht. Da zu dem Gesagten nun noch die Besonderheit unserer Lebensführung hinzukommt, gab es in den alten Zeiten nichts, was uns solchen Verkehr mit den Griechen eingebracht hätte wie den Ägyptern ihre Aus- und Einfuhr und den Bewohnern der phönizischen Küste ihr Interesse an Klein- und Großhandel aufgrund ihres Gewinnstrebens. Was sich zunächst wie eine harmlose geographische Sachinformation liest, dass nämlich die Judäer im gebirgigen Landesinneren und nicht an der Küste wohnen, was für das judäische Kernland geographisch ja zutrifft, ist bei näherem Hinsehen eine absichtsvolle und überlegte Positionierung der Judäer in der seit Herodot gebräuchlichen ethno-geographischen Matrix. In der Notiz, dass die Judäer keine Küstenregion bewohnen, klingt der Gegensatz von fruchtbarem Flachland und unwirtlichem Gebirge an, dem ethnographisch der Gegensatz von charakterlicher Weichheit und konstitutioneller Zähigkeit entspricht. Josephus siedelt die Judäer mit Bedacht auf dieser Seite an, nicht auf jener, und er setzt einen zusätzlichen Akzent mit dem Hinweis auf ihre agrarische Selbstgenügsamkeit. Einem Römer aus der konservativen stadtrömischen Oberschicht vom Schlage eines Plinius, der sich zum Verächter von städtischer Dekadenz stilisierte und dem romantischen Bild einer einfachen, erdverbundenen Lebensweise nachhing, muss die judäische Lebensart allen Respekt abgenötigt haben. Josephus jedenfalls hat gehofft, sein römisches Publikum auf diese Weise beeindrucken zu können. Wenn wir des Weiteren den von Josephus betonten Eifer der Judäer für die Erziehung der eigenen Kinder auf dem Hintergrund der von Tacitus beklagten Unsitte der römischen Oberschicht lesen, die Kindererziehung an griechische Sklaven zu delegieren (De oratore 28 f.), dann müsste Judäa geradezu zur römischen Musterprovinz avancieren, und der Aufstand dieser Provinz, der bei der Niederschrift von Contra Apionem immerhin schon eine Generation zurücklag, wäre vergeben und vergessen. Die Notiz, dass die Judäer sich des Verkehrs mit den Griechen stets enthalten, die Griechen ihrerseits aber Verkehr mit den gewinnsüchtigen Phöniziern oder, noch schlimmer, den Ägyptern gepflegt haben, hebt das Ethnos der Judäer in dem Maße empor, wie es die Griechen herabwürdigt. Erinnern wir uns an die eingangs zitierte Platonstelle: Die Phönizier und Ägypter sind Ethnien, mit denen Platon die Griechen keinesfalls in einem Atem genannt wissen wollte. Josephus, der die Judäer auf Kosten der Griechen, Ägypter und Phönizier ins rechte römische Licht rücken will, tut es mit Lust. Darüber, dass viele Judäer, zumal unter den zahllosen »Auslandsjudäern« in der Diaspora, kulturell betrachtet echte »Griechen« waren und sich rege am weit verzweigten wirtschaftlichen Leben des Mittelmeerraumes beteiligten, verliert Josephus kein Wort, auch darüber nicht, dass nicht zuletzt auch die Römer selbst in allen Ecken und Enden des Welthandels präsent waren. 3.2 Samaritaner Für die Geschichte Samariens und des Jahwekultes auf dem Garizim 19 ist Josephus eine herausragend wichtige Quelle. Die Forschung unterscheidet allerdings seit einigen Jahrzehnten mit zunehmender Deutlichkeit zwischen der josephischen Sicht und den anzunehmenden historischen Verhältnissen, zu deren Aufhellung nicht zuletzt die Archäologie maßgeblich beigetragen hat. Während Josephus im Anschluss an 2Kön 17 die Entstehung der Samaritaner in die Zeit des Untergangs des Nordreiches im 8. Jh. v. Chr. datiert, 20 geht man heute von einer Entstehung der samaritanischen Gemeinschaft von Jahweverehrern mit dem Heiligtum auf dem Garizim erst in frühnachexilischer Zeit (5./ 4. Jh.) aus (Gründung durch dissidente Jerusalemer Priester). Noch die Überschrift der Lutherbibel von 1984 über 2Kön 17,24-41 (»Die Entstehung des Volkes der Samaritaner«) ist der alten Auffassung verpflichtet. Hatte man überdies früher eine homogene Bevölkerung Samariens vorausgesetzt, die man im Anschluss an das von 2Kön 17, Josephus und anderen Quellen bestimmte Bild für synkretistisch geprägt hielt, so geht man heute von einer ethnischen, kulturellen und religiösen Pluralität in dieser Region aus. Der den Samaritanern traditionell anhaftende Synkretismusvorwurf steht zum Konservativismus ZNT 37 (19. Jg. 2016) 41 Manuel Vogel Von der schlechten Gewohnheit, schlecht über einander zu reden der auf den Pentateuch konzentrierten Jahwe-Verehrung in evidentem Widerspruch. Terminologisch wird grob zwischen »Samariern«, der hellenisierten Bevölkerung Samariens, und »Samaritanern«, den Angehörigen der gleichnamigen Religionsgemeinschaft, unterschieden. 21 Bei Josephus ist der Namensgebrauch uneinheitlich, sodass fallweise geprüft werden muss, von welchen Gruppen die Rede ist. Zu einer Trennung zwischen Jerusalem und dem Garizim ist es wohl in hasmonäischer Zeit gekommen (Zerstörung des Heiligtums auf dem Garizim durch Johannes Hyrkan). 22 Die Tendenz des josephischen Samaritaner-Bildes ist uneinheitlich. Im Bellum überwiegen neutrale Darstellungen, insofern, als diese keine besondere pro- oder antisamaritanische Tendenz verraten. Für die Schriften des Josephus insgesamt gilt, dass er sich für samaritanische Traditionen streckenweise nur sehr eingeschränkt zu interessieren scheint. In den Antiquitates fällt die Darstellung dagegen an mehreren Stellen deutlich negativ aus. Benedikt Hensel fasst die josephische Sicht wie folgt zusammen: »Gemäß der Darstellung des Josephus in den Antiquitates gelten die Samaritaner als Synkretismus praktizierende Heiden. Sie seien Fremdkolonisten aus der mesopotamischen Stadt Kutha, die nach der Eroberung des Nordreichs durch die Assyrer dort angesiedelt wurden und Teile des JHWH-Kultes von dort übernahmen, aber auch ihre alten Kultpraktiken weiterhin ausführten (Jos. Ant. 9,288-291). Diese Darstellung samaritanischer Identität ergänzt Josephus an anderer Stelle noch: Die Samaritaner stammen von Priestern ab, die sich selbsttätig vom Jerusalemer Heiligtum entfernten und am Garizim ihr eigenes separatistisches Konkurrenzheiligtum errichteten (Jos. Ant. 11,306-312). In beiden Fällen sieht Josephus die Samaritaner für den gesamten Zeitraum der persisch-hellenistischen Epoche als »Ausländer« (allogenēs, allotrios, allophylos, apoikos) und »Heiden« (Chouthaioi) an, die mit »Israel« nichts oder nur weniges gemein haben.« 23 Im negativen Samatianer-Bild der Antiquitates begegnet einmal mehr der eingangs namhaft gemachte kompetitive Grundzug antiker Ethnographie. Die josephische Darstellung bedient sich abermals einer ethnographischen Vorgaben gehorchenden literarischen Rhetorik: Er benötigt eine ethnographische Vergleichsgröße, die die Judäer positiv dastehen lässt und ihre positiven Eigenschaften von der dunklen Folie ihres negativen Gegenstücks umso heller abhebt. Josephus will erstens zeigen: Die Judäer bewohnen von alters her ihr angestammtes Land, und sie haben sich nicht mit fremden Völkern vermischt. Zu Beginn von Contra Apionem bringt er dieses Darstellungsziel, das den Antiquitates insgesamt zugrunde liegt, klar zur Sprache (Ap. 1,1): 24 Hinreichend meine ich schon in meiner Schrift Altertumskunde […] etwas deutlich gemacht zu haben über unser Volk, die Judäer, dass es nämlich sehr alt ist (hoti palaiotaton esti) und seine ursprüngliche Eigenständigkeit für sich bewahrte (tēn prōtēn hypostasin eschen idian), und wie es das Land, das wir nun innehaben, zum Wohnsitz nahm; ich habe nämlich eine fünftausend Jahre umfassende Geschichte aus unseren heiligen Büchern in griechischer Sprache abgefasst. Nicht minder wichtig ist zweitens, dass die Judäer von jeher zuverlässige Bündnispartner und loyale Untertanen der beherrschenden Fremdmächte waren. An die Adresse einer römischen Leserschaft gerichtet, ist diese Eigenschaft von besonderer Bedeutung. 25 Beides, hohes Alter und ethnische Eigenständigkeit einerseits, und Bündnistreue und Loyalität andererseits, spricht Josephus den Samaritanern ab: Sie sind eine Ethnie, die sich im Laufe ihrer unsteten, von Umsiedlungen geprägten Geschichte mit anderen Völkern vermischt hat, und sie sind, weil sie stets nur kurzsichtig auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind, politisch unzuverlässig und doppelzüngig. Josephus positioniert die planvolle ethnographische Abwertung der Samaritaner an wichtigen Schaltstellen der in den Antiquitates nacherzählten Geschichte. In Ant. 9,277-282 288-291 26 paraphrasiert Josephus die Schilderung vom Untergang des Nordreiches in 2Kön 17,24 ff. und charakterisiert die Samaritaner wie folgt (Ant. 9,290 f.): 27 [Wenn d]ie Kuthäer (so heißen sie in hebräischer Sprache, bei den Griechen jedoch Samarier) […] sehen, dass es den Judäern gut geht, nennen sie sich freilich je nach den Umständen ihre Verwandten, weil sie von Josef abstammten und aufgrund dieses Ursprungs von ihm gemeinschaftliche Nähe zu ihnen hätten. Sobald sie aber bemerken, dass ihnen [scil. den Judäern] ein Unglück widerfuhr, behaupten sie, sie hätten zu ihnen nicht die geringste Verbindung noch hätten sie mit ihnen irgendeine Verpflichtung freundschaftlicher oder verwandtschaftlicher Art, sondern erklären sich zu fremdstämmigen Mitbewohnern. Die Gleichsetzung der »Kuthäer« (nach Ant. 9,279 Kolonisten aus einem persischen Ort namens Kuthos) mit den »Samariern« soll ihre Fremdstämmigkeit dartun. »[Josephus] benötigt eine ethnographische Vergleichsgröße, die die Judäer positiv dastehen lässt und ihre positiven Eigenschaften von der dunklen Folie ihres negativen Gegenstücks umso heller abhebt.« 42 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Zum Thema Ihre Abstammung von Israel wird damit zur bloßen Behauptung, die aus Opportunitätsgründen von diesen Leuten sozusagen aus der Schublade gezogen wird und darin bei Bedarf auch wieder verschwindet. Dieses äußerst nachteilhafte Charakterbild implementiert Josephus noch an mehreren weiteren Stellen der Antiquitates. In Ant. 11,297-243 geht es um die Eroberung Palästinas durch Alexander den Großen: Während der Jerusalemer Hohepriester Jaddus gegenüber Alexander an seiner Bündnistreue gegenüber Dareios festhält, obwohl er fürchten muss, den Zorn Alexanders herauszufordern, fällt Dareios’ samarischer Gouverneur Sanballat vom Perserkönig ab und läuft zu Alexander über. Josephus nennt ihn einen »Kuthäer« und notiert, der Priester Manasse sei wegen seiner Ehe mit Sanballats Tochter Nikaso aus Jerusalem vertrieben worden und habe auf dem Garizim mit Sanballats Unterstützung ein eigenes Heiligtum errichtet. Manasse ist nicht selbst ein »Kuthäer«, wohl aber ist seine Frau Tochter eines Kuthäers. Die Eheschließung mit der Tochter Sanballats disqualifiziert ihn für das Priesteramt. Schon die Gründungsgeschichte des Ersatzheiligtums auf dem Garizim ist damit unrühmlich. Die Geschichte mit Alexander geht so aus, dass Alexander trotz der Bündnistreue des Jaddus den Judäern alle Ehre erweist, ihnen in Judäa wie auch in Medien und Persien ein Leben nach dem mosaischen Gesetz gestattet und ihnen alle sieben Jahre den Tribut erlässt, die Samarier dagegen für eventuelle Vergünstigungen auf seine Rückkehr aus Ägypten vertröstet, die freilich nie stattfindet. In Ant. 11,340-342 charakterisiert Josephus die Samaritaner wie folgt: Nachdem Alexander diese Angelegenheiten in Jerusalem geregelt hatte, zog er mit dem Heer in die benachbarten Städte. Alle, zu denen er gelangte, nahmen ihn in freundlicher Gesinnung auf. Als nun die Samaritaner, die die Metropolis Sichem besaßen, die beim Berg Garizim lag und von den Abtrünnigen des judäischen Volkes (hypo tōn apostatōn tou Ioudaiōn ethnous) bewohnt war, sahen, dass Alexander die Judäer derart glanzvoll geehrt hatte, beschlossen sie, sich für Judäer auszugeben. Denn die Samaritaner sind von Natur aus (tēn physin) so, wie wir schon vorher beschrieben haben: Wenn die Judäer in Schwierigkeiten stecken, leugnen sie, mit ihnen verwandt zu sein, und bekennen damit durchaus die Wahrheit. Sobald sie jedoch bemerken, dass ihnen [scil. den Judäern] vom Schicksal irgendetwas Vorteilhaftes zuteilwird, sind sie sofort da und biedern sich an und sagen, [dies] komme ihnen zu, und berufen sich auf die Abstammung von Ephraim und Manasse, den Nachkommen Josefs. In dieser Passage gesellt Josephus zu der Auffassung, dass die Samaritaner von persischen Kolonisten abstammen, die zweite, dass es sich um abgefallene Israeliten handelt. Beides ist nicht ohne weiteres vereinbar, ja, man hat diesen augenscheinlichen Widerspruch in der älteren Josephus-Forschung so stark empfunden, dass man ihn quellenkritisch meinte lösen zu können und zu müssen. 28 Tatsächlich scheint auch Josephus selbst gewisse Schwierigkeiten zu haben, beides auf einen Nenner zu bringen, muss er doch im zitierten Text (und auch an anderen Stellen: s. u. zu Ant. 12,257) klarstellen, was von beidem der Wahrheit entspricht. Allerdings sind beide Varianten insofern einerlei, als sie demselben rhetorischen Zweck einer ethnographischen Abwertung der Samaritaner dienen, denn nach verbreiteter antiker Auffassung führt Migration (sei es aus Judäa oder aus Persien) zu einer negativen Veränderung der ursprünglichen Volkseigenschaften. 29 Dass die Samaritaner jedenfalls auch etwas mit den Judäern zu tun haben, kommt Josephus insofern zustatten, als damit klargestellt ist, dass ihr Tempel dem Vorbild des Jerusalemer Heiligtums entlehnt ist und ihre Priester von dorther stammen. Das aber heißt: Jerusalem ist der ältere und deshalb der rechtmäßige Kultort. Hier könnte, wie Ingrid Hjelm angemerkt hat, ein religionspolitischer Haftpunkt der josephischen Samaritanerdarstellung liegen: War das Heiligtum auf dem Garizim schon vor Generationen zerstört worden, so lag, als Josephus die Antiquitates verfasste, der jerusalemer Tempel seinerseits seit zwei Jahrzehnten in Schutt und Asche. Diese Situation »may well have enhanced discussions about the proper role of the Jewish Temple.« 30 Auch das Gespräch Jesu mit der Samaritanerin in Joh 4 könnte auf eine solche Diskussion hindeuten: Gab es Stimmen, die für einen Wiederaufbau beider Heiligtümer votierten? 31 Die folgende Passage, die mit der Krise unter Antiochus IV. einen weiteren Brennpunkt der judäischen Geschichte aufruft, setzt ersichtlich alles daran, das samaritanische Heiligtum in ein zweifelhaftes Licht zu rücken (12,257-260): Als nun die Samarier die Judäer leiden sahen, gaben sie nicht mehr vor, dass sie deren Verwandte seien oder der Tempel auf dem Garizim dem Höchsten Gott gehöre, sie folgten darin ihrer Natur, die wir schon enthüllt haben. Sie sagten, sie seien Kolonisten der Meder und Perser, und sie sind ja auch deren Kolonisten. Sie schickten Gesandte zu Antiochus mit einem Brief, in dem sie Folgendes erklärten: »Denkschrift für den König Antiochos Theos Epiphanes von den Sidoniern in Sichem. Unsere Vorfahren haben wegen bestimmter Dürreperioden im Lande einer gewissen abergläubischen Neigung folgend einen Brauch eingeführt, den Tag heilig zu halten, der bei den Judäern Sabbat heißt, und haben auf einem Berg namens Garizim ein namenloses Heiligtum eingerichtet und dort die gebührenden Opfer dar- ZNT 37 (19. Jg. 2016) 43 Manuel Vogel Von der schlechten Gewohnheit, schlecht über einander zu reden gebracht. Nachdem du mit den Judäern umgegangen bist, wie es ihrer Schlechtigkeit würdig ist, bezichtigen uns die königlichen Beamten in der Meinung, wir würden aufgrund verwandtschaftlicher Bindung dasselbe tun wie jene, mit den gleichen Anschuldigungen, wo wir doch von alters her Sidonier sind.« Josephus nennt die Samari(tan)er hier »Kolonisten der Meder und Perser«. Im zitierten Sendschreiben an Antiochus IV. bezeichnen sich die Absender dagegen als »Sidonier von Sichem«. Historisch wird man beide Gruppen zu unterscheiden haben. Auch ist der dem »Höchsten Gott« geweihte Tempel (12,257) auf dem Garizim möglicherweise nicht identisch mit dem im Anschluss erwähnten Heiligtum, das auf Antrag der Sidonier von Sichem dem Zeus Hellenios geweiht wird (12,261.263). »Offensichtlich verehrten mehrere Gruppen denselben Berg aus unterschiedlichen Gründen.« 32 Literarisch kommt es Josephus indes gerade darauf an, beide genannten Gruppen mit einer Stimme auftreten zu lassen und durch diese Indentifikation das Bild eines synkretismusanfälligen Samaritaner-Tempels zu erzeugen. Die Auseinandersetzung um die Legitimität dieses Tempels wird mithin nicht mittels direkter Polemik gegen die Gottesverehrung der Samaritaner geführt, sondern anhand ethnographischer Herabwürdigung. Reinhard Pummer resümiert das josephische Ansinnen zutreffend so: Josephus »hat mit seinem Bild der Samaritaner eine bestimmte Absicht verfolgt, nämlich die Samaritaner mit den Juden zu kontrastieren und letztere den Römern als die weitaus würdigeren Untergebenen zu empfehlen.« 33 Dem ist allerdings hinzuzusetzen, dass die josephische Darstellung zunächst einmal rein literarischen Mustern folgt: Es war in der griechisch-römischen Antike offenbar nicht möglich, jemanden zu loben, ohne im gleichen Atemzug einen anderen zu tadeln. Das gilt auch und gerade für antike Ethnographie. 3.3 Galiläer und Idumäer Nicht anders liegen die Dinge bei der Zeichnung der Idumäer im Bellum Judaicum, wenngleich hier der apologetische Zweck einer Entlastung der Judäer von der Schuld am Krieg gegen Rom ungleich stärker ins Gewicht fällt. Im Bellum geht es Josephus vorrangig darum, die Judäer vom Vorwurf des Aufstandes gegen Rom soweit als irgend möglich zu entlasten oder diesen historisch unbestreitbaren Sachverhalt doch zumindest zu relativieren. U. a. bedient er sich dazu einer ethnographischen Binnendifferenzierung der führenden Aufstandsgruppen in Judäer, Galiläer und Idumäer. Aus religiös-nationaler Perspektive waren alle am Aufstand Beteiligten Ioudaioi, die den judäschen Staat mit Jerusalem und dem Tempel als sakral-politischem Zentralsymbol vom römischen Joch zu befreien trachteten. In ethnisch-geographischer Hinsicht jedoch waren nicht alle Ioudaioi sondern entscheidend auch Galilaioi und Idoumaioi. Für ein römisches Publikum wird in einer für die Ioudaioi / Iudaei entlastenden Weise ethnographisch ausdifferenziert, was in der Wahrnehmung der Adressaten sonst unterschiedslos unter dem Etikett Ioudaioi / Iudaei firmierte. Dies leistet Josephus einerseits dadurch, dass er die außerhalb der drei legitimen judäischen »Philosophien« stehende »vierte Philosophie« dem Clan des Galiläers Judas zuordnet. 34 Die führenden Köpfe dieser Widerstands-Ideologie, die am Aufstand gegen Rom maßgeblichen Anteil hatten, waren somit Galilaioi, keine Ioudaioi. Besonders aber der südlich von Judäa ansässigen Ethnie der Idoumaioi weist Josephus eine entscheidende Rolle im judäischen Krieg zu. 35 Unabhängig vom historischen Wahrheitsgehalt seiner Darstellung ist auffällig, wie sorgsam Josephus in den einschlägigen Passagen Ioudaioi und Idoumaioi terminologisch gegeneinander absetzt. Im umfangreichen Passus Bellum 4,224-352, der von den immer unerträglicher werdenden Zuständen im belagerten Jerusalem handelt, arbeitet Josephus konsequent mit der Trias Judäer, Idumäer und Zeloten, wobei die zahlenmäßig starken und fanatisierten Idumäer der Tyrannei der Zeloten die Machtbasis liefern, während die Judäer die leidende Bevölkerungsmehrheit bilden. Eingangs charakterisiert Josephus 36 die Idumäer als ein stürmisches und ungeordnetes Volk (ethnos), das ständig auf Unruhen Ausschau hielt und an Umwälzungen seine Freude hatte. So würde es nur eines kleinen Aufwands an Schmeichelei seitens der Bittenden bedürfen, dass dies Volk zu den Waffen greife und in die Feldschlacht wie zu einem Feste eile. (Bellum 4,231) Wo sich dagegen im belagerten Jerusalem einer der führenden Köpfe durch Besonnenheit hervortut und der Gewaltherrschaft der Zeloten Einhalt zu gebieten und in letzter Minute eine Einigung mit den Römern zu erreichen sucht, wird er ausdrücklich Ioudaios genannt, so im Falle des Jerusalemer Notablen Gorion, von dessen Ermordung durch die Zeloten Josephus in Bellum 4,358 berichtet. 37 Josephus bringt es sogar fertig, die unleugbar bestehende Verwandtschaft zwischen Judäern »Es war in der griechisch-römischen Antike offenbar nicht möglich, jemanden zu loben, ohne im gleichen Atemzug einen anderen zu tadeln.« 44 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Zum Thema und Idumäern, die seiner Darstellungsabsicht eigentlich zuwider läuft, ausdrücklich anzusprechen, nämlich als dasjenige, wovon die Idumäer sich durch die Tat losgesagt haben, als sie diejenigen hinmordeten, mit denen sie eine Stammverwandtschaft (syngeneia) verband (Bellum 4,311). »Josephus inszeniert in diesem Teil des Bellum ein überaus geschicktes ethnographisches Ablenkungsmanöver zugunsten der Judäer, indem er die Idumäer als eigenes ethnos präsentiert, sie insgesamt charakterlich abqualifiziert und ihnen qua ethnos eine erhebliche Mitschuld an der Eskalation des Aufstandes anlastet«. 38 Die Identifikation auf idumäischer Seite mit dem Jerusalemer Tempel und der Verehrung des Gottes Israels als Motiv für die Beteiligung am Aufstand gegen Rom rechnet Josephus den Idumäern nicht nur nicht an, er legt es ihnen nach Kräften zum Nachteil aus. Dabei wird er keineswegs zum Opfer ethnographischer Stereotype, wie Alan Appelbaum meint, 39 sondern er verwendet diese Stereotype planvoll zur Erreichung seines rhetorischen Zwecks. »Ethnographische Gegebenheiten werden hier« einmal mehr »zu ethnographischen Versatzstücken, die sich der Wirkabsicht entsprechend beliebig arrangieren lassen.« 40 4. Fazit Antike Ethnographie funktioniert wie ein Kaleidoskop: Je nachdem, wie man die mit bunten Glassteinchen gefüllte Pappröhre dreht, zeigen sich dem Auge andere Bilder. Allerdings ist antike Ethnographie insofern gerade kein »Kaleidoskop« (wörtlich etwa: »Gerät zur Betrachtung schöner Bilder«), als sie beileibe nicht nur schöne Bilder vor dem Auge des Betrachters entstehen lässt, sondern wesentlich auch hässliche. Die These lautet: Antike Ethnographie enthält strukturell ein Moment der Abschätzigkeit. Die Vielgestaltigkeit der Bilder (hier greift der Vergleich mit dem Kaleidoskop) resultiert aus den variablen Betrachterperspektiven unterschiedlicher Ethnien. Am Beispiel der Texte des Josephus wird außerdem folgendes deutlich: (1) Der ethnographischen Bildproduktion geht es nicht um Wahrheit sondern um Wirkung. Die Werke des Josephus sind in weiten Teilen eine politische Image-Kampagne an die Adresse der stadtrömischen Elite zugunsten Judäas und der vielen Judäer in der Diaspora. Die Wahl der ethnographischen Mittel ist ganz auf diesen Zweck abgestimmt. (2) Die abschätzige Darstellung anderer Ethnien, die entsprechend den antiken Gepflogenheiten eine obligatorische Zutat dieser Image-Kampagne war, stellt weitgehend ein Konstrukt dar. Lobende und tadelnde Anteile einer ethnographischen Beschreibung waren frei gestaltbar, sei es, dass ein Grieche die Griechen lobte oder ein Judäer sie abschätzig beurteilte, um bei den Römer zu punkten. Eine Probe auf die »Realitätsnähe« solcher Negativurteile bietet das josephische Samaritaner- Portrait: Ausgerechnet die konservativen Samaritaner müssen als Beispiel für wankelmütige Synkretisten herhalten. (3) Antike Ethnographie beherrscht die Kunst des Weglassens. Die Zeichnung eines römischen Idealen entsprechenden »Volks-Charakters« der in Judäa lebenden Judäer blendet nicht nur die nachhaltige Hellenisierung Judäas und der angrenzenden Regionen seit der Alexanderzeit aus, sondern auch die weitestgehende Akkulturation der Diasporajudäer an die jeweiligen Mehrheitsgesellschaften. (4) Die Grenzziehungen zwischen Judäern, Samaritanern, Galiläern und Idumäern sind willkürliche Setzungen, die die gemeinsame Geschichte, die gemeinsame Kultur und die gemeinsame Gottesverehrung dieser Ethnien ausblenden. Das aber heißt: Auch die Kategorie des »Volkes« erweist sich am Ende als Konstrukt. Anmerkungen 1 M. Stern, Greek and Latin Authors on Jews and Judaism, 3 Bde., Jerusalem 1974 -1984. 2 Willkürlich herausgegriffen: Das vierte Kapitel (S. 25-29) in: K. Schubert, Jüdische Geschichte, München 7 1996, ist überschrieben mit »Antijudaismus in der Antike«. 3 So etwa Z. Yavetz, Judenfeindschaft in der Antike, München 1997. 4 P. Schäfer, Judeophobia: Attitudes Toward the Jews in the Ancient World, Harvard 1997 (in deutscher Übersetzung 2010 erschienen unter dem Titel »Judenhass und Judenfurcht. Die Entstehung des Antisemitismus in der Antike«). 5 Das Folgende schöpft weitestgehend aus B. Isaac, The Invention of Racism in Classical Antiquity, Princeton 2004. Vgl. außerdem J.M. Hall, Ethnic Identity in Greek Antiquity, Cambridge 1997, sowie aus der neueren Literatur G. Woolf, Tales of the Barbarians: Ethnography and Empire in the Roman West, Chichester 2011; J. Skinner, The Invention of Greek Ethnography: From Homer to Herodotus, Oxford 2012; E. Almagor, J. Skinner (Hgg.), Ancient Ethnography: New Approaches, London/ New York 2013. 6 Analoges gilt im Übrigen auch für die biographische Literatur der griechisch-römischen Antike, am augenfälligsten greifbar in den Parallel-Biographien Plutarchs, an »Antike Ethnographie funktioniert wie ein Kaleidoskop: Je nachdem, wie man die mit bunten Glassteinchen gefüllte Pappröhre dreht, zeigen sich dem Auge andere Bilder.« ZNT 37 (19. Jg. 2016) 45 Manuel Vogel Von der schlechten Gewohnheit, schlecht über einander zu reden die sich stets eine Synkrisis (»Vergleich«) der paarweise portraitierten Gestalten anschließt. Vgl. hierzu M. Vogel, Commentatio mortis. 2Kor 5,1-10 auf dem Hintergrund antiker ars moriendi (FRLANT 214), 86-109. 7 Griechischer Text mit englischer Übersetzung bei W. H. S. Jones, Hippocrates, Bd. 1 (LCL 147), London/ Cambridge (Mass.) 1948, 65-137. 8 Übersetzung: Platon, Werke in acht Bänden, Griechischdeutsch, hg. von G. Eigler, Bd. 4, Darmstadt 1990, 331. 9 Übersetzung: Tertullians sämtliche Schriften. Aus dem Lateinischen übersetzt von K. A. H. Kellner, Bd. 1, Köln 1882, 319 f. Zur Anspielung auf Tit 1,12 vgl. M. Vogel, Die Kreterpolemik des Titusbriefes und die antike Ethnographie, ZNW 101 (2010), 252-266. 10 Vgl. dazu J. M. G. Barclay, Hostility to Jews as Cultural Construct: Egyptian, Hellenistic, and Early Christian Paradigms, in: Ch. Böttrich, J. Herzer, T. Reiprich (Hgg.), Josephus und das Neue Testament. Wechselseitige Wahrnehmungen (WUNT I 209), 365-385. 11 Dazu ausführlich B. Isaac, The Invention of Racism in Classical Antiquity (Anm. 5), 381-405; G. Vogt-Spira, B. Rommel (Hgg.), Rezeption und Identität. Die kulturelle Auseinandersetzung Roms mit Griechenland als europäisches Paradigma, Stuttgart 1999. 12 Vgl. etwa Livius, Römische Geschichte 34,3,3; Plinius, NH 29,17.27; Plutarch, Cato d. Ä., 20,5; 21,2; 23. 13 Zu Plinius vgl. Th. Fögen, Plinius der Ältere zwischen Tradition und Innovation. Zur ›Ideologie‹ der Naturalis historia, in: N.K. Ramer, Ch. R. Reitz, Tradition und Erneuerung. Mediale Strategien in der Zeit der Flavier, Berlin/ New York 2010, 41-61. 14 Zitiert aus: Die Naturgeschichte des Gaius Plinius Secundus. Herausgegeben von L. Möller und M. Vogel, Bd. 2, Wiesbaden 2007, 142. 15 Zitiert aus: Quintus Horatius Flaccus, Werke, Leipzig 1968, 296 (mit Änderungen). 16 Das Folgende verdanke ich R.S. Bloch, Antike Vorstellungen vom Judentum: Der Judenexkurs des Tacitus im Rahmen der griechisch-römischen Ethnographie, Stuttgart 2002. 17 Zitiert aus: P. Cornelius Tacitus, Historien. Lateinischdeutsch. Herausgegeben von J. Borst unter Mitarbeit von H. Hross und H. Borst, München/ Zürich 5 1984, 517 (mit Änderungen). 18 Übersetzung: Flavius Josephus, Über die Ursprünglichkeit des Judentums-- Contra Apionem, herausgegeben von F. Siegert, Bd. 1, Göttingen 2008, 107 (mit Änderungen). 19 Für die Literatur bis 1994 vgl. J. Zangenberg, ΣΑΜΑΡΕΙΑ. Antike Quellen zur Geschichte und Kultur der Samaritaner in deutscher Übersetzung (TANZ 15), Tübingen 1994. Neuere und neueste Literatur bei M. Böhm, Art. Samariataner (Anm. 20) und B. Hensel, Von »Israeliten« zu »Ausländern«: Zur Entwicklung anti-samaritanischer Polemik ab der hasmonäischen Zeit, ZAW 126 (2014), 475-493. Die Samaritaner bei Josephus wurden zuletzt monographisch untersucht von R. Pummer, The Samaritans in Flavius Josephus (TSAJ 129), Tübingen 2009. Neuere Sammelbände zu den Samaritanern: M. Mor, F. Reiterer, V. Friedrich (Hgg.), Samaritans: Past and Present. Current Studies (SJ 53/ Ssam 5), Berlin/ Boston 2010, daraus v. a. I. Hjelm, Mt. Gerizim and Samaritans in Recent Research, 25-41; J. Zsengellér, (Hg.), Samaria, Samarians, Samaritans. Studies on Bible, History and Linguistics (SJ 66/ Ssam 6), Berlin/ Boston 2011, daraus vgl. v. a. M. Kartveit, Josephus on the Samaritans-- his Tendenz and Purpose, 109-120; J. Frey, U. Schattner-Rieser, K. Schmid (Hgg.), Die Samaritaner und die Bibel-- The Samaritans and the Bible. Historische und literarische Wechselwirkungen zwischen biblischen und samaritanischen Traditionen-- Historical and Literary Interactions between Biblical and Samaritan Traditions (SJ 70/ Ssam 7), Berlin/ Boston 2012, daraus v. a. G.N. Knoppers, Samaritan Conceptions of Jewish Origins and Jewish Conceptions of Samaritan Origins: Any Common Ground? , 81-118. Neuesten Datums ist die bis in die Gegenwart reichende Gesamtdarstellung von R. Pummer, The Samarians. A Profile, Grand Rapids 2016. Weitere Literatur: R. Pummer, Antisamaritanische Polemik in jüdischen Schriften aus der intertestamentarischen Zeit, BZ 26 (1982), 224-242; R.J. Coggins, The Samaritans in Josephus, in: L.H. Feldman (Hg.), Josephus, Judaism, and Christianity, Leiden 1987, 257-273; S. Schwartz, The ›Judaism‹ of Samaria and Galilee in Josephus’s Version of the Letter of Demetrius I to Jonathan (Antiquities 13.48- 57), HTR 82 (1989), 377-391; L. H. Feldman, Josephus’ attitude toward the Samaritans: a study in ambivalence, in: ders., Studies in Hellenistic Judaism, Leiden 1996, 114-136; I. Hjelm, The Samaritans and Early Judaism. A Literary Analysis (JSOT SupplSer 303), Sheffield 2000; I. Hjelm, The Samaritans in Josephus’ Jewish History, in: H. Shehadeh and H. Tawa (Hgg.), Proceedings of the Fifth International Congress of the Société d’Études Samaritaines. Helsinki, August 1-4, 2000. Studies in Memory of Ferdinand Dexinger, Paris 2006, 27-39; S. Schorch, The Construction of Samari(t)an Identity from the Inside and from the Outside, in: R. Albertz, J. Wöhrle (Hgg.), Between Cooperation and Hostility. Multiple Identities in Ancient Judaism and the Interaction with Foreign Power, Göttingen 2013, 135-149. 20 Das Folgende nach M. Böhm, Art. Samariataner, WiBiLex (https: / / www.bibelwissenschaft.de/ stichwort/ 25 967/ ). Letzter Zugriff: 1. 3. 2016. 21 Vgl. hierzu v. a. R. Egger, Josephus Flavius und die Samaritaner. Eine terminologische Untersuchung zur Identitätsklärung der Samaritaner (NTOA/ StUNT 4), Freiburg (Schweiz)/ Göttingen 1986. 22 So auch B. Hensel, Von »Israeliten« zu »Ausländern« (s. Anm. 19), 479-483, vgl. v. a. die Beobachtungen zu den Verschiebungen in Sir. 50,25 f. (Polemik gegen Philister, Edomiter und Samaritaner) von der hebräischen zur griechischen Fassung. 23 B. Hensel, Von »Israeliten« zu »Ausländern« (s. Anm. 19), 475. 24 Übersetzung: Flavius Josephus, Über die Ursprünglichkeit des Judentums (s. Anm. 18), 99 (mit Änderungen). 25 Wie es dann aber passieren konnte, dass die Judäer sich im Jahr 66 gegen Rom erhoben haben, steht auf einem anderen Blatt. Im Bellum gibt Josephus darauf die bündige 46 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Zum Thema Antwort: Das Volk der Judäer wurde von einer radikalen Minderheit aufgestachelt und verführt. Das Volk insgesamt und als solches ist Opfer einer fehlgeleiteten Elite geworden. 26 Vgl. hierzu I. Hjelm, The Samaritans in Josephus’ Jewish History (Anm. 19), 29-31; R. Pummer, The Samaritans in Flavius Josephus (Anm. 19), 67-76; B. H. Hensel, Von »Israeliten« zu »Ausländern« (s. Anm. 19), 483 f. 27 Übersetzung dieses und der folgenden Zitate aus Ant. nach J. Zangenberg, ΣΑΜΑΡΕΙΑ (Anm. 19), 51 ff. (mit Änderungen). 28 Einen anderen Ansatz wählt neuerdings S.U. Lim, Josephus Constructs the Samari(t)ans: A Strategic Construction of Judaean/ Jewish Identity through the Rhetoric of Inclusion and Exclusion, JThSt 64 (2013), 404-431: Josephus habe für seine Identitätskonstruktion der Judäer im Gegenüber zu den Samaritanern planvoll inklusive und exklusive Momente in seine Darstellung integriert. 29 Vgl. hierzu B. Isaac, The Invention of Racism in Classical Antiquity (Anm. 5), 89 f. zu Livius, Römische Geschichte 38,17; dazu auch M. Vogel, Die Kreterpolemik des Titusbriefes und die antike Ethnographie (Anm. 9), 261 f. Nach S. Weitzman, Mimic Jews and Jewish Mimics in Antiquity: A Non-Girardian Approach to Mimetic Rivalry, JAAR 77 (2009), 922-940 war die Abgrenzung gegenüber illegitimen Adaptionen der eigenen Tradition auch für die römische Selbstauffassung konstitutiv. 30 I. Hjelm, The Samaritans in Josephus’ Jewish History (Anm. 19), 28. 31 A. a. O., 29. 32 J. Zangenberg, ΣΑΜΑΡΕΙΑ (s. Anm. 19), 68. Vgl. auch I. Hjelm, The Samaritans in Josephus’ Jewish History (Anm. 19), 35 f. 33 R. Pummer, The Samaritans in Flavius Josephus (Anm. 19), 285, eigene Übersetzung. Ebenso sieht I. Hjelm, The Samaritans in Josephus’ Jewish History (Anm. 19), 27 »Josephus’ seemingly apologetic interest in contrasting Jews and Samaritans in Antiquities«. Vgl. auch dies., The Samaritans and Early Judaism. A Literary Analysis (Anm. 19), 227: Josephus »composed his history on Jewish antiquity in order to demonstrate that legitimate Judaism belongs to Jerusalem. This message was forcefully given the Roman leaders, not only to defend the sovereignty of the Jewish temple, but also to demonstrate the loyalty of the Jewish leaders to the Romans.« 34 Der Clan des Galiläers Judas spielt an Wendepunkten der von Josephus erzählten judäischen Geschichte jeweils eine entscheidende Rolle: Beim Zensus des Quirinius 6 n. Chr., bei Erhebungen gegen Rom in den vierziger Jahren, zu Beginn des judäischen Krieges und während des letzten Widerstandes gegen die römischen Truppen auf Massada. Vgl. dazu S. Mason, Flavius Josephus und das Neue Testament, Tübingen 2000, 299 f. 35 Die Literatur zu den Idumäern ist weitaus weniger zahlreich als die zu den Samaritanern und befasst sich überwiegend mit der Perserzeit. Eine ältere einschlägige Publikation ist A. Kasher, Jews, Idumeans and Ancient Arabs (TSAJ 18), Tübingen 1988. Zu den Idumäern bei Josephus vgl. A. Appelbaum, ›The Idumaeans‹ in Josephus‘ The Jewish War, JSJ 40 (2009), 1-22. 36 Übersetzung: Flavius Josephus, De Bello Judaico-- Der Jüdische Krieg. Griechisch und Deutsch. Mit einer Einleitung sowie mit Anmerkungen versehen von O. Michel und O. Bauernfeind (Hgg.), Bd. 2,1, Darmstadt 1963, 39. 37 Vgl. auch 4,318 f.: Der besonnene Ananos ist »Hoherpriester der Judäer«. 38 M. Vogel, Die Kreterpolemik des Titusbriefes (s. Anm. 9), 263. 39 A. Appelbaum, ›The Idumaeans‹ in Josephus’ The Jewish War (s. Anm. 38), 10: »Josephus was a victim of this kind of thinking«. Appelbaum versucht, den der josephischen Darstellung zugrunde liegenden historischen Gegebenheiten gerecht zu werden und unterscheidet vier Gruppen von am Aufstand beteiligten Idumäern. 40 M. Vogel, Die Kreterpolemik des Titusbriefes (s. Anm. 9), 263. ZNT 37 (19. Jg. 2016) 47 Einleitung zur Kontroverse: »Parting(s) of the ways? « Mit dieser Kontroverse greifen wir eine Debatte auf, die durch den gleichlautenden Titel eines im Jahr 1991 erschienenen Buches von James D.G. Dunn ihr Thema erhalten hat: Das »Auseinandergehen der Wege« zwischen Juden und Christen. Schon damals stand das »Auseinandergehen« im Plural (J.D.G Dunn, The Partings of the Ways between Christianity and Judaism and their Significance for the Character of Christianity, London 1991, 2. Aufl. 1996, 3. Aufl. 2006), womit angedeutet war, dass mit vielgestaltigen, komplexen und regional sehr unterschiedlichen Prozessen der Dissoziation dessen zu rechnen ist, was uns heute in Gestalt der zwei Weltreligionen »Judentum« und »Christentum« vor Augen steht. Wie engagiert die Forschungsdebatten in den darauffolgenden Jahren geführt wurden, kann man anhand des Titels eines von Adam H. Becker und Annette Yoshiko Reed im Jahr 2003 herausgegebenen Sammelbandes ermessen: The Ways that never parted. Jews and Christians in Late Antiquity and the early Middle Ages. Dass die Debatte bis heute andauert, zeigt der Titel einer von Tobias Nicklas 2014 vorgelegten Mongraphie: Jews and Christians? Second-Century ›Christian‹ Perspectives on the ›Parting of the Ways‹. Diese kurze bibliographische Orientierung lässt erkennen, dass die Kontroverse des aktuellen Heftes von zwei Gesprächspartnern geführt wird, die diese Debatte angestoßen haben und/ oder bis heute maßgeblich bestimmen und voranbringen. Der sachliche Dissenspunkt der überaus wertschätzend ausgetragenen Kontroverse-- Dunn kleidet seinen Beitrag in die Form einer Besprechung des Buches von Nicklas- - lässt sich anhand eines terminologischen Dreischritts der genannten Publikationen beschreiben: Hatte Dunn im Jahr 1991 noch von »Judaism« und »Christianity« gesprochen, und hatten Becker und Reed den Gegensatz zweier Religionen auf das Mit- und Gegeneinander unterschiedlicher Gruppen (»Jews and Christians«) herabgestuft, so setzt nun Nicklas auch hinter die weniger kategorisch anmutenden Gruppenbezeichnungen ein Fragezeichen (»Jews and Christians? «), und selbst das Adjektiv »christian« erscheint im Buchtitel nur in Anführungszeichen. Die Frage lautet mithin: Was leistet die Unterscheidung »jüdisch/ christlich« für die Zeitspanne vom zweiten bis ins vierte und fünfte Jahrhundert und darüber hinaus? Und welche Richtung wird der weiteren Forschung mit der Beantwortung dieser Frage gewiesen? Geht es darum, unser Bild vom Mit-, Neben- und Gegeneinander von Juden und Christen immer weiter zu differenzieren (Dunn), um die für das bloße Auge des Betrachters ja unabweisbare Dissoziation in zwei »Weltreligionen« immer besser zu verstehen? Oder geht es darum, diese Unterscheidung für den genannten Zeitraum nach Möglichkeit auszublenden (Nicklas), um ein religionsgeschichtliches Mittelfeld zu erschließen, von dem man, will man präzis sein, nicht mehr sagen kann, als dass Juden und Nichtjuden für ihre eigene Gottesverehrung in unterschiedlichsten Weisen und Anteilen aus den Traditionen Israels schöpften? Manuel Vogel Kontroverse 48 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Mit großem Vergnügen habe ich Tobias’ Deichmann Lectures zum Thema »Juden und Christen? ›Christliche‹ Perspektiven im zweiten Jahrhundert auf das ›Parting of the Ways‹« gelesen, die er im Jahr 2013 an der Ben- Gourion-Universität in Beersheva gehalten hat, und ich wäre dort gern zugegen gewesen, um mit Tobias zu diskutieren, zumal im Rahmen der für die jüdisch-christlichen Beziehungen und für das gegenseitige Verstehen so wichtigen Deichmann- Lectures. Nicht zuletzt hat sein Buch schöne Erinnerungen geweckt an meine eigenen Deichmann-Lectures vier Jahre zuvor. Die Einleitung bietet mit dem Einstieg bei Ignatius einen überaus passenden Zugang zum Thema. Bereits im frühen 2. Jh. trifft Ignatius eine klare Unterscheidung zwischen »Judentum« und »Christentum«. Hier finden wir den ersten Beleg für »Christentum« als Bezeichnung für die auch zu dieser Zeit noch junge Bewegung in Unterscheidung von der altbekannten Religion der Juden, und dies in der Zeit nach dem desaströsen (ersten) jüdischen Aufstand und der Zerstörung des Jerusalemer Tempels, ein Ereignis, das wesentlich zur Faszination des Themas »Juden und Christen« beiträgt. Der Einstieg bei Ignatius wirft unweigerlich die Frage auf, wann sich »die Wege trennten«, und ob dies unausweichlich war. Weitere Fragen sind damit verknüpft, nicht zuletzt, ob wir das von Ignatius präsentierte »Christentum« in seiner Beziehung zum »Judentum« überhaupt als repräsentativ ansehen können. Somit weckt die Einleitung Neugier und Appetit auf das Folgende. Das erste Kapitel Images of the Chosen People: ›The Jews‹ in Second Century ›Christian‹ Writings gibt gleich zu Beginn eine Probe auf das Schwergewicht der gesetzten Anführungszeichen, wenn es um das Petrusevangelium geht (18-24), ein faszinierendes Dokument in seiner paradoxen Darstellung »der Juden« (22). Freilich stellt sich die Frage, wie repräsentativ auch das Petrusevangelium für die christliche Seite des Parting of the ways ist. Zu den besten Stücken dieses Kapitels gehören die Ausführungen zu Melito von Sardes, der üblicherweise als rundheraus antijüdisch gilt, der aber, so Nicklas mit Recht, das Verweilen lohnt (24-34), sowie zum Martyrium Polykarps (52-61). Zu diesem notiert er, dass »es sich klar gezeigt hat, dass die Aussagen über die Juden weit überwiegend als rein literarische Bildungen angesehen werden müssen, widersprechen sie doch nahezu allem, was wir über jüdische Glaubens- und Lebensweisen wissen« (56). Zutreffend resümiert er: »Das Martyrium Polykarps ist der Niederschlag eines Konflikts von Christusanhängern, die um ihre Identität im Gegenüber zur Synagoge kämpften« (60). Eine gewisse Enttäuschung bereitet dagegen der voranstehende Passus zu den Pseudo-Klementinen (47-52), die doch zu den wichtigsten Zeugen eines durchweg jüdisch grundierten Jesusglaubens gehören. Zwar scheinen die Pseudo-Klementinen als Selbstdarstellung jüdischer Christusanhänger des 2. Jh. eine isolierte Stellung einzunehmen, doch hätten sie in einer Vorlesung über »Juden und Christen« im 2. Jh. weitaus mehr Aufmerksamkeit verdient, erinnern sie uns doch daran, dass »in bestimmten ›christlichen‹ Kreisen die Opposition gegen das paulinische Christentum noch lange fortdauerte« (49). Tobias stellt zwar einige kurze Überlegungen zu Spuren »›christlicher‹ antipaulinischer Tendenzen« an, wie sie bei mehreren christlichen Autoren zu finden sind. Eine eingehendere Betrachtung hätte aber das Problem verdient, das die Aufnahme des Heidenapostels in den Kanon dargestellt haben muss, da doch die intensiven »antipaulinischen Tendenzen« als gewichtiger Faktor in Rechnung gestellt werden müssen, wenn es darum geht, die Geschichte des Auseinandergehens der Wege nachzuzeichnen und ihre Gründe zu verstehen. Das zweite Kapitel ist interessanterweise überschrieben mit »Das erwählte Volk, sein Gott und der Bund«. Man hätte erwartet, hier auf Ignatius zu stoßen, aber dieser diente ja bereits dazu, die ganze Diskussion zu eröffnen (1-8), und er wird erst wieder im dritten Kapitel eine Rolle spielen. Unter der Überschrift »Der zurückgewiesene Bund« geht es, wie kaum anders zu erwarten, um den Barnabasbrief (67-74), mit dem so nachvollziehbaren wie verstörenden Resümee, dass »das ›Christentum‹ des Barnabasbriefes alle Beziehungen zu ›gelebtem‹ Judentum abbricht« (74). Man kann freilich den Barnabasbrief in dem Maße immer noch jüdisch nennen, wie man ihn christlich nennt. In anderen christlichen James D. G. Dunn Juden und Christen Ein Dialog mitTobias Nicklas Kontroverse ZNT 37 (19. Jg. 2016) 49 James D. G. Dunn Juden und Christen onen erkennen, die ein Verständnis des Christentums als einer Ausarbeitung und Erweiterung des überlieferten jüdischen Glaubens nahelegen und ein ausgewogeneres Urteil über den jüdischen Charakter des christlichen 2. Jh. zulassen, als es dem Barnabasbrief und dem Diognetbrief recht war. Das dritte Kapitel gibt Einblick in einen weiteren bemerkenswerten Aspekt des Themas: »Das erwählte Volk und seine Schriften: Eine neue hermeneutische Perspektive«. Es bedarf kaum eines Hinweises, dass die frühesten Christen die Schriften im Lichte dessen lasen, was ihnen als neue Offenbarung in und durch Christus galt. Spannend wird es dagegen bei der Frage, wie sich diese Lektüren zu den jüdischen Lektüren der gleichen Texte verhalten. Zutreffend beobachtet Nicklas, dass »Ignatius eine ›christliche Lebensweise‹ entwirft, in der die Tora als Regelwerk der Lebensgestaltung mehr und mehr in Vergessenheit gerät und nur noch als Bestandteil der Schriften von Interesse ist, die prophetisch auf das ›Christus-Ereignis‹ vorausweisen« (129). Die Bedeutung von Justins Diolog mit Tryphon kann in diesem Zusammenhang kaum überschätzt werden. Man kann mit Grund bestreiten, dass diese Schrift »einen Dialog zwischen zwei realen Völkern aus Fleisch und Blut widerspiegelt« (137). Sie bleibt aber ein eindrucksvolles Zeugnis dessen, was man mit Fug und Recht zu den jüdisch-christlichen Beziehungen des 2. Jh. rechnen darf. Wichtig ist nicht zuletzt, dass Justin nicht den Versuch unternimmt, den Dialog mit einer Notiz über seinen Erfolg, geschweige denn über eine Bekehrung Tryphos abzuschließen. Das Gespräch zwischen Juden und Christen war unabgeschlossen, und es ging weiter. In der zweiten Hälfte des Kapitels werden Vernachlässigung und Missbrauch der Schriften Israels in den Versuchen Markions und anderer, ihre eigene Bewegung möglichst gründlich von den jüdischen Wurzeln des Christentums abzuschneiden, anschaulich dargestellt (142-156). Zwar bewegen wir uns hier an der Peripherie der Leitfrage nach dem jüdischen Charakter des Christentums, doch wird damit die Bedeutung des Themas auf eigene Weise anschaulich. Ein kurzer Schlussabschnitt zur Frage »Pseudepigraphische Schriften-- ›jüdisch‹ oder ›christlich‹? «, v. a. zu 5Esra und zur Ascensio Jesajae (157-162), folgt etwas umständlich und ohne eigenes Resümee. Aus dem Umstand, dass solche Schriften als »jüdisch und christlich« eingestuft werden können, wären weitere Schlüsse zu ziehen. Quellen ist ein deutliches Bewusstsein der Trennung von »den Juden« unübersehbar, so etwa im Kerygma Petrou (bzw. Petri, so Nicklas) (78-82), und in den Sybillinischen Orakeln (83- 84). Auch bei Aristides ist deutlich, dass Christen von Juden zu unterscheiden sind, ebenso im Diognetbrief, der eine allzu große Ähnlichkeit des jüdischen Gottesdienstes mit der Idolatrie falscher Götter behauptet (85-96)! Der dann folgende Abschnitt des zweiten Kapitels befasst sich mit Markion und der Sethianischen »Gnosis« (96-107). Das leuchtet ein, wenn es um Antworten des 2. Jh. auf den Glauben geht, den Christen ihren jüdischen Ursprüngen verdankten. Es wird allerdings nicht recht klar, was diese Diskussion für das jüdischchristliche Verhältnis austrägt. Auch hätten solche Texte mehr Aufmerksamkeit verdient, die jene substanziellen Überschneidungen zwischen dem aufkommenden Christentum und dem umgebenden Judentum dokumentieren, derer sich das rabbinische Judentum schließlich entledigt hat. Tobias konzentriert sich auf die Testamente der zwölf Patriarchen (107-112). Ebenso gut hätten weitere Schriften thematisiert werden können, die ihrerseits den sich öffnenden Graben zwischen Juden und Christen überbrückten, etwa die Apostolischen Konstitutionen, die im 7. und 8. Buch möglicherweise auf hellenistischen Synagogengebeten fußen, und ebenso die Oden Salomos. Diese Schriften lassen eine Vertrautheit und eine Interaktion mit jüdischen Traditi- James D. G. Dunn, geb. 1939, ist Emeritus Lightfoot Professor of Divinity an der Theologischen Fakultät der University of Durham. Dunn wird besonders mit der »New Perspective on Paul« in Verbindung gebracht, als deren führender Vertreter er gilt. Wichtige Veröffentlichungen sind: »The Partings of the Ways between Christianity and Judaism and their Significance for the Character of Christianity«, London 2 2006; »The New Perspective on Paul«, Grand Rapids 2008. Prof. Dr. James D.G. Dunn »Es bedarf kaum eines Hinweises, dass die frühesten Christen die Schriften im Lichte dessen lasen, was ihnen als neue Offenbarung in und durch Christus galt.« 50 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Kontroverse Unter der Überschrift »Fragen der Halacha« wendet sich das vierte Kapitel »christlichen« Lektüren der Schriften Israels zu. Der Beginn bei Matthäus und seiner Vorstellung Jesu als Lehrer einer besonderen »Jesus- Halacha« (166) ist nachvollziehbar; ein Stirnrunzeln erzeugt die Charakterisierung der Rede Jesu gegen Pharisäer und Schriftgelehrte als »infam«, ein wenig auch die Bemerkung zur berühmt-berüchtigten Rede des Paulus von den »Werken des Gesetzes«: »Sind ›Werke in Übereinstimmung mit dem Gesetz‹ gemeint, oder geht es um boundary marker zwischen Juden und nichtjüdischen Gruppen? « (168f ). Ist das denn tatsächlich eine Entweder-oder-Frage? Die anschließende Bemerkung, dass »Paulus in seinen erhaltenen Schriften nirgends das Gesetz per se als obsolet erklärt« (170), ist im Fortgang der Diskussion willkommen. Da aber die »Werke des Gesetzes« eindeutig eine Schlüsselkategorie in Paulus’ Darlegung seines Verständnisses und seiner eigenen Position im Blick auf das Verhältnis zwischen jüdischen und nichtjüdischen Christusgläubigen darstellt, wäre eine weitere Klärung der paulinischen Auffassung in ihrem spezifischen Problemkontext am Platze gewesen. Zwar richten die Vorlesungen ihr Augenmerk auf Quellen des zweiten Jahrhunderts, aber da Paulus zu Beginn von Kapitel 4 in die Diskussion gebracht wurde, wäre ein eingehenderes Gespräch hilfreich gewesen. Die Ausführungen zum Hirt des Hermas (173-177) sind insofern interessant, als in den dort greifbaren Situationen des sozialen Konflikts nirgends die Beziehungen zu Juden oder zwischen jüdischen und nichtjüdischen Christen eine Rolle zu spielen scheinen. Daraus kann man gewiss nicht schließen, dass diese Beziehungen spannungsfrei waren, oder dass Kirche und Synagoge in Harmonie miteinander lebten, gar mit doppelten Zugehörigkeiten. Aber dass von einem Auseinandergehen der Wege oder einer römischen Konkurrenz zwischen Kirche und Synagoge in gegenseitiger schroffer Zurückweisung nichts zu sehen ist, ist in einer Untersuchung über die Beziehungen zwischen Juden und Christen im 2. Jh. ein bemerkenswerter Befund. Die Rückkehr zum Barnabasbrief und seiner Zwei- Wege-Lehre (177-182) ist sachgemäß, vergisst man doch gar zu leicht, dass im 2. Jh. die jüdischen Synagogen weitaus besser in den Gesellschaften des römischen Reiches etabliert waren als die sich noch entwickelnden christlichen Gruppen. Vor diesem Hintergrund kann man zu der Auffassung gelangen, dass der christliche Versuch, sich durch den Rekurs auf die Schriften Israels zu legitimieren, zugleich eine exklusive Aneignung dieser Schriften darstellt und in der Folge die Aneignung von Israels Status als Bundesvolk. Ich meine gleichwohl, dass der Barnabasbrief mehr mit den vielen prophetischen Rügen von Israels religiöser Praxis in der Vergangenheit zu tun hat, und dass der Verfasser die Entwicklung des Heidenchristentums als Erfüllung des Geschicks Israels gesehen und nicht einfach Israel jeden weiteren Platz in Gottes Zuneigung und Absichten bestritten hat. Die Didache erhält verdientermaßen Aufmerksamkeit, wenn Nicklas sich auch hauptsächlich mit der Zwei- Wege-Lehre befasst (182-190). Ihr jüdischer Charakter liegt von Anfang an klar zutage. Sie bezieht sich, wie Tobias feststellt (186), wesentlich auf den Dekalog und mengt jüdische und spezifisch christliche Lehrinhalte vehement zusammen. Tatsächlich ist die Didache derart charakteristisch jüdisch, dass man fragen kann, ob »jüdisch« und »christlich« in den Gemeinden der Didache überhaupt kategorial unterschieden wurde. Stellt man in Rechnung, dass die Didache möglicherweise mehr als jede andere Schrift dieser Zeit den Titel »Judenchristentum« bzw. »christliches Judentum« verdient, wäre hier mit Gewinn noch mehr zu sagen gewesen. Tobias notiert abschließend, dass, wenn die Didache »in oder bei Antiochien verfasst wurde, der ›Diözese‹ des Ignatius, […] abermals deutlich wird, welch unterschiedliche Formen von ›Christentum‹ in unmittelbarer Nähe zueinander koexistieren konnten« (190), eine Erwägung, die weiterer Überlegungen lohnte. Das vierte Kapitel nähert sich unter der Überschrift »Reinheitsfragen« mit einer knappen Untersuchung des Protevangeliums des Jakobus (191-195) seinem Ende, freilich ohne die Forschungsdiskussion hier nennenswert voranzubringen. Zum Schluss folgt ein kleines Allerlei aus »judenchristlichen« Texten: eine kurze Untersuchung zum D-Text von Lk 6,5, der darauf hindeutet, dass Sabbatobservanz in bestimmten Kontexten noch immer ein Thema war (198-200), dazu Hegesipps Portrait von Jakobus, dem Gerechten (200-205), dessen Bedeutung angesichts der Tatsache, dass Jakobus im Laufe des 2. Jh. aus dem Blick gerät, stärker hätte gewürdigt werden können; schließlich je ein Abschnitt zu den Ebioniten und zu den Elchasaiten (205-214), die je für sich die Frage aufwerfen, »ob oder ob nicht »[D]ass von einem Auseinandergehen der Wege oder einer römischen Konkurrenz zwischen Kirche und Synagoge in gegenseitiger schroffer Zurückweisung nichts zu sehen ist, ist in einer Untersuchung über die Beziehungen zwischen Juden und Christen im 2.Jh. ein bemerkenswerter Befund.« ZNT 37 (19. Jg. 2016) 51 James D. G. Dunn Juden und Christen ›Judenchristen‹ nur ein marginales Phänomen unter den Christusanhängern des 2. und 3. Jh. waren« (213). Das anschließende Resümee des Buches (217-223) ruft in Erinnerung, wie leicht die Kategorien »Juden« und »Christen« verwendet werden können, als seien damit homogene Entitäten bezeichnet. Es geht auch leicht vergessen und ist einigen Nachdrucks wert, dass die Stimmen, die am lautesten zu uns herübertönen, den »Siegern« in den Zerwürfnissen gehörten, oder den Leitern, die ihre Gemeinden von dem Gedanken abbringen wollten, dass die »Anderen« Anhänger der eigenen Religion waren, und dass Grenzen einzig und allein deshalb gezogen wurden, weil die Mehrheit gar nicht auf die Idee kam, dass es überhaupt welche gibt. Mit etwas Abstand von diesem Buch, das mich vielfältig bereichert hat, schätze ich nicht zuletzt das Augenmerk auf the Parting of the Ways im Blick auf das, was man sehr vereinfacht »Frühchristentum« und »Frühjudentum« nennen könnte, so wie uns beides in den Texten des 2. Jh. entgegentritt. Sofern damit ein Reflex auf meinen eigenen Beitrag zu diesem Thema intendiert war, sollte ich vielleicht auf meinen eigenen Gebrauch des Plurals im Buchtitel The Partings of the Ways between Christianity and Judaism … 1 hinweisen. Dies ist von einiger Wichtigkeit, da der Singular Parting den Eindruck einer einzigen, großen Trennung zwischen zwei in sich homogenen Größen erwecken könnte. Tobias selbst geht schwerlich von solchen Größen aus, warnt er doch ganz zu Recht davor, »Juden« und »Christen« als »zwei einheitliche und konsistente Gruppen anzusehen, die eine Zeitlang auf demselben Weg gegangen sind und sich in einem bestimmten geschichtlichen Augenblick getrennt haben« (221). Doch scheint er dem, was der Plural Partings (Trennungen) andeutet, nicht genug Beachtung zu schenken, dass es nämlich unterschiedliche Gruppen gab, unterschiedliche Wechselwirkungen, eine nicht geringe Menge an Überschneidungen, dass es mithin viele und unterschiedliche Partings gegeben haben muss. Deshalb ist es wohl nicht verkehrt, nochmals zu betonen, dass diejenigen Stimmen, die besonders lautstark eine Trennung der Wege behauptet oder gefordert haben, für die Christen ihrer Zeit keineswegs repräsentativ waren. Für das 4. Jh. ist zahlreich belegt, dass Christen dafür getadelt wurden, dass sie die Beschneidung praktizierten und jüdische Feste feierten-- eine wichtige Erinnerung daran, dass es unterschiedliche »Wege« gegeben hat, die einander gleichwohl vielfältig kreuzten, und unterschiedliche »Trennungen«. Ich gebe deshalb noch immer dem unabgeschlosseneren und beweglicheren Bild der »Wege« den Vorzug gegenüber Tobias’ tendenziell statischem und endgültigen Bild eines »sehr robusten Strauches mit unterschiedlichen Ästen« (221-224). Wäre ich bei den Vorlesungen, aus denen sein Buch hervorgegangen ist, selbst dabei gewesen, wäre meine erste Frage gewesen: Warum haben die jüdischen Quellen so wenig Raum erhalten, bzw. die jüdische Seite des Themas »Trennung der Wege«? Ich weiß wohl, dass das Buch sich qua Untertitel auf die christliche Perspektive des 2. Jh. beschränkt. Doch sollte man meinen, dass die Rede von einer »Trennung« eine deutlichere Sicht auf beide Seiten erfordert hätte. Die Aufmerksamkeit, die Markion und andere gnostische Quellen erfahren haben, ist insofern gerechtfertigt, als hier der jüdischchristliche Glaube an Gott als Schöpfer abgelehnt wird. Auch sind Fragen, die ein Text wie das Judasevangelium aufwirft (40-43), ein Hinweis darauf, dass die Grenzen nicht klar gezogen werden können. Aber alles in allem standen doch, möchte man meinen, Juden und Christen in diesen Fragen auf derselben Seite. Deshalb wird nicht recht klar, inwiefern der gnostische Beitrag zu den Debatten des 2. Jh. bei den Trennungen zwischen Juden und Christen eine Rolle gespielt hat. Oder ist gemeint, dass ein gewisser gnostisierender Grundzug im mainstream-Christentum ein Faktor für die Trennungsprozesse war? Hier hinterlässt wiederum die Vernachlässigung jüdischer Quellen und ihrer Konzepte eine empfindliche Lücke in der Analyse der einen Seite der Trennungsprozesse. Gewiss stellt es eine Herausforderung dar zu entscheiden, welche rabbinischen Traditionen bis ins 2. Jh. zurück verfolgt werden können. Aber ein Augenmerk auf den jüdischen Aufstand der Jahre 115- 117 n. Chr. (mit dem 5. Esrabuch als möglicherweise relevanter Quelle) wie auch auf den Bar-Kochba-Aufstand (132- 135 n. Chr.) wäre am Platze gewesen, samt den jeweiligen Konsequenzen für das entstehende rabbinische Judentum und für christliche Perspektiven auf die Juden. Nicht minder wichtig ist die Frage, wie schnell sich die Lehrentscheidungen der frühen Rabbinen in Palästina verbreitet haben, wichtig etwa für die Beurteilung von Justins Dialog mit dem Juden Tryphon. Auch die jüdische Haltung gegenüber den Christen, für die sich die Bezeichnung minim (»Häretiker«) einbürgerte, ist schwerlich ohne Belang, wie immer man auch die Ge- »[Es ist] wohl nicht verkehrt, nochmals zu betonen, dass diejenigen Stimmen, die besonders lautstark eine Trennung der Wege behauptet oder gefordert haben, für die Christen ihrer Zeit keineswegs repräsentativ waren.« 52 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Kontroverse schichte der birkat ha-minim im Blick auf ihre unmittelbare Bedeutung für jüdische Auffassungen von und Beziehungen zu den Christen einschätzt. Außerdem wissen wir von Juden, die Jesus-Anhänger waren, obwohl sie nicht zum christlichen mainstream gehörten. Tobias’ Beobachtungen zu Justins Unterscheidung zwischen jesusgläubigen Juden, die nicht auf der Toraobservanz der jesusgläubigen Nichtjuden bestanden, und solchen, die sie auf die Tora verpflichten wollten (Dial. 47), wäre hier von Interesse. Seine Ausführungen zu den Ebioniten und Elchasaiten (205- 214) wäre um die Nazoräer zu ergänzen. Auch wären Bezugnahmen auf die mancherlei Konfusionen und Unwägbarkeiten auf dem Feld der judenchristlichen Evangelien (namentlich des Hebräer-, des Nazarener- und des Ebioniten-Evangeliums) ein zusätzlicher Hinweis darauf gewesen, wie schwierig es ist, von den Faktoren hinter den sich trennenden Wegen überhaupt ein klares Bild zu gewinnen. Gab es tatsächlich noch so viele andere Evangelien? War das eine oder andere auf Hebräisch geschrieben, wie Eusebius und Hieronymus offenbar annahmen, und in welchem Verhältnis standen diese Evangelien zum Matthäusevangelium? In einer Vorlesungsreihe über »Juden und Christen« wären solche Fragen von entscheidender Wichtigkeit. Ebenso faszinierend ist die Frage nach der weiteren Geschichte des »Judenchristentums«. Der Umstand, dass »Judenchristentum« zu einer Bezeichnung für all das geworden ist, was der Lücke zwischen Christentum und Judentum zum Opfer gefallen ist, dass »jüdisch« und »häretisch« zu überlappenden Kategorien werden konnten, ist in einer Studie zu den Partings of the Ways eigener Überlegungen wert. An dieser Stelle kann ich mich eines Hieronymus-Zitats nicht erwehren (Ep. 112,13): »Was soll ich von den Ebioniten sagen, welche sich den Anschein geben, Christen zu sein? Noch heute besteht in allen Synagogen des Orients die jüdische Sekte der Minäer, besser bekannt unter dem Namen Nazaräer, welche von den Pharisäern bis zur Stunde verurteilt wird. Sie glauben an Jesus Christus, den Sohn Gottes, geboren aus Maria der Jungfrau. Er ist für sie derselbe, der unter Pontius Pilatus gelitten hat und von den Toten auferstanden ist, an den wir ja auch glauben. Aber da sie zugleich Juden und Christen sein wollen, sind sie weder Juden noch Christen.« 2 Das Buch enthält leider keine Bibliographie, auch keine weiterführenden Literaturhinweise. Zugleich ist die Breite der verwendeten und diskutierten Literatur eindrucksvoll. Verweise auf eigene Publikationen lassen erahnen, wie bewandert Tobias auf dem Terrain des 2. Jh. ist. Für jemanden wie mich, der ein intensives und anhaltendes Interesse an diesem Thema hat, war es ein wenig peinlich festzustellen, wie viele wichtige Studien ich für meine eigenen Forschungen außer Acht gelassen habe, und welche ich schlicht nicht kannte (was teilweise damit zusammenhängt, dass ich seit sechs Jahren fern einer führenden theologischen Fachbibliothek lebe). Andererseits fand ich auch einiges Wichtige bei Tobias nicht, etwa das von E.P. Sanders herausgegebene dreibändige Werk Jewish and Christian Self-Definition: The Shaping of Christianity in the Second and Third Centuries, 3 oder William Horburys Jews and Christians in Contact and Controversy, 4 oder auch The Non-Canonical Gospels, herausgegeben von Paul Foster. 5 Als Fazit bleibt, dass dieses kleine Buch einen exzellenten Forschungsbeitrag zum Christentum des 2. Jh. darstellt, zu seinem jüdischen Charakter und zu seinem Umgang mit seinem jüdischen Erbe. Denen, die besser verstehen wollen, warum sich zwischen Christen und Juden »die Wege getrennt haben«, sei das Buch, das sich als Lektüre für Anfänger wie auch für Fortgeschrittene gleichermaßen eignet, wärmstens empfohlen. Anmerkungen 1 Vgl. J. D. G. Dunn, The Partings of the Ways between Christianity and Judaism and their Significance for the Character of Christianity, London 2 2006. 2 Übersetzung: Des heiligen Kirchenvaters Eusebius Hieronymus ausgewählte Briefe. (Des heiligen Kirchenvaters Eusebius Hieronymus ausgewählte Schriften Bd. 2-3; BKV 2. 16 und 18) Kempten; München : J. Kösel : F. Pustet, 1936-1937, 447. 3 Vgl. E. P. Sanders, Jewish and Christian Self-Definition: The Shaping of Christianity in the Second and Third Centuries, Philadelphia 1980-82. 4 Vgl. W. Horbury, Jews and Christians in Contact and Controversy, Edinburgh 1998. 5 Vgl. P. Foster (Hg.), The Non-Canonical Gospels, London 2008. »Der Umstand, dass ›Judenchristentum‹ zu einer Bezeichnung für all das geworden ist, was der Lücke zwischen Christentum und Judentum zum Opfer gefallen ist, dass ›jüdisch‹ und ›häretisch‹ zu überlappenden Kategorien werden konnten, ist in einer Studie zu den Partings of the Ways eigener Überlegungen wert.« ZNT 37 (19. Jg. 2016) 53 Bevor ich zu den Gegensätzen zwischen meinem und Jim Dunn’s Ansatz zu Fragen des Zueinanders von »jüdisch« und »christlich« in der Antike zu sprechen komme, ist es vielleicht sinnvoll zu würdigen, dass es uns beiden, so wie ich Dunn’s Arbeiten verstehe, zunächst einmal im Grunde um das Gleiche geht. Zuallererst gilt es, eine das Verhältnis von Juden und Christen-- ich verwende jetzt bewusst beide Kategorien aus heutiger Sicht-- über Jahrhunderte bestimmende Vorstellung zu überwinden, die bereits (wohl) im frühen 2. Jahrhundert Ignatius von Antiochien folgendermaßen formulierte: »Es ist nicht am Platz, Jesus Christus zu sagen und jüdisch zu leben. Das Christentum ist nämlich nicht zum Glauben an das Judentum gekommen, sondern das Judentum zum Christentum, zu dem jede Zunge, die zum Glauben an Gott gekommen ist, gebracht wurde« (Magn. 8,3). Substitutionstheorien, d. h. Aussagen, dass das Judentum im Grunde durch das Christentum ersetzt, überholt oder überflüssig gemacht wurde und deswegen weder theologisch relevant für das Selbstverständnis des Christentums, noch ein echter Partner in der gemeinsamen Suche nach Gott sein kann, sind bis heute nicht überall ad acta gelegt. Vor allem sind es Bilder, die sich unserem Denken einprägen-- und die zu reflektieren deswegen besonders wichtig ist. Mir hat sich aus meiner Jugend bis hin zu meiner Zeit als Lehrer im Gymnasium das in Teilen kirchlicher Verkündigung noch lange präsente Bild eines Baumes eingeprägt, dessen einer Teil in voller Blüte steht, während der andere verdorrt ist. In diesem Bild- - man erahnt es- - repräsentieren die blühenden Teile des Baumes »das« Christentum, die verdorrten »das« Judentum. Auch wenn dieses Bild heute (hoffentlich) im Verschwinden begriffen ist, sind neue Bilder notwendig. Das Bild der »Trennung der Wege«-- vielleicht sogar entlang mehrerer Weggabelungen im Plural als »Partings of the Ways« formuliert-- bedeutet hier einen großen Schritt nach vorn, da es im Blick behält, dass es nach der Weggabelung für beide Seiten weitergeht, dass beide ein Gegenüber bilden, ihnen Wert, Bedeutung und Zukunft zukommt. Dass es im Gegenüber von »Juden« und »Christen« Trennprozesse gegeben hat, die historisch dazu geführt haben, dass »Judentum« und »Christentum« tatsächlich heute zwei verschiedene Religionsgemeinschaften bilden, streite ich nicht ab. Mit Jim Dunn verstehe ich diese Trennprozesse als nicht einfach an einem Punkt der Geschichte festzumachen, sondern als hoch komplex-- und würde sie eventuell zumindest an manchen Orten (z. B. Syrien) sehr spät und sehr offen verlaufend ansetzen. Dunn würde mir sicherlich auch in einem weiteren Punkt beistimmen: Bereits die Rede von »zwei« Religionsgemeinschaften, »Judentum« und »Christentum«, so wie sie schon Ignatius einander gegenüberstellt, entspricht natürlich nicht der Realität: Zu keinem Zeitpunkt der Geschichte-- von den frühesten Wurzeln der Jesusbewegung bis heute- - gab und gibt es einfach nur »ein« Christentum, das »einem« Judentum gegenübersteht. Gerade weil beide Seiten lebendig sind, sind sie vielfältig-- in Gruppen, Bewegungen, Richtungen, Konfessionen etc. differenziert. Deswegen lege ich zunächst großen Wert darauf, diese Vielfalt, die uns in den Quellen begegnet, ernst zu nehmen und nicht sofort Hauptströme und Randgruppen zu trennen, sondern als verschiedene Stimmen einer komplexen Wirklichkeit ernst zu nehmen. Auch hier sehe ich noch keine Differenz zwischen meiner Arbeit und dem Denken Dunns. Trotzdem reicht mir das Bild der »Partings of the Ways«, auch wenn es alte, gefährliche Bilder zu überwinden vermag und sicherlich entscheidende Aspekte der Wirklichkeit beschreibt, noch nicht aus. Die Bilder, die wir verwenden, bestimmen unseren Blick auf die Quellen und damit die Fragen, die wir an sie Tobias Nicklas Juden und Christen? Sollen wir weiter von den Wegen sprechen, die sich trennten? 1 Kontroverse »Zu keinem Zeitpunkt der Geschichte-- von den frühesten Wurzeln der Jesusbewegung bis heute - gab und gibt es einfach nur ›ein‹ Christentum, das ›einem‹ Judentum gegenübersteht.« »Die Bilder, die wir verwenden, bestimmen unseren Blick auf die Quellen und damit die Fragen, die wir an sie stellen.« 54 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Kontroverse »Sollen die ›Partings‹ betont werden, die im Verlauf der Geschichte zu einem Parting werden oder soll auch das Zueinander, Nebeneinander, Gegeneinander und Miteinander in den Blick rücken? « »Stimmen«, darunter auch die Echos von Gegenstimmen, »einlade«. Ich habe dies an anderer Stelle folgendermaßen beschrieben: »Wir sehen von außen auf eine Gruppe von Tänzern, die sich fortwährend bewegen und in unterschiedlichen Phasen des Tanzes mit unterschiedlichen Partnern tanzen. Je nachdem, aus welcher Distanz und aus welcher Perspektive wir uns dem Tanz nähern, entstehen verschiedene Muster-- nicht jeder tanzt mit jedem oder berührt sich mit jedem, einige Teilnehmer formen Gruppen, einige Paare bleiben wenigstens für einen Teil des Abends beisammen, andere vermeiden den Kontakt und beeinflussen sich schon dadurch gegenseitig. Das Zueinander wirkt komplex, von bestimmten Perspektiven chaotisch, manchmal jedoch werden Ordnungen sichtbar. Ich denke, es macht Sinn, ein derartiges Bild auch auf unsere Vorstellungen antiker christlich-jüdischer Beziehungen zu übertragen. Unsere Perspektive heute jedoch ist höchst problematisch, wir sehen nie den ganzen Tanz, sondern-- vielleicht nur durch das Schlüsselloch aufgenommene Schnappschüsse einzelner Szenen […] Unsere Konstruktionen von Geschichte müssen deswegen immer berücksichtigen, dass sie nur Fragmente vergangener Realitäten vorfinden-- und wir das große Ganze nur in Ansätzen zu erfassen vermögen.« 2 Inwiefern kann uns ein solches dynamisches Bild weiterhelfen, das gleichzeitig immer davor warnt, dass wir nur einen kleinen Einblick in das große Ganze antiker Realitäten besitzen? Zunächst scheint es mir angebracht, deutlich zu machen, dass wenigstens die von uns verwendeten Grobkategorien- - sei es nun »jüdisch«, »christlich«, »gnostisch« oder gar »pagan«-- in vielen Fällen sehr wenig weiterhelfen, um konkrete Phänomene angemessen zu beschreiben. Auch der Versuch, hinter selbst nur fragmentarisch erhaltenen Texten (wie etwa P.Oxy. 840) 3 eine »Gruppe« zu entdecken, die ihre Identität von diesem Text her bzw. in Auseinandersetzung mit diesem Text entwickelt, scheint mir fragwürdig. Die entscheidende Innovation, die ich mit diesem Bild verbinde, besteht darin, dass es mir darum geht, unser Bild verschiedenster mehr oder minder abgeschlossener Gruppen-- seien es die großen Gruppen »Juden« und »Christen« oder seien es die vielen kleinen Gruppen, die man hinter verschiedensten Quellen zu vermuten pflegt-- mit festen Identitätskonstruktionen wenn nicht abzulösen, so doch zumindest zu flankieren durch das Bild von sich dynamisch in verschiedenen Situationen ändernden Diskursen und Disstellen. Das Bild eines schon früh erkennbaren »orthodoxen« Mehrheitschristentums hat lange dazu geführt, dass so genannten »apokryphen« Schriften nur ein Schattendasein in der Erforschung des frühen Christentums zukam. Das Bild eines sich schon früh ab dem Jahr 70 n. Chr. konstituierenden rabbinischen Einheitsjudentums hat für viele Autoren, die das antike Christentum beschreiben, nur eine Negativfolie gebildet, gegen die sich »das« Christentum umso strahlender abheben konnte. Das Bild mehrerer »Partings of the Ways« ist ungleich komplexer und hilfreicher-- und kann somit eine ungleich größere Zahl von Phänomenen in den Blick nehmen. Trotzdem wohnt ihm, solange es das einzige und beherrschende Bild bleibt, eine Gefahr inne: Es lenkt den Blick auf Phänomene der Trennung, während gleichzeitig die Gefahr besteht, die Gegenperspektive zu übersehen. Aber: Sollen die »Partings« betont werden, die im Verlauf der Geschichte zu einem Parting werden oder soll auch das Zueinander, Nebeneinander, Gegeneinander und Miteinander in den Blick rücken? So soll hier kein Widerspruch formuliert, sondern in erster Linie die Gegenperspektive stark gemacht werden, die zeigt, dass die gesetzten Grenzen nicht überall und nicht in gleicher Weise für alle gleich gültig waren, sondern manchem stattdessen gleichgültig gewesen sein dürften. Vor diesem Hintergrund habe ich nicht nur in »Jews and Christians«, sondern auch in späteren Publikationen versucht, weiterführende Modelle zu entwickeln, die uns helfen, die Quellen in anderem Licht zu betrachten. Besonders hilfreich erscheint es mir, zur Beschreibung antiker Realitäten das Bild eines komplexen »Gruppentanzes« zu verwenden, zu dem ich die in allen Quellen erkennbaren Dr. Tobias Nicklas, geb. 1967, Professor für Exegese und Hermeneutik des Neuen Testaments, Universität Regensburg. Forschungsschwerpunkte: Christliche Apokryphen, Kanongeschichte, jüdisch-christlicher Dialog, johanneische Schriften des Neuen Testaments. Prof. Dr. Tobias Nicklas ZNT 37 (19. Jg. 2016) 55 Tobias Nicklas Juden und Christen? kurskonstellationen. Inwiefern dies weiterhelfen kann, lässt sich am besten an Beispielen illustrieren: 1. Die griechisch/ äthiopische Petrusapokalypse (ApkPetr), ein Text, der wohl im frühen 2. Jahrhundert in Alexandrien (oder im Palästina der Zeit des Bar-Kochba-Aufstands) entstanden sein mag, bietet in ihrem 4. Kapitel eine ausführliche Beschreibung der Auferstehung der Toten, in der Christus wie auch die Auferstehung Christi keinerlei Rolle spielt. Von Christus ist erst deutlich später-- im Zusammenhang mit dem Endgericht-- die Rede. 4 Würde uns ApkPetr 4 als isoliertes Fragment vorliegen, würden wir dies eindeutig als Teil eines jüdischen Textes identifizieren; nur aufgrund des weiteren Kontextes sprechen wir von diesem Text als »christlich«. Fokussieren wir jedoch nicht alleine auf der Beschreibung der Kategorien, fällt z. B. auf, welch große Rolle Ez 37 für die in ApkPetr 4 beschriebene Auferweckung der Toten liefert, welche ganz leiblich, ja fleischlich vorgestellt ist. So gesehen, lässt sich unser Text als Stimme in einem Diskurs um die Auferweckung bzw. Auferstehung der Toten auffassen, in dem er eine Position einnimmt, die deutlich anders aussieht als die des Paulus in 1Kor 15, gleichzeitig aber verwandt ist mit dem, was wir in 4QPs-Ezechiel (aus Qumran! ) und Offb 20 finden. Soll diese Position als »jüdisch« oder als »christlich« eingestuft werden? Aufgrund ihrer Bezüge zu Texten wie Ez 37 und der fehlenden Verbindung zwischen Auferweckung und Christologie mag das Attribut »jüdisch« nicht falsch klingen. Bedenkt man jedoch, dass die Debatte um die Auferweckung des Fleisches vor allem in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts plötzlich so unterschiedliche »christliche« Schriften wie Athenagoras De Resurrectione, den koptischen Brief an Rheginos aus Nag Hammadi (NHC I,4) oder das Philippusevangelium (NHC II,3) erfasste, erscheint diese Kategorisierung kaum mehr adäquat. 5 2. Zu den antiken »Gruppen«, die bis heute, auch aufgrund der Tatsache, dass wir über sie nur über die Aussagen ihrer Gegner Bescheid wissen, besonders obskur geblieben sind, gehören die Anhänger des Elchasai oder Elchasaiten. 6 Wie sehr unser Denken in Kategorien hier an seine Grenzen stößt, zeigt sich an der Beschreibung dieser Gruppe durch Johannes Irmscher: »Der Grundcharakter des Buches [des Elchasai; TN] ist Judentum, jedoch kein reines, sondern ein synkretistisches. Jüdisch ist vor allem die Forderung der Beschneidung, der Sabbatheiligung und des Gebets in Richtung Jerusalem […] Im Gegensatz zum Judentum steht die Verwerfung der Opfer sowie die damit verbundene Kritik am AT […] Christlich mit starkem gnostischen Einschlag sind die Vorstellungen von dem Sohne Gottes bzw. Christus und von dem Heiligen Geist als himmlischen Wesen […], außerdem die religiösen Verheißungen der Sündenvergebung und des ewigen Heiles sowie die sittlichen Forderungen der Heiligung. Im Gegensatz zum kirchlichen Christentum steht die Vorschrift einer zweiten Taufe. Heidnischen Ursprungs sind die Tauchbäder unter Anrufung der sieben Elemente […] sowie die astrologischen Vorstellungen vom Einfluss unheilvoller Gestirne.« 7 Doch nicht nur Irmscher scheitert mit seiner Beschreibung in Kategorien, Ähnliches lesen wir bereits etwa eineinhalb Jahrtausende früher bei Epiphanius von Salamis (etwa 315-403), der schreibt, die Sampseaner, eine Gruppe, die sich auf die Lehren Elchasais beziehe, seien weder »Christen, noch Juden, noch Griechen«-- mit anderen Worten: im Grunde seien sie »gar nichts« (Pan. 53,1,3). Man kann, wie man das oft getan hat, diese Gruppe deswegen als eigenartige Randerscheinung mehr oder minder aus dem Bild antiker Religionsgeschichte ausblenden. Mit einem an sich dynamisch ändernden Diskursen und neuen Konstellationen interessierten Bild antiker Religionsgeschichte dagegen wird erkennbar, dass die Elchasaiten in verschiedenen Situationen so wichtige Antworten zu geben vermochten, dass sie für die sogenannte Mehrheitskirche höchst bedeutsam wurden: In einer Situation, in der in Rom Hippolyt und Calixt um die Frage einer zweiten Buße stritten, musste das Angebot des Elchasai-Anhängers Alkibiades, man könne jederzeit Sündenvergebung durch eine zweite Taufe erlangen, hoch attraktiv gewirkt haben-- Hippolyt war zu folgender Antwort gezwungen (Ref. IX 13,4-5): »Er [Alkibiades] bestimmt eine Taufe […] und sagt, dass die, die in jeder (Form von) Zügellosigkeit, Befleckung und Gesetzlosigkeit verwickelt sind-- selbst wenn er ein Glaubender sei-- wenn er sich bekehrt, auf das Buch hört 8 und (an es) glaubt, [bestimmt er] eine Taufe zu empfangen zur Vergebung der Sünden. […] 5 Da er nämlich erkannte, dass viele sich über eine solche Verheißung freuten, verstand er, dass ein guter Zeitpunkt für einen solchen Versuch war.« Wenige Generationen später ist ein anderer Autor erneut zur Auseinandersetzung mit den Anhängern Elchasais gezwungen. Das im Buch des Elchasai zu findende, positiv bewertete Beispiel des Priesters Pinhas, der im Babylonischen Exil, um sein Leben zu retten, die Artemis von Susa angebetet habe (bei Epiphanius von Salamis, pan. 19,2,1), gewann in der Christenverfolgung unter Kaiser Decius (249-251) höchste Brisanz. Darf man in Todesgefahr seinen Glauben verleugnen, ohne damit zu sündigen? Ein Autor wie Origenes (zitiert bei Eusebius von Caesarea, h. e. 6,38) sah sich gezwungen, dies scharf abzulehnen. 56 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Kontroverse Das Beispiel könnte noch weitergeführt werden: Immerhin entstammt Mani, einer der größten Religionsgründer der Weltgeschichte, einer elchasaitischen Gruppe, und war der Manichäismus so von elchasaitischen Ideen beeinflusst. Wichtiger erscheint mir jedoch: Die gleiche Gruppe, die bei einem Denken in festen Kategorien als obskure Randerscheinung aus dem Blickfeld verschwindet, ist bei einem Denken in sich ändernden Diskurskonstellationen zumindest an wichtigen Orten und in wichtigen Situationen präsent. Ob sie als jüdisch oder christlich wahrgenommen wird, ist dabei zweitrangig. Was sich an einer wenig bekannten Gruppe und dem sich mit ihr verbindenden Cluster an fragmentarischen Quellen zeigen lässt, gilt jedoch auch für Quellen, die sich normalerweise der »Großkirche« einerseits bzw. dem »rabbinischen Judentum« zuordnen lassen: Der in seinen »Reden gegen die Juden« zum Tragen kommende Antijudaismus des Johannes Chrysostomus richtet sich-- situationsgebunden-- mit großer Wahrscheinlichkeit vor allem gegen Christen, die sich in ihrer »Identitätskonstruktion« weniger vom Judentum abgrenzen, als Johannes dies gerne hätte. Wie sehr dies bis in Details des Alltagslebens gehen kann, zeigen Kanones z.T. wenig bekannter regionaler Synoden: In Elvira/ Illiberis (Spanien) verbot man z. B. die Ehe zwischen christlichen und jüdischen Partnern und untersagte die Segnung der Felder durch jüdische Magier, aber auch die Tischgemeinschaft von Juden und Christen (can. 16, 49-50, 78). Verbote jedoch machen keinen Sinn, wenn sie sich nicht gegen vorhandene Praktiken richten. Umgekehrt hat eine Reihe von Studien zu rabbinischer Literatur gezeigt, wie sehr Vorstellungen von der rabbinischen Bewegung als einer abgeschlossenen, isolierten Größe in die Irre laufen. So hat Michal Bar Asher-Siegal jüngst gezeigt, wie viele Parallelen sich zwischen Traditionen im Babylonischen Talmud und christlich-monastischer Literatur, speziell den so genannten Apophthegmata Patrum, finden lassen 9 - - und ist Peter Schäfer in einem sehr grundlegenden Beitrag so weit gegangen, von der Geburt des Judentums aus dem Geist des Christentums zu sprechen 10 -- eine Umkehrung des üblichen Zueinanders, die nur möglich ist, wenn beide Größen miteinander im sicherlich in Teilen konfliktreichen Kontakt und Diskurs verbleiben. Wenigstens in einzelnen Fällen, in denen die Quellen auch diesen letzten Schritt erlauben, kann ein Modell wie das vorgeschlagene auch berücksichtigen, dass nicht nur Gruppenidentitäten sich entwickeln, sondern dass auch individuelle »Identitäten« nicht einfach stabil sind. Das sicherlich schönste Beispiel hierzu bietet uns die Auseinandersetzung zwischen Petrus und Paulus in Antiochia (Gal 2,11-21), der berühmte »antiochenische Zwischenfall«: Handelt Petrus hier als Jude oder als Christusanhänger? Offenbar ist zunächst die »Identität« als »Christusanhänger« entscheidend. Dies erlaubt, beim gemeinsamen Speisen mit denen aus den Völkern Grenzen zu überschreiten und Gemeinsamkeiten zu betonen, wie sie für die Gemeinden Antiochiens offenbar schon früh keine Geltung mehr besaßen. Als die Jakobusleute erscheinen, verändert sich die Situation-- die »jüdische« Identität wird bewusster und stärker betont: Interessanterweise spricht Paulus in Gal 2,13 von Petrus, Barnabas und den »anderen Juden«-- sicherlich alles Christusanhänger! -- , die sich nun aus der Gemeinschaft mehr und mehr zurückziehen. Das gleiche jedoch lässt sich auch von Paulus sagen: In Gal 2,11-21 sieht er geradezu »von außen« auf »die Juden«, d. h. die »jüdischen Christusanhänger« in der Gemeinde Antiochiens-- seine eigene Identität als Christusanhänger ist im Vordergrund. Diese bleibt natürlich in all seinen Schriften erhalten-- jedoch ändern sich die Schwerpunktsetzungen: Auch in Röm 9 spricht er als Christusanhänger, jedoch bleibt Israel »sein Volk« und diejenigen aus Israel, die nicht an Christus glauben, »meine Brüder« (Röm 9,3). Spricht er hier als »Jude« oder als »Christ«? Es geht hier m. E. nicht um ein »Entweder«-- »Oder«, er spricht hier als »Jude« und als »Christ«. Anmerkungen 1 Für die ausführliche, freundschaftliche und in wichtigen Punkten kritische Auseinandersetzung mit meinem Büchlein Jews and Christians? Second Century ›Christian‹ Perspectives on the ›Parting of the Ways‹ (Tübingen 2014) möchte ich Jim Dunn ganz herzlich danken. Es stimmt: Gerne hätte ich mit ihm diskutiert. Die »jüdische« Perspektive des Zueinanders habe ich-- als christlicher Autor mit einem Arbeitsschwerpunkt im 2. Jahrhundert unserer christlichen Zeitrechnung-- in Israel vor einem zum großen Teil jüdischen Publikum bewusst offen gelassen. Mit der Kollegin Michal Bar-Asher Siegal von der Ben Gurion University möchte ich jedoch genau dies nachholen-- das Zueinander »jüdischer« und »christlicher« Perspektiven der Antike aus der Sicht einer jüdischen Professorin für rabbinische Studien und eines christlichen Neutestamentlers neu darstellen. 2 T. Nicklas, Parting of the Ways? Probleme eines Konzepts, in: St. Alkier/ V. Leppin (Hg.), Juden-- Christen-- Heiden in Kleinasien (WUNT), Tübingen 2016 [im Druck]; »Handelt Petrus [in Gal 2,11-21] als Jude oder als Christusanhänger? .« ZNT 37 (19. Jg. 2016) 57 Tobias Nicklas Juden und Christen? vgl. zudem T. Nicklas, Getrennte Wege oder verflochtene Linien? ›Juden‹ und ›Christen‹ vor der konstantinischen Wende, in: Kirche und Israel 30 (2015) 35-47, bes. 44- 45. Ich greife im Folgenden immer wieder auf Beispiele zurück, die ich in den genannten Publikationen ausführlicher angesprochen und diskutiert habe. 3 Aufschlussreich zur Diskussion in der Forschungsgeschichte ist E. Hernitscheck, Im trüben Wasser des Davidsteichs. P.Oxy. 840 und die Suche nach seiner Provenienz, in: E. Hernitscheck/ T. Nicklas/ J. Verheyden (Hg.), Shadowy Characters and Fragmentary Evidence: The Search for Early Christian Groups and Movements (WUNT), Tübingen 2016 [im Druck]. 4 Eine ausführliche Interpretation dieses Texts in T. Nicklas, Resurrection-- Judgment-- Punishment: Apocalypse of Peter 4, in: G. van Oyen/ T. Shepherd (Hg.), Resurrection of the Dead. Biblical Traditions in Dialogue (BEThL 240), Leuven [u. a.] 2012, 461-474. 5 Zum Verlauf des Diskurses und seiner Bedeutung für Formen christlicher Identitätskonstruktion im 2. Jh. vgl. O. Lehtipuu, Debates over the Resurrection of the Dead: Constructing Christian Identity (Oxford Early Christian Studies), Oxford 2015. 6 Zum Folgenden deutlich ausführlicher T. Nicklas, Jenseits der Kategorien-- Elchasai und die Elchasaiten, in: E. Hernitscheck/ T. Nicklas/ J. Verheyden (Hg.), Shadowy Characters and Fragmentary Evidence: The Search for Early Christian Groups and Movements (WUNT), Tübingen 2016 [im Druck]. 7 J. Irmscher, Das Buch des Elchasai, in: W. Schneemelcher (Hg.), Neutestamentliche Apokryphen II: Apostolisches, Apokalypsen und Verwandtes, Tübingen 6 1997, 619-623, hier: 620. 8 Bei der Verwendung des Verbs κατακούω scheint es mir nicht nur um ein »Hören« des Buches, sondern im weitesten Sinne ein »Gehorchen« zu gehen. 9 M. Bar-Asher Siegal, Early Christian Monastic Literature and the Babylonian Talmud, Cambridge 2013. 10 P. Schäfer, Die Geburt des Judentums aus dem Geist des Christentums (Tria Corda), Tübingen 2010. Das von mir eingangs erwähnte Bild des Baums könnte bestenfalls die Geburt des Christentums aus dem Geist des Judentums erklären, nicht ein weiterhin sich dynamisches, lebendiges Weiterentwickeln des Judentums. 58 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Nachstehende Ausführungen nehmen in einem ersten Schritt frühere religionspädagogische Schulbuch- und Lehrplananalysen zum Thema Judentum und Antijudaismus in den Blick. Diese wurden insbesondere zwischen 1980 und 1995 sowohl im katholischen als auch im evangelischen Bereich durchgeführt. 1 Es ist bemerkenswert, dass in der Folgezeit nahezu zwanzig Jahre keine weiteren einschlägigen Analysen hinsichtlich der Behandlung des Judentums im Religionsunterricht durchgeführt wurden. Die Dissertation von Julia Spichal schließt diese Forschungslücke und geht der Frage nach, welche Entwicklungen sich in Schulbüchern und Lehrplänen in den letzten zwanzig Jahren vollzogen haben. 2 Ausgewählte Ergebnisse dieser Studie bilden den Hauptteil des vorliegenden Beitrags. Abschließend wird zum einen der Revisionsbedarf von Schulbüchern und Lehrplänen festgehalten, zum anderen der Überarbeitungsbedarf hinsichtlich des Analyserasters von Fiedler. 1. Zur Darstellung des Judentums zwischen 1980 und 1995 1.1 Methodische Vorbemerkung In methodischer Hinsicht leistete Peter Fiedler im Rahmen des Freiburger Projekts eine Pionierarbeit, als er im Sinne der Qualitativen Inhaltsanalyse ein differenziertes Raster entwickelte, um die Behandlung des Judentums in Schulbüchern und Lehrplänen intersubjektiv nachvollziehbar analysieren zu können. 3 Auf dieser Basis wurden u. a. auch im evangelischen Bereich Schulbücher und Lehrpläne analysiert. 4 Überblickt man die diversen Analysen im Zeitraum zwischen 1980 und 1995, so lässt sich ein weitgehender übereinstimmender Befund feststellen, der im Folgenden kurz zusammengefasst werden soll. 1.2 Wesentliche Ergebnisse 5 Mitte der 1990er Jahre war die Darstellung des Judentums in Schulbüchern wie Lehrplänen von einer Ambivalenz gekennzeichnet, die sich mit der Formel »zwischen Reform und Stagnation« zusammenfassen ließ. Ein Vergleich der Analysen zu dieser Thematik zeigte nämlich ungeachtet aller Reformprozesse insbesondere folgende neuralgische Bereiche in Lehrplänen und Schulbüchern auf, in denen das Judentum problematisch dargestellt wird: 1) Passionsgeschichte, 2) Tora bzw. Gesetz, 3) Pharisäer, 4) ›Altes‹ Testament, 5) jüdische Geschichte und 6) generell eine unzureichende jüdisch-christliche Verhältnisbestimmung. Exemplarisch sei der damalige Befund anhand der Darstellung ›der‹ Pharisäer sowie der Behandlung der Tora, des sogenannten ›Gesetzes‹, verdeutlicht: Zwar war der gute Wille von Lehrplan- und SchulbuchautorInnen erkennbar, die Pharisäer sachgerecht als eine religiöse Gruppierung zur Zeit Jesu zu schildern, »wenn sie aber im selben Buch-- unter Umständen nur wenige Seiten weiter-- im Gegenüber zu Jesus erscheinen, werden sie unsachlich, negativ, tendenziös dargestellt.« 6 Ähnliches war bei der Behandlung der Tora festzustellen. Wurde die Tora im Kontext des Judentums religionskundlich durchgenommen- - d. h. ohne in Relation zu Jesus, Paulus oder christlichem Gedankengut zu stehen-- war meistens das Bemühen der Lehrplansowie SchulbuchautorInnen greifbar, den SchülerInnen ein möglichst angemessenes Bild der Tora und ihrer lebendigen Bedeutung für den jüdischen Alltag zu vermitteln. Sobald jedoch die Tora im Kontext der Botschaft oder des Wirkens Jesu bzw. im Kontext der Unterrichtseinheiten wie ›Gewalt‹ oder ›Frieden‹ thematisiert wurde, zeigte sich die Tendenz, die Tora als negativen Ausdruck jüdischer Werkgerechtigkeit oder jüdischen Leistungsdenkens zu karikieren. Zu Recht stellten Michael Brocke und Herbert Jochum fest: »Die positiven Ansätze finden ihre Grenzen fast ausnahmslos am lerntheoretischen Instrument der Kontrastierung.« 7 Grundsätzlich wird an diesem Befund eine Herausforderung deutlich, die sich nicht nur in der Reli- Martin Rothgangel / Julia Spichal Antijudaismus in Schulbüchern und Lehrplänen Zwischen Reform und Stagnation Hermeneutik und Vermittlung »Es zeigt sich [...] direkt oder indirekt, dass es dem Religionsunterricht an einer angemessenen Verhältnisbestimmung zwischen Judentum und Christentum fehlt.« ZNT 37 (19. Jg. 2016) 59 Martin Rothgangel / Julia Spichal Antijudaismus in Schulbüchern und Lehrplänen Identität ohne negative Abgrenzungen dem Judentum gegenüber positiv formulieren können.« 10 Vor dem Hintergrund dieser Befunde aus den 1980er und 1990er Jahren stellt sich die Frage, ob die in religionspädagogischen Analysen aufgedeckten neuralgischen Punkte zu Reformprozessen in Schulbüchern und Lehrplänen führten oder ein weitgehender unveränderter Stand zu beobachten ist. 2. Neuralgische Themen in gegenwärtigen Schulbüchern und Lehrplänen 11 2.1 Methodische Vorbemerkung Um einen validen und reliablen Vergleich mit den früheren Schulbuch- und Lehrplananalysen vornehmen zu können, war es im Rahmen der Studie von Spichal (2015) wesentlich, dass erstens vergleichbare Lehrpläne und Schulbücher herangezogen wurden und zweitens insbesondere auch das Analyseraster von Fiedler (1980) verwendet wurde. In letztgenannter Hinsicht wurden im Laufe der Analyse gewisse Probleme deutlich, die im Folgenden noch eingehender thematisiert werden. 2.2 Das Verhältnis Jesu zu Pharisäern Nachstehend wird die Darstellung des Verhältnisses Jesu mit den Pharisäern a) anhand der »Auslegung des Sabbatgebotes« sowie b) anhand von »Jesu Judesein und Pharisäer als zeitgenössische Gruppierung im Judentum« in den Blick genommen. a) »Auslegung des Sabbatgebotes«. Die von Spichal analysierten Lehrpläne und Schulbücher thematisieren zwar Pharisäer sowie ihr Toraverständnis im Zusammenhang mit Jesu Umwelt, jedoch dient ihre Auslegung des Sabbatgebotes in der Regel nicht als Negativfolie für die Botschaft Jesu. Lediglich im Schulbuch »RELi+wir« kommt es diesbezüglich zu einer sachlich falschen Abgrenzung Jesu vom zeitgenössischen Judentum. Vor allem ist in diesem Unterrichtswerk nicht von Pharisäern, sondern von ›den Juden‹ allgemein die Rede. Dort heißt es: »Jesus hat die Sabbatvorschriften der Juden manchmal bewusst gebrochen, z. B. um zu heilen. Er wollte zeigen: Der Sabbat ist für den Menschen da. Aber der Sabbat soll niemanden hindern, Gutes zu tun oder sich und anderen Freude zu bereiten.« 12 Damit vermittelt das Lehrwerk den Eindruck, dass es zur Zeit Jesu ein einheitliches Judentum gegeben habe, von dem sich Jesus abgrenzen wollte. Dabei gerät Jesu Judesein ebenso gionspädagogik, sondern insgesamt für die christliche Theologie stellt. Es zeigt sich nämlich direkt oder indirekt, dass es dem Religionsunterricht an einer angemessenen Verhältnisbestimmung zwischen Judentum und Christentum fehlt-- »›angemessen‹ meint hier, dass christliche Identität nicht verschwiegen, aber eben auch nicht zu Lasten des Judentums herausgestellt wird.« 8 Zahlreiche ReligionspädagogInnen wiesen bereits im Zeitraum zwischen 1980 und 1995 auf die negativen Konsequenzen dieser unzureichenden Verhältnisbestimmung hin. Schließlich sind ReligionslehrerInnen davon unmittelbar betroffen: »Wer sich beispielsweise bemüht, das Judentum zur Zeit Jesu möglichst differenziert und wohlwollend darzustellen, lobende Worte für die Frommen unter den Pharisäern findet, hat es ungleich schwerer, plausibel zu machen, worin denn nun das Neue besteht, das Jesus in die Welt brachte, als jemand, der mit einem klaren Feindbild arbeitet, aufgrund dessen sich die Glaubwürdigkeit des Neuen allein schon aus der Dekadenz des Alten ergibt.« 9 Vergleichbar kam Kohler-Spiegel auf der Grundlage ihrer Analyse der bundesdeutschen, österreichischen und deutschschweizerischen Lehrpläne zu folgendem Resümee: »Damit ist erneut die zentrale Frage angeschnitten, wie Christen das ›spezifisch Christliche‹, ihre Prof. Dr. Martin Rothgangel, geb. 1962, ist Professor für Religionspädagogik an der Universität Wien. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Antisemitismusforschung, Theologie und Naturwissenschaft und Wissenschaftstheorie Religionspädagogik/ Theologie. Dr. Julia Spichal, geb.1983, war von 2010 -2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Religionspädagogik der Evangelisch-Theologischen Fakultät an der Universität Wien. Nun unterrichtet sie die Fächer Evangelische Religion und Latein in Wien. Prof. Dr. Martin Rothgangel Dr. Julia Spichal 60 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Hermeneutik und Vermittlung aus dem Blick, wie die Tatsache, dass bis heute im Judentum verschiedene Strömungen existieren. Zudem besteht durch diese Formulierung die Gefahr, Vorurteile gegenüber Pharisäern auf das gegenwärtige Judentum insgesamt zu übertragen. In dem untersuchten Material kommen Konflikte zwischen Jesus und Pharisäern häufiger bezüglich seiner Zuwendung zu Ausgestoßenen der Gesellschaft zur Sprache. Auch diesen Aspekt stellt das Lehrwerk »RELi+wir« sachlich falsch dar. 13 Hier formuliert das Schulbuch Folgendes: »Jesus war einer, der keine Berührungsängste kannte. Gerade Menschen, mit denen keiner zu tun haben wollte, wandte er sich zu: […] Die Pharisäer schüttelten den Kopf über Jesus. ›Mit wem er sich abgibt […]-- Das gehört sich nicht! ‹« 14 Da Jesu Judesein an dieser Stelle nicht thematisiert ist, können die hier angesprochenen Unterschiede zur pharisäischen Lehre nicht sachgemäß dargestellt werden. Das Schulbuch »Wegzeichen Religion Band 1« erzählt die biblische Grundlage Mk 2,13-17 nach. Auch hier wird der Begriff Pharisäer nicht verwendet, stattdessen bezeichnet der Text die Kritiker der Ethik Jesu als ›die Leute‹. 15 Aufgrund von fehlenden Ausführungen wäre die Darstellung sowohl im Lehrplan als auch im Schulbuch nach Fiedlers Kategoriensystem als tendenziös zu bewerten. Fraglich bleibt an dieser Stelle allerdings, ob eine derartige Bewertung allein aufgrund mangelnder Ausführungen gerechtfertigt ist. Die unterschiedliche Auslegung des Sabbatgebotes ist ebenfalls in Band 7/ 8 der Schulbuchreihe »Kursbuch Religion elementar« Thema. Im Gegensatz zum Unterrichtswerk »RELi+wir« differenziert dieses Buch jedoch innerhalb der Gruppierung der Pharisäer, indem es formuliert: »unter den Pharisäern gab es einige […].« 16 Dieser Ansatz ist durchaus positiv zu sehen. Im Anschluss daran schildert der Text jedoch einen fiktiven Dialog, in dem Pharisäer beschließen, Jesus aufgrund seiner Kritik an die Römer auszuliefern. 17 Hier wird folglich ein sachlich falscher Kausalzusammenhang zwischen der Kritik an Jesu Toraauslegung und seiner Hinrichtung hergestellt, wodurch die zuvor positive Differenzierung in den Hintergrund tritt. Diesem neuralgischen Punkt gilt im nächsten Unterpunkt 2.3 eigens die Aufmerksamkeit. b) »Jesu Judesein und Pharisäer als zeitgenössische Gruppierung im Judentum«. Im Unterschied zu der insgesamt positiven Tendenz bezüglich der Auslegung des Sabbatgebotes zeigt sich, dass die bereits von Fiedler festgestellte Diskrepanz zwischen dem Zugeständnis des Judeseins Jesu und der Darstellung des Verhältnisses Jesu zu Pharisäern auch in gegenwärtig zugelassenen Lehrplänen und Schulbüchern besteht. Im aktuellen bayerischen Lehrplan für den evangelischen Religionsunterricht an Gymnasien werden Pharisäer unter dem Themenbereich ›Zeit und Umwelt Jesu‹ zwar nicht benannt, sie werden aber als eine wichtige Gruppierung des zeitgenössischen Judentums mit bedacht. 18 Jesu Judesein ist in diesem Zusammenhang ebenfalls berücksichtigt, weshalb eine sachgemäße Darstellung vorliegt, auch wenn an dieser Stelle keine weiteren Aspekte aus Fiedlers Kategoriensystem aufgeführt sind. Allerdings gerät Jesu Judesein in demselben Lehrplan aus dem Blick, wenn die Botschaft Jesu Unterrichtsgegenstand ist. In diesem Zusammenhang soll nämlich das Neue dieser Lehre herausgestellt werden. 19 Da jedoch in diesem Zusammenhang Jesu geistige Verwandtschaft mit Pharisäern nicht betont wird, hebt der Lehrplan die Botschaft Jesu heraus aus ihrem jüdischen Kontext. Diese Darstellung widerspricht den bei Fiedler aufgeführten Gesichtspunkten der geistigen Verwandtschaft Jesu mit Pharisäern. 20 Daher sind die betreffenden Inhalte als sachlich falsch zu bewerten. Im Lehrplan für den evangelischen Religionsunterricht an Gymnasien in Bayern aus dem Jahr 1992 ist nicht nur Jesu Judesein im Zusammenhang mit seiner Umwelt Unterrichtsgegenstand, sondern es werden darüber hinaus auch die Probleme, die sich daraus für das christlich-jüdische Verhältnis ergeben, fokussiert. 21 Diesen Aspekt beinhaltet der zurzeit gültige Lehrplan nicht. Ebenso fällt ein Widerspruch zwischen dem Lehrplan für Haupt-, bzw. Mittelschulen in Bayern und dem entsprechenden Schulbuch aus der Reihe »Da sein- - Wege ins Leben« auf. So erwähnt der Lehrplan in der fünften Jahrgangsstufe Pharisäer als eine Gruppierung unter anderen, ebenso wie Jesu Judesein. Darüber hinaus thematisiert er Unterschiede im Glauben innerhalb des Judentums. 22 Damit liegt an dieser Stelle eine sachgemäße Darstellung vor, die im Vergleich mit dem bayerischen Hauptschullehrplan aus dem Jahr 1983 deutlich verbessert ist. Dort ist nämlich Jesus von Nazareth nicht als Jude, sondern in Abgrenzung zum zeitgenössischen Judentum dargestellt. 23 Dieser positiven Veränderung im Lehrplan widersprechen jedoch die Ausführungen der Schulbuchreihe »Da Sein--Wege ins Leben«, da die jüdische Sozialisation Jesu entgegen der Lehrplanvorgaben gänzlich ausgeklammert bleibt und so auch die thematisierten Konflikte mit Pharisäern nicht als innerjüdisch verdeutlicht werden. 24 Da dieser Aspekt fehlt und auch kein weiterer Gesichtspunkt aus Fiedlers Kategoriensystem benannt wird, ist die Darstellung der Auseinandersetzungen Jesu mit Pharisäern als tendenziös zu bewerten. ZNT 37 (19. Jg. 2016) 61 Martin Rothgangel / Julia Spichal Antijudaismus in Schulbüchern und Lehrplänen Besonders gut ist die Darstellung des Verhältnisses Jesu zu Pharisäern im Schulbuch »Religion entdecken- verstehen-gestalten« in Band 5/ 6 gelöst, indem es auf die üblichen Auslegungsdifferenzen innerhalb des Judentums verweist. Ebenso hebt es die geistige Verwandtschaft Jesu mit Pharisäern ausdrücklich hervor. 25 Diese Darstellung ist als positives Beispiel besonders herauszustellen. Somit steht Jesu Botschaft nicht im Gegensatz zu seiner jüdischen Sozialisation, sondern bewegt sich innerhalb des zeitgenössischen Judentums. Auch dem niedersächsischen Kerncurriculum für Gymnasien gelingt es trotz inhaltlicher Knappheit verbindliche Vorgaben zu formulieren, die die Gefahren einer polemischen Verzeichnung von Pharisäern umgehen. So ist der Begriff Pharisäer als verbindlicher Grundbegriff aufgenommen und Jesu Judesein als inhaltsbezogene Kompetenz formuliert. 26 Dadurch ist gewährleistet, dass Auseinandersetzungen Jesu mit Pharisäern, wenn sie Unterrichtsgegenstand sind, als innerjüdischer Konflikt dargestellt werden. Dies war in den niedersächsischen Rahmenrichtlinien für den evangelischen Religionsunterricht an Gymnasien aus dem Jahr 1987 nicht der Fall, ebenso wenig in den Rahmenrichtlinien für den katholischen Religionsunterricht aus dem Jahr 1982. In Letzteren dient Jesu Botschaft ausdrücklich als Negativfolie für das pharisäische Toraverständnis, so das Analyseergebnis von Helga Kohler-Spiegel. 27 Hier liegt also eine deutlich positive Veränderung vor. Es bleibt allerdings fraglich, aus welchem Grund die niedersächsischen Kerncurricula für Grund-, Haupt-, und Realschulen nicht analog zum gymnasialen Kerncurriculum gestaltet sind. Hier kommt Jesu Judesein im Zusammenhang mit Pharisäern nämlich nicht in den Blick. 2.3 Die Verantwortung für Jesu Tod Im Hinblick auf die Verantwortung für Jesu Tod gelangte Fiedler bei seiner Analyse zu dem Ergebnis, dass der Gottesmordvorwurf implizit weiter erhoben wird. 28 Der Konflikt Jesu mit Pharisäern und Schriftgelehrten steht oft in einem Kausalzusammenhang mit Jesu Verurteilung. 29 Ein derartiger Kausalzusammenhang lässt sich auch in dem analysierten Material 30 dieser Studie finden, so z. B. in Band 1 der Schulbuchreihe »Wegzeichen Religion«. 31 Zwar verwendet das Schulbuch in einer Nacherzählung von Mk 2,13-17 nicht den Begriff Pharisäer; jedoch wird entsprechend dem biblischen Originaltext deutlich, dass diese mit der Formulierung ›die Leute‹ gemeint sind. Durch den direkten Anschluss von Jesu Passion an dieses Kapitel legt das Lehrwerk den Schluss nahe, zwischen Jesus und Pharisäern bestünde eine Todfeindschaft, die auf ihrer unterschiedlichen Auslegung der Tora beruhe. Um diesem Eindruck entgegenzuwirken, müsste explizit erwähnt werden, dass Pharisäer nichts mit der Auslieferung zu tun haben. Auf welche Art und Weise dies in den ersten Schulstufen geschehen kann, wenn der Begriff Pharisäer bewusst vermieden wird, bleibt zu diskutieren. Zudem schreiben zwei Schulbuchtexte allein der jüdischen Seite die Verantwortung an Jesu Tod zu. So ist es in Band 3 der Schulbuchreihe »Wegzeichen Religion« allein der Hohe Rat, der Jesus verhaftet und über ihn richtet, während Pontius Pilatus als Hauptverantwortlicher nicht erwähnt wird. 32 Eine derartige Darstellung ist als sachlich falsch zu bewerten und tritt besonders negativ hervor, da damit antijüdische Vorurteile gefördert werden können. Ebenso negativ gestalten sich die Inhalte zur Verantwortung für Jesu Tod des Bandes 7/ 8 aus der Schulbuchreihe »Kursbuch Religion elementar«, weil dieses Lehrwerk fälschlicherweise explizit Pharisäer als Verantwortliche für Jesu Tod darstellt. Dies geschieht durch einen fiktiven Dialog zwischen Pharisäern und Zeloten, die beschließen, dass Jesus beseitigt werden müsse. Daran schließt sich direkt die Passion Jesu an. 33 Damit widerspricht das Schulbuch den Vorgaben des Kerncurriculums für Realschulen in Niedersachsen, da biblische Aussagen hier als historische Tatsachen missdeutet werden. Auch die weitere Darstellung der Passion Jesu ist als sachlich falsch zu bewerten, da allein der Hohe Rat als verantwortlich gezeichnet wird, während die römischen Behörden dessen Urteil lediglich bestätigen. Interessanterweise macht eine Textpassage zu Antisemitismus in demselben Schulbuch auf genau dieses Vorurteil aufmerksam und entkräftet es. 34 Hier zeigt sich wiederum die Diskrepanz zwischen dem Bewusstsein um die Gefahr, antijüdische Vorurteile im Religionsunterricht zu transportieren einerseits und der vorurteilsbehafteten Darstellung des christlichen Propriums in Abgrenzung zum Judentum andererseits. Als ein positives Beispiel zur Darstellung der Verantwortung für Jesu Tod kann hingegen der Lehrplan für den evangelischen Religionsunterricht an Volksschulen in Österreich gelten. Dieser bildet eine Ausnahme im Hinblick auf die in dieser Studie untersuchten Lehrpläne und Schulbücher, da nur hier betont wird, dass sich im Passionsgeschehen Gottes Heilswille verwirklicht. 35 Im Vergleich mit dem Lehrplan für den katholischen Religionsunterricht an Volksschulen in Österreich aus dem Jahr 1991 liegt hier eine deutliche Verbesserung vor, da Helga Kohler-Spiegel in ihrer Analyse zu dem Schluss gelangt ist, dass beim Thema Passion antijüdische Vor- 62 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Hermeneutik und Vermittlung urteile aufgebaut werden können. Eine Nachbesserung in der Darstellung dieses neuralgischen Punktes liegt auch im aktuellen katholischen Lehrplan vor, da hier eindeutig Pontius Pilatus als Verantwortlicher benannt wird. Die in der vorliegenden Studie untersuchten Lehrpläne und Schulbücher weisen hinsichtlich der Verantwortung für Jesu Tod Leerstellen in den inhaltlichen Ausführungen auf, die mehrere Probleme nach sich ziehen. So ist eine Analyse mehrerer Lehrpläne nicht möglich, da keinerlei Textstellen bezüglich dieses Themas zur Auswertungseinheit gezählt werden können. 36 Der Lehrplan für die Hauptbzw. Mittelschule in Bayern lässt Jesu Passion ganz wegfallen und verweist lediglich auf den Lehrplan der Grundschule, weshalb auch dessen Analyse nicht möglich ist. Ein Problem stellt sich hinsichtlich der niedersächsischen Kerncurricula, da hier schulformspezifische Unterschiede in den inhaltsbezogenen Kompetenzformulierungen beobachtet werden können. Im Gegensatz zum Kerncurriculum für Grundschulen kann das Kerncurriculum für die Hauptschule analysiert werden, da es auf Mk 14-16,14 als biblische Grundlage verweist. Aufgrund der mangelnden Ausführungen bezüglich der Verantwortung für Jesu Tod ist die Darstellung als tendenziös zu beurteilen. Vor allem fehlt der Verweis darauf, dass die dort aufgeführten Inhalte nicht als historisch gelten können. Im Gegensatz dazu werden im Kerncurriculum für Realschulen in Niedersachsen historische Ursachen für den Tod Jesu ausdrücklich als inhaltsbezogene Kompetenz aufgeführt. Jedoch fehlen auch hier weitere Angaben darüber, was genau behandelt werden soll. Daher kann die Darstellung nicht als sachgemäß beurteilt werden. Es bleibt fraglich, aus welchem Grund die historischen Ursachen des Todes Jesu in derselben Altersgruppe nicht auch für die Hauptschule vorgesehen ist, insbesondere weil es sich dabei um ein Vorurteil handelt, das wahrscheinlich auch bei den Schülerinnen und Schülern der Hauptschule verbreitet ist. In beiden Kerncurricula ist zwar die Passionsdarstellung in Mk 14-16 als biblischer Basistext angeführt, jedoch ist nur im Kerncurriculum für die Realschule die Frage nach den historischen Bedingungen vorgesehen, während das Kerncurriculum für die Hauptschule den Glauben an die Verwirklichung der Heilsverkündung in den Vordergrund rückt. Wenn Mk 14-16 auch an der Hauptschule behandelt werden soll, kann es ohne die Frage nach gesicherten Informationen zu einem unausgewogenen oder gar tendenziösen Bild des Judentums kommen. Die schulformspezifischen Unterschiede sind in diesem Zusammenhang kaum zu rechtfertigen und fragwürdig. 2.4 Das jüdische Verständnis der Tora Vorab sei festgehalten, dass auch in diesem neuralgischen Bereich die Analyse gegenwärtig zugelassener Schulbücher und Lehrpläne zu dem Ergebnis gelangt, dass an mehreren Stellen hinsichtlich des jüdischen Toraverständnisses deutliche antijüdische Polemik zu finden ist. So ist in dem vierten Band der Schulbuchreihe »Wegzeichen Religion« das jüdische Toraverständnis im Zusammenhang mit Paulus Thema. Das Schulbuch baut dabei einen sachlich falschen Gegensatz zwischen der Tora und dem Glauben an Jesus Christus auf, indem es die Frage verhandelt, ob das Judentum oder das Christentum mit seinem Glauben ›Recht‹ hat. 37 Im Unterschied dazu lässt sich in der Ausgabe von 1977 keine Verzeichnung des jüdischen Toraverständnisses im Zusammenhang mit Paulus beobachten, vielmehr ist im Gegenteil das Bemühen um eine wohlwollende Darstellung erkennbar. 38 Hier liegt folglich eine negative Veränderung vor. Auf ähnliche Weise zeichnet auch das Lehrwerk »Da sein-- Wege ins Leben« in Band 7 ein sachlich falsches Bild des jüdischen Toraverständnisses. Dieses Schulbuch gibt nämlich an, Jesu Torakritik sei der Grund für die Verfolgung der ›Christen‹ durch Paulus gewesen, 39 wodurch es die paulinische Torakritik verabsolutiert. Des Weiteren charakterisiert es die Tora als einengend, 40 so dass ein Widerspruch in der Darstellung der Lehrplanvorgaben für bayerische Hauptschulen besteht. Dort wird zwar in einem gesonderten Kapitel zum Judentum der Begriff ›Gesetz‹ verwendet, jedoch ist die Tora nicht als Last, sondern als Grund zur Freude beschrieben. 41 Der Lehrplan für bayerische Hauptschulen aus dem Jahr 1983 hingegen gebraucht das Judentum als Negativfolie für die christliche Lehre, wodurch hier eine positive Entwicklung vorliegt. Neben den aufgeführten bedenklichen Befunden, enthält das untersuchte Material auch explizit positive Darstellungen. Beispielsweise führt die Schulbuchreihe »Religion entdecken-verstehen-gestalten« ausdrück- »Die in der vorliegenden Studie untersuchten Lehrpläne und Schulbücher weisen hinsichtlich der Verantwortung für Jesu Tod Leerstellen in den inhaltlichen Ausführungen auf, die mehrere Probleme nach sich ziehen.« ZNT 37 (19. Jg. 2016) 63 Martin Rothgangel / Julia Spichal Antijudaismus in Schulbüchern und Lehrplänen lich auf, dass unterschiedliche Auslegungen der Tora als übliche Praxis innerhalb des Judentums gelten. 42 Somit konstruiert das Lehrwerk keinen sachlich falschen Gegensatz im Toraverständnis von Jesus und Pharisäern. Diese Gefahr wird ebenso im Zusammenhang mit Paulus vermieden, indem es die Relevanz der Tora für das Urchristentum betont. Allerdings ist an dieser Stelle von einem »neuen Gesetz« 43 die Rede, wodurch der Text einen widersprüchlichen Eindruck zur bleibenden Relevanz der Tora vermittelt, die zuvor noch herausgestellt worden ist. Eine ebenso wohlwollende Darstellung findet sich im Lehrplan für Volksschulen in Österreich. Hier wird die Tora als ›Heilsweg‹ für Israel und als Geschenk Gottes beschrieben. 44 Es fällt allerdings auf, dass das christlichjüdische Verhältnis nicht angesprochen ist. So fehlen Angaben zur Relevanz der Weisungen für Jesus und das Urchristentum. Ganz ähnlich gestalten sich die Ausführungen des Schulbuchs »REli+wir«. Dieses Lehrwerk betont ebenfalls, dass die Tora nicht einschränkt, sondern zum Leben befreit. 45 Im Vergleich mit den Ausführungen desselben Schulbuchs zur Sabbatauslegung Jesu im Gegensatz zum Verständnis ›der Juden‹, zeigt sich jedoch, dass das- - vermeintlich-- lebensfeindliche jüdische Verständnis der Tora als Negativfolie für die positive Hervorhebung der barmherzigen christlichen Botschaft dient. Hier liegt folglich die Diskrepanz vor, die Fiedler bereits problematisiert hat, nämlich zwischen einer wohlwollenden Darstellung der Tora einerseits und einem sachlich falschen Zerrbild des jüdischen Toraverständnisses in Abgrenzung zu Jesu Botschaft andererseits. 2.5 Christlich-jüdische Verhältnisbestimmung Grundsätzlich ist in den analysierten aktuell zugelassenen Lehrplänen und Schulbüchern das Bemühen erkennbar, die Verwurzelung des Christentums im Judentum zu betonen und das Judentum wohlwollend darzustellen. Im Lehrplan für Grundschulen in Bayern beispielsweise ist das Judentum im Vergleich mit dem Lehrplan von 1993 nicht mehr Wahlsondern Pflichtthema. Dabei nimmt die Verwurzelung von Judentum im Christentum eine zentrale Stellung ein. 46 Demnach liegt hier eine deutlich positive Entwicklung vor, die letztlich eine Auswirkung der in Regensburg entstandenen Dissertation von Rothgangel darstellt. Lediglich die niedersächsischen Kerncurricula gestalten sich in dieser Hinsicht als problematisch. Hier ist die »nahe Beziehung« 47 zwischen Judentum und Christentum nur im Kerncurriculum für Gymnasien Thema, wobei der Begriff ›Verwurzelung‹ allerdings nicht genannt ist. Im Vergleich mit dem Kerncurriculum für den katholischen Religionsunterricht kann diese Kompetenzformulierung jedoch als beispielhaft gelten, denn dort findet sich nichts Vergleichbares. Bereits Helga Kohler-Spiegel hat in ihrer Analyse problematisiert, dass die Verwurzelung von Christentum im Judentum in den niedersächsischen Rahmenrichtlinien für den katholischen Religionsunterricht von 1982 keine Erwähnung findet. In den Kerncurricula für Grund-, Haupt-, und Realschulen hingegen kommt das christlich-jüdische Verhältnis in keiner Weise zur Sprache. So sollen im Kerncurriculum für die Grundschule Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Judentum, Christentum und Islam benannt werden, wobei das besondere christlichjüdische Verhältnis nicht zum Tragen kommt. 48 Im Vergleich mit den Rahmenrichtlinien aus dem Jahr 1984 liegt diesbezüglich eine negative Veränderung vor, da dort beim Vergleich der drei Religionen die besondere Verantwortung des Christentums gegenüber dem Judentum herausgestellt wird. 49 An Haupt- und Realschulen ist lediglich die jüdische Glaubenspraxis im Fokus, ohne dabei beispielsweise auf christliche Liturgie und Gebet zu verweisen. 50 Für HauptschülerInnen ist zwar durchaus ein Vergleich vorgesehen, allerdings zwischen Christentum und Islam. 51 Die Verwurzelung von Christentum und Judentum ist demnach auch hier nicht als inhaltsbezogene Kompetenz formuliert. Es ist folglich wünschenswert, das Wissen um die Wurzel des Christentums im Judentum grundsätzlich für alle Schulstufen und -formen als Kompetenz zu formulieren, da es sich dabei um das Fundament des christlich-jüdischen Verhältnisses handelt und erst mit einer Verinnerlichung der Tragweite dieses Umstandes ein Dialog möglich wird, der die Gemeinsamkeiten benennt, aber auch die Unterschiede nicht verschweigt. Ein positives Beispiel liefert der Lehrplan für die bayerischen Grundschulen, weil dieser das Osterereignis ganz im jüdischen Horizont deutet, indem es den Messiasglauben thematisiert und die ersten Zeugen eindeutig als Juden charakterisiert. 52 Die Verwurzelung des Christentums im Judentum ist somit klar herausgestellt. »Es ist [...] wünschenswert, das Wissen um die Wurzel des Christentums im Judentum grundsätzlich für alle Schulstufen und -formen als Kompetenz zu formulieren.« 64 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Hermeneutik und Vermittlung Besonders deutlich, aber oftmals tendenziös bzw. sachlich falsch tritt die Trennung zwischen Christentum und Judentum dann im Zusammenhang mit Paulus hervor, indem seine Theologie auf den Gegensatz von ›Gesetz‹ und Gnade reduziert wird. Im Lehrplan für Realschulen in Bayern findet sich beispielsweise eine derartige Gegenüberstellung, indem die befreiende Wirkung der paulinischen Botschaft gegenüber dem jüdischen Glauben an die Weisungen der Tora betont wird. 53 Bereits der Lehrplan aus dem Jahr 1983 zeichnet ein derartiges Bild des christlich-jüdischen Verhältnisses, so dass diesbezüglich keine positive Veränderung festzustellen ist. 54 Damit verabsolutiert der Lehrplan die paulinische Torakritik und übersieht, dass Paulus keinesfalls die Verbindlichkeiten ihrer Weisungen aufhebt, auch wenn er sie als ›Heilsweg‹ für Heiden-- und nur für Heiden-- bestreitet. Die Darstellung des Verhältnisses von Paulus zum Judentum gestaltet sich somit vor allem durch das fragwürdige Verständnis der jüdischen Toraauslegung in den analysierten Lehrplänen und Schulbüchern als sehr problematisch. Der siebte Band der Schulbuchreihe »Da sein-- Wege ins Leben« beinhaltet im Hinblick auf das christlich-jüdische Verhältnis eine Textstelle mit deutlich antijüdischer Polemik und kann als besonderes Negativbeispiel gelten. Dieses baut nicht nur einen sachlich falschen Gegensatz von Judentum und Christentum zur Zeit des Paulus auf, sondern stellt die ›gewaltbereiten Juden‹ den ›besorgten und mitfühlenden Christen‹ gegenüber. 55 Diese Darstellung steht in einem eklatanten Widerspruch zu der wohlwollenden Darstellung des christlich-jüdischen Verhältnisses in Band 8 derselben Schulbuchreihe. 56 Die Steinigung des Stephanus überzeichnen die in dieser Studie analysierten Lehrpläne und Schulbücher grundsätzlich nicht. Band 7/ 8 der Schulbuchreihe »Kursbuch Religion elementar« erwähnt Stephanus, seine Steinigung ist aber nicht explizit aufgeführt. Dennoch thematisiert das Unterrichtswerk an dieser Stelle den Konflikt zwischen Saulus und denen, die an Jesus Christus glauben. Sachlich falsch baut es in diesem Zusammenhang einen Gegensatz zwischen dem Glauben an Jesus Christus und der Tora auf. 57 Ergänzt wird diese Aussage durch eine Textstelle im dazugehörigen Lehrerhandbuch, die ebenso sachlich falsch dazu erläutert, dass durch Jesus Christus die Tora als ›Heilsweg‹ »zu seinem Ende gekommen ist.« 58 Das Halten des Gesetzes ist für Paulus nun durch die »liebende Zuwendung Jesu« 59 ersetzt, die von seinem Damaskuserlebnis an sein Leben bestimmt. 60 Folglich besteht hier dasselbe Problem, auf das bereits Fiedler in seinem untersuchten Material gestoßen ist: die Darstellung des christlich-jüdischen Verhältnisses als Gegensatz zwischen ›Gesetz‹ und Gnade. Insgesamt betrachtet bleibt in den Lehrplanvorgaben als ein zentrales Problem bestehen, wie mit den Differenzen umzugehen ist. Darin liegt eine zentrale Herausforderung des christlichen Religionsunterrichts. Röm 9-11 als mögliche Grundlage für eine angemessene christlich-jüdische Verhältnisbestimmung fehlt an dieser Stelle. Auch die übrigen in der vorliegenden Dissertation analysierten Lehrpläne und Schulbücher lassen Paulus’ Aussagen in Röm 9-11 unberücksichtigt. Lediglich die Schulbuchreihen »Kursbuch Religion elementar« und »Religion entdecken-verstehen-gestalten« verweisen darauf. 61 Neben Fiedler hat auch Rothgangel konstatiert, dass der biblische Text Röm 9-11 trotz seines theologischen und didaktischen Nutzens bezüglich einer angemessenen christlich-jüdischen Verhältnisbestimmung in Lehrplänen und Schulbüchern kaum Berücksichtigung findet. 62 Das Potential dieses für das jüdisch-christliche Verhältnis wirkungsgeschichtlich bedeutsamen Textes, der sich durchaus anhand des Ölbaumgleichnisses elementar behandeln lässt, wird in den untersuchten aktuellen Lehrplänen und Schulbüchern nach wie vor nicht bzw. unzureichend genützt. 3. Perspektive 3.1 Revisionsbedürftigkeit von Schulbüchern und Lehrplänen Die gegenwärtige Analyse führt im Grunde genommen zu einem vergleichbaren Ergebnis wie die Schulbuch- und Lehrplananalysen zwischen 1980 und Mitte der 1990er Jahre. Es lassen sich einerseits im Vergleich dazu in bestimmten Schulbüchern und Lehrplänen positive Überarbeitungen hinsichtlich der neuralgischen Punkte bei der Behandlung des Judentums im Religionsunterricht beobachten. Bemerkenswert ist jedoch, dass in anderen Schulbüchern und Lehrplänen des Religionsunterrichts immer noch tendenzöse und sachlich falsche Darstellungen verbreitet sind und ganz vereinzelt sogar Rückschritte beobachtet werden können. Insgesamt besteht somit ein deutlicher Revisionsbedarf in zahlreichen zugelassenen Lehrplänen wie Schulbüchern. Dieses Ergebnis ist ernüchternd und zeigt, dass die Implementation von religionspädagogi- »Insgesamt besteht [...] ein deutlicher Revisionsbedarf in zahlreichen zugelassenen Lehrplänen wie Schulbüchern.« ZNT 37 (19. Jg. 2016) 65 Martin Rothgangel / Julia Spichal Antijudaismus in Schulbüchern und Lehrplänen schen Forschungsergebnissen in religionsunterrichtliche Lehrmaterialien ein langwieriger Prozess ist. 3.2 Überarbeitungsbedarf hinsichtlich des Analyserasters von Peter Fiedler Für die religionspädagogische Forschung stellt sich gleichermaßen ein wichtiger Überarbeitungsbedarf im Bereich der Schulbuch- und Lehrplananalyse zum Judentum. Das Analyseraster von Fiedler berücksichtigt zum einen unzureichend didaktische Aspekte, zum anderen sind Entwicklungen neutestamentlicher und judaistischer Forschung seit 1980 zu integrieren. So ist z. B. eine strikte Anwendung des Kategoriensystems von Fiedler auf Lehrplan- und Schulbuchinhalte für die erste Klassenstufe problematisch: Fiedlers Bedingungen für eine tendenziöse Beurteilung definieren sich bezüglich des Verhältnisses Jesu zu Pharisäern über das Nichterwähnen von Informationen. Allerdings ist dabei nicht bedacht, dass eine Auswahl von Inhalten in Lehrplan oder Schulbuch auf den Kern der Sache insbesondere bei jüngeren SchülerInnen didaktisch notwendig ist und dabei andere Aspekte wegfallen müssen. Theoretische Grundlegungen für die Überarbeitung des Analyserasters, die exemplarisch im Blick auf Jesu Verhältnis zu den Pharisäern konkretisiert sind, finden sich bei Spichal 63 und bedürfen der weiteren Ausarbeitung. Anmerkungen 1 Zur zahlreichen Literatur vgl. M. Rothgangel, Antisemitismus als religionspädagogische Herausforderung. Eine Studie unter besonderer Berücksichtigung von Röm 9-11, Freiburg u. a. 1995 ( 2 1997), 114-127. [Rothgangel, Antisemitismus] 2 J. Spichal, Vorurteile gegen Juden im christlichen Religionsunterricht. Eine qualitative Inhaltsanalyse ausgewählter Lehrpläne und Schulbücher in Deutschland und Österreich, Göttingen 2015. [Spichal, Vorurteile] 3 P. Fiedler, Das Judentum im katholischen Religionsunterricht. Analyse, Bewertung, Perspektiven, Düsseldorf 1980. 4 Rothgangel, Antisemitismus, 127-164. 5 Nachstehende Ausführungen finden sich in Rothgangel, Antisemitismus, bes. 121-127. 6 H. Kremers, Die wichtigsten Ergebnisse aus der Analyse der gegenwärtigen religionspädagogischen Literatur und die Frage nach den Konsequenzen, in: ders., Liebe und Gerechtigkeit. Gesammelte Beiträge, hg. v. A. Weyer, Neukirchen-Vluyn, 223-236, hier: 233. 7 M. Brocke/ H. Jochum, Das Judentum in Schulbüchern für den katholischen Religionsunterricht heute-- eine Problemanzeige, in: H. Jochum/ H. Kremers, Juden, Judentum und Staat Israel im christlichen Religionsunterricht in der Bundesrepublik Deutschland, Paderborn u. a. 1980, 55-74, hier: 67. 8 P. Fiedler, ›Lernprozeß Christen-- Juden‹, in: ErwB 28 (1982), 251-256, hier: 251 . 9 H. Sorge, Judentum. Didaktische Skizze mit einer Projektidee für die Sekundarstufe II, in: ForR (1983) 3, 13-19, hier: 14. 10 H. Kohler-Spiegel, Juden und Christen- - Geschwister im Glauben. Ein Beitrag zur Lehrplantheorie am Beispiel Verhältnis Christentum Judentum, Lernprozeß Christen Juden 6, Freiburg/ Basel/ Wien 1991, 323. 11 Nachstehende Ausführungen stellen eine gekürzte Version dar von Spichal, Vorurteile, 208-233. 12 Vgl. Evangelischer Presseverband Österreich (Hg.), RELi+wir, Göttingen 2010, 289. [RELi+wir] 13 Vgl. ebd., 86. 14 Ebd., 86. 15 G. Miederer u. a., Wegzeichen Religion 1. Ein Unterrichtswerk für den Evangelischen Religionsunterricht in der Jahrgangsstufe 1, Frankfurt a. M. 2001, 24 f. [Wegzeichen 1] 16 Vgl. W. Eilerts/ H.-G. Kübler (Hg.), Das Kursbuch Religion elementar 7/ 8. Ein Arbeitsbuch für den Religionsunterricht im 7./ 8. Schuljahr, Braunschweig 2004, 136. [Kursbuch elementar 7/ 8] 17 Vgl. ebd., 137. 18 Vgl. Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung München (ISB) (Hg.), Lehrplan des achtjährigen Gymnasiums. Jahrgangsstufe 6. Evangelische Religionslehre. URL: http: / / www.isb-gym8-lehrplan.de/ contentserv/ 3.1.neu/ g8.de/ index.php? StoryID=26310, 6 (Zugriff: 06. 01. 2016). [Lehrplan G8, Ev. Religion, Jgst. 6] 19 Vgl. ebd. 20 Vgl. Fiedler, Judentum, 66. 21 Vgl. Rothgangel, Antisemitismus, 156. 22 Vgl. Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus (Hg.), Lehrpläne für die Hauptschule Jahrgangsstufen 5 bis 9, München 2004, 95. [Lehrplan HS] 23 Vgl. Rothgangel, Antisemitismus, 139. 24 Vgl. W. Haußmann u. a., Da sein-- Wege ins Leben 5. Ein Unterrichtswerk für den Evangelischen Religionsunterricht an Hauptschulen, Braunschweig 1998, 66 f. [Da sein-- Wege ins Leben 5] 25 Vgl. G.-R. Koretzki/ R. Tammeus (Hg.), Religion entdecken-verstehen-gestalten. 5./ 6. Schuljahr, Göttingen 2008, 79. [Religion entdecken 5/ 6] 26 Vgl. Niedersächsisches Kultusministerium (Hg.), Kerncurriculum für das Gymnasium. Schuljahrgänge 5-10. Evangelische Religion, Hannover 2009, 23. [KC GYM] 27 Vgl. Kohler-Spiegel, Juden, 299. 28 Vgl. Fiedler, Judentum, 190. 29 »Innerhalb der mk. Darstellung ist zwischen Mk 3,6 (Pharisäer und Herodianer beschließen, Jesus »zu verderben«, »umzubringen«) einerseits und der Passionsgeschichte andererseits zu unterscheiden, wo die Pharisäer nirgends genannt werden«. 30 Vgl. Lehrplan G8, Ev. Religion, Jgst. 6; W. Haußmann u. a., Da sein-- Wege ins Leben 8. Ein Unterrichtswerk für den Evangelischen Religionsunterricht an Hauptschulen, Braunschweig 2002, 73 [Da sein-- Wege ins Leben 8] 66 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Hermeneutik und Vermittlung 31 Vgl. Wegzeichen 1, 32 f. 32 Vgl. G. Miederer u. a., Wegzeichen Religion 3. Ein Unterrichtswerk für den Evangelischen Religionsunterricht in der Jahrgangsstufe 3, Frankfurt a. M. 2003, 69 f. [Wegzeichen 3] 33 Vgl. Kursbuch elementar 7/ 8, 137. 34 Vgl. W. Eilerts/ H.-G. Kübler (Hg.), Das Kursbuch Religion elementar 9/ 10. Ein Arbeitsbuch für den Religionsunterricht im 9./ 10. Schuljahr, Braunschweig 2006, 147. [Kursbuch elementar 9/ 10] 35 Vgl. Bundeskanzleramt (Hg.), Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich, 255. Bekanntmachung: Lehrpläne für den katholischen Religionsunterricht an Volksschulen und für den evangelischen Religionsunterricht an Volksschulen und an Sonderschulen, Teil II, Wien 2010, 22. [Lehrplan kath. und ev. Religionsunterricht VS] 36 Dabei handelt es sich um die Kerncurricula für den evangelischen Religionsunterricht an Grundschulen, Gymnasien und der gymnasialen Oberstufe in Niedersachsen sowie den Lehrplänen für Hauptschulen und der AHS- Oberstufe in Österreich. 37 Vgl. S. Beck-Seiferlein u. a., Wegzeichen Religion 4. Ein Unterrichtswerk für den Evangelischen Religionsunterricht in der Jahrgangsstufe 4, Frankfurt a. M. 2004, 64 [Wegzeichen 4]. 38 Vgl. Rothgangel, Antisemitismus, 138 f. 39 Vgl. W. Haußmann u. a., Da sein-- Wege ins Leben 7. Ein Unterrichtswerk für den Evangelischen Religionsunterricht an Hauptschulen, Braunschweig 2001, 110. [Da sein-- Wege ins Leben 7] 40 Vgl. ebd. 41 Vgl. Lehrplan HS, 95. 42 Religion entdecken 5/ 6, 69. 43 Ebd., 101. 44 Vgl. Lehrplan kath. und ev. Religionsunterricht VS, 24. 45 Vgl. RELi+wir, 293. 46 Vgl. Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus (Hg.), Lehrplan für die Grundschule, München 2000, 164. [Lehrplan GS] 47 KC GYM 32. 48 Vgl. Niedersächsisches Kultusministerium (Hg.), Kerncurriculum für die Grundschule. Schuljahrgänge 1-4. Evangelische Religion, Hannover 2006, 3. [KC GS] 49 Vgl. Rothgangel, Antisemitismus, 186 f. 50 Vgl. Niedersächsisches Kultusministerium (Hg.), Kerncurriculum für die Hauptschule. Schuljahrgänge 5-10. Evangelische Religion, Hannover 2009, 30. [KC HS] 51 Vgl. KC HS, 31. 52 Vgl. Lehrplan GS, 163. 53 Vgl. Lehrpan HS, 200. 54 Vgl. Rothgangel, Antisemitismus, 139. 55 Da sein-- Wege ins Leben 7, 112. 56 Vgl. Da sein-- Wege ins Leben 8, 63-86. 57 Vgl. Kursbuch elementar 7/ 8, 150. 58 Kursbuch elementar 7/ 8. Lehrer, 252. 59 Ebd. 60 Vgl. ebd. 61 Vgl. Kursbuch elementar 9/ 10, 145; Religion entdecken 5/ 6, 101. 62 Vgl. Rothgangel, Antisemitismus, 171. 63 Spichal, Vorurteile, 234-296. Vorschau auf Heft 38 »2. Korintherbrief« Mit Beiträgen von: Thomas Schmeller, Ivar Vegge, Larry Welborn, Peter Arzt-Grabner, Reimund Bieringer, Lars Aemeleijus und Margret Mitchell ZNT 37 (19. Jg. 2016) 67 Buchreport Daniel Boyarin Die jüdischen Evangelien. Die Geschichte des jüdischen Christus (Judentum - Christentum - Islam. Interreligiöse Studien Bd. 12). Würzburg: Ergon 2015 172 Seiten, gebunden ISBN 978-3-95650-098-5 Preis: 25,00 Euro Zwei Mimen tragen eine Glasscheibe so glaubhaft über die Straße, dass die Leute unwillkürlich stehen bleiben, bis das fragile Transportgut außer Reichweite ist. Nur einer geht unbeirrt auf die Lastenträger zu, die seinen Weg kreuzen, und läuft beherzt zwischen ihnen hindurch, denn er weiß, dass es diese Glasscheibe nur in der von der Pantomime angeregten Imagination derer gibt, die stehen bleiben. Diese kleine Szene ist eine auf ihre Übertragung hin entworfene Allegorie: Die Glasscheibe ist die Unterscheidung »Judentum-- Christentum«, die Leute, die stehen bleiben, sind die Mehrzahl der christlichen Exegetinnen und Exegeten, und derjenige, der weitergeht, ist Daniel Boyarin. Wenn im Neutestamentlichen Proseminar von »Traditionsgeschichte« die Rede ist (verstanden als Frage nach alttestamentlichen und frühjüdischen »Traditionen«, die in die frühchristlichen Texte Eingang gefunden haben), spielt jene Glasscheibe ebenfalls eine Rolle: Stillschweigend wird vorausgesetzt, dass bei der »Übernahme« dieser »Traditionen« eine Art Religionsgrenze überschritten wurde. Dies gilt ungeachtet der mittlerweile nicht mehr bestrittenen Tatsache, dass Jesus und viele seiner Anhänger in seiner eigenen und in späteren Generationen Juden waren, denn Tatsache ist doch ebenso: Diese »alttestamentlichjüdischen« Traditionen stehen nun im »christlichen« Neuen Testament. Viel von dem, was Boyarin in den einzelnen Kapiteln entfaltet, ist schlicht das, was landläufig »Traditionsgeschichte« heißt, und seine Einsichten sind im Einzelnen vielfach nicht einmal neu. Und doch klingt alles, was er schreibt, neu und anders, weil er die Texte in der Gangart dessen durchschreitet, der nicht vor einer imaginären Glasscheibe stehen bleibt. Doch der Reihe nach: Das vorzustellende Buch ist die in 2015 im Würzburger Ergon-Verlag erschienene Übersetzung der Monographie The Jewish Gospels. The Story of the Jewish Christ aus dem Jahr 2012. Die von Armin Wolf kundig besorgte deutsche Übersetzung ist als Band 12 der vom Zentrum für interreligiöse Studien der Universität Bamberg betreuten Reihe »Judentum-- Christentum- - Islam. Interreligiöse Studien« erschienen und mit einem Geleitwort von Johann Ev. Hafner versehen (11-16). Der Übersetzer hat mit dem Verfasser mehrfach Rücksprache gehalten, was dem Buch einige Anmerkungen des Verfassers über die amerikanische Ausgabe hinaus beschert hat. Er hat aber auch selbst manch nützliche Ergänzung beigegeben und bibliographische Angaben akribisch und mit hohem Aufwand für die deutsche Übersetzung aufbereitet. Das Buch beginnt (17-24) mit einem Vorwort des christlichen Theologen Jack Miles, bekannt v. a. durch sein Buch God. A Biography von 1995 (dt. 1996). Miles unternimmt es (wie dieser Buchreport auch), das Anliegen Boyarins in einem Bild zu veranschaulichen. Auf diesem Bild sind die zweieiigen Zwillinge Ben und Josh zu sehen, die unterschiedliche Begabungen entfalten. Ben ist der Sportler, Josh der musische Typ. Boyarin ist ein Freund der Familie, der in einem alten Fotoalbum-- Ben und Josh sind längst erwachsen-- Aufnahmen entdeckt, auf denen Ben im Schulchor ein Solo singt und Josh sich als Fußballer hervortut. Hier zeigt sich: Die beiden Brüder sind einander von Anfang an nicht so unähnlich, wie sie heute meinen. Wie aber kam es dazu, dass (unter Nichtbeachtung alter Familiendokumente) die Unterschiede betont wurden? In der Einleitung (27-41) datiert Boyarin den forcierten Bruch zwischen »Judentum« und »Christentum« in die Jahrzehnte zwischen den Konzilien von Nizäa (325) und Konstantinopel (381). Damit widerspricht er der verbreiteten Auffassung, dass die »Trennung der Wege« bereits im 1. oder 2. Jh. stattgefunden habe. Erst im Zuge der Entwicklung des trinitarischen und christologischen Dogmas sind bestimmte Auffassungen von Gott und Christus zu exklusiv und kennzeichnend christlichen Glaubensinhalten erklärt und in einen definierten Gegensatz zum »Judentum« gesetzt worden, die vorher »unsortiert« und variantenreich von Juden und Nichtjuden vertreten wurden. »Was letzten Endes in Nizäa und Konstantinopel erreicht wurde, war die Errichtung eines Christentums, das vollständig vom Judentum getrennt war« (34). Und selbst nach 381 hatte die orthodoxe Agitation auf christlicher Seite noch alle Hände voll zu tun, im Sinne ihrer strikten Trennung zweier Religionen für Ordnung zu sorgen: In seinen in den Jahre 386 und 387 gehaltenen adversus-Judaeos-Predigten ist Johannes Chrysostomos gegen Christen zu Felde gezogen, die am jüdischen Synagogengottesdienst teilnahmen und jüdische Feste feierten, und noch im Jahr 404 musste Hieronymus Augustin brieflich darlegen, warum es nicht angehe, toraobservante jüdische Christus-Verehrer (denen er weder zugesteht, Christen zu sein, noch sie als Juden gelten lässt) in der Kirche zu dulden (35 f.). Boyarin möchte für die vorausliegende Zeit, v. a. aber für die neutestamentlichen Evangelien, den Gegensatz Judentum/ Chris- 68 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Buchreport tentum im Sinne der Wittgenstein’schen Familienähnlichkeiten auflösen in ein Feld unterschiedlicher jüdisch möglicher Glaubensweisen, die sich auf mehreren Ebenen, deren eine (aber eben nicht einzige) der Jesusglaube war, ähnelten oder unterschieden (38 f.). Im ersten Kapitel »Vom Gottessohn zum Menschensohn« (43-80) setzt Boyarin bei zwei christologischen Titeln an, die landläufig als »christlicher« Kernbestand einer »hohen Christologie« angesehen werden. Er unternimmt es, die in den Titeln »Sohn Gottes« und »Menschensohn« verdichteten Debatten über die göttliche und menschliche Natur des Erlösers in eine biblisch-jüdische Gedankenbewegung einzuzeichnen, die weder erst in christlicher Zeit anhebt, noch auch mit dem Aufkommen der Jesusbewegung endet, dergestalt, dass eine jüdische Traditionsbildung durch ihre »christliche Aneignung« jüdisch fortan nicht mehr tragbar gewesen wäre. Zunächst führt Boyarin aus, dass mit der Rede vom »Sohn Gottes« und vom »Menschensohn« in paradoxer Verschränkung zwei gegenläufige Bewegungen greifbar werden (43-48): Mit 2Sam 7,14; Ps 2,2.6 und Ps 110 bezeichnet »Sohn Gottes« einen irdischen, menschlichen König, der bei seiner Inthronisation als irdischer König Israels von Gott als »Sohn« adoptiert und einer besonderen Nähe zu Gott gewürdigt wird, der aber dennoch ein Mensch bleibt. Dagegen referiert »Menschensohn« mit Daniel 7 auf die Theophanie eines menschenähnlichen göttlichen Wesens, das neben dem »Alten der Tage«, d. h. Gott, als göttliches Wesen im Himmel inthronisiert wird. Hier werden zwei divergierende Heilserwartungen erkennbar-- ein Mensch, der zu Gott erhoben wird, und ein Gott, der in menschlicher Gestalt auf Erden erscheint--, die sich in unterschiedlichen Varianten gegenseitig beeinflussten und miteinander verbanden. Auch dort, wo diese Heilserwartungen mit Jesus verbunden wurden, war nichts daran in einer Weise »christlich«, die nicht auch jüdisch denkbar und längst gedacht war. Hinzu kommt ein Zweites: Im Fortgang von Daniel 7 lässt sich ein Meinungsstreit um die Deutung des »Menschenähnlichen« (Dan 7,13 f.) ablesen: Die kollektive menschliche Deutung auf die »Heiligen des Höchsten« (Dan 7,22) wehrt dem Gedanken eines zweiten göttlichen Wesens neben Gott (48-54). Wir stoßen hier auf »eine innerjüdische Kontroverse lange vor Jesus« (54), die sich weder erstmals an Jesus entzündet hat, noch auch, als sie sich an Jesus neu entzündete, »Juden« und »Christen« voneinander schied, sondern Juden, die in der Frage, ob man den Erlöser als gottähnliches Wesen erwarten soll, unterschiedlich urteilten. Die Option eines zweiten Gottes ist sogar, wie ein Blick weit zurück in die kanaanäischisraelitische Religionsgeschichte lehrt, weitaus älter als seine Bestreitung (54- 59), und sie dauert auch als jüdische Denkmöglichkeit im christlichen Zeitalter unvermindert an, etwa in der Figur des Metatron oder des »kleinen Jahu« (60). Was Jesus betrifft, so lässt sich keinesfalls eine »Christologie von unten« einseitig jüdischer Tradition zuschreiben, noch ist die »hohe Christologie«, die dem trinitarischen und christologischen Dogma Pate stand, einseitig auf den Einfluss griechischen Denkens zurückzuführen. Vielmehr war das Konzept eines göttlichen Erlösers in der Art des danielischen Menschensohnes im antiken Judentum ebenso präsent wie das eines davidischen Messias, der als Mensch besonderer Gottesnähe gewürdigt war, und beide Konzepte konnten sich vielfältig miteinander verbinden. Boyarin führt dies an Mk 2,23-28 vor, wo Jesus sich einerseits auf David beruft und sich damit implizit in die Nachfolge Davids stellt, und sich andererseits in der dritten Person als Menschensohn bezeichnet (64-80). Boyarin sieht hierin nicht nur »einen klaren Beleg für die Identifikation des davidischen Messias mit dem Menschensohn« (78), sondern vermag auch den Gedankenfortschritt von Mk 2,27 zu 2,28 auf dem Hintergrund von Dan 7 zu erklären: Nach Dan 7,14 wird dem Menschensohn universale Macht übertragen, und Mk 2,27 zufolge ist der Sabbat für den (die) Menschen (überhaupt) da, hat also eine universale Geltung. Der Gedankengang in Mk 2,27f, der in der Exegese notorisch als sperrig empfunden und literarkritisch traktiert wird, stellt sich dann dar wie folgt: Die Aussage 2,27, dass der Sabbat »für den Menschen« da ist, negiert nicht nur ihre Umkehrung (dass der Mensch für den Sabbat da sei), sondern sie impliziert auch eine Ausdehnung des Geltungsbereiches des Sabbats von Israel auf »den (= alle) Menschen«. Eine solche (pars pro toto am Sabbat vorgeführte) Ausdehnung der Tora auf die Menschheit setzt zwingend eine (über Israel als Herrschaftsbereich des davidischen Messias hinaus gehende) Vollmacht voraus, und das ist keine andere als die dem danielischen Menschensohn zugesprochene universale Herrschaft, eben diejenige, die in Mk 2,28 anhand des Sabbatbeispiels angesprochen wird. Worauf es wiederum ankommt: Die universale Herrschaft des Menschensohnes, die auch seine Verfügungsgewalt über den Sabbat einschließt, bedeutet »eine radikale eschatologische Wende, aber keine, die durch einen Schritt heraus aus der weiten Gemeinschaft der Israeliten oder sogar Juden begründet wird« (79). Das zweite Kapitel »Der Menschensohn in 1. Henoch und 4. Esra: Andere jüdische Messiasse im 1. Jahrhundert« (81-103) sondiert das weitere Umfeld jüdischer Analogien zur Einzeichnung Jesu in die schon bestehenden Erwartungen eines Menschensohn-Messias. Als ersten Text nennt Boyarin den Tragiker Ezechiel (spätestens Anfang 1. Jh. v. Chr.). Hier wird Mose von Gott selbst auf dem Gipfel des Sinaiberges inthronisiert, ja, er darf sogar auf Gottes Thron Platz nehmen (81 f.). Dies lässt sich kaum anders verstehen, als »dass Mose in diesem Text Gott geworden ist. Kein unmöglicher Gedanke damals für einen Juden. Wenn in der einen Version einer jüdischen religiösen Vorstellung Mose Gott sein konnte, warum dann nicht Jesus in einer anderen Version? « (82). Christologie, meint Boyarin, war schon vor Christus da: »Jesus erfüllte für seine Anhänger die Idee des Christus; der Christus wurde nicht erfunden, um Jesu Leben und Tod auszudeuten. Versionen dieser Erzählung, die Geschichte des Menschensohns (die Geschichte, die später Christologie genannt wird), waren unter den Juden vor der Ankunft Jesu weit verbreitet; Jesus schlüpfte in eine Rolle, die vor seiner Geburt bestand, und ZNT 37 (19. Jg. 2016) 69 dies erklärt, warum so viele Juden bereit waren, ihn als den Christus, als den Messias, den Menschensohn anzuerkennen. Diese Art, die Dinge zu betrachten, ist einer Gelehrtentradition völlig entgegengesetzt, die annimmt, dass Jesus zuerst kam und die Christologie nach diesem Ereignis geschaffen wurde, um seine erstaunliche Karriere zu erklären. Die Stellenbeschreibung-- ›Gesucht wird: Ein Christus, der göttlich ist, der Menschensohn genannt wird, der Herr und Retter der Juden und der Welt ist‹-- war schon da, und Jesus war der Passende (oder, anderen Juden zufolge, nicht). Die Stellenbeschreibung war kein ausgeklügeltes Unterfangen, keine gleichsam auf Jesus maßgeschneiderte Stelle! « (82). Sein weiteres Augenmerk richtet Boyarin auf die Bilderreden des äthiopischen Henochbuches, die in das 1. Jh. datiert werden. In äthHen 46 schaut der Seher Henoch den Menschensohn und fragt den Deute-Engel ausdrücklich, um wen es sich handelt, »wer er sei, woher er stamme (und) weshalb er zu dem Haupt der Tage ginge« (äthHen 46,2). Damit formuliert der Seher eine Frage, die im Judentum seiner Zeit gestellt und kontrovers diskutiert wurde. Die Antwort in äthHen 48 lautet: Der Menschensohn ist ein präexistentes Gottwesen, das verborgen ist, jedoch »den Heiligen und Gerechten« offenbart werden soll. Der Engel Henochs widerspricht damit dem Engel Daniels (85), der den Menschensohn ja, wie wir sahen, auf die kollektiv-menschliche Größe der »Heiligen des Höchsten« deutete. Dagegen ist der Menschensohn in äthHen 48 präexistent, er wird auf Erden verehrt, und er wird »Gesalbter/ Messias« genannt. In den Kapiteln 70-71 erfährt die Menschensohn-Erzählung der Bilderreden dann eine erstaunliche Wendung: Hier ist auf einmal Henoch selbst der Menschensohn, und er wird zu Gott erhöht. Damit wird innerhalb der Henoch-Tradition das Theophanie-Motiv des danielischen Menschensohnes mit dem Motiv der Apotheose des davidischen Messias verschmolzen: »Ungeachtet späterer theologischer Verfeinerungen enthalten die Evangelien ebenfalls die Geschichte eines Gottes, der Mensch wird (Theophanie), und eine andere Geschichte eines Menschen, der Gott wird (Apotheose). […] Die Doppelsträngigkeit in der Erzählung vom Menschensohn im Buch Henoch wird uns […] helfen, auch die Doppelsträngigkeit in der Geschichte Jesu in den Evangelien zu verstehen. Sie hilft uns, den Sinn der mannigfaltigen Begebenheiten in der Christusgeschichte zu finden: seine Geburt als Gott, seine Gottwerdung bei seiner Taufe, sein Tod und seine Auferstehung als ein lebendiger Mensch, der wiederum auf Erden lehrt, und danach die Erhöhung zur Rechten Gottes in Ewigkeit. Es ist fast so, als ob zwei Geschichten in eine Handlung zusammengeführt worden wären: die eine Geschichte eines Gottes, der Mensch wurde, auf die Erde herabstieg und dann nach Hause zurückkehrte; und eine zweite Geschichte eines Menschen, der Gott wurde und zur Höhe aufstieg.« (90 f.). Passagen aus dem 4. Esrabuch (98-103) belegen zusätzlich, wie lebhaft im 1. Jh. die Diskussion um Messias und Menschensohn innerhalb des Judentums geführt wurde. Was ist nun das Neue daran, fragt Boyarin, dass diese Diskussion im 1. Jh. auch mit Blick auf Jesus geführt wurde? Seine Antwort: »Alle Vorstellungen über Christus sind altvertraut; das oder der Neue ist Jesus. Es gibt nichts in der Lehre des Christus, was neu ist, außer der Ausrufung dieses Menschen als Menschensohn« (103). Ergänzend wäre darauf hinzuweisen, dass das Motiv des Verborgenseins des Menschensohnes und sein Offenbarwerden unter den Gerechten, das in den von Boyarin zitierten Passagen gelegentlich vorkommt (äthHen 48,6 f.; 69,26), Jesus (und zwar auch und gerade den irdischen) insofern als »Menschensohn« besonders geeignet erscheinen lässt, als er mangels irgendeiner Bekanntheit oder Berühmtheit (vgl. Joh 6,42! ) nur einigen wenigen in seiner wahren Identität bekannt war. Wenn das Verborgensein des Menschensohnes und seine Offenbarung in einem Zirkel von Gerechten zu seinen Eigenschaften gehörte, konnte auch und gerade jemand der Menschensohn sein, dem man das in keiner Weise ansah. Das dritte Kapitel »Jesus lebte koscher« (105-123) bringt insofern einen Themenwechsel, als es nun anhand von Mk 7 nicht mehr um Christologie, sondern um Halacha geht. Gilt für die beiden ersten Kapitel, dass Boyarin in gründlicher Kenntnis der (zumeist christlichen) Forschungsliteratur zum Menschensohn-Problem gewissermaßen immer wieder die eine Frage durchbuchstabiert, was eigentlich angesichts des allseits bekannten Befundes dagegen spricht, auch und gerade die sogenannte »hohe Christologie« jüdisch sein zu lassen, legt er im dritten Kapitel eine Lektüre von Mk 7 vor, die auch im Detail wesentliche neue Aspekte in die Diskussion einbringt. Das Thema des Buches ist freilich auch mit diesem Kapitel im Kern berührt, weil die Ausführungen Jesu zur Reinheitsfrage in Mk 7 überwiegend als Bruchstelle zwischen (toraobservant-äußerlichem) »Judentum« und (torafrei-ethischem) »Christentum« gelesen werden. Das Beweisziel, dass die Mehrheitsmeinung hier gründlich daneben liegt, ist dementsprechend besonders ambitioniert. Boyarin liest Mk 7 als eine innerjüdische Kontroverse, in der die Position Jesu nicht die Bindung an die Tora aufkündigt, sondern sie gegen pharisäische Innovationen verteidigt. Zur Literarkritik als der in der christlichen Exegese üblichen Methode, sich der Schwierigkeiten des Kapitels zu entledigen, äußert sich Boyarin wie folgt: »Die Dämonen, die die ›Traditionsgeschichte‹ dieses Passus befallen haben, sind Legion; einige Gelehrte betrachten manche Verse als ursprünglich und andere als spätere Ergänzungen, während andere Gelehrte gerade das Gegenteil im Hinblick darauf behaupten, welche Verse ursprünglich und welche später hinzugefügt worden sind. Ich habe vor, diese Dämonen auszutreiben, indem ich sie ignoriere und den Text lese, wie er ist« (111). Zunächst ist zu Mk 7 grundsätzlich anzumerken: Thema des Kapitels ist mitnichten die Frage der Reinheit und Unreinheit von Speisen, auch wenn die berühmte Notiz in V. 19b (wörtlich: »reinigend alle Speisen«) stets so gelesen wurde. Thema ist vielmehr die Frage der 70 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Buchreport Übertragbarkeit von Unreinheit durch Berührung. Boyarin macht nun geltend, dass dies zwei völlig unterschiedliche Problemkreise, oder, wie er sagt, »Systeme« sind. Im einen System geht es um die Frage, welche Speisen »erlaubt« und »verboten« sind, im anderen hingegen darum, wie körperliche Unreinheit zu handhaben ist, und welche Rolle dabei Berührung spielt. Die pharisäische Position lautet: Unreinheit (die im Alltag immerzu zwangsläufig entsteht und keinesfalls einen moralischen Makel darstellt) kann durch Berührung auf Speisen übertragen werden, und durch den Verzehr der Speisen auf den Körper. Wichtig hieran ist: Die Frage, welche Speisen erlaubt und welche verboten sind, wird in Mk 7 überhaupt nicht diskutiert und deshalb in V. 19b auch nicht entschieden, und schon gar nicht in dem Sinn, dass man nun auf einmal essen dürfte, was man will. Diese klare Unterscheidung zweier Fragenkreise gilt unbeschadet der Tatsache, dass die biblischen und rabbinischen Quellen die »rein/ unrein«-Terminologie bisweilen auch auf dem Gebiet der erlaubten/ unerlaubten Speisen verwenden (113, Anm. 9). Jesus hält den Pharisäern entgegen, dass Speisen (koschere, versteht sich, von den unkoscheren ist gar nicht die Rede) durch Berührung nicht unrein werden können, dass die so alltägliche wie unvermeidbare Unreinheit, die man sich in mannigfaltigen Lebenssituationen nun einmal zuzieht, nicht durch Berühren auf Speisen übertragbar ist. In diesem Sinn ist V. 19b zu verstehen: Alles, was Juden essen dürfen, darf tatsächlich auch gegessen werden, unbeschadet der Frage, wer es wann berührt hat. Nun geht es unbestritten in Mk 7 auch um Ethik. In 7,6-13 deutet Jesus den Heuchelei-Vorwurf aus Jes 29,13 auf die Pharisäer, und die Jüngerunterweisung 7,20-23 enthält einen Lasterkatalog. Allerdings (und hier beruft sich Boyarin auf einen Aufsatz von Yair Furstenberg 1 ) wird nicht »das (jüdisch) rituell-Äußerliche« zugunsten »des (christlich) Ethischen« überwunden, sondern: Der zunächst ganz wörtlich zu verstehende Sachverhalt, dass Ausscheidungen (»was aus dem Menschen herauskommt«) verunreinigen, hat außerdem und zusätzlich eine übertragene Bedeutung. V. 15 beschreibt zunächst einen bloßen organischen Sachverhalt, der von Jesus in V. 18 f., nachdem die Jünger ihn nach der tieferen Bedeutung (V. 17: parabolē) fragen, nochmals als solcher erläutert wird. Erst in V. 20 findet die Übertragung statt, die strikt in genauer Entsprechung zum Bildspender funktioniert, d. h. aber: in genauer Entsprechung zur von der Tora geregelten Praxis. Die Pharisäer bringen beides durcheinander: Den rituellen Vollzug und, wie VV.6-13 vorwegnimmt, das ethische Verhalten. »Die Auslegung, die Jesus gibt, ist dazu da, den tieferen Sinn der Regeln der Tora auszudeuten, nicht dazu, sie zu beseitigen« (119). In aller Kürze sei darauf hingewiesen, dass V. 19b auch noch zur Erläuterung des Bildspenders gezogen werden kann, wie Wolfgang Stegemann gezeigt hat: 2 Die Phrase katharizōn panta ta brōmata (»reinigend alle Speisen«) beschreibt dann die »entgiftende« Wirkung des Verdauungsvorgangs. Dieses Verständnis liegt der Schlachter-Übersetzung zugrunde, die Mk 7,19 wie folgt wiedergibt: »Denn es kommt nicht in sein Herz, sondern in den Bauch und wird auf dem natürlichen Weg, der alle Speisen reinigt, ausgeschieden.« Erst recht in dieser Übersetzungvariante geht es im Mk 7 nicht darum, von der Tora »verbotene« Speisen für »erlaubt« zu erklären und damit die Tora an diesem Punkt außer Kraft zu setzen. Im vierten Kapitel »Der leidende Christus als ein Midrasch zu Daniel« (125-145) nimmt Boyarin den christologischen Faden wieder auf. So wie er bestreitet, dass »hohe Christologie« eine »christliche« Erfindung ex eventu war, bestreitet er auch, dass mit der Rede von einem leidenden Messias eine erst nach Jesu Tod ersonnene apologetische Figur vorliegt. Dabei geht es ihm durchaus nicht um den Nachweis, dass schon der irdische Jesus sich als leidender Messias bezeichnet hat (wie Boyarin sich überhaupt an der für die neutestamentliche Exegese geradezu konstitutiven Unterscheidung zwischen »echten Jesusworten« und »Gemeindebildung« schlechterdings uninteressiert zeigt), sondern dass die Idee eines leidenden Messias älter war als das Leiden des Messias Jesus, und zwar methodisch wie inhaltlich. Methodisch findet Boyarin in den Evangelientexten, die vom Leiden des Messias handeln, Midrasch-Exegesen reinsten Wassers (128; 133; 138), und inhaltlich sieht er den Gedanken eines leidenden Messias durch Dan 7,25 (der auf Israel gedeutete Menschensohn wird dreieinhalb Zeiten in der Gewalt des vierten Tieres sein) in Verbindung mit dem leidenden Gottesknecht aus Jes 53 als jüdische Denkmöglichkeit, wie sie etwa in den markinischen Leidensweissagungen ihren Niederschlag findet, hinreichend plausibilisiert. Keinesfalls liegt hier »die unvermeidliche und absolute Bruchstelle mit der Religion Israels« (139) vor. Dies erhellt auch daraus, dass auch in christlicher Zeit auf jüdischer Seite in dieser Hinsicht kein Denkverbot bestand. Vereinzelte rabbinische Traditionen vom Messias als dem leidenden Gottesknecht zeugen davon (139-145). In einem kurzen Nachwort (147- 149) resümiert Boyarin den Ertrag seines Buches wie folgt: »Wenn die Interpretation, die hier angeboten wird, stichhaltig ist, dann ist das Neue Testament sehr viel tiefer in das jüdische Leben und Denken während des Zweiten Tempels eingebettet, als viele gedacht hätten, selbst-- und dieses betone ich abermals-- in genau den Details, die wir als am charakteristischsten christlich-- im Gegensatz zu jüdisch-- angesehen haben: die Vorstellung einer zweifachen, dualen Gottheit mit einem Vater und einem Sohn, die Vorstellung eines Erlösers, der selbst sowohl Gott als auch Mensch sein wird, und die Vorstellung, dass dieser Erlöser im Zuge des Erlösungsprozesses leiden und sterben würde. Wenigstens einige dieser Ideen, die Vater/ Sohn- Gottheit und der leidende Erlöser, haben ebenfalls tiefe Wurzeln in der hebräischen Bibel und dürften sich unter einigen der ältesten Vorstellungen über Gott und die Welt befinden, die das israelitische Volk jemals vertrat.« (147). Wie kann man (abseits von kleinteiliger Kritik, die immer dann eine sichere Nummer ist, wenn sich ein Fachfremder ZNT 37 (19. Jg. 2016) 71 in hochspezialisierten Debatten zu Wort meldet) Boyarins Buch abschließend und zusammenfassend würdigen? Ich sage es so: Innerhalb der christlichen Theologie fällt der Neutestamentlichen Wissenschaft die Aufgabe zu, auf ihrem eigenen Grund und Boden, dem Terrain des Neuen Testaments, einen Dialog mit derjenigen Religion zu führen, der die Christen dieses Buch verdanken. In den neutestamentlichen Schriften ist die terminologische Unterscheidung »jüdisch/ christlich«, »Juden/ Christen«, »Judentum/ Christentum« bekanntlich nirgends belegt, erst recht nicht im Sinne jener Kontradiktion, die zuerst (Ps-) Ignatius der christlichen Theologie ins Stammbuch geschrieben hat. Auf neutestamentlichem Gebiet handelt es sich um einen längst erkannten, aber noch längst nicht beseitigten Anachronismus. Indem Boyarin als orthodoxer Jude und Talmud-Gelehrter exemplarisch eine Lektüre der Evangelien vorführt, die terminologisch und sachlich ohne Grenzziehungen zwischen »Judentum« und »Christentum« auskommt, dürfte er bei künftigen Versuchen, dem genannten Anachronismus beizukommen, überaus hilfreich sein. (rez. von Manuel Vogel) Anmerkungen 1 Y. Furstenberg, Defilement Penetrating the Body. A New Understanding of Contamination in Mark 7.15, NTS 54 (2008), 176-200. 2 W. Stegemann, Hat Jesus die Speisegesetze der Tora aufgehoben? Zur neuesten kontroversen Einschätzung der traditionellen Deutung des sog. »Reinheitslogions« von Mk 7,15, in: P. v.Gemünden u. a. (Hg.), Jesus, Gestalt und Gestaltungen. Rezeptionen des Galiläers in Wissenschaft, Kirche und Gesellschaft. Festschrift für Gerd Theißen zum 70. Geburtstag (NTOA 100), Göttingen 2013, 29-50. Matthias Luserke-Jaqui „Ein Nachtigall die waget“ Luther und die Literatur 2016, 239 Seiten €[D] 32,80 ISBN 978-3-7720-8590-1 Das Buch verfolgt den Wandel des Luther-Bildes in der Literatur. Matthias Luserke-Jaqui schaut mit dem Blick des Literaturwissenschaftlers auf die Entstehung und Tradierung des Luther-Bildes in der Geschichte. Dieses kulturelle Bild von Luther dient als Projektions äche individueller wie gesellschaftlicher Wünsche, es schwankt zwischen Monumentalisierung, Sakralisierung, Trivialisierung und Verkitschung bis hin zur völligen Ablehnung. Die Luther-Bilder der jeweiligen Zeit sammeln diese Tendenzen oder bringen sie recht erst hervor. Dabei wird die Rolle der Literatur untersucht, welchen Ein uss sie vorwegnehmend für die Ausbildung neuer Luther-Bilder nimmt oder inwiefern sie bestehende Luther-Bilder verharrend bewahrt. Der historische Bogen spannt sich von der Wittenbergischen Nachtigall des Hans Sachs, über Texte von Goethe, Hölderlin, Kleist, Werner, Klingemann bis hin zu Jochen Klepper und Thorsten Becker. NEUERSCHEINUNG Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (07071) 9797-0 \ Fax +49 (07071) 97 97-11 \ info@francke.de \ www.francke.de NEU Aus dem Inhalt: Vorwort 1 Einleitung - Martin Luther und die Literatur 2 Zwischen Bekenntnis und Verachtung - Das Luther-Bild in der Frühen Neuzeit 3 „Bruder Martin“ - Das ‚neue‘ Luther-Bild im 18. Jahrhundert 4 Zwischen Hymnik und Trivialisierung - Das Luther-Bild im 19. Jahrhundert 5 Das Luther-Bild in der Moderne