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ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
61
2016
1938 Dronsch Strecker Vogel
Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 1 - 3. Korrektur ZNT 38 (19. Jg. 2016) 1 Editorial Liebe Leserin, lieber Leser, das aktuelle Heft der ZNT ist einem Paulusbrief gewidmet, dem in der Forschung seit einiger Zeit eine gesteigerte Aufmerksamkeit widerfährt. Zum 2. Korintherbrief sind binnen zweier Jahrzehnte eine ganze Anzahl an Aufsätzen, Monographien und Sammelbänden erschienen, ebenso mehrere Kommentare, in deutscher Sprache zuletzt der zweibändige Kommentar von Thomas Schmeller im Evangelisch-Katholischen Kommentar (EKK), erschienen 2010 und 2015. Weitere Kommentare sind in Arbeit und in den nächsten Jahren zu erwarten. Stand der zweite Brief lange Zeit im Schatten des ersten, der zumal für sozialgeschichtliche Forschungen ein reiches Feld eröffnete, erfreut sich heute längst auch der 2. Korintherbrief eines regen Interesses, denn mehr noch als sein Vorgänger vermittelt er ein anschauliches Bild von der höchst dynamischen, weithin aber auch dramatischen und konfliktreichen Beziehung zwischen Paulus und der von ihm gegründeten Gemeinde im achäischen Korinth. Liest man den 2Kor von Anfang an bis zum Schluss, erlebt man ein Wechselbad der Emotionen von gutem Zureden, werbender Zuneigung, ernster Ermahnung und manifester Drohung, und dies in einer Abfolge und Abruptheit, dass modernes psychologisches Empfinden regelmäßig seine liebe Not damit hat. Schon lange versucht die Literarkritik hier Ordnung zu schaffen und die versöhnlichen und die kritischen Töne dieses Briefes durch Umstellung einzelner Briefteile in eine nachvollziehbare Reihenfolge zu bringen. Andererseits reißen aber auch Versuche nicht ab, den 2Kor in seiner kanonischen Gestalt zu interpretieren und die mancherlei Wechsel in Tonlage und Stimmung als Ausdruck einer komplexen Argumentation und Situation zu verstehen. Der erste Beitrag des Heftes unter der Rubrik »NT aktuell« von Peter Arzt-Grabner votiert für diese zweite Möglichkeit. Arzt-Grabner, der 2014 in der Reihe Papyrologische Kommentare zum Neuen Testament den Band zum 2. Korintherbrief vorgelegt hat, stellt die Paulusbriefe in den Kontext antiker Privat- und Geschäftsbriefe und erschließt damit einen wichtigen Quellenbereich hellenistischer Epistolographie. Für die Diskussion um die literarische Einheitlichkeit des 2Kor sind die Papyrusbriefe nicht zuletzt deshalb von einiger Bedeutung, weil sie Vergleichstexte für die in 2Kor so auffälligen Stimmungswechsel bieten, die bei Teilungshypothesen stets eine wichtige Rolle spielen. Die beiden Beiträge unter der Rubrik »Zum Thema« betrachten den 2Kor im Licht antiker Rhetorik. Ivar Vegge untersucht den Paulusbrief auf briefrhetorische Stilmittel, die auch in Texten antiker Popularphilosophie, Psychagogik und Epistolographie eine Rolle spielen. Eine seiner Entdeckungen ist das »idealisierte Lob« (idealized praise), das in mahnender Absicht vorgetragen wird. Wo es in 2Kor vorliegt, kann es als ein Hinweis darauf gelesen werden, dass der Konflikt in den versöhnlichen Passagen der Kapitel 1-7 wider den ersten Augenschein noch keineswegs beigelegt ist. Dies eröffnet die Möglichkeit, die in der Tat sonderbare Abfolge von »Versöhnung« (Kap. 1-7) und »Streit« (Kap. 10-13) als Teil einer kohärenten Gedankenbewegung zu verstehen. Auch Laurence L. Welborn stellt den 2Kor in den Zusammenhang literarischer Rhetorik. Er fragt nach der Identität des rätselhaften »Unrechttäters«, auf den Paulus mehrfach zu sprechen kommt. Dass er ihn nicht mit Namen nennt, ist, so Welborn, Teil einer »emotionalen Therapie«, die Bloßstellung vermeiden und die Türen zur Versöhnung weit offen halten soll. Der Erkundungsgang durch die Korintherbriefe, ob es wohl gelingt, den »Unrechttäter« zu identifizieren, bietet reiche Einblicke in die Entstehungsgeschichte und Eigenart des korinthischen Konflikts. In der Kontroverse dieses Heftes geht es um die unerledigte Streitfrage, ob der 2Kor in seiner kanonischen Gestalt sinnvoll interpretiert werden kann, oder ob dies nur unter Zugrundelegung einer Briefteilungshypothese möglich ist. Mit Reimund Bieringer und Lars Aejmelaeus wird diese Kontroverse von zwei wichtigen Akteuren der neueren Forschung zum 2Kor bestritten, die ihre bis heute widerstreitenden Positionen immer wieder auch im gemeinsamen Gespräch artikuliert haben. Ganz unberührt von Fragen der Literarkritik ist der Beitrag von Thomas Schmeller unter der Rubrik »Hermeneutik und Vermittlung«. Am Beispiel der paulinischen Rede von Schwachheit und Kraft in 2Kor 12,7-10 fragt Schmeller, ob und inwiefern Aussagen des 2Kor für heutiges Christsein maßgeblich sein können. In der Durchführung ist die Behandlung dieser hermeneutischen Frage freilich durch und durch exegetisch, wenn nach der Extension der 1. Person Plural gefragt wird: Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 2 - 3. Korrektur 2 ZNT 38 (19. Jg. 2016) Editorial Wenn Paulus »Wir« sagt, wen meint er dann eigentlich? Nur sich selbst, sich selbst und seine Mitarbeiter, oder inklusiv auch die Adressaten? Die Frage, wo im 2Kor »wir« gemeint sind, wird also methodisch an die Frage geknüpft, wo Paulus mit diesen »Wir«-Aussagen seiner damaligen Gemeinde etwas sagen wollte. Der Buchreport von Manuel Vogel befasst sich mit einer Monographie aus dem Jahr 2015, die eindrücklich zeigt, dass es auch im intensiv erforschten 2Kor noch »neues unter der Sonne« geben kann: Christopher D. Land hat den 2Kor einer linguistischen Analyse unterzogen, die an nicht wenigen Stellen Aufsehen erregen dürfte. In eigener Sache ist zu berichten, dass seit Erscheinen des letzten Heftes zwei verdiente Mitglieder aus dem erweiterten Kreis der Herausgeberinnen und Herausgeber der ZNT ausgeschieden sind, nämlich Herr apl. Prof. Dr. Peter Busch und Herr Prof. em. Dr. François Vouga. Peter Busch, Gründungsmitglied der ZNT, ist durch neue berufliche Aufgaben beansprucht, und François Vouga, der mit Heft 14 zur ZNT hinzugestoßen ist, hat entsprechend den Statuten der ZNT mit Eintritt in den Ruhestand seine Mitarbeit bei der ZNT beendet. Beiden verdankt die ZNT über viele Jahre wichtige Impulse und gute Ideen. Beiden wünschen wir für ihre weitere Zukunft alles Gute, und wir freuen uns, wenn sie der ZNT weiterhin wohlwollend und interessiert verbunden bleiben. Nun wünschen wir Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, eine anregende und ertragreiche Lektüre. Eckart Reinmuth Stefan Alkier Manuel Vogel Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 3 - 3. Korrektur ZNT 38 (19. Jg. 2016) 3 Die Papyrologie ist eine relativ junge Disziplin. Abgesehen von den Papyri aus Herculaneum, die ab 1752 gefunden wurden und aufgrund der äußerst diffizilen Entrollung und Konservierung der verkohlten und zu Klumpen »gebackenen« Rollen und aufgrund deren Inhalts (fast ausschließlich philosophische Texte) nach wie vor einen Spezialbereich des Faches darstellen, beginnt die Papyrusforschung mit dem dänischen Klassizisten Niels I. Schow, der 1788 eine dreieinhalb Meter lange Rolle mit Abrechnungen über Deicharbeiten aus dem Jahre 193 v. Chr. edierte (P.Schow = SB I 5124; auch bekannt als Charta Borgiana). Der wirklich entscheidende Beginn der Papyrologie wird mit dem sog. »Ersten Fayumer Fund« 1877 angesetzt, als Fellachen auf der Suche nach Dünger in el-Faris, einem Teil der antiken Fayum-Hauptstadt Arsinoe, einen antiken Müllhaufen umgruben und dabei beschriebene Papyri fanden. Diese landeten auf dem Antiquitätenmarkt von Kairo, wurden dort vom österreichischen Händler Theodor Graf gekauft und nach Wien gebracht, wo sie schließlich den Kernbestand der »Papyrussammlung Erzherzog Rainer« bildeten, die heute mit etwa 180 000 Objekten die zweitgrößte Papyrussammlung der Welt darstellt. Die weltgrößte Papyrussammlung ist jene der Oxyrhynchos- Papyri in Oxford mit einer halben Million Papyrusfragmenten, die von Bernard P. Grenfell und Arthur S. Hunt ergraben wurden. In der Altertumsforschung wurde lange Zeit von einem »Sonderfall Ägypten« gesprochen, da vieles, was die Papyri über Ägypten aussagen, nicht in Inschriften aus anderen Provinzen auftaucht. Gerade durch die Papyrologie wurde dieses Sonderfall-Konzept aber in den letzten Jahrzehnten widerlegt, denn einerseits wurde deutlich, dass Unterschiede zum Teil durch die unterschiedlichen Textsorten und Genres begründet sind, die entweder dauerhaft in Stein gemeißelt oder anders auf die vergänglichen Beschreibstoffe Papyrus, Ton und Holz oder Wachs geschrieben wurden, andererseits haben vereinzelte Funde von Papyri, Ostraka oder Täfelchen aus Israel, Libyen, Jordanien, Syrien, Indien, Afghanistan, Griechenland, Italien, Rumänien, Großbritannien und der Schweiz nach ihrem Vergleich mit den Dokumenten aus Ägypten gezeigt, dass die groben Züge der antiken griechisch-römischen Geschäftswelt, der rechtlichen Prozesse und Verwaltung sowie des Privatlebens im ganzen Imperium dieselben waren. Dass sich demgegenüber auch regionale und lokale Eigenheiten aufgrund des stetig anwachsenden Vergleichsmaterials immer deutlicher beschreiben lassen, ist dazu kein Widerspruch. 1. Papyrusbriefe und Paulusbriefe Das bisher Gesagte gilt auch für mehrere tausend Briefe, die auf Papyrus und verwandtem Material erhalten geblieben sind. Der bisher älteste sicher datierbare, aber nur fragmentarisch erhaltene griechische Papyrusbrief wurde am 27. Mai 268 v. Chr. von einem gewissen Lykomedes an einen Hippodamos geschrieben (P.Sorb. I 9), die jüngsten Beispiele stammen aus dem 8. Jahrhundert, also der früharabischen Zeit Ägyptens (z. B. CPR XXII 7 [751-752], das amtliche Schreiben eines gewissen ’Abd al-Malik ben Yazîd, eines Untergebenen des Pagarchen). Zu den Papyrus- und Ostrakabriefen aus Ägypten sind inzwischen lateinische und griechische Papyrusbriefe aus Israel-Palästina hinzugekommen, 1 ferner Briefe aus Syrien, 2 lateinische Ostrakabriefe aus Libyen 3 und lateinische Briefe auf mit Tinte beschriebenen Holztäfelchen aus Vindolanda am Hadrianswall 4 sowie auf Wachstäfelchen aus Vindonissa in der Schweiz. 5 In der neutestamentlichen Exegese wurde lange Zeit (und wird vereinzelt heute noch) die Meinung vertreten, die Paulusbriefe seien doch etwas ganz anderes als die privaten Papyrusbriefe, von denen sie sich durch ihre Länge, ihren gehobenen Stil und ihre komplexen (und theologischen) Inhalte deutlich unterscheiden würden. Aus mehreren Gründen ist diese Ansicht so nicht mehr haltbar. Zunächst ist zu den Briefen berühmter Persönlichkeiten der Antike festzuhalten, dass diese nicht per se als literarische Briefe (oder Episteln) zu bezeichnen und von Briefen persönlichen Charakters zu unterscheiden sind, denn zur Literatur wurde ein Brief »nicht durch seinen Inhalt, sondern durch seine Publikation, die des Inhalts oder des Verf[assers] wegen erfolgen konnte«. 6 Auch die meisten in Sammlungen überlieferten Briefe antiker Schriftsteller oder Philosophen wurden zunächst als Privatbriefe verfasst und enthalten-- auch noch nach der redaktionell überarbeiteten Publikation-- manche Teile, die aufgrund ihres Bezugs auf eine antike Privat- Peter Arzt-Grabner Dokumentarische Papyri und 2. Korintherbrief Neues Testament aktuell Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 4 - 3. Korrektur 4 ZNT 38 (19. Jg. 2016) Neues Testament aktuell um in einem einzigen Original erhaltene Papyrusbriefe handelt: die vielen Unklarheiten, die sie für uns heute enthalten. Diese gehören aber ganz einfach zur Textsorte dazu. Sie sind kennzeichnend für den Kommunikationsprozess, von dem nur die eine Seite erhalten geblieben ist oder nur ein Text, der auf andere, nicht mehr erhaltene Briefe Bezug nimmt. Wie für überaus zahlreiche Papyrusbriefe gilt dies auch für die Paulusbriefe. Der 2Kor ist hier bekanntlich ein besonders gutes Beispiel. Was die Länge antiker Briefe betrifft, so handelt es sich bei der großen Mehrheit um kurze Exemplare, die auf einem mehr oder weniger kleinen Papyrusblatt (herausgeschnitten aus einer im Papyrusladen erworbenen Rolle) 8 Platz fanden. Dies gilt für die meisten Papyrusbriefe ebenso wie z. B. für viele Cicerobriefe. Längere Briefe wurden auf eine Papyrusrolle in Kolumnen geschrieben, wie z. B. P.Ammon I 3 mit BL XII 4 (26. Mai-- 24. Juni 348? n. Chr.), der bisher längste Privatbrief aus griechisch-römischer Zeit, dessen Länge immerhin ziemlich genau jener des Gal entspricht; die Textmenge des kanonischen 2Kor ist etwa doppelt so umfangreich. 9 Auch was Stil, Sprach- und Bildungsniveau antiker Briefe betrifft, ist P.Ammon I 3 ein interessantes Beispiel. Soweit wir wissen, hatte der Absender, der Anwalt Aurelius Ammon, eine höhere Bildung genossen, und mehrere Mitglieder seiner Familie waren als Priester innerhalb der traditionellen ägyptischen Religion tätig. Obwohl es sich bei P.Ammon I 3 um einen reinen Privatbrief handelt, der an Ammons Mutter Senpetechensis alias Nike, die zweite Frau seines Vaters, gerichtet ist, fällt im Vergleich mit anderen Privatbriefen auf, dass der Absender die sonst kurzen Nachrichten oder Anfragen mit philosophischen Gedanken beleuchtet. So begründet er z. B. die offensichtlich unglücklichen Umstände, denen die Familie gerade ausgesetzt ist, mit der Macht des Schicksals (tychē), das alles beherrsche und für alle Menschen alles bestimme; es teile zu, wenn es wolle, und nehme eben auch wieder weg. Oder beobachtet man, wie oft und ausführlich Ammon mit unterschiedlichen Worten seiner Mutter gegenüber versichert, wie sehr er sich danach sehnt, sie wieder zu sehen, so lässt sich dies durchaus mit der Ausführlichkeit vergleichen, mit der Paulus gegenüber der christlichen Gemeinde in Korinth beteuert, sie noch einmal besuchen zu wollen (vgl. 2Kor 12,14-13,2 und auch 1,15-23). Dass sich ein Paulus von Tarsus aufgrund der gehobenen Sprache und der Länge der meisten seiner Briefe vom Gros der situation für uns Heutige unverständlich sind (so z. B. viele Briefe Ciceros oder Senecas), während andererseits auch private Papyrusbriefe manchmal zeitloses und allgemein verständliches Gedankengut bieten. Die Grenze zwischen sogenannten literarischen Briefen und persönlichen (Papyrus-)Briefen ist also nicht klar zu ziehen. Ähnliches gilt für die Unterscheidung von Briefen privaten Charakters und Geschäftsbriefen, Empfehlungsbriefen, Verwaltungsbriefen usw., da z. B. auch Briefe unter Familienmitgliedern und Freunden oft geschäftlichen Inhalts sind oder Beamte aufgrund jahrelanger Zusammenarbeit in ihrer Korrespondenz manchmal ein kollegiales oder sogar freundschaftliches Verhältnis zum Ausdruck bringen. 7 In der Praxis wird kaum ein Brief einem einzigen Genre allein angehören, sondern Formelemente mehrerer Typen aufweisen, wofür die Papyrusbriefe mehrere tausend Beispiele liefern. Ein bestimmter Kondolenzbrief z. B. kann gleichzeitig ein Freundschaftsbrief sein und Ermutigungen, Lebensanweisungen (oder -weisheiten) und Ermahungen enthalten, ohne dass dies für alle Kondolenzbriefe gilt. Eine Eigenheit ist fast allen antiken Briefen gemein, gleichgültig ob es sich dabei um publizierte Briefe oder Prof. Dr. Peter Arzt-Grabner, Jahrgang 1959, Studien der Theologie und Klassischen Philologie in Salzburg und Rom, 1991 Promotion zum Dr. theol., 2006 Habilitation für Papyrologie, seit 2007 Professor für Papyrologie am Fachbereich Bibelwissenschaft und Kirchengeschichte der Universität Salzburg, seit 2009 Leiter der Forschungsabteilung Papyrologie. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören: Edition und Auswertung dokumentarischer Papyri, Kultur des hellenistischen Alltags, Hellenistisches Griechisch (Koine), Neutestamentliche Textkritik. Seit 2003 ist er Mitherausgeber der von ihm initiierten Reihe »Papyrologische Kommentare zum Neuen Testament« (Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen). Prof. Dr. Peter Arzt-Grabner »Die Grenze zwischen sogenannten literarischen Briefen und persönlichen (Papyrus-)Briefen ist […] nicht klar zu ziehen.« Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 5 - 3. Korrektur ZNT 38 (19. Jg. 2016) 5 Peter Arzt-Grabner Dokumentarische Papyri und 2. Korintherbrief privaten Briefschreiberinnen und Briefschreiber abhebt, ist unbestritten. Wie P.Ammon I 3 und weitere Beispiele aber zeigen, ist dies im Vergleich mit Papyrusbriefen nicht als etwas absolut Einzigartiges zu sehen. Neben P.Ammon I 3 gilt dies z. B. auch für die Briefe eines gewissen Heliodoros, der jeden seiner Briefe (alle 90- 133 n. Chr.) schon zu Beginn, gleich anschließend an den Eingangsgruß, kunstvoll ausschmückt. So schreibt er an seinen Vater Sarapion-- P.Sarap. 85,3-7: »Kaum einmal, dass ich deinen Brief erhielt, freute ich mich, dass du wohlauf bist gemäß unseren Gebeten. Und ich freue mich immer, wenn ich Leute finde, die stromaufwärts segeln, durch die ich dich grüßen lasse, auch wenn es nichts Neues gibt, um es dir zu berichten.« Seinem Bruder Phibas gegenüber betont er in P.Sarap. 89,3-12: »Mehr als ihr, wenn ihr die Briefe, die ich sende, empfangt, freue ich mich darüber, sie zu schreiben und euch dabei zu grüßen. Deshalb bin ich auf diejenigen bedacht, die flussaufwärts segeln,10 und belästige jeden damit, euch eine Garantie dafür zu übermitteln, dass ich nicht vergesse, was sich gehört.« Ähnliches gilt auch für den Schreiber von BGU IV 1141 (wahrscheinlich 14-13 v. Chr.), für einen gewissen Ammonios, den Absender von P.Oxy. XLII 3057 (1./ 2. Jh. n. Chr.) 11 , ferner z. B. für P.Oxy. LXXIII 4959 (2. Jh. n. Chr.) und P.Pintaudi 55 (spätes 3./ 1. Hälfte 4. Jh. n. Chr.). 12 Die Grenzen der Vergleichbarkeit von Paulusbriefen mit Papyrusbriefen sind also viel weniger grundsätzlich hinsichtlich Genre, Stil und Niveau zu ziehen als hinsichtlich der zeitlichen Rahmenbedingungen. Für die Papyrologischen Kommentare zum Neuen Testament haben wir diese aus guten Gründen mit dem 3. Jh. v. Chr. und dem 3. Jh. n. Chr. gezogen. 13 2. 2Kor und dokumentarische Papyri Wie schon in den vorhergehenden Bänden der PKNT konnte auch im 4. Band zum 2Kor gezeigt werden, in welch vielfältiger Weise und in welchem Ausmaß das papyrologische Vergleichsmaterial neue Erkenntnisse zum Briefformular (z. B. dass eine Danksagung am Beginn des Briefcorpus nicht zu vermissen ist, sondern aufgrund des gestörten Verhältnisses zwischen Paulus und der Gemeinde tatsächlich fehl am Platze wäre), zur Ausgangssituation (z. B. zum aufgeschobenen Besuch, zur Verwendung von Sekretären und zu den Briefboten), zu einzelnen Abschnitten und Themen (z. B. zum Genre der Empfehlungsbriefe oder zur Kollekte) sowie zu Wendungen und Begriffen zeitigte. 3. Ein unerwartet ergiebiges Beispiel: Papyrusbriefe und Kompilationshypothesen Unerwartet umfangreich sind die Ergebnisse, die sich aufgrund des Vergleichs mit Papyrusbriefen zu Teilungs- und Einheitlichkeitshypothesen des 2Kor ergeben haben. Dabei wird-- ähnlich wie beim Vergleich mit Cicerobriefen durch Hans-Josef Klauck 14 und Thomas Schmeller 15 -- versucht, die Argumente (und zwar sowohl die pro als auch die contra Teilung) über den rein innerpaulinischen Vergleich hinauszuheben und angesichts des griechisch-römischen Briefverkehrs zu beurteilen. Da die Papyrus- und Ostrakabriefe in authentischer, also ursprünglicher Form erhalten sind und keinem sekundären Redaktionsprozess unterzogen wurden, erlaubt der papyrologische Vergleich einen relativ genauen Einblick in die damaligen Gegebenheiten des Schreibens und Empfangens/ Lesens von Briefen, ganz unabhängig von modernen Überlegungen, wie es gewesen sein könnte. Auch wenn das Bild, das selbst die originalen Papyrusbriefe bieten, aufgrund der lückenhaften Überlieferung immer unvollständig bleiben wird, so zeigt es zumindest einen relativ umfangreichen Teil dessen, was es tatsächlich »Dass sich ein Paulus von Tarsus aufgrund der gehobenen Sprache und der Länge der meisten seiner Briefe vom Gros der privaten Briefschreiberinnen und Briefschreiber abhebt, ist unbestritten.« »Da die Papyrus- und Ostrakabriefe in authentischer, also ursprünglicher Form erhalten sind und keinem sekundären Redaktionsprozess unterzogen wurden, erlaubt der papyrologische Vergleich einen relativ genauen Einblick in die damaligen Gegebenheiten des Schreibens und Empfangens/ Lesens von Briefen, ganz unabhängig von modernen Überlegungen, wie es gewesen sein könnte.« Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 6 - 3. Korrektur 6 ZNT 38 (19. Jg. 2016) Neues Testament aktuell »[E]s [ist] wichtig zu sehen, dass der papyrologische Vergleich nichts über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der verschiedenen Hypothesen auszusagen vermag, vielmehr geht es um Einschätzungen des Grades an Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit gegenwärtiger und zukünftiger Erklärungsmodelle.« gegeben hat. Diesbezüglich ist es wichtig zu sehen, dass der papyrologische Vergleich nichts über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der verschiedenen Hypothesen auszusagen vermag, vielmehr geht es um Einschätzungen des Grades an Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit gegenwärtiger und zukünftiger Erklärungsmodelle. Während-- wie eben erwähnt-- Papyrus- und Ostrakabriefe in ursprünglicher Form erhalten sind, liegen uns von den unter dem Namen des Paulus überlieferten Briefen nur Kopien innerhalb einer Sammlung vor. Alle Briefe des Corpus Paulinum haben einen Redaktionsprozess unterlaufen, auch wenn wir über die genauen Details dieses Prozesses nur relativ wenig erheben können. Doch schon allein aufgrund dieser Tatsache erscheint es als grundsätzlich begründet, nicht von der Einheitlichkeit dieser Schriften als gegebenes Faktum auszugehen. Die Korinthische Korrespondenz des Paulus und insbesondere 2Kor gelten nach wie vor als Musterbeispiel für Teilungshypothesen. 16 Immerhin ist mit Sicherheit davon auszugehen, dass es ursprünglich mehr als zwei Briefe des Paulus an die Korinther gegeben hat, und zwar mindestens vier (beachte die in 1Kor 5,9 sowie 2Kor 7,8.12 erwähnten). Dass sich in der handschriftlichen Überlieferung keine Indizien für eine Kompilation finden lassen (im Gegensatz z. B. zu Mk 16,9-20 oder Joh 7,53-8,11), 17 bedeutet, dass eine eventuelle Komposition aus mehreren Briefen in einem sehr frühen Stadium des Sammelns und Publizierens der Paulusbriefe stattgefunden haben müsste, womöglich an dessen Beginn. Im Verlauf literarkritischer Forschungen am 2Kor meinte man, in der kanonischen Fassung bis zu sieben separate Paulusbriefe 18 identifizieren zu können. Im Folgenden werde ich aus papyrologischer Sicht auf den markantesten Anknüpfungspunkt für Teilungshypothesen näher eingehen, auf den Wechsel im Ton sowie inhaltliche und sprachliche Unterschiede zwischen Kap. 1-9 und 10-13, die auf unterschiedliche Briefsituationen bezogen werden. 19 3.1. Emotionaler und inhaltlicher Bruch zwischen 2Kor 1-9 und 10-13 Im Unterschied zum versöhnlichen Ton, den Paulus in 2Kor 1-9 anschlägt, sieht man die Kap. 10-13 von einem kritischen, z.T. vorwurfsvollen Ton geprägt. Diesen Wechsel zu erklären, bemühen sich sowohl unterschiedliche Teilungshypothesen als auch unterschiedliche Einheitlichkeitshypothesen. Die Annahme, bei Kap. 10-13 handle es sich im Wesentlichen um die Reste des in 2Kor 7,8.12 erwähnten Briefes, geht zurück auf A. Hausrath und wird deshalb auch als Hausrath-Hypothese bezeichnet. 20 Andere sehen hinter den beiden Abschnitten zwei separate Briefe, die Paulus kurz nacheinander geschrieben habe, bevor er von Makedonien zum dritten Besuch nach Korinth aufbrach, und zwar zuerst einen »Versöhnungsbrief« (2Kor 1-9) und kurze Zeit später den sog. »Vierkapitelbrief« (2Kor 10-13). 21 Demgegenüber nimmt C.S. Keener an, Paulus habe 2Kor 1-9 und 10-13 als separate Briefe verfasst und versiegelt und sodann durch Titus auf derselben Misson der Gemeinde in Korinth überbringen lassen, wo sie als Einheit gelesen worden wären. 22 2Kor sei nur deshalb nicht schon als einheitlicher Brief geschrieben worden, weil der erste Brief (nämlich 2Kor 1-9) bereits versiegelt gewesen und das Siegel-- so Keener-- wie üblich nicht mehr geöffnet worden wäre. Dagegen ist einzuwenden, dass wir keinen einzigen Hinweis darauf haben, dass der 2Kor oder Teile davon versiegelt waren. Papyrologisch belegt ist sogar der Fall, dass zwei Briefe, die am selben Tag geschrieben und abgeschickt wurden, im offenen Zustand einfach übereinandergelegt wurden (P.Cair.Zen. I 59 061 und P.Lond. VII 1941; der Eingang beider Briefe beim Empfänger wurde am 5. Mai 257 v. Chr. vermerkt). Ferner ist anzumerken, dass die Briefsender weitere Briefe eines Tages rein formal nicht einfach als eine Art Zusatz zu einem ersten Brief verfasst, sondern jeden Brief für sich als separates und in sich abgeschlossenes Schreiben gestaltet haben. Vom Briefempfänger wurden derartige Briefe auch insofern separat wahrgenommen, als er sie einzeln mit Eingangsvermerken versah. 23 Somit muss auch Keeners Hypothese als Teilungshypothese gesehen werden, die aber aus den genannten Gründen als unplausibel ausgeschieden werden kann. Schon lange vor Keener wurde als Reaktion auf Teilungshypothesen versucht, den 2Kor als in Teilen verfassten, aber einheitlich versandten Brief zu interpretieren. Für das Verfassen der beiden Teile wird dabei mit einem zeitlichen Abstand gerechnet, der groß genug gewesen sein soll, um darin die Gründe für einen Stimmungswechsel oder eine veränderte Beschreibung ein und derselben Briefsituation unterbringen zu können. Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 7 - 3. Korrektur ZNT 38 (19. Jg. 2016) 7 Peter Arzt-Grabner Dokumentarische Papyri und 2. Korintherbrief Aus papyrologischer Sicht ist die Annahme der Abfassung eines Briefes in mehreren Teilen mit zeitlichem Abstand dazwischen zunächst durchaus erwägenswert und durch Beispiele belegbar. Bei diesen Beispielen ist aber auffällig, dass die Briefsender relativ deutliche Hinweise geben, wenn während der Abfassung des Briefes etwas vorgefallen ist, das zu einer Unterbrechung oder zu einem späteren Nachtrag geführt hat (siehe z. B. P.Mich. VIII 476,20-21; 477,32-39; 490 [alle 2. Jh. n. Chr.]). 24 In 2Kor fehlt aber jeglicher Hinweis dieser Art. Auch gibt Paulus nirgends ausdrücklich an, dass die Titusgruppe zurückgekehrt sei, 25 wohingegen er das Zusammentreffen mit Titus in Makedonien zuvor ausdrücklich erwähnt hat (vgl. 7,6-7). 26 Gegen die These, Paulus habe die Dreiergruppe ohne Brief vorausgeschickt und wollte den 2Kor mit den Empfehlungen erst nachsenden, spricht aber vor allem das Wesen antiker Empfehlungsbriefe selbst, das ja gerade darin besteht, diese Briefe den Personen, die empfohlen werden, tatsächlich mitzugeben. Dass Paulus ausgerechnet zu einer schwierigen Mission seine Mitarbeiter einfach losgeschickt hätte, den sie autorisierenden und empfehlenden Brief aber nachschicken wollte, ist deshalb unwahrscheinlich. Wie bereits erwähnt, wird nach wie vor versucht, eine bereits ursprüngliche Einheitlichkeit des 2Kor so zu erklären, dass das gesamte Schreiben auf eine einheitliche Situation Bezug nehme, diese aber sehr unterschiedlich-- sowohl inhaltlich als auch emotional-- beschreibe. Vertreterinnen und Vertreter dieser Hypothese weisen z. B. darauf hin, dass bereits in 2Kor 5,20; 6,1; 6,12-13; 7,2 ein schärferer Ton und Hinweise auf gravierende Probleme zu erkennen sind. Doch auch wenn man die Unterschiede im Tonfall zu verharmlosen und Anzeichen dafür auch im jeweils anderen Teil von 2Kor auszumachen versucht, in ihrer Grundsätzlichkeit bleiben diese Unterschiede dennoch bestehen. Von papyrologischer Seite kann hier zunächst gefragt werden, inwieweit es vor dem Hintergrund originaler Papyrusbriefe wahrscheinlich ist, dass sich derart emotional unterschiedliche Beschreibungen wie in 2Kor 1-9 gegenüber 10-13 einer gemeinsamen Briefsituation zuordnen lassen. Das aufschlussreichste Beispiel in dieser Hinsicht ist der relativ lange Privatbrief P.Oxy. VII 1070 (3. Jh. n. Chr.), dessen gehobener Stil von Beginn an auffällt. Ein gewisser Aurelius Demareus schreibt hier an seine Schwester und Ehefrau und beginnt mit einem ungewöhnlich langen und nahezu vornehm formulierten Gebetsbericht-- Z. 2-12: »Das von mir bei allen Göttern aufsteigende Gebet für dein Wohlergehen und das unseres Kindes und deines Bruders und deines Vaters und deiner Mutter und all der Unseren fleht nun auch noch viel mehr im großen Serapeum; den großen Gott Serapis bitte ich sowohl um euer Leben als auch das all der Unseren und um die nützlichen Hoffnungen, die unter den Menschen gehegt werden.« Ein anschließender erster Teil des Briefcorpus vermittelt das Bild einer intakten, liebevoll miteinander verbundenen Großfamilie, die bei rechtlichen Angriffen von außen fest zusammenhält und der es wirtschaftlich offenbar an nichts fehlt. Demareus ermuntert seine Gattin-- Z. 22-26: »Und auf die Pflege und Sorge für dich selbst sei vor allem bedacht […], ohne an dem, was wir haben, zu sparen.« Sodann erwähnt er nicht nur sechs Kotylen Seiretischen Öls (ca. 1,64 Liter), sondern auch einen Korb voll Süßigkeiten, den er mit dem Brief mitschickt. Anschließend beschreibt er den aktuellen Stand und die nächsten Schritte ihrer Rechtsangelegenheiten, bevor er mit einem Gruß und der Bitte, auch »all den Unsrigen namentlich Grüße auszurichten« schließt. Doch der Text fährt in der Zeile fort und wechselt abrupt zu einem zynischen, aggressiven Ton-- Z. 47-52: »Und ich danke euch sehr, dass ihr, während ich euch oft geschrieben habe, überhaupt nicht geschrieben und nicht meiner gedacht habt, was die Sicherheit unseres Hauses betrifft, wie ich auch oft durch schriftliche Nachrichten und Briefe und persönlich anwesend aufgetragen habe. Sei diesbezüglich nicht nachlässig, es sei denn, du hast vor, das Hüten des gesamten Hauses mit dir gemeinsam an Heraïs zu übertragen, die ja unnütz ist, und-- was nicht sein möge-- am Ende geht alles drunter und drüber.« Bis zum endgültigen Schluss des Briefes bleibt dieser Ton unversöhnlich. Der mitten in Z. 47 beginnende Teil vermittelt den Eindruck eines Haushalts, in dem so ziemlich alles im Argen liegt: der Briefsender beklagt plötzlich die einseitig laufende Korrespondenz und fühlt sich vernachlässigt. Die wirtschaftliche Situation des Hauses wird jetzt auf einmal als ernst beschrieben: »Aus papyrologischer Sicht ist die Annahme der Abfassung eines Briefes in mehreren Teilen mit zeitlichem Abstand dazwischen […] durchaus erwägenswert und durch Beispiele belegbar.« Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 8 - 3. Korrektur 8 ZNT 38 (19. Jg. 2016) Neues Testament aktuell wenn nicht gleich etwas geschehe, würde wegen der Unfähigkeit der Ehefrau und einer ohnehin unnützen Haussklavin bald alles auseinanderbrechen. Aufgrund der erwiesenen Einheitlichkeit des Briefes (es liegen auch kein Schreiberwechsel vor und keinerlei Anzeichen in Schrift und Tinte, die als Hinweis auf eine Unterbrechung des Schreibflusses an der relevanten Stelle gewertet werden könnten) ist davon auszugehen, dass (auch) dieser Teil dem Anliegen dient, das sich als gemeinsamer Nenner aller Briefteile erweist: die Aufrechterhaltung bzw. Intensivierung des persönlichen Kontaktes und die andauernde wirtschaftliche Prosperität des Familienunternehmens. Von dieser Art von Papyrusbriefen her 27 ist für 2Kor zu fragen, ob auch die dortigen Spannungen in einer vergleichbaren Bandbreite liegen, die es noch erlaubte, das Schreiben als ursprünglich einheitliches zu erklären. 28 3.2. Eindeutig unterscheidbare Briefsituationen Um eindeutig unterscheidbare Briefsituationen aus Papyrusbriefen zu erheben, wurden Briefsammlungen daraufhin abgeklopft, ob im Original erhaltene separate Briefe zwischen identischen Briefpartnerinnen oder -partnern im Falle einer probeweise durchgeführten Kompilation noch eindeutig voneinander zu unterscheiden wären. In Betracht kamen somit sog. Papyrusarchive, also Korrespondenzen, die mehrere Schriftstücke umfassen und eindeutig einander zuzuordnen sind. 29 Dabei konnten Paare separater Papyrusbriefe mit kaum unterscheidbaren Briefsituationen im Falle einer Kompilation von solchen unterschieden werden, die nur teilweise problemlos kompiliert werden könnten, weil sie auch Elemente enthielten, die eindeutig für unterschiedliche Briefsituationen sprechen. Von den Briefen blieben jeweils nur Eingangs- und Schlussteile unberücksichtigt, die Briefcorpora hingegen wurden in unveränderter Form übernommen. Eine Kompilation der zweiten Gruppe wäre somit leicht erkennbar 30 oder nur durch gravierende redaktionelle Änderungen zu verschleiern. Das sog. Archiv des Athenodoros (publiziert in BGU XVI) stammt aus der Zeit des Augustus und ist deshalb auch zeitlich besonders aussagekräftig für einen Vergleich mit Paulusbriefen. Den Brief BGU XVI 2611 (17. Dezember 10 v. Chr.) hat ein gewisser Herakleides an seinen »Bruder« Athenodoros geschrieben. Es geht um Weizenlieferungen sowie deren Umfänge und Preise. Damit im Zusammenhang steht auch die Ankündigung des Herakleides, er werde morgen nach Tilothis reisen, um den Großhändlern Briefe zu bringen und sie nicht aufzuhalten. Der Großteil dieses Briefes könnte mehr oder weniger bruchlos in einen anderen Brief desselben Briefsenders an Athenodoros eingefügt werden. Allein die erwähnte Notiz, er werde am nächsten Tag nach Tilothis reisen, macht es unmöglich, ihn mit BGU XVI 2608 (10-1 v. Chr.) redaktionell zu verbinden, da Herakleides dort in Z. 10 schreibt, dass er bereits nach Tilothis gekommen ist. Dass es sich dabei um jenen Aufenthalt handelt, den er in 2611 angekündigt hat, ist unwahrscheinlich, da die genannten Gründe für den dort angekündigten und den hier stattfindenden Aufenthalt unterschiedliche sind. Hier ist keine Rede von den Großkaufleuten, die nicht aufgehalten werden sollen, sondern von Bierbrauern, die noch keine Gerste gemahlen haben. Der Stil des Briefsenders ist deutlich individualisiert, was bereits beim relativ ausführlichen Eingangsgruß auffällt, der in beiden Briefen (und außerdem noch in BGU XVI 2610) identisch ist, ferner beim ausgeprägten Gesundheitswunsch, der regelmäßig einem einfachen errōso als Schlussgruß vorausgeht. Für eine-- in diesem Fall rein fiktive-- Kompositionstheorie bleibt festzuhalten, dass das, was Herakleides mit den beiden Berichten seinem Adressaten mitzuteilen hat, durchaus in einem einzigen Brief vorkommen könnte. Einzig und allein die Tatsache, dass es sich um denselben Ort handelt, an den der Briefsender das eine Mal zu reisen beabsichtigt, an dem er sich im anderen Fall aber bereits aufhält, schließt dies eindeutig aus. Von einem gewissen Eurylochos sind fünf Briefe erhalten, die er an Athenodoros geschrieben hat (BGU XVI 2626-2630). Die Briefsituationen von zwei fast vollständig erhaltenen Briefen sind vor allem hinsichtlich der unterschiedlichen Reiseabsichten des Briefsenders deutlich voneinander zu unterscheiden: In BGU XVI 2629 (6. Juni 4 v. Chr.) berichtet Eurylochos von einem Brief über irgendwelche Messer, der noch nicht abgeschickt werden konnte, weil nicht näher genannte Personen die endgültige Abfassung des Briefes bisher verhindert haben; ferner informiert er Athenodoros über korrupte Schafhirten und deren betrügerischen Schreiber. Überhaupt ist Eurylochos mit diversen Aufgaben voll beschäftigt. Am nächsten Tag müsse er-- wie er an Athenodoros in Z. 18-19 schreibt-- zu einem gewissen Soterichos reisen. Auch in BGU XVI 2627 (25. Juli-- 21. August 2 v. Chr.) ist von Reiseabsichten des Eurylochos die Rede, diesmal aber schreibt er, dass er Athenodoros selbst besuchen werde, sobald er mit dem Ableiten von Wasser fertig sei. Die unterschiedlichen und sich für dieselbe Zeit ausschließenden Reiseabsichten sind es, die die beiden Briefe von der Ausgangssituation her klar unterscheidbar machen. Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 9 - 3. Korrektur ZNT 38 (19. Jg. 2016) 9 Peter Arzt-Grabner Dokumentarische Papyri und 2. Korintherbrief Noch andere Beispiele belegen, dass-- wenn die Originalexemplare einer Korrespondenz nicht mehr erhalten sind und eine Komposition aus mehreren Briefen somit grundsätzlich diskutierbar ist-- am ehesten die brieflich genannten äußeren Umstände, Absichten und Ereignisse jene Widersprüche liefern, die Briefe eindeutig unterscheidbar machen. Divergierende Reisepläne etwa sind nur in zeitlicher Abfolge, nicht aber gleichzeitig für die unmittelbare Zukunft zu koordinieren. Um unterschiedliche Etappen derselben Reise geht es z. B. in zwei Briefen des Soldaten Apollinarios an seine Mutter- - P.Mich. VIII 490 und 491 (beide 2. Jh. n. Chr.). Die Zusammengehörigkeit beider Briefe ist durch die Fundumstände erwiesen; die Papyri wurden in einem großen Haus in Karanis, also wohl im Haus der Adressatin gefunden. Im ersten Brief erwähnt Apollinarios, dass er aus Ostia schreibe, weil er noch nicht in Rom angekommen sei (P.Mich. VIII 490,9-10). In einem Postskriptum fügt er noch eigenhändig hinzu-- Z. 22-23: »Du sollst wissen, dass ich nach Misenum abkommandiert wurde, später erfuhr ich es nämlich«. Seinen zweiten Brief beginnt er mit der Nachricht, dass er am 25. des Monats Pachon wohlbehalten nach Rom gekommen ist und nun nach Misenum zugeteilt wurde; er habe aber noch nicht seine Centurie kennengelernt, denn »ich bin noch nicht nach Misenum gekommen, während ich dir diesen Brief schreibe« (P.Mich. VIII 491,4-6). Als Apollinarios also den ersten Brief abschickt, ist er noch in Ostia, hat aber soeben erfahren, dass er einer Einheit in Misenum zugeteilt wird. Zur Zeit der Abfassung des zweiten Briefes ist er in Rom, die Ankunft bei seiner Einheit in Misenum steht aber noch bevor. Von den äußeren Umständen her sind beide Briefe also klar zu unterscheiden. In zwei Briefen des Terentianus an seinen Vater Tiberianus aus dem frühen 2. Jh. n. Chr. sind es die unterschiedlichen Gesundheitszustände, die diese klar unterscheidbar machen. Während der Sohn in P.Mich. VIII 477,36 seinem Vater mitteilt, dass er krank und seine momentane Ermattung gar nicht zum Lachen sei, fügt er am Beginn von P.Mich. VIII 478 an den Gesundheitswunsch an den Vater die Nachricht hinzu, dass auch er selbst gesund ist und nimmt ausdrücklich auf seine überstandene Krankheit Bezug. Ebenfalls nicht kompilierbar sind Briefe mit landwirtschaftlichen Angaben, die zeitlich unvereinbar sind. So bittet ein gewisser Ammonios in einem Brief vom 22. Juli 40 n. Chr. (P.Ryl. II S. 381) seinen besten Freund Aphrodisios, nach Bubastos zur Traubenpresse zu kommen (Z. 7-8.11). In einem anderen Brief (P.Ryl. II 231) ersucht er Aphrodisios zu veranlassen, dass die Oliven eingelegt werden. Dies wäre-- aufgrund des späteren Zeitpunktes der Olivenernte-- im Juli noch nicht möglich gewesen, und tatsächlich stammt dieser Brief vom 18. Oktober desselben Jahres. Auch divergierende Angaben zur Lieferung bestimmter Waren können für klar unterscheidbare Briefsituationen sprechen. So ist die Bestellung einer bestimmten Ware nicht kombinierbar mit der Bestätigung, vom Adressaten bereits die Nachricht erhalten zu haben, dass sie abgeholt werden könne. Ersteres ist der Fall beim eben erwähnten Brief P.Ryl. II 231 (18. Oktober 40 n. Chr.), wo Ammonios gleich zu Beginn schreibt-- Z. 3-4: »Sei so gut und ordne an, dass die Brote hergestellt werden«, während ein Brief vom 2. November desselben Jahres mit der Bestätigung beginnt-- P.Ryl. II 230,3-4: »Ich habe am 5. einen Brief erhalten, dass ich die Brote holen lassen soll«. Die erhaltenen Datierungen weisen einen zeitlichen Abstand zwischen den beiden Briefen von zwei Wochen nach, so dass es sich nicht einmal um dieselbe Bestellung gehandelt haben wird. Eindeutige innertextliche Hinweise für klar unterscheidbare Briefsituationen lassen sich also aus unvereinbaren Angaben zu äußeren Umständen oder Ereignissen erheben. Nur echte Widersprüche, die sich aus unvereinbaren Angaben zu äußeren Umständen oder Ereignissen ergeben, und zwar durch Paulus selbst, legen die Zuordnung der widersprüchlichen Abschnitte zu ursprünglich separaten Briefen zwingend nahe. Derartig eindeutige Widersprüche lassen sich innerhalb von 2Kor aber nicht feststellen. Die Reisepläne des Paulus sprechen einhellig von einem bevorstehenden dritten Besuch (vgl. 2Kor 12,14 und 13,1-2 sowie 1,15 als Hintergrund dazu), und auch was den Gesundheitszustand des Paulus, seinen aktuellen Aufenthaltsort oder eine bestimmte Jahreszeit betrifft, sind keine objektiven oder eindeutigen Widersprüche festzustellen. Wenn Paulus z. B. in 2Kor 9,3-4 schreibt: »Ich schicke die Brüder aber, damit nicht unser Ruhm in Bezug auf euch leer gemacht wird in diesem Teil, damit, wie ich sagte, ihr vorbereitet seid, dass nicht etwa, wenn Makedonier mit mir kommen und euch unvorbereitet finden, wir beschämt werden, »Nur echte Widersprüche, die sich aus unvereinbaren Angaben zu äußeren Umständen oder Ereignissen ergeben, und zwar durch Paulus selbst, legen die Zuordnung der widersprüchlichen Abschnitte zu ursprünglich separaten Briefen zwingend nahe.« Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 10 - 3. Korrektur 10 ZNT 38 (19. Jg. 2016) Neues Testament aktuell damit ich nicht sage ihr, in dieser Zuversicht«, in 12,20- 21 aber einen Besuch mit den Worten ankündigt: »Ich fürchte nämlich, dass ich euch womöglich, wenn ich komme, nicht als solche finde, wie ich will, und ich bei euch als solcher befunden werde, wie ihr nicht wollt; … dass mich, wenn ich wieder komme, mein Gott euch gegenüber erniedrigt«, so ist beides durchaus unter einen gemeinsamen Rahmen zu bringen, nämlich die Sorge, bei einem bevorstehenden Besuch die Gemeinde nicht so vorzufinden, wie er möchte. Eindeutige Widersprüche enthalten diese Reiseankündigungen jedenfalls nicht. Gravierender sind da sicherlich Beschreibungen über die Gemeinde, die zunächst auf klar unterscheidbare Situationen hindeuten könnten. Wenn Paulus z. B. in 2Kor 7,9 schreibt: »Jetzt freue ich mich, nicht weil ihr bekümmert wurdet, sondern weil ihr zur Umkehr bekümmert wurdet; denn ihr wurdet Gott gemäß bekümmert, damit ihr in nichts bestraft werdet von uns her«, gemäß 12,21 (in Fortsetzung des vorhin zitierten Textes) aber befürchtet, dass »ich über viele von denen, die vorher gesündigt haben und nicht umgekehrt sind bei der Unreinheit und Unzucht und Zügellosigkeit, die sie begangen haben, trauere«, dann kann man dahinter durchaus zwei verschiedene Briefsituationen sehen, eine, in der es Paulus mit einer (gänzlich) bekehrten Gemeinde zu tun hat, und eine, in der er sich mit vielen Unbekehrten konfrontiert sieht. Eine (im Vergleich zu den genannten Hinweisen, die aus den Papyrusbriefen erhoben wurden) eindeutige Unterscheidbarkeit liegt aber damit nicht vor. Denn es liegt letztlich im Auge der/ des Betrachtenden, ob man die von Paulus angesichts von Freude festgestellte Umkehr mit derselben Gemeinde zeitgleich in Verbindung bringen kann, über die er im Hinblick auf einen bevorstehenden Besuch fürchtet, dass einige noch nicht umgekehrt sind. Aus den Papyrusbriefen lässt sich immerhin die deutliche Tendenz ablesen, dass mit zunehmender Brieflänge auch die stilistische und inhaltliche Komplexität zunimmt, mit der bisweilen auch Unterschiede und Spannungen zwischen einzelnen Abschnitten Hand in Hand gehen. Vielleicht werden wir gerade deshalb nicht zu eindeutigen Ergebnissen in der Frage der Einheitlichkeit bzw. Kompilation des 2Kor kommen, da uns einfach keine Originale der Paulusbriefe vorliegen (und sich auch in der Textüberlieferung keine Spuren einer eventuellen Kompilation erhalten haben). Vielleicht muss letzten Endes offenbleiben, ob eventuelle sachliche Ungereimtheiten dennoch ein und derselben Briefsituation zuzuordnen sind oder nicht. Auch aus papyrologischer Sicht können nur die Möglichkeiten für eine Kompilation bzw. für eine bereits ursprüngliche Einheitlichkeit aufgezeigt und diskutiert werden. Auswahl wichtiger Fachliteratur Ausführliche Literaturangaben zur Papyruskunde bietet H.-A. Rupprecht, Kleine Einführung in die Papyruskunde (Die Altertumswissenschaft), Darmstadt 1994; eine Übersicht über das gesamte Fachgebiet bietet R.S. Bagnall (Hg.), The Oxford Handbook of Papyrology, Oxford 2009. Das maßgebliche Verzeichnis für Editionen von Papyri, Ostraka und Täfelchen ist die »Checklist of Editions of Greek, Latin, Demotic, and Coptic Papyri, Ostraca, and Tablets«, die von J.F. Oates und W.H. Willis begründet und nunmehr online von J. Sosin u. a. herausgegen wird: <http: / / papyri.info/ docs/ checklist> (25. Juni 2016). Als Auswahl der unmittelbar relevanten papyrologischen Literatur zum Vergleich mit Paulusbriefen sind zu nennen (siehe auch die in den Anmerkungen angegebene Bibliographie): P. Arzt, Ägyptische Papyri und das Neue Testament. Zur Frage der Vergleichbarkeit von Texten, Protokolle zur Bibel 6 (1997), 21-29. P. Arzt-Grabner, 2. Korinther, unter Mitarbeit von Ruth E. Kritzer (PKNT 4), Göttingen 2014. Ders., Paul’s Letter Thanksgiving, in: St. E. Porter/ S.A. Adams (Hg.), Pauline Studies, Bd. 6: Paul and the Ancient Letter Form, Leiden/ Boston 2010, 129-158. Ders., Philemon (PKNT 1), Göttingen 2003. Ders., The »Epistolary Introductory Thanksgiving« in the Papyri and in Paul, NT 36 (1994), 29-46. Ders., »Brothers« and »Sisters« in Documentary Papyri and in Early Christianity, RivBib 50 (2002), 185-204. Ders./ R. Kritzer/ A. Papathomas/ F. Winter (Hg.), 1. Korinther (PKNT 2), Göttingen (erscheint 2005). G.A. Deißmann, Licht vom Osten. Das Neue Testament und die neuentdeckten Texte der hellenistischrömischen Welt, Tübingen 4 1923. Ders., Bibelstudien. Beiträge zumeist aus den Papyri und Inschriften, zur Geschichte der Sprache, des Schrifttums und der Religion des hellenistischen Judentums und des Urchristentums, Marburg 1895 (Nachdr. Hildesheim/ New York 1977). Ch. M. Kreinecker, 2. Thessaloniker (PKNT 3), Göttingen 2010. O. Montevecchi, Phoebe prostatis (Rom. 16.2), in: Miscelània papirològica Ramon Roca-Puig, Barcelona Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 11 - 3. Korrektur ZNT 38 (19. Jg. 2016) 11 Peter Arzt-Grabner Dokumentarische Papyri und 2. Korintherbrief 1987, 205-216 (Nachdr. in: Dies, Bibbia e papiri, 173- 189). J.H. Moulton/ G. Milligan (Hg.), The Vocabulary of the Greek Testament Illustrated from the Papyri and Other Non-Literary Sources, London 1929. New Documents Illustrating Early Christianity, Bd. 1-6 hg. v. G. H.R. Horsley, Sydney 1981, 1982, 1983, 1987, 1989, 1992; Bd. 7-9 hg. v. St. R. Llewelyn, Sydney 1994, 1998, 2002; Bd. 10 hg. v. St. R. Llewelyn/ J.R. Harrison, Grand Rapids, MI/ Cambridge, UK 2012. A. Papathomas, Das agonistische Motiv 1Kor 9,24ff im Spiegel zeitgenössischer dokumentarischer Quellen, NTS 43 (1997), 223-241. Ders., Juristische Begriffe im ersten Korintherbrief des Paulus. Eine semantisch-lexikalische Untersuchung auf der Basis der zeitgenössischen griechischen Papyri (Tyche. Supplementband 7), Wien 2009. J.L. White, New Testament Epistolary Literature in the Framework of Ancient Epistolography, ANRW II.25.2, Berlin/ New York 1984, 1730-1756. Anmerkungen 1 Aus Masada stammen SB XXIV 15 988 (67-74 n. Chr.), P.Masada 724 (73 n. Chr.), 726, 728, 728a, 749? (alle Anfang 73 oder 74 n. Chr.), 745 und 746 (beide vor Februar- März 74 n. Chr.), aus der Zeit des Bar-Kochba-Aufstandes die zwei griechischen Briefe P.Yadin II 52 und 59. 2 Griechische und lateinische Briefe aus Dura Europos (P.Dura 45-46; 55-81 [2.-3. Jahrhundert n. Chr.]) sowie zwei griechische Briefe aus Syria Coele (P.Euphrates 16 und 17, [Mitte 3. Jh. n. Chr.]). 3 O.Bu Njem 74-117 (3. Jh. n. Chr.). 4 T.Vindol. (spätes 1./ frühes 2. Jh. n. Chr.). 5 T.Vindon. 5-65 (1. Häfte 1. Jh. n. Chr.). Diese und weitere lateinische Briefe sind großteils nachgedruckt in C.Epist.Lat. (siehe den Index fontium in C.Epist.Lat. III S. 39-47). 6 M. Zelzer, Art. Epistel. G. Literarische Briefe, in: DNP 3, 1997, 1164-1165, hier: 1164. 7 Vgl. P. Arzt-Grabner, »Brothers« and »Sisters« in Documentary Papyri and in Early Christianity, RivBib 50 (2002), 185-204, hier: 189-192; siehe z. B. auch die Briefauswahl von J. Muir, Life and Letters in the Ancient Greek World, London/ New York 2009 (paperback 2012). St. K. Stowers, Letter Writing in Greco-Roman Antiquity (Library of Early Christianity 5), Philadelphia 1986, 58-173, hat vor dem Hintergrund der antiken Epistolographie verschiedene Typen unterschieden, die alle mehr oder weniger dem privaten oder persönlichen Briefgenre angehören: Letters of Friendship, Family Letters, Letters of Praise and Blame, Letters of Exhortation and Advice, Paraenetic Letters (Exhortation and Dissuasion), Letters of Advice, Protreptic Letters (Exhortation to a Way of Life), Letters of Admonition, Letters of Rebuke, Letters of Reproach, Letters of Consolation, Letters of Mediation; Accusing, Apologetic, and Accounting Letters. Die ersten beiden Typen (Freundschaftsbriefe und Familienbriefe) könnte man als übergeordnete Gruppen ansehen, deren praktische Beispiele sodann ein (oder mehrere) Element(e) der anderen Brieftypen enthalten. 8 Für eine Standardrolle wurden 20 Blätter aneinandergeklebt, was eine Gesamtlänge von mindestens 2,20 m ergab. Auch der Absender von P.Oxy. LXXV 5063,19-20 (spätes 3. Jh. n. Chr.) fordert »Papyrusrollen von zwanzig Blatt« an. 9 Zur Länge der einzelnen Paulusbriefe siehe die Tabelle bei J.C. O’Neill, Paul Wrote Some of All, but not All of Any, in: St. E. Porter (Hg.), Pauline Studies, Bd. 1: The Pauline Canon, Leiden/ Boston 2004, 169-188, hier: 171 (Gal umfasst demnach 11 080 Zeichen, der 2Kor genau 22 257). P.Ammon I 3 misst 24,5 cm in der Höhe und 75 cm in der Breite, wobei die erste von insgesamt mindestens sechs Kolumnen fast zur Gänze fehlt. Ein Brief in der Länge des kanonischen 2Kor hätte also auf einer etwa 1,5 m langen Papyrusrolle Platz gefunden. 10 Also offensichtlich dorthin, wo Phibas wohnt. 11 Der vollständige Brief ist u. a. wiedergegeben bei P. Arzt- Grabner, Philemon (PKNT 1), Göttingen 2003, 61-63; dort auch (in Anm. 18) Literatur zur umfangreichen Diskussion, ob es sich hierbei um den ältesten christlichen Brief handelt; siehe dazu ferner L.H. Blumell, Is P.Oxy. XLII 3057 the Earliest Christian Letter? , in: Th. J. Kraus/ T. Nicklas (Hg.), Early Christian Manuscripts. Examples of Applied Method and Approach (Texts and Editions for New Testament Study 5), Leiden/ Boston 2010, 97-113; M. Minehart, P.Oxy. XLII 3057: Letter of Ammonius. The [Mis]identification of an Oxyrhynchus Papyrus [as the Earliest Christian Letter], in: P. Schubert (Hg.), Actes du 26e Congrès international de papyrologie, Genève, 16-21 août 2010 (Recherches et rencontres 30), Genf 2012, 543-548. 12 Die genannten Beispiele füllen auch ein Desiderat, das Th. J. Bauer, Paulus und die kaiserzeitliche Epistolographie. Kontextualisierung und Analyse der Briefe an Philemon und an die Galater (WUNT 276), Tübingen 2011, 99 erhoben hat: »Um Aussagen über den ›gewöhnlichen‹ Briefstil von Mitgliedern der gebildeten höheren Schichten treffen zu können, bedarf es einer breiteren Basis; dazu wäre es nötig, die erhaltenen Papyrusbriefe dahingehend zu untersuchen, ob sich unter ihnen mit einiger Sicherheit solche Briefe identifizieren lassen, die von gebildeten Verfassern stammen«. 13 Siehe bes. Arzt-Grabner, Philemon, 44-56. 14 H.-J. Klauck, Compilation of Letters in Cicero’s Correspondence, in: J.T. Fitzgerald/ Th. H. Olbricht/ L.M. White (Hg.), Early Christianity and Classical Culture. Comparative Studies in Honor of Abraham J. Malherbe (NT.S 110), Leiden/ Boston 2003, 131-155. 15 Th. Schmeller, Die Cicerobriefe und die Frage nach der Einheitlichkeit des 2. Korintherbriefes, ZNW 95 (2004), 181-208. Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 12 - 3. Korrektur 12 ZNT 38 (19. Jg. 2016) Neues Testament aktuell 16 Vgl. Th. Schmeller, Der zweite Brief an die Korinther, Teilband 1: 2Kor 1,1-7,4 (EKK 8/ 1), Neukirchen-Vluyn 2010, 20: »Während die Exegese des vorigen Jahrhunderts literarkritisch sehr produktiv war und eine unglaubliche Fülle raffinierter Teilungstheorien hervorgebracht hat, wird heute bei den meisten Paulusbriefen eher mit Einheitlichkeit gerechnet. Eine Ausnahme ist der 2Kor. Hier tendiert der exegetische Mainstream nach wie vor zur Annahme einer Briefkompilation.« Für eine Übersicht siehe ebd. 21-38; R. Bieringer, Teilungshypothesen zum 2. Korintherbrief. Ein Forschungsüberblick, in: R. Bieringer/ J. Lambrecht (Hg.), Studies on 2 Corinthians (BEThL 112), Leuven 1994, 67-105. 17 Auch im Falle der Cicero-Briefe sind z.T. Unterschiede in der handschriftlichen Überlieferung feststellbar, obwohl diese im Vergleich zu den Paulusbriefen nicht allzu umfangreich ist; vgl. Schmeller, Cicerobriefe (s. Anm. 58), 197: »Es gibt jedenfalls, bes. in den Atticusbriefen, eine Reihe von Fällen, in denen eine Gruppe von Handschriften denselben Text als einen Brief hat, den eine andere Gruppe als zwei oder drei Briefe bietet. An manchen Stellen scheinen Handschriften frühere Kompilationen rückgängig gemacht zu haben (so z. B. Ad Att. 9,11; 10,9; 10,17)«. 18 So W. Schmithals, Die Briefe des Paulus in ihrer ursprünglichen Form (Zürcher Werkkommentare zur Bibel), Zürich 1984, 19-85; in beiden kanonischen Korintherbriefen sind nach Schmithals die Reste von insgesamt 13 separaten Briefen enthalten. 19 Zu weiteren Teilungshypothesen, die 2Kor 2,14-7,4 bzw. 6,14-7,1 sowie Kap. 8 und 9 separaten Briefen zuordnen, siehe aus papyrologischer Sicht Arzt-Grabner, 2. Korinther, 116-138. 20 Vgl. A. Hausrath, Der Vier-Capitel-Brief des Paulus an die Korinther, Heidelberg 1870; zu weiteren Vertreterinnen und Vertretern siehe Bieringer, Teilungshypothesen, 73- 80; 97. 21 Diese Hypothese ist auch als sog. Semler-Hypothese bekannt geworden, da sie erstmals von J.S. Semler, Paraphrasis II. epistolae ad Corinthios. Accessit Latina Vetus translatio et lectionum varietas, Halle/ Magdeburg 1776, vertreten wurde, der allerdings Kap. 9 als unabhängig von Kap. 1-8 betrachtet hat; zu weiteren Vertreterinnen und Vertretern siehe Bieringer, Teilungshypothesen, 80-85; 97. 22 Vgl. C. S. Keener, 1-2 Corinthians (New Cambridge Bible Commentary), Cambridge 2005, 150. 23 Siehe dazu ausführlich Arzt-Grabner, 2. Korinther, 100- 105. 24 Im längsten bisher (allerdings nicht vollständig) erhaltenen Privatbrief P.Ammon I 3 mit BL XII 4 (26. Mai-- 24. Juni 348? n. Chr.) sind andererseits keinerlei Anzeichen für eine Unterbrechung des Schreibvorgangs zu erkennen. 25 So u. a. U. Schnelle, Paulus. Leben und Denken (de Gruyter Studium), Berlin/ New York 2 2014, 261-262. 26 Darüber hinaus wird m. E. übersehen, dass sich 2Kor 12,17-18 tatsächlich auf die Überbringung des in 2Kor 7,8.12 erwähnten Briefes beziehen kann. Auch die unterschiedliche Größe der Gruppe (drei Personen in 2Kor 8,16-23 gegenüber zwei Personen in 12,17-18) spricht für zwei verschiedene Unternehmungen. Beachte auch 1Thess 3,6, wo Paulus ausdrücklich erwähnt, dass Timotheos soeben bei ihm eingetroffen ist. 27 Weitere Belege dieser Art sind etwa BGU XVI 2618 (10. Mai 7 v. Chr.); O.Berenike II 129 (mit Arzt-Grabner, 2. Korinther, 85-86; ca. 50-75 n. Chr.); P.Oxy. LIX 3993 (2. Jh. n. Chr.). 28 Dass 2Kor 1-9 gegenüber 10-13 diesbezüglich innerhalb der Paulusbriefe keine echte Ausnahme bildet, zeigen Spannungen in anderen Briefen (vgl. Röm 8,31-39 gegenüber 9,1-2; 16,17-20 zwischen 16,16 und 16,21; 1Kor 1,4-9 gegenüber 1,10-13; Phil 3,1 gegenüber 3,2). 29 Eine aktuelle Übersicht bietet die Datenbank »Papyrus Archives in Graeco-Roman Egypt« von W. Clarysse und K. Vandorpe (Universität Leuven): <http: / / www.trismegistos.org/ arch/ index.php> (25. Juni 2016). 30 Zu entsprechend deutlichen Beispielen von Kompilationen in den Cicerobriefen siehe Klauck, Compilation, 146-147; Schmeller, Cicerobriefe, 191. Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 13 - 3. Korrektur ZNT 38 (19. Jg. 2016) 13 1. Einleitung Charakteristisch für den Zweiten Korintherbrief ist eine Spannung zwischen versöhnlichen Passagen in einem milden und freundlichen Ton einerseits (v. a. 2Kor 7,4 und 7,5-16) und anderen, die Aussöhnung einfordern (6,11-13; 7,2-3), sei es in vernehmlicher Apologetik (2,14-6,10) oder mit Drohungen und Polemik (v. a. Kap. 10-13). In der Forschung wurde diese Spannung oft durch Teilungshypothesen aufgelöst: Man betrachtet dann den kanonischen 2Kor als Zusammenstellung mehrerer Briefe oder Brieffragmente. Denn, so wird argumentiert, Krieg und Frieden kann es nicht in ein und derselben Situation geben. Zunehmend argumentieren Forscher gleichwohl für die literarische Einheitlichkeit des 2Kor. Zwei Argumentationslinien werden hierbei vorrangig vertreten: Einige Forscher sind der Auffassung, zwischen Kap. 1-9 und 10-13 sei eine veränderte Situation festzustellen, d. h. Paulus hätten entweder neue Informationen aus Korinth erreicht, oder aber er hätte seine Einstellung geändert. Dies soll die unterschiedliche Tonlage in Kap. 1-9 und 10-13 erklären. Im Zuge aufkommender rhetorischer Ansätze in der Paulusforschung sehen dies andere Forscher primär als textpragmatisches Phänomen und somit nicht als aktuelles Stimmungsbild der Beziehung zwischen Paulus und der korinthischen Gemeinde in unterschiedlichen Phasen. Mein Buch 2 Corinthians-- A Letter about Reconciliation: A Psychagogical, Epistolographical and Rhetorical Analysis gehört in diese zweite Kategorie. 1 Meine These lautet, dass Paulus in Übereinstimmung mit den antiken Popularphilosophen (Psychagogik als Kunst der Seelenführung), 2 Brief-Autoren (Epistolographie) 3 und Rhetoren 4 idealisiertes Lob in ermahnender Absicht verwendete, besonders in 7,5-16, sowie Anschuldigungen und Drohungen zum Zweck der Korrektur, besonders in Kap. 10-13. Ziel ist dabei durchweg die volle Versöhnung zwischen den Korinthern und Paulus als ihrem Apostel. Der Zweite Korintherbrief ist mithin als literarische Einheit anzusehen. 2. Das Problem: Einige weitere Beobachtungen Der Zweite Korintherbrief besteht aus mehreren klar voneinander abgegrenzten Einheiten. Eine davon ist 1,1-2,13/ 7,5-16. Der paulinische Reisebericht in 2,12 f. wird nämlich abrupt unterbrochen und erst in 7,5 wieder aufgenommen. Innerhalb dieses Abschnitts geht es in 2,5-11 und 7,5-16 um den Konflikt mit jemandem, der »betrübt hat« (2,5) und einem, der »Unrecht getan hat« (7,12). Wir nennen ihn fortan den »Beleidiger«. 7,5-15 feiert in höchsten Tönen die Versöhnung zwischen den Korinthern und Paulus. 2,14-7,4 ist ein anderer Abschnitt. Die Eingangsverse 2,14-17 haben die Funktion einer (erneuten) Danksagung, ähnlich anderen paulinischen Prooemien (Röm 1,8-15; 1Kor 1,4-9; 2Kor 1,3-11). Im weiteren Verlauf geht es um Kritik an externen Gegnern (2,17; 3,1; 4,2; 5,12) und um eine Apologie des paulinischen Apostolats. Der Abschnitt endet mit einem Appell zur Versöhnung mit Gott (5,11- 21) und mit Paulus (6,11-13 und 7,2-3). Innerhalb von 2,14-7,4 nimmt 6,14-7,1 nach Vokabular und Inhalt eine Sonderstellung ein. Die Kapitel 8 und 9, die mit der Kollekte für die Armen in Jerusalem befasst sind, sind thematisch eigenständig. Jedes Kapitel ist bedeutsam als eigenständige Texteinheit. Viele Forscher stellen fest, dass der Ton in Kap. 10- 13 wesentlich schärfer und barscher ist als in den ersten neun Kapiteln. Paulus kritisiert nicht nur externe Gegner (10,12-18; 11,3-6; 11,7-15.18-23), sondern er kritisiert auch die Korinther (11,4.19-21a; 12,11.20; 13,5), und er droht ihnen sogar Strafe an (10,2b-6.11; 12,20; 13,2-4). Nach Struktur, Form, Inhalt und Ton unterscheiden deshalb die meisten Forscher, auch diejenigen, die für eine literarische Einheit votieren, folgende Abschnitte: (A) 1,1-2,13/ 7,5-16; (B) 2,14-7,4; (C) Kap 8-9; (D) Kap. 10-13; (E) 6,14-7,1. Unterschiedliche Teilungshypothesen, die die Spannung zwischen Versöhnung und einem freundlichen Ton einerseits und einem andauernden Konflikt andererseits, der in einem harschen Ton ausgetragen wird, auszugleichen versuchen, setzen voraus, dass zumindest einige dieser Abschnitte Fragmente von ursprünglich unabhängigen Briefen darstellen. Namentlich anhand des unterschied- Ivar Vegge Der Zweite Korintherbrief - ein Brief über Versöhnung Eine psychagogische, epistolographische und rhetorische Analyse Zum Thema Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 14 - 3. Korrektur 14 ZNT 38 (19. Jg. 2016) Zum Thema Keine dieser Teilungshypothesen kann die Spannung auflösen, die durch die genannten unterschiedlichen lichen Tonfalls in diesen Abschnitten werden mehrere chronologische Abfolgen angenommen. Prof. Dr. Ivar Vegge (*1965), 2001 Doktor der Theologie an der Norwegian School of Theology, Oslo, 2002-2006 Associate Professor für Neues Testament am Mekane Yesus Theological Seminary, und an der Ethiopian Graduate School of Theology, Addis Abeba, 2006-2008 Associate Professor für Neues Testament (Adjunct) am Ansgar University College und am Theological Seminary, Kristiansand, Norway, 2008- 2010 Associate Professor für Neues Testament an der University in Agder, Kristiansand, Norway. Seit 2010 Associate Professor für Neues Testament am Fjellhaug University College, Oslo. Wichtige Veröffentlichung: Ivar Vegge, 2 Corinthians - A Letter about Reconciliation: A Psychagogical, Epistolographical and Rhetorical Analysis, WUNT II/ 239, Tübingen 2008. Prof. Dr. Ivar Vegge Chronologie Semler-Windisch- Hypothese Hausrath-Kennedy- Hypothese Weiss-Bultmann- Hypothese Schmithals-Bornkamm-Hypothese 1. Korintherbrief 1. Korintherbrief 2,14-6,13/ 7,2-4 vgl. 2Kor 2,1 u. a. Zwischenbesuch und Konflikt »Tränenbrief« (vgl. 2Kor 2,4) verloren (oder 1Kor) 2Kor 10-13 2Kor 2,14-6,13/ 7,2- 4/ 10-13 2Kor 10-13 vgl. 2Kor 7,5 ff. Paulus trifftTitus in Makedonien 2Kor 1-7/ 8/ 9 2Kor 1-8/ 9 »Versöhnungsbrief« 2Kor 1,1-2,13/ 7,5-16 »Versöhnungsbrief« 2Kor 1,1-2,13/ 7,5-16 erneuter Konflikt 2Kor 10-13 Besuch des Paulus und Durchführung der Kollekte Teile der korinthischen Korrespondenz in 2Kor 2/ 3 2/ 3 2/ 3 3/ 4/ 5 Tabelle: Briefteilungshypothesen Tonlagen erzeugt wird. In allen Teilen des 2Kor bringt Paulus seine Hoffnung und sein Zutrauen zu den Korinthern zum Ausdruck (1,13b-14; 2,3b; 5,11; 7,4. 14. 16; 8,5; 7,22b.24; 9,1-2; 10,15b; 13,6), auch wenn einige dieser Aussagen optimistischer sind als andere. Besonders bemerkenswert ist das Ende des apologetischen Abschnitts 2,14-7,4. Er schließt mit einem intensiven Appell zur Versöhnung mit Paulus in 6,11-13 und 7,2 f., fährt dann aber in 7,4 fort mit den Worten »Groß ist mein Freimut euch gegenüber, groß ist mein Stolz auf euch; ganz getröstet bin ich und voll überschäumender Freude in all unserer Bedrängnis«. 5 Diese Vertrauensbekundung in 7,4a und der Lobpreis in 7,4b wird nur noch vom überschwänglichen Lob der Aussöhnung in 7,5-16 erreicht, das mit der Vertrauensäußerung in 7,16 schließt. Der Abschnitt 1,1-2,13/ 7,5-16 beschreibt in seinem Schlussteil die Aussöhnung zwischen den Korinthern und Paulus: »Wie viel Einsatz hat dies […] bei euch ausgelöst, ja Bereitschaft zur Entschuldigung, Entrüstung, Gottesfurcht, Sehnsucht, Eifer, Willen zu gerechter Bestrafung. In allem habt ihr euch in der Sache als schuldlos erwiesen« (7,11). Aufgrund dieser und anderer Textbeobachtungen (mehr dazu gleich) wurde oft die Auffassung vertreten, dass 7,5-16 die volle Aussöhnung zwischen Paulus und den Korinthern widerspiegelt. Verglichen mit diesem Passus erstaunt es, dass in 2,6 lediglich »die Mehrheit« der Korinther für Paulus Partei ergriffen und »den Beleidiger« bestraft hat (auch hierzu gleich mehr). Nun sind aber 2Kor 2,5-11 und 7,5-16 Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 15 - 3. Korrektur ZNT 38 (19. Jg. 2016) 15 Ivar Vegge Der Zweite Korintherbrief - ein Brief über Versöhnung zwei Texte, die nicht auf verschiedene Brieffragmente verteilt werden können. Die Spannung zwischen einem anhaltenden Konflikt in 2,5-11 und dem Eindruck einer völligen Aussöhnung in 7,5-16 wird dann sehr augenfällig. Der Konflikt ist in 1,1-2,13 noch nicht behoben, im Widerspruch zu 7,5-16. Dies schlägt sich auch in der paulinischen Apologie für die Absage seines geplanten Besuches (1,15-24) und in der Zurückweisung des Vorwurfs der Falschheit (1,12-13.17; vgl. 10,1b.10) nieder. In Kap. 10-13 beginnt Paulus mit den Worten »Ich selbst aber, Paulus, ermahne euch bei der Sanftmut und Freundlichkeit Christi« (10,1a). Was jedoch folgt, sind Kritik und Drohungen an die Adresse der Korinther. Dieser Widerspruch ist sonderbar. Kap. 13 wiederum endet in einem Ton der Milde und Freundlichkeit. Nach einer kraftvollen Apologie für seinen apostolischen Dienst führt Paulus aus, dass es keine Rolle spiele, ob er als einer dasteht, der »nichts taugt«, solange die Adressaten »nichts Böses tun« und »vollkommen werden« (13,7-9), denn seine Vollmacht dient »zur Erbauung und nicht zur Zerstörung« (13,10). In der Konsequenz vermag keine Teilungshypothese die Spannung zwischen Aussöhnung und einer freundlichen und optimistischen Tonlage einerseits und dem barsch und kritisch adressierten Konflikt andererseits dadurch zu beheben, dass man den Zweiten Korintherbrief in unterschiedliche Brieffragmente teilt. Nach meiner Auffassung ist es viel schwieriger, den überaus optimistischen Ton und den Eindruck einer vollständigen Aussöhnung in 7,5-16 beim Wort zu nehmen und ihn irgendeinem anderen Abschnitt des Briefes zuzuordnen als den Wechsel zu einer kritischeren Tonlage in Kap. 10-13 zu erklären. Deshalb werde ich in diesem Beitrag ein besonderes Augenmerk auf den Abschnitt 2Kor 7,5-16 legen. 3. Idealisiertes Lob in ermahnender Absicht Um zu zeigen, wie tiefgreifend mein Ansatz das Verständnis von 2Kor 7,5-16 bestimmt, komme ich zunächst auf einige grundlegende Aspekte des Lobes zu sprechen, die in den meisten Gesellschaften und Kulturen geläufig sind. 3.1 Zur Pragmatik des Lobes: Einige grundlegende Aspekte Wenn eine mehr oder weniger große Übereinstimmung zwischen den ehrenvollen Gegebenheiten und ihrer (lobenden) Beschreibung besteht, sagt man, dass einer Person oder einer Sache gerechtes und echtes Lob widerfährt. Stehen die Gegebenheiten aber dazu in Widerspruch, wissen Redner und Publikum intuitiv, dass das Lob ironisch und/ oder sarkastisch aufzufassen ist. Lob wird dann zu einem Modus der Kritik. Insofern ist ironisches bzw. sarkastisches Lob auf eigene Weise »wahr«. Besteht keine volle Übereinstimmung zwischen den Gegebenheiten und ihrer Beschreibung, kann Lob unterschiedliche Funktionen und Ziele haben, entsprechend der Situation und den Motiven des Sprechers bzw. Schreibers. (a) Man spricht von Schmeichelei, wenn das Ziel darin besteht, dem Adressaten der Lobrede zu gefallen und daraus einen persönlichen Vorteil zu ziehen. Schmeichelei ist mithin eine Weise der Manipulation. Solches Lob ist unecht und moralisch verwerflich. (b) Lob ist ermahnend, wenn es zum Ziel hat, bei dem mit Lob Bedachten ein Bewusstsein für eine Verpflichtung im Blick auf die als ideal beschriebene moralische Situation zu erzeugen. Wenn Sprechende und Hörende idealisiertes Lob im Kontext ernstlicher Ermahnung verstehen, handelt es sich um genuine Anleitung mit einem ihr eigentümlichen Wahrheitsgehalt. Gemeinsam ist dem ironischen bzw. sarkastischen, dem schmeichelnden und dem ermahnenden Lob, dass sich seine Bedeutung nicht auf der wortwörtlichen, sondern auf der tieferen Ebene erschließt. Solche Kommunikation kann mit spezifischen rhetorischen Merkmalen und Effekten einhergehen. Allen drei Formen des Lobes ist die Gefahr des Missverständnisses zu eigen, wenn es wortwörtlich verstanden wird. Zwei Faktoren sind hier zu nennen: (a) Menschliche Kommunikation findet üblicherweise auf der wortwörtlichen Ebene statt. Das wörtliche Verständnis scheint das intuitiv nächstliegende zu sein. So haben etwa Kinder zunächst Schwierigkeiten, Ironie zu verstehen. (b) Menschen streben danach, gelobt zu werden, zumal in Ehre-Schande-Gesellschaften der griechisch-römischen Antike, und sind deshalb anfällig für Schmeichelei. Sie tendieren dazu, überhöhtes Lob als echtes Lob anzunehmen. Alle diese Themen wurden in der hellenistischen Rhetorik und Psychagogik thematisiert, und in gewissem Grade auch in der Epistolographie. Da Paulus an hellenisierte Adressaten schreibt, Römer, Griechen, Juden und andere, ist der historische und kulturelle Hintergrund antiker Rhetorik, Psychagogik und Epistolographie besonders erhellend und relevant für den Gebrauch von mahnendem idealisiertem Lob in 2Kor 7,5-16. Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 16 - 3. Korrektur 16 ZNT 38 (19. Jg. 2016) Zum Thema 3.2 Mahnender Gebrauch von idealisiertem Lob in Rhetorik, Psychagogik und Epistolographie Antike rhetorische Handbücher fußten auf einer Dreiteilung der Rhetorik in dikanische (Verteidigung und Anklage), deliberative (politische Rede) und epideiktische (Lob und Tadel) Redegattungen. Da die epideiktische Rede viel mit der Schmeichelrede gemein hat, wurde sie schon in der Antike, aber auch später einer scharfen Kritik unterzogen. Schon Platon parodiert die epideiktische Rede in Gestalt des Sokrates, der Grabreden anhört und danach einige Tage verwirrt umherläuft, weil er nicht mehr weiß, wo er ist: Unter dem Eindruck des Gehörten denkt er, er sei auf der Insel der Seligen. 6 Weder Aristoteles noch Cicero haben in ihren Rhetorik-Lehrbüchern eine hohe Meinung von der epideiktischen Rede. Aber moderne Theoretiker wie etwa G.A. Kennedy meinen, dass die aristotelische Definition der epideiktischen Rede zu eng ausfällt: Tatsächlich sind ihre Funktionen viel komplexer, denn die im Lob angesprochenen Ideale werden in der Realität selten erreicht. Ironisches Lob kann auf subtile Weise Fehlverhalten ansprechen. Öfter noch kann der Redner Werte lobend hervorheben in der Erwartung, dass das Publikum sich dieselben zu eigen macht. Isokrates, der diese Form des Lobes in seinen Reden wie auch in seinem Unterricht verwendet hat, scheint dies klarer gesehen zu haben als Aristoteles. 7 D.A. Sullivan resümiert seine Untersuchung zahlreicher epideiktischer Reden wie folgt: »Ein erfolgreiches epideiktisches Unterfangen ist eines, bei dem der Rhetor innerhalb seiner Kultur als reife Persönlichkeit auftritt und eine ästhetische Vision geltender Werte erschafft, ein Beispiel (paradeigma) der Tugend, das zum Nacheifern anreizt und zum Vorbild für künftiges Handeln dient. Epideiktische Rede dient der Unterweisung des Publikums. Sie lädt dazu ein, gemeinsam die Tradition in Ehren zu halten, und schafft damit ein Gemeinschaftsbewusstsein.« 8 Verglichen mit Aristoteles nimmt das epideiktische Redegenus bei Quintilian und in der Rhetorica ad Herennium einen wesentlich breiteren Raum ein. Auch hier ist jedoch nicht leicht zu entscheiden, ob mit epideiktischer Rhetorik als solcher eine mahnende Absicht einhergeht (so Kennedy und Sullivan), oder ob sie innerhalb der von Aristoteles definierten Gattungsgrenzen lediglich für solche Zwecke verwendbar ist. Da mehrere Gattungsmerkmale epideiktischer Reden in 2Kor 7,5-16 fehlen (etwa Personenmerkmale wie Herkunft, Erziehung, physische Attribute, Charaktereigenschaften), dürfte die epideiktische Rhetorik nicht die wichtigste Vergleichsgröße für diesen Textabschnitt sein, sie ist aber dennoch einschlägig, weil sie (1) einen klaren Begriff von der Differenz zwischen Bedeutung (idealisiertes Lob) und Funktion (mahnend) hat, weil sie (2) das schwierige Verhältnis von echter moralischer Anleitung und Schmeichelei reflektiert, und weil sie (3) deutlich macht, dass idealisiertes Lob für gewöhnlich in mahnender Absicht formuliert wurde. Wenn wir uns den Popularphilosophen und ihrer Tradition der »Seelenführung« (Psychagogik) zuwenden, stellen wir fest, dass die in mahnender Absicht formulierte Lobrede weithin geläufig war. Plutarch beschreibt die positive Funktion des Lobes wie folgt: Es »veranlasst in dem Andern auch einen Wetteifer mit sich selbst, weil er bei der Erinnerung an das Lobenswerte des Schimpflichen sich schämt, und im Guten sich selbst zum Muster nimmt« (Moralia 72D). 9 Lob adressierte man bevorzugt an Personen, die bereits einen moralischen Fortschritt erkennen ließen. Das folgende Zitat stammt vom Kirchenvater Klemens von Alexandrien, der sich mit seinem Paidagogos klar in die psychagogische Tradition der Popularphilosophen einreiht. Das abschließende Sprichwort zeigt, wie verbreitet die Auffassung vom (idealisierten) Lob als Mittel der Mahnung gewesen sein muss: »Ich […] behaupte […], dass Lob oder Tadel oder etwas, das Lob und Tadel gleicht, die allernotwendigsten Heilmittel für die Menschen sind. Schwer zu Heilende werden wie das Eisen mit Feuer und Hammer und Amboss, das heißt mit Drohung, Zurechtweisung und Strafe, bearbeitet; die anderen aber, die dem Glauben selbst ergeben sind, werden als solche, die von sich selbst aus und infolge freien Entschlusses etwas gelernt haben, durch das Lob gehoben und gefördert. Denn wenn die Tugend gelobt wird, gedeiht sie wie ein Baum.« 10 Wegen der Ähnlichkeit zwischen Schmeichelei und echter moralischer Anleitung beim idealisierten Lob ist dasselbe in einigen klassischen Texten ein viel diskutiertes Thema. 11 Die Popularphilosophen distanzierten sich häufig ausdrücklich von illegitimen Schmeichlern und betonten ihre eigene Glaubwürdigkeit und Vertrauenswürdigkeit als moralische Autoritäten, Paulus nicht unähnlich: »Denn wir sind damals bei euch, wie ihr wisst, weder mit Schmeichelreden aufgetreten noch mit heimlicher Habgier […], noch haben wir Ehre und Anerkennung von Menschen gesucht, sei es von euch oder von anderen […]. Wir konnten unter euch sein wie arglose Kinder. Und wie eine Amme ihre Kinder hegt« (1Thess 2,5-8). 12 Auf dem Feld der antiken Epistolographie haben Forscher wie A.J. Malherbe gezeigt, dass die Brief-Hand- Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 17 - 3. Korrektur ZNT 38 (19. Jg. 2016) 17 Ivar Vegge Der Zweite Korintherbrief - ein Brief über Versöhnung bücher des Ps.-Demetrios und Ps.-Libanios weniger Sammlungen von Musterbriefen waren, als vielmehr eine Zusammenstellung stilistischer Beispiele für unterschiedlichste Gelegenheiten des Briefschreibens, die je ihre eigenen Tonlagen verlangten. 13 Ps.-Demetrios und Ps.-Libanios machen vom Lob in mahnender Absicht reichen Gebrauch, ebenso von Vorwurf und Drohung als Mittel der Korrektur. Für unser Thema ist Ps.-Demetrios’ Typus des »Lob-Briefes« von besonderem Interesse: »Es handelt sich um einen lobenden Brief, wenn wir jemanden, in dem, was er getan oder zu tun sich vorgenommen hat, in dieser Weise ermutigen: ›Ich bin nämlich schon früher, wenn du (mir) Briefe schriebst, deiner Liebe zum Schönen teilhaftig geworden, und nun hat dein Tun mein Wohlwollen, und ich ermutige dich darin, denn es wird uns beiden nützen‹« (Typoi Ep. 10). 14 Ps.-Demetrios bekräftigt, dass nicht nur Taten, sondern auch Absichten gelobt werden können, um mittels des Lobes auf die Verwirklichung dessen, was man mit Lob bedenkt, hinzuwirken. Das reichhaltige Material hilft uns, (1) klarer zwischen Wortlaut (Lob) und Funktion (Mahnung) zu unterscheiden, (2) der weiten Verbreitung von idealisiertem Lob zum Zweck der Ermahnung in der griechisch-römischen Welt gewahr zu werden, und (3) die mahnende Funktion von idealisiertem Lob als eigenen Modus von Wahrheit wertzuschätzen. Theologen haben allzu oft die Legitimität solcher Rede außer Acht gelassen. 4. 2Kor 7,5-16 als idealisiertes Lob in mahnender Absicht 15 Ich möchte an dieser Stelle eine Reflexion zugunsten der methodologischen Klarheit einflechten. Jedwedes Lob als idealisiertes Lob in mahnender Absicht zu deuten ist genauso unhaltbar wie das Verständnis jedweden Lobes als ironisch oder sarkastisch. Üblicherweise bewegt sich Kommunikation auf der Ebene der wörtlichen Bedeutung. Deswegen möchte ich, um 2Kor 7,5-16 als idealisiertes Lob kenntlich zu machen, zwei Dinge zugleich zeigen: (1) Eine Lektüre von 2Kor 7,5-16 als »echtes Lob« in wortwörtlicher Bedeutung erzeugt Spannungen und Probleme innerhalb des Textes selbst. (2) 2Kor 7,5-16 bedient sich konventioneller Stilelemente der Verstärkung 16 bzw. der Idealisierung von Lob, die in der griechisch-römischen Umwelt des Paulus weit verbreitet waren. In 2Kor 2,5- 11 wie auch in 7,5-15 verhandelt Paulus dieselbe Sache, nämlich den von dem so genannten Beleidiger ausgelösten Konflikt. In 2,5-11 ermutigt Paulus die Gemeinde zu vergeben, zu trösten und dem Beleidiger mit Liebe zu begegnen, um Frieden zwischen der Mehrheit, die wieder auf Paulus’ Seite ist, und einer Minderheit, die noch immer den Beleidiger unterstützt, zu Wege zu bringen. Damit bereitet Paulus auch den Boden für die Aussöhnung zwischen sich und einer noch immer kritischen Minderheit. 17 Historisch kann es sich deshalb in 7,5-16 nur um eine teilweise Aussöhnung zwischen Paulus und der Mehrheit in Korinth handeln, die auf den Umgang mit dem Beleidiger begrenzt ist. Während also 2,5-11 zwischen einer ausgesöhnten Mehrheit und einer noch immer kritischen Minderheit unterscheidet, sind die Adressaten in 7,5-16 als einheitliche Gruppe im Blick, die sich mit Paulus ausgesöhnt hat und die wiederholt in der 2. Pers. Plural angeredet wird: V. 7 (4mal), V. 8 (2mal), V. 9 (4mal), V. 11 (2mal), V. 12 (2mal), V. 13- 15 (je 3mal), V. 16 (1mal), darunter 2mal die Anrede »ihr alle« (7,13.15). Dies ist ein klarer Hinweis auf Idealisierung und rhetorische Verstärkung. Wir stoßen auf nicht weniger als zwei Kataloge mit Synonymen, die die Aussöhnung der Korinther mit Paulus beschreiben (7,7b.11). Kataloge erzeugen den rhetorischen Eindruck einer schier unermesslichen Fülle, ein probates Mittel der Idealisierung und Verstärkung. Der zweite Katalog endet mit einer kollektiven Aussage: »In allem habt ihr euch in der Sache als schuldlos erwiesen« (7,11). Die exegetischen Kommentare, die 7,5-16 wortwörtlich lesen, mühen sich, diese Aussage mit 7,9 f. in Einklang zu bringen, die von notwendiger Umkehr handeln. Dabei ist eine kollektive Aussage wie diejenige in 7,11, die eine ultimative Unermesslichkeit suggeriert, in der antiken griechischen Literatur ein gängiges Stilmittel rhetorischer Verstärkung. In dieser kurzen Passage verwendet Paulus das Verb »trösten« 4mal (7,6[2mal].7.13), das Nomen »Trost« 2mal (7,7.13), das Verb »sich freuen« 4mal (7,7. 9. 13.16) und das Nomen »Freude« 1mal (7,13), um seine eigene und des Titus positive Antwort auf die Aussöhnung mit den Korinthern zum Ausdruck zu bringen. Diese wird durch adverbiale Formulierungen zusätzlich betont: »das hat mich erst recht gefreut« (7,7); »Mehr aber noch […] haben wir uns über die Freude des Titus gefreut« (7,13), und »Seine Zuneigung gilt euch umso mehr« (7,15a). In wortwörtlichem Verständnis notieren mehrere Kommentare, dies sei das freudvollste, das Paulus jemals geschrieben habe. Dies könne aber nicht zeitgleich mit dem in Kap 10-13 (teilweise auch in 2,14-7,4) geführten »Krieg« »Üblicherweise bewegt sich Kommunikation auf der Ebene der wörtlichen Bedeutung.« Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 18 - 3. Korrektur 18 ZNT 38 (19. Jg. 2016) Zum Thema geschrieben worden sein, und müsse mittels einer Teilungshypothese erklärt werden. Jedoch sind Häufung und adverbiale Steigerung von Bekundungen der Freude ein übliches Mittel der Idealisierung. In 7,16 bringt Paulus volles und vorbehaltloses Zutrauen gegenüber den Korinthern zum Ausdruck: »Ich freue mich, dass ich mich in allem auf euch verlassen kann« (vgl. auch 7,14). In den Kommentaren werden zumeist die unterschiedlichen Grade an Zutrauen in 2Kor im Sinne einer exakten »Temperaturmessung« in der Beziehung zwischen Paulus und den Adressaten in ihren verschiedenen Stadien aufgefasst. Dies ist einer der Gründe für die zahlreichen Teilungshypothesen. Doch zielten solche Vertrauensäußerungen in der griechisch-römischen Kultur auf den impliziten oder expliziten Appell oder eine Forderung an die Adresse der Empfänger (dazu gleich mehr). Jeder Leser von 2,5-11 und 7,5-16 ist erstaunt über die Tendenz vom Thema zu abstrahieren, sodass es um die Aussöhnung als solche geht, nicht primär um diejenige mit dem »Beleidiger«. Der Fortschritt der Korinther im Versöhnungsprozess wird als volle Aussöhnung modelliert. Dies schlägt sich etwa in den beiden Katalogen in 7,7 und 7,11 nieder. Außerdem wird dieser Punkt in 7,12 explizit angesprochen: »Wenn ich euch also geschrieben habe [bzw. schreibe], so nicht um dessentwillen, der Unrecht getan, noch um dessentwillen, der Unrecht erlitten hat, sondern damit euer Einsatz für uns bei euch vor Gottes Angesicht zutage trete«. Die argumentative Strategie in 2Kor 7,5-16 ist innerhalb der Paulusbriefe nicht singulär. Vergleichbar ist etwa 1Thess 4,9 f.: »Über die Liebe unter Brüdern und Schwestern aber brauche ich euch nicht zu schreiben, seid ihr doch selbst von Gott gelehrt, einander zu lieben. Und ihr tut es ja auch allen gegenüber, die zur Gemeinde gehören, in ganz Makedonien. Wir reden euch aber zu, liebe Brüder und Schwestern, darin noch verschwenderischer zu werden«. Erkennbar betont Paulus den guten Fortschritt der Adressaten, idealisiert ihn zusätzlich (»Und ihr tut es ja auch allen gegenüber […]«), und drängt sie dennoch, »darin noch verschwenderischer zu werden«. Noch auffälliger ist die Ähnlichkeit zwischen 1Thess 3 und 2Kor 7,5-16. In einem Aufsatz von 1992 hat Margaret M. Mitchell gezeigt, dass sich in 1Thess 3 und 2Kor 7 die soziale Rolle von Abgesandten in geprägten Wendungen niederschlägt, die Parallelen in hellenistischen diplomatischen Briefen haben (vgl. v. a. die Punkte 2 und 3): 1. Vorgeschichte A. Paulus erklärt, warum nicht er selbst gekommen ist (1Thess 2,17 f.; 2Kor 1,15-2,13) B. Paulus erwähnt, dass er einen Gesandten geschickt hat (1Thess 3,1-5; nicht in 2Kor) C. Paulus schildert seine bedrängte Lage während des Wartens auf die Rückkehr des Gesandten (1Thess 3,1; 2Kor 2,12 f.; 7,5) 2. Vergangene Geschichte: Die Rückkehr des Abgesandten A. Ankündigung der Ankunft des Gesandten (1Thess 3,6; 2Kor 7,6) B. Rekapitulation der Botschaft des Gesandten (1Thess 3,6; 2Kor 7,7) C. Paulus’ unmittelbare Antwort: Er wurde getröstet und hat sich gefreut (1Thess 3,7; 2Kor 7,6 f.13) 3. Gegenwärtige Geschichte: Paulus bekräftigt seine frühere Antwort: Er ist noch immer getröstet und freut sich über die Adressaten (1Thess 3,9; 2Kor 7,9. 13. 16) Aus diesen Beobachtungen zieht Mitchell den Schluss, dass Paulus sich in 1Thess 3 und 2Kor 7 »innerhalb verbreiteter Konventionen zur Rolle der Gesandten« bewegt, »die über Distanzen hinweg die Beziehungen zwischen Partnern aufrecht erhalten und bekräftigen […]. Die Beziehungen zwischen Paulus und den beiden Gemeinden werden durch die Tätigkeit der Gesandten und durch das retrospektive Narrativ, das Paulus als Antwort darauf entwirft, bekräftigt (1Thess) und aufs Neue bestätigt (2Kor)«. 18 Allerdings gibt es einen weiteren entscheidenden Faktor für das Verständnis von 1Thess 3 und 2Kor 7, den Mitchell außer Acht lässt, nämlich die mahnende Absicht beider Passagen. Der positive Bericht des Timotheus über den Glauben und die Liebe der Thessalonicher, der die tiefe Beunruhigung des Paulus in starken Trost und in Freude verwandelt hat, untermauert die unausgesprochene Ermahnung zu weiterem Fortschritt im Glauben und in der Liebe in 1Thess 3,10-13. Die Ermahnung in 1Thess 3,10-13 ist implizit, weil sie in die Sprache eines Gebets gekleidet wird. Damit ist auch eine implizite Verpflichtung der Thessalonicher verbunden, die gute Absicht Gottes in ihrem Leben zu erkennen und daran mitzuwirken. 19 Ganz ähnlich bekräftigt Titus’ positiver Bericht über den Sinneswandel der Mehrheit der Korinther und ihre Aussöhnung mit Paulus in dem vom »Beleidiger« verursachten Konflikt, der die tiefe Besorgnis des Paulus in Trost und Freude verwandelt hat, die implizite Mahnung zu weiteren »In den Kommentaren werden zumeist die unterschiedlichen Grade an Zutrauen in 2Kor im Sinne einer exakten ›Temperaturmessung‹ in der Beziehung zwischen Paulus und den Adressaten in ihren verschiedenen Stadien aufgefasst.« Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 19 - 3. Korrektur ZNT 38 (19. Jg. 2016) 19 Ivar Vegge Der Zweite Korintherbrief - ein Brief über Versöhnung Fortschritten im Prozess der Aussöhnung in 2Kor 7,5- 16. Die auffälligen Übereinstimmungen zwischen 1Thess 3 und 2Kor 7,5-16 im Detail wie in der Gesamtaussage sind ein starkes Argument für meine Lektüre von 2Kor 7,5-16. Ich lese diesen Abschnitt so, dass Paulus seinen Finger auf die Fortschritte der Korinther legt, diesen zusätzlich idealisiert, um mit dem Mittel des Lobes zur Verwirklichung dessen anzuspornen, was er lobt: Die völlige Aussöhnung zwischen den Korinthern und dem Apostel. Um das von Klemens von Alexandrien zitierte Sprichwort abzuwandeln: »Aussöhnung, die gelobt wird, wächst wie ein Baum«. Diese Lektüre ist beileibe keine arbiträre Eisegese. Vielmehr wird sie durch zwei Argumentationslinien gestützt: (1) Versteht man das in 2Kor 7,5-16 ausgesprochene Lob auf der wortwörtlichen Textoberfläche als echtes Lob, entstehen zahlreiche Interpretationsprobleme. Diese verschwinden, wenn man den Abschnitt als ermahnendes Lob liest. (2) Der Abschnitt bedient sich konventioneller Stilmittel idealisierten Lobs in ermahnender Absicht, die in der griechisch-römischen Welt geläufig waren, und die auch in 1Thess zur Anwendung kommen. 5. Rhetorische Effekte von Modellbeispielen und implizite Kommunikation Wenn zutrifft, dass es sich bei 2Kor 7,5-16 um mahnendes idealisiertes Lob handelt, stellt sich die Frage: Warum soll man überhaupt auf einer tieferen Ebene als der wortwörtlichen kommunizieren und damit Missverständnisse riskieren? Aus der Sicht antiker Rhetoriker und Philosophen ist die Antwort klar: Modellbeispiele und implizite Kommunikation haben einen starken rhetorischen Effekt auf Hörende bzw. Lesende. In der Antike galt die Verwendung von Modellbeispielen als effektivere Mahnung als schiere Logik oder physische Gewalt. Außerdem traute man dem gelebten Leben mehr Überzeugungskraft zu als bloßen Worten. 20 Die Rhetorica ad Herennium betont aber auch, dass ein Beispiel erklärt und verdeutlicht: Das Beispiel »macht eine Sache […] offenkundiger, wenn es das, was zu dunkel ist, heller erscheinen lässt […]; es stellt sie vor Augen, wenn es allen klar ausdrückt, sodass man die Sache sozusagen mit der Hand berühren kann.« 21 Selbst eine oberflächliche Lektüre zeigt, dass keiner der anderen Appelle zur Aussöhnung in 2Kor mit 7,5-16 vergleichbar ist, wenn es darum geht, die Konkretisierung und Visualisierung der vollen Aussöhnung effektvoll zu beschreiben. Namentlich geht es um folgende Motive: - die vielen starken und lebendigen Ausdrücke, die die Aussöhnung der Korinther darstellen (7,7.11), - der Gehorsam der Korinther und ihr »Furcht und Zittern« in Bezug auf Titus (und Paulus) in 7,15, - dass »euer Einsatz für uns bei euch vor Gottes Angesicht zutage trete« (7,12), - dass des Titus (und des Paulus) »Zuneigung euch umso mehr gilt« (7,15), - dass des Paulus tiefe Besorgnis und große Anfechtungen (2,13; 7,5) in umso größeren Trost (7,6. 7. 13) und größere Freude (7,7b.9b.13.16a) verwandelt werden, - dass des Paulus Lob für die Korinther sich als gerechtfertigt erweist (7,14.16). Seneca vergleicht deshalb den Effekt positiver (wie auch negativer) Modellbeispiele mit einem Insektenstich. Obwohl man ihn nicht fühlt, fühlt man doch in Gestalt der Schwellung seinen Effekt. 22 Was die Funktion der impliziten und stillschweigenden Kommunikation betrifft, zitiere ich zunächst zwei Zeitgenossen des Paulus: »Darin besteht das Überredende, wie auch Theophrast sagt, dass nicht alles sorgfältig im Detail ausgeführt werden soll, sondern einiges dem Hörer überlassen bleiben muss, damit er es aus sich selbst heraus versteht und bedenkt. Wenn er nämlich das von dir Ausgelassene erfasst, dann ist er nicht nur ein Hörer, sondern er wird sogar dein Zeuge und wird (dir gegenüber) wohlwollender. Er erlebt nämlich sich selbst als verständig durch dich, der ihm die Gelegenheit geboten hat, verständig zu sein. Ihm dagegen alles zu sagen wie einem Unverständigen, hat den Anschein, ihn als solchen zu beurteilen.« (Demetrios De elocutione 222) 23 »Wenn ein verständiger und literarisch bewanderter Mann etwas zum wiederholten Mal gehört hat und dieses seine Seele nicht in einen hochgemuten Zustand versetzt, auch nicht bei erneuter Betrachtung etwas über das Gesagte hinaus dem Verstand hinterlässt, sondern es, wenn man es in Augenschein nimmt, immer gehaltloser wird, dann ist es nicht etwas wahrhaft Erhabenes, das das erste Hören überdauert. Dies nämlich ist wahrhaft groß, das oftmals wieder betrachtet wird, und dessen man sich doch nur schwer oder gar nicht zu erwehren vermag, und das sich der Erinnerung kräftig und unauslöschlich einprägt.« (Longinos De sublimitate 7,3) 24 Das erste Zitat thematisiert, dass die Bedeutungsebene des Unausgesprochenen die Hörenden in die Rede selbst »Implizite Kommunikation befördert das gemeinsame Verstehen so, dass die Hörenden zu Zeugen für die Gültigkeit der in der Rede aufgerufenen Werte und Bewertungen werden.« Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 20 - 3. Korrektur 20 ZNT 38 (19. Jg. 2016) Zum Thema involviert, sodass diese mehr sind als bloß Zuhörende. Implizite Kommunikation befördert das gemeinsame Verstehen so, dass die Hörenden zu Zeugen für die Gültigkeit der in der Rede aufgerufenen Werte und Bewertungen werden. Außerdem bereitet es den Hörenden ein intellektuelles Vergnügen, wenn sie das in der Rede Implizierte verstehen. Beide Elemente sind für die in der Rede zu leistende Überzeugungsarbeit förderlich. Literatur, die mit Longinos gesprochen »bei erneuter Betrachtung etwas über das Gesagte hinaus dem Verstand hinterlässt«, hat einen starken psychologischen Effekt, weil die implizierte Botschaft bei den Rezipierenden einen Prozess der Reflexion auslöst, und zwar auch noch und gerade dann, wenn die Worte bereits verklungen sind. Es ist dementsprechend fast unmöglich, von solchen Texten nicht beeinflusst zu werden. Es ist auch leicht einzusehen, dass sich solche Texte dem Gedächtnis auf besondere Weise einprägen. Andere antike Quellen, die sich mit der unausgesprochenen Bedeutungsebene von Texten und mit impliziter Kommunikation befassen, enthalten die Auffassung, dass das implizit Gesagte oft für vertrauenswürdiger gehalten wird, denn man glaubt eher an das, was man sich selbst vorstellt und worauf man selbst kommt, als an dasjenige, was klar ausgesprochen wird. 25 Ich meine nicht, dass Paulus die vielerlei rhetorischen und psychologischen Effekte von Modellbeispielen bewusst eingesetzt hat. In Anbetracht des paulinischen Gebrauchs von Metaphern (durchgängig), von Ironie (1Kor 4,8-10 u. ö.) und von idealisiertem Lob (1Thess 4,9 f. u. ö.), in Anbetracht auch seiner »Narrenrede« in 2Kor 11,1-12,18 und einer Reihe weiterer literarischer Stilmittel, solle man gleichwohl nicht vorschnell ausschließen, dass Paulus ein elementares, und sei es: ein intuitives Wissen über die Wirkung von Modellbeispielen und impliziter Kommunikation hatte. Während antike Rhetoriker und Popularphilosophen unterschiedliche Arten der impliziten Kommunikation wegen ihres rhetorischen und psychologischen Effekts zum regen Gebrauch empfahlen, betonten die meisten Epistolographen für das Abfassen von Briefen das Ideal der Klarheit. 26 Das hängt damit zusammen, dass die meisten antiken Briefe sehr kurz waren. Hieran nahmen auch die zeitgenössischen Brief-Handbücher Maß. Ohne hinreichende textimmanente Signale oder andere Weisen der Klärung durch mündlichen Vortrag oder Gebärden konnte implizite Kommunikation leicht zu Missverständnissen führen. Der briefspezifische kommunikative Schwerpunkt auf der Textoberfläche falsifiziert indes nicht unsere Überlegungen zur impliziten Kommunikation in 2Kor 7,5-16. Erstens hat Paulus in seinen Briefen unterschiedlichste Stilmittel verwendet, nicht nur epistolographische. Zweitens ist 2Kor wesentlich länger als die meisten antiken Briefe und enthält dementsprechend eine ganze Anzahl von textimmanenten Signalen und Hinweisen darauf, dass 2Kor 7,5-16 als idealisiertes Lob mit mahnender Absicht zu verstehen ist, mithin als implizite Kommunikation. Drittens wurde der 2Kor im Unterschied zu den meisten kurzen Briefen in der Antike in der korinthischen Gemeinde von einem vertrauenswürdigen Boten und Mitarbeiter des Paulus laut verlesen. Dessen Auftreten wird das Seine beigetragen haben, die Intention der verschiedenen Briefteile zum Ausdruck zu bringen, ähnlich der Darbietung einer Rede durch den Redner. Nicht zuletzt hat das Insistieren auf Klarheit die Epistolographen nicht daran gehindert, bestimmte Formen impliziter Kommunikation für wichtig zu erachten und ihren Gebrauch zu empfehlen. 27 Die in den Brief-Handbüchern empfohlene Vorsicht bei der Verwendung solcher Stilmittel macht dabei deutlich, wie schwierig eine Balance zwischen Klarheit und dunkler Ausdrucksweise beim Gebrauch impliziter Kommunikation ist. Für Lesende mit einem historischen und kulturellen Abstand zur spezifischen Situation in Korinth ist die Gefahr des Missverständnisses naturgemäß viel höher. Die Auslegungsgeschichte von 2Kor 7,5-16 ist hierzu ein beredtes Zeugnis. 6. Vertrauensäußerungen als Bekräftigung von Appellen zur Aussöhnung Mit Bezug auf S.N. Olson 28 will ich in diesem Abschnitt zeigen, dass Vertrauensäußerungen in 2Kor die pragmatische Funktion haben, implizite und explizite Appelle zur Aussöhnung (und zur Kollekte) zu bekräftigen. Wir werden sehen, dass solche Äußerungen in allen Teilen des 2Kor zu finden sind und mit der Absicht von 2Kor 7,5-16 in völligem Einklang stehen. Die Häufung von Termini in 2Kor, die Vertrauen, Optimismus und Zusicherung zum Ausdruck bringen (elpis, elpizō, tharreō, kauchaomai, kauchēma, kauchēsis, ouk egkakeō, parrēsia, pepoithēsis, perf. von peithō) ist innerhalb des Neuen Testaments singulär, wie folgende Wortstatistik zeigt: Röm (28), 1Kor (14), 2Kor (54), Gal (5), Eph (6), Phil (14), Kol (4), 1Thess (5), 2Thess (2), Phil (3). Die Auslegungsgeschichte zeigt, dass die modernen Kommentatoren gewöhnlich annehmen, dass die jeweilige Tonlage die tatsächliche Beziehung zwischen Absender und Adressaten widerspiegelt. Aufgrund dieser Annahme rekonstruieren die meisten Ausleger innerhalb des 2Kor eine Entwicklung in der Beziehung zwischen Paulus und den Korinthern, und die meisten enden mit Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 21 - 3. Korrektur ZNT 38 (19. Jg. 2016) 21 Ivar Vegge Der Zweite Korintherbrief - ein Brief über Versöhnung Teilungshypothesen. Dagegen hat S.N. Olson anhand von antiken Reden, Briefen und Papyri gezeigt, dass Vertrauensäußerungen gegenüber den Adressaten häufig überdeutlich betont werden, und zwar mit der rhetorischen Funktion, einen impliziten oder expliziten Appell oder eine Forderung zu unterstreichen. Ich zitiere zwei Beispiele aus den Oxyrhynchos-Papyri (POxy 745) und einen weiteren ägyptischen Papyrus aus byzantinischer Zeit (SB 7656): »Du weißt nicht, wie er mich in Oxyrhynchos behandelt hat, nicht wie einen Schuldenfreien, sondern wie irgendeinen Betrüger, der nicht bezahlt hat. Ich bitte dich nun, dass du nicht anders handelst. Ich weiß aber, dass du alles gut ausrichten wirst. Ich will nämlich keinen Streit mit dir haben, da du mein Freund bist. Ich grüße all die Deinen […].« (POxy 745) 29 »Wenn ich auch abwesend bin, bin ich dennoch zuversichtlich, dass meine Angelegenheiten durch deine Tatkraft in bester Obhut sein werden. In dieser Zuversicht habe ich dir geschrieben.« (SB 7656) 30 POxy 745 lässt auf einen möglichen Streit schließen. SB 7656 scheint übersteigertes Lob eines Höhergestellten innerhalb einer patron-client-Beziehung zu formulieren. Der Briefeingang von SB 7656 legt außerdem eine angespannte Beziehung zwischen Absender und Adressat nahe. Die einführenden Bemerkungen in den Typoi Epistolikoi des Ps.-Demetrios zeigen deutlich, dass solche Bekundungen von Freundlichkeit und Zutrauen in keiner Weise eine reale Beziehung zwischen den beiden Parteien widerspiegeln müssen: »Der Freundschaftsbrief ist ein solcher, der von einem Freund an einen Freund geschrieben zu sein scheint […]. Man schreibt ihn nicht, weil man so eng (freundschaftlich) verbunden wäre und nur den einen Anlass (der Freundschaft) hätte, dies zu tun, sondern weil man denkt, dass, wenn man jemandem freundschaftlich schreibt, keiner widerstehen kann, sondern zu Willen sein und das tun wird, wovon im Brief die Rede ist. Gleichwohl heißt dieser Brieftypus Freundschaftsbrief, weil er wirkt wie an einen Freund geschrieben.« 31 Im Galaterbrief, der in der Situation einer angespannten Beziehung zu den Adressaten geschrieben wurde, macht Paulus in vergleichbarer Weise von einer Vertrauensäußerung Gebrauch, um seinen Appell zu unterstreichen: »Ich habe im Herrn Vertrauen in euch, dass ihr nichts anderes im Sinn habt.« (Gal 5,10; vgl. auch 2Thess 3,4; Phlm 21; Röm 15,14 f.). Äußerungen des Vertrauens bzw. ihr Fehlen können deshalb nicht als Hinweise auf verschiedene Stadien in der Beziehung zwischen Paulus und den Korinthern in unterschiedlichen Briefteilen gelesen werden. Olsons wichtige These hat freilich auf die Forschung zum 2Korinterbrief wenig Einfluss gehabt. Unter den zahlreichen Vertrauensäußerungen in 2Kor finden wir die »enthusiastischste« in 7,16: »Ich freue mich, dass ich mich in allem auf euch verlassen kann.« Wenn man diese Aussage nicht als idealisiertes Lob mit einer spezifischen pragmatischen Funktion versteht, kann man zur Pragmatik dieser Stelle schwerlich überhaupt etwas sagen. In meinem Buch habe ich ausführlich gezeigt, dass die Vertrauensäußerungen in 2Kor (u. a. 1,13b.14; 2,3b; 5,11; 7,4.16; 10,15b; 13,6) den Appell zur Aussöhnung und erneuten Freundschaft zwischen den Korinthern und Paulus bekräftigen, näherhin den Appell: - zum gegenseitigen Rühmen (1,13b.14). - zu gemeinsamer Freude (2,3b). - zur Akzeptanz des Paulus durch die Korinther (5,11). - zu völliger Aussöhnung und Eintracht (6,1-13; 7,2-4). - zur endgültigen Versöhnung (7,5-15 als eine idealisierte Beispielerzählung, mithin als impliziter Appell in Verbindung mit der Äußerung des Vertrauens in 7,16). - zur Erweiterung des Handlungsfeldes für Paulus (10,15b). - zur Anerkennung, dass Paulus als Apostel nicht versagt hat (13,6). Außerdem gibt es eine Reihe von Vertrauensäußerungen an die Adresse der Korinther, die den impliziten oder expliziten Appell zur Aussöhnung mit Paulus mit dem Appell zur Vollendung der Kollekte verbinden (7,16; 8,5. 7. 22b.24; 9,1-5). Es dürfte nun deutlich geworden sein: Vertrauensäußerungen gibt es im gesamten 2Kor in allen größeren Texteinheiten (und »Teilbriefen« entsprechend der Briefteilungshypothesen). Sie haben die pragmatische Funktion, implizite Appelle zur Aussöhnung (und zur Vollendung der Kollekte) zu verstärken. Die Vertrauensäußerungen in 2Kor stützen deshalb die These, dass der 2Kor ein einheitliches Schreiben zum Thema der Aussöhnung ist. »Vertrauensäußerungen gibt es im gesamten 2Kor in allen größeren Texteinheiten (und ›Teilbriefen‹ entsprechend der Briefteilungshypothesen).« Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 22 - 3. Korrektur 22 ZNT 38 (19. Jg. 2016) Zum Thema 7. Kritik als Stilmittel für Korrektur und Aussöhnung in 2Kor 10-13 In diesem Abschnitt werde ich zunächst darstellen, wie Kritik und Drohung in antiker Psychagogik und Epistolographie als Mittel der Korrektur verwendet wurden. Dann werde ich im Lichte dieses Materials den paulinischen Gebrauch von Kritik und Drohung in 2Kor 10- 13 untersuchen. Mein Hauptargument lautet, dass Kritik und Drohung die pragmatische Funktion haben, die Korinther zum »völligen Gehorsam« (10,6) gegenüber Paulus zu bewegen, sowie dazu, ihn als Apostel Christi zu akzeptieren. Ich werde auch auf die Risiken eingehen, die (in der antiken Psychagogik wie auch in 2Kor) mit dem Gebrauch der Drohung als Mittel zur Korrektur verbunden sind. 7.1 Kritik und Drohungen in Psychagogik und Epistolographie Das Zitat aus Paidagogos 1,10 des Klemens von Alexandrien (s. o.) ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie Popularphilosophen Lob und Tadel als Mittel der »Seelenführung« verwendeten. Plutarch spricht von Scham, Leidenschaft, Umkehr, Freude, Schmerz und Ehrgeiz als Hilfsmittel der Popularphilosophie: »Durch deren zweckmäßigen und heilsamen Gebrauch [können] die Vernunft und das Gesetz den jungen Menschen mit gutem Erfolg auf den rechten Weg führen« (Moralia 452D) 32 . Moderne Forscher wie Abraham Malherbe, Clarence Glad und andere haben gezeigt, dass die »milderen« unter den Popularphilosophen der Auffassung waren, dass das Mischungsverhältnis dieser Mittel auf die individuelle psychische Disposition des Adressaten abgestimmt sein muss, und dass Faktoren wie Zeit, Ort und Umstände zu berücksichtigen sind (etwa ob der Kritisierte eben erst ein Leid erfahren oder einen Erfolg erlebt hat, ob die Kritik öffentlich oder privat geäußert wurde etc.), ebenso der Grad moralischer Verderbtheit dessen, der gemahnt wird. Einseitige und harsche Kritik galt als zerstörend, wenn sie an schwache und empfindsame Personen gerichtet wurde. Eine popularphilosophische Faustregel lautete: Je schlechter der moralische Zustand war, desto härtere Mittel mussten eingesetzt werden. Harte Kritik war freilich risikobehaftet. Die Behandlung konnte ineffektiv sein oder sogar in ihr Gegenteil umschlagen und als Provokation aufgefasst werden, mit dem Ergebnis der Verhärtung gegenüber jeglicher weiterer Seelenführung. Deshalb musste gewährleistet sein, dass der Schmerz, der durch die geäußerte Kritik hervorgerufen wurde, ein konstruktives, therapeutisches Ziel verfolgte. 33 Der ideale Philosoph wird nur denen Schmerzen zufügen, um die er sich persönlich sorgt, d. h. seinen Freunden, und dann auch nur, um ihnen zu helfen: »Es darf der Freund beleidigen, wenn er dadurch nützt« (Plutarch Moralia 55C). 34 Das Ziel des Schmerzes (lypē) ist Umkehr (metanoia). 35 So gesehen ist es das positive moralische Resultat, nämlich ein tugendhaftes Leben, das die psychologischen Mittel der Seelenführung rechtfertigt, sei es, dass sie bei Lob und Tröstung ansetzen, oder bei Schmerz, Furcht, Scham und Kummer. Die Brief-Handbücher lassen, wie wir gesehen haben, ein rhetorisches Interesse an der Definition verschiedener Typen der Ermahnung erkennen. Der als »drohend« klassifizierte Brief-Typus weist nach Ps.-Demetrios (Typoi Ep. 8) und Ps.-Libanios (Ep. Char. 60) drei Merkmale auf: (1) Die Androhung (von Strafe) wird brieflich angekündigt. (2) Die Strafe wird (möglicherweise) zugemessen, wenn der Briefschreiber beim Adressaten erscheint. (3) Die Androhung von Strafe hat eine ermahnende Funktion. Das Ziel ist, den Adressaten zur Furcht vor Strafe zurechtzuweisen. 7.2 Drohungen und Strafe in 2Kor 10-13 Der Rückblick des Paulus in 2Kor 7,8-12 auf seinen früheren Brief, den er unter Tränen geschrieben habe, ist im Licht der psychagogischen Tradition zu verstehen. Paulus hatte früher einen solchen Brief geschrieben, der bei den Korinthern »Betrübnis« (oder Schmerz, lypē) hervorgerufen hat. Doch wie auch die Popularphilosophen betont Paulus, dass die Betrübnis ein konstruktives, therapeutisches Ziel verfolgt. Es war »göttliche Betrübnis«, die zur »Rettung« führte. Die »Rettung« der Korinther ist eng verbunden mit ihrer Aussöhnung mit Paulus. Hätten die Korinther auf die paulinische Kritik mit »weltlicher Betrübnis« reagiert, hätte ihnen dies »zum Tode« gereicht. Die Gedanken des Paulus zum therapeutischen Schmerz, der den Absichten Gottes entspricht und der zu Umkehr und Rettung führt, im Unterschied zum todbringenden »weltlichen Schmerz«, beeinflussen die Korinther unausweichlich im Blick darauf, wie sie auf die erneute Kritik und das Drohen in 2Kor 10-13 reagieren sollen. Im harschesten Passus, in dem Paulus regelrecht mit Krieg droht, mit Eroberung und Gefangennahme unter den Gehorsam Christi und mit Strafe (2Kor 10,2-6), ist höchst bemerkenswert, dass das Ziel des Paulus im »vollkommenen »Je schlechter der moralische Zustand war, desto härtere Mittel mussten eingesetzt werden.« Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 23 - 3. Korrektur ZNT 38 (19. Jg. 2016) 23 Ivar Vegge Der Zweite Korintherbrief - ein Brief über Versöhnung Gehorsam« der Korinther (10,6) besteht. Die eher indirekt ausgesprochene Strafandrohung in 2Kor 12,20a zielt darauf, dass die Korinther von internen Zwistigkeiten (12,20b) und Unmoral (12,21) absehen. Schließlich hat die Drohung, »nicht milde zu sein« nach zwei vorhergehenden Warnungen vor Strafe (13,1 f.) die Absicht, die Korinther zurecht zu bringen, sodass sie sich als Christusgläubige bewähren (13,5) und verstehen, dass Paulus als Apostel bewährt ist (13,6), und dass sie »Gutes tun« (13,7), »stark« sind und »vollkommen werden«. An dieser Schlusspassage wird deutlich, dass die volle Wiederherstellung der Korinther eng mit dem Ziel zusammenhängt, dass sie Paulus als ihren Apostel akzeptieren. Eines der Charakteristika von 2Kor 10-13 ist die sogenannte »Narrenrede«. Diese Rede ist extrem ironisch und sarkastisch. Die von außen gekommenen Gegner des Paulus, die sogenannten »Überapostel« (11,5), die in Wahrheit »falsche Apostel« sind (11,13), wie auch die Korinther werden in der Narrenrede kritisiert. Worauf es mir ankommt: Die erweiterte Einleitung der eigentlichen Narrenrede (11,21-12,10) deutet darauf hin, dass Absicht und Ziel der Rede darin bestehen, dass die Korinther Paulus »akzeptieren« (11,16b) und ihn »ertragen« (11,1. 4. 19.20), und dass sie sich von den falschen Aposteln distanzieren (11,1-15). Die abschließenden Bemerkungen der Rede lassen nochmals das Ziel von Akzeptanz und gegenseitiger Liebe zwischen Paulus und den Korinthern hervortreten. Das bedeutet: Wenn Paulus droht (10,2-11; 12,20f.; 13,1-10) und einen ironischen und sarkastischen Ton anschlägt (11,1-12,10), um die Adressaten zu kritisieren und sie zurecht zu bringen, geht es um volle Aussöhnung und die Akzeptanz des Paulus als Apostel. Das durchgängige Ziel in 2Kor 10-13 ist mithin dasselbe wie in 2Kor 1-9. 7.3 Die Risiken und Grenzen von Drohungen als Mittel der Mahnung In der korinthischen Korrespondenz verwendet Paulus Drohungen als Mittel der Zurechtbringung in 1Kor 4,18-21; 2Kor 10,2-11; 12,20f. und 13,1-0. In allen diesen Texten finden wir die von Ps.-Demetrios (Typoi Ep. 8) und Ps.-Libanios (Ep. Char. 60) verzeichneten Merkmale des drohenden Brief-Typus: (1) Paulus droht brieflich Strafe an, (2) Die Strafe wird (möglicherweise) vollzogen, wenn Paulus nach Korinth kommt, (3) Ziel ist, durch die Furcht vor Strafe die Adressaten zurecht zu bringen. Was aber, wenn einige der Adressaten nicht entsprechend dieser Absicht auf die Drohungen reagierten, und wenn Paulus nach Korinth käme, ohne die angedrohte Strafe zu vollziehen? Dies spricht Paulus in 1Kor 4,18- 21 ausdrücklich an, wenn er zwei mögliche Szenarien zur Wahl stellt: »Was wollt ihr? Soll ich mit dem Stock zu euch kommen oder in Liebe und im Geist der Sanftmut? « Als Paulus freilich zu einem Zwischenbesuch nach Korinth zurückkehrte (2Kor 1,15f.) und wahrscheinlich von dem »Beleidiger« (2,5-11; 7,12) wie auch von denen, »die sich versündigt und […] das ausschweifende Leben, das sie führten, nicht bereut haben« (12,21-13,2), angegriffen wurde, hat er dies nicht mit einer Strafaktion geahndet. Stattdessen hat er die Warnung ausgesprochen, beim nächsten Besuch keine Milde mehr walten zu lassen (13,2). Anstelle eines zunächst angekündigten baldigen weiteren Besuchs (1,15-19) schrieb Paulus den »Tränenbrief« (2Kor 2,1-4). Aus 2,1-4 und 7,8-11 geht hervor, dass dieser Brief auch den Korinthern Kummer bereitete. Er muss also sehr schroff ausgefallen sein und hat möglicherweise auch Drohungen enthalten. Dies ist der Hintergrund für den von den Gegnern an Paulus gerichteten Vorwurf der Doppelzüngigkeit. Auf die Ferne sei er »mutig«, und seine Briefe seien »gewichtig und stark« (10,1). Dagegen sei er in der persönlichen Begegnung servil und schwach und seine Rede sei verächtlich (so ausdrücklich in 10,1.10; angedeutet in 11,21a.30-33; 12,21 und 13,3 f.6-9). Aufgrund dessen bestreiten seine Gegner seine Eignung als Apostel (10,2b.7; 13,3a). Wie hat Paulus nun darauf reagiert? Er verfolgt zwei Gedankenlinien: Einerseits betont er: »Was wir durch das geschriebene Wort vermögen, wenn wir fern sind, das vermögen wir durch die Tat, wenn wir da sind« (10,11). Deshalb ist es wichtig für Paulus, dass er mit rhetorischem pathos dasjenige Verhalten literarisch manifestiert, das er auch in Korinth an den Tag legen wird. Dies tut er am Beginn von 2Kor 10, wenn er davor warnt, dass er Krieg führen, Gefangene machen und zerstören und strafen wird (10,4-6). Ebenso baut Paulus in 2Kor 13,1-4 ein starkes pathos auf, wenn er im Blick auf seinen dritten Besuch warnt. Er wird die Korinther dann nicht mehr »schonen« (13,2). Diese beiden Rahmenstück bestimmen die Tonlage der Kapitel 10-13. Es ist freilich, wie wir sahen, nichts Neues, dass Paulus auf eine Drohung eine Strafe folgen lässt. Dies gilt bereits für 1. Kor 4,18-21. Man beachte besonders die »Im harschesten Passus, in dem Paulus regelrecht mit Krieg droht […] (2Kor 10,2-6), ist höchst bemerkenswert, dass das Ziel des Paulus im ›vollkommenen Gehorsam‹ der Korinther (10,6) besteht.« Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 24 - 3. Korrektur 24 ZNT 38 (19. Jg. 2016) Zum Thema Notiz in 2Kor 1,23: »Nur um euch zu schonen, bin ich nicht mehr nach Korinth gekommen«. Das hier verwendete pheidomai (»schonen«) begegnet auch in 13,2 f. Die Aussage in 1,23 bezieht sich nicht auf eine in der Vergangenheit bereits geklärte Angelegenheit, sie ist vielmehr Teil der paulinischen Selbstverteidigung gegen den Vorwurf der Falschheit wegen der geänderten Reisepläne (1,15-24). Paulus spricht diese strittige Sache in 1,23 kurz an, wartet aber bis Kap. 10-13 damit, diese ausführlich zu behandeln. Die dort (10,1-11; 13,1-4) verfolgte literarische Strategie einer literarischen Manifestation dessen, was er durch ein Strafhandeln in Korinth (möglicherweise) in die Tat umsetzen wird, erklärt die unterschiedliche Tonlage in 10-13 verglichen mit 1,23 und 2Kor 1-9 insgesamt. Es bedarf deshalb keiner Annahme einer Situationsveränderung zwischen 1-9 und 10-13, ebenso keiner Teilungshypothese, die den abrupten Wechsel im Tonfall zwischen diesen Kapiteln erklärt. Andererseits hält Paulus, obwohl er an der Möglichkeit festhalten muss, dass er für eine Strafaktion nach Korinth kommen wird (v. a. 10,2-11; 13,1-4), an der besseren Möglichkeit fest, dass die Korinther sich zurechtweisen lassen (10,1-11; 11,16-21a; 12,20 f.; 13,1-10). Dann wird er in der Lage sein, im Einklang mit der »Sanftmut und Freundlichkeit Christi« (10,1) und der »Vollmacht, euch aufzurichten, nicht euch zu zerstören« (10,8; vgl. 13,10) nach Korinth zu kommen. Wenn Paulus das korinthische Ideal des Apostolats als Tyrannei und der Fremdmissionare als Tyrannen beschreibt und dieses Ideal ironisch als Vergleichsgröße akzeptiert, die ihn schwach dastehen lässt, dann macht er die Torheit der Korinther offenkundig, wenn sie ihn dafür kritisieren, dass er davon absieht, seine Autorität als Strafender unter Beweis zu stellen (11,6-21a). Am Ende der Narrenrede kommt Paulus auf einen Punkt zu sprechen, der ihm nun tatsächlich einen Grund zum Rühmen gibt: seine Schwachheit (11,30-12,10). Wie die Schwachheit des Paulus ein Medium für die Kraft Gottes sein kann, wird aber erst am Ende des Briefes richtig deutlich (13,7-10): Paulus würde lieber so erscheinen, »als ob« (hōs) er die Probe des Apostels nicht bestanden hätte (13,7) und als schwach dastehen (13,9), solange die Korinther nur das Gute tun (13,7), stark sind und vollkommen (13,9). Paradoxerweise würde Paulus gerade damit eine Probe auf die Kraft Gottes geben, nämlich damit, dass die Korinther durch des Paulus Schwachheit erbaut würden. Paulus modifiziert also seine Kriegsmetaphern und nicht zuletzt auch die der Korinther nicht nur (10,2- 6,11), sondern er transformiert sie im Licht des Kreuzes Christi (13,3 f.). Dieser Argumentationsfortschritt im Verlauf von 10,1-11 bis 13,7-10 ist auch der Fortschritt, den Paulus für das rechte Verständnis der Korinther anstrebt, was es bedeutet, ein Apostel Christi zu sein. Diese Gedankenbewegung entspricht dem Ansinnen des Paulus, den Konflikt mit den Korinthern nicht eskalieren zu lassen, sondern Aussöhnung zu erreichen. Es ist daher entscheidend, nicht nur auf das zu achten, was Paulus sagt, sondern an welcher Stelle seiner Argumentation er es sagt und mit welcher Absicht er dies tut. 8. Eine Bemerkung zu 2Kor 2,14-7,4 Wir haben bereits dargelegt, dass und warum 2Kor 2,14- 7,4 ein klar abgrenzbarer Abschnitt ist. Hier möchte ich einfach darauf hinweisen, dass dieser Abschnitt mit einem starken Appell zur Versöhnung mit Paulus endet (6,11-13; 7,2- 4). Das heißt: Der für 2,14-7,4 so charakteristische apologetische Aspekt zielt darauf, den Appell zur Aussöhnung zu stützen. 2Kor 2,14-7,4 ist deshalb integraler Bestandteil des 2Kor, der als Ganzes dem Anliegen der vollen Aussöhnung zwischen Paulus und den Korinthern gewidmet ist. 9. Fazit In diesem Beitrag habe ich gezeigt, dass Paulus im 2Kor eine Reihe mahnender Stilmittel verwendet und darin mit den antiken Popularphilosophen (Psychagogik), Briefschreibern (Epistolographie) und Rhetorikern übereinstimmt. Einerseits tritt Paulus als »freundliche Amme« auf (vgl. 1Thess 2,7), wenn er sich (1) für Vergebung und Wiederannahme des Beleidigers ausspricht (2,5-11), wenn er (2) von idealisiertem Lob Gebrauch in mahnender Absicht macht (7,5-16), und wenn er (3) Vertrauensäußerungen verwendet, die explizite oder implizite Appelle untermauern (1,13b.14; 2,3b; 5,11; 7,4.16; 10,15b; 13,6, vgl. auch 8,5.7; 8,22b.24; 9,1-5), um die volle Aussöhnung mit den Korinthern zu fördern. Andererseits wählt Paulus eine »härtere Gangart«, wenn er (4) eine leidenschaftliche Verteidigung seines apostolischen Dienstes vorträgt, die mit einem eigenen Appell anhebt und endet (2,14-7,4), wie er auch zum »Der für 2,14-7,4 so charakteristische apologetische Aspekt zielt darauf, den Appell zur Aussöhnung zu stützen.« Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 25 - 3. Korrektur ZNT 38 (19. Jg. 2016) 25 Ivar Vegge Der Zweite Korintherbrief - ein Brief über Versöhnung Mittel der »schmerzhaften Behandlung« greift, wenn er (5) eine extrem ironische und sarkastische »Narrenrede« vorträgt (11,1-12,15), und (6) den Korinthern droht (10,2-11; 12,20 f.; 13,1-10), um sie zu kritisieren und zurechtzubringen. Das Ziel ist aber immerzu dasselbe: Die volle Aussöhnung zwischen den Korinthern und Paulus als ihrem legitimen Apostel Christi. Der 2. Korintherbrief ist deshalb ein einheitlicher Brief über Versöhnung. Anmerkungen 1 Auf diesem Buch fußt der vorliegende Aufsatz: I. Vegge, 2 Corinthians-- a Letter about Reconciliation: A Psychagogical, Epistolographical and Rhetorical Analysis (WUNT II/ 239), Tübingen 2008. 2 Zur Psychagogik und ihrer Beziehung zu Paulus vgl. besonders A.J. Malherbe, Moral Exhortation: A Greco-Roman Sourcebook (LEC 4), Philadelphia 1986; A.J. Malherbe, Paul and the Popular Philosophers, Minneapolis 1989; A.J. Malherbe, Hellenistic Moralists and the New Testament, ANRW II 26/ 1, 1992, 267-333; C.E. Glad, Paul and Philodemus. Adaptability in Epicurean and Early Christian Psychagogy (NovTSup 81), Leiden/ New York/ Köln 1995; J.T. Fitzgerald (Hg.), Friendship, Flattery, and Frankness of Speech. Studies on Friendship in the New Testament World (NovTSup 82), Leiden/ New York/ Köln 1996. 3 Zur Epistolographie vgl. A. J. Malherbe, Ancient epistolary theorists, Atlanta 1988; S.K. Stowers, Letter Writing in Greco-Roman Antiquity (LEC 5), Philadelphia 1986; M.L. Stirewalt, Studies in Ancient Greek Epistolography (SBLRBS 27), Atlanta 1993. 4 Zur antiken Rhetorik vgl. R. Volkmann, Die Rhetorik der Griechen und Römer in systematischer Übersicht, Leipzig 2 1885; J. Martin, Antike Rhetorik. Technik und Methode. Handbuch der klassischen Altertumswissenschaft, München 1974; G.A. Kennedy, A New History of Classical Rhetoric, Princeton 1994. 5 Übersetzung hier und nachfolgend nach der Züricher Übersetzung. 6 Vgl. Platon Menexenos 235A-C; vgl. auch Agathons Rede im Symposion und Lysias’ Rede über den Eros im Phaidros. 7 G.A. Kennedy, A New History of Classical Rhetoric, Princeton 1994, 62. 8 D.L. Sullivan, The Ethos of Epideictic Encounter, Ph&Rh 26.2 (1993), 113-133, hier: 118, vgl. auch 115. 9 Übersetzung aus: Plutarch, Moralia, hg. von Chr. Weise und M. Vogel, Bd. 1, Wiesbaden 2012, 131. 10 Übersetzung aus: Klemens von Alexandrien, Teppiche (BKV 2. Reihe, Bd. 17, München 1936, 287f.). Vgl auch Sextus Empiricus Pyr. 3,281. Dass Lob auf diejenigen verwendet wird, die einen moralischen Fortschritt erkennen lassen, kommt auch bei Isokrates Or. 9,79 zum Ausdruck: »Ich handele und werde (auch künftig so) handeln wie die Betrachter bei den athletischen Wettkämpfen: Auch diese nämlich feuern nicht diejenigen Läufer an, die zurückbleiben, sondern die um den Sieg kämpfen« (eigene Übersetzung, griech. Text: TLG). 11 Vgl. z. B. Plutarch Adulator, Dio Chrysostomos Or. 15, Philodem De libertate dicendi, Lukian Apologia, De parasito und De mercede conductis, sowie Maximos von Tyros Or. 14. 12 Vgl. bes. A. J. Malherbe, Paul and the Thessalonians: The Philosophic Tradition of Pastoral Care, Philadelphia 1987. 13 Vgl. dazu Malherbe, Ancient epistolary theorists, 4; vgl. auch H. Koskenniemi, Studien zur Idee und Phraseologie des griechischen Briefes bis 400 n. Chr (Suomalaisen Tiedeakatemian Toimituksia, Annales Academiae Scientiarum Fennicae 102,2), Helsinki 1956, 62 und J.L. White, Light from Ancient Letters, Philadelphia 1986, 190. 14 Eigene Übersetzung, griech. Text: TLG. 15 Bereits R. Bieringer, Plädoyer für die Einheitlichkeit des 2Korintherbriefes. Literarkritische und inhaltliche Argumente, in: R. Bieringer/ J. Lambrecht (Hg.), Studies on 2 Corinthians (BETL 112), Leuven 1994, v. a. 166; 178 f., hat die paulinische Strategie nachgezeichnet, die Beilegung des durch »den Beleidiger« provozierten Konflikts (7,5-16) als Modell für die Lösung des zweiten Problems in Gestalt der Gegner in 2,14-7,4 und in Kap. 10-13 kenntlich zu machen: Wie die Korinther auf den »Beleidiger« reagiert haben, so sollten sie nun auch im Umgang mit den Gegnern handeln. Freilich hat Bieringer seine Hypothese in einer Weise eingegrenzt, dass sie angreifbar wird. Es geht in 7,5-16 nicht darum, von einem Feld des Konflikts auf ein anderes zu schließen. Es geht schlicht um die Aussöhnung mit Paulus. Paulus lobt und idealisiert die geschehene teilweise Aussöhnung, um die volle Aussöhnung zu erreichen. 16 Das Ziel rhetorischer »Verstärkung« (amplificatio) wird von B. Baur, Amplificatio, HWR 1, 1992, 445-449 wie folgt definiert: »Die A[mplificatio] ist ein Verfahren, einem Argument oder dem Teil einer Rede mit Worten oder Gedanken zusätzliches Gewicht zu geben, so dass sie an Überzeugungskraft und affektiver Wirkung gewinnt« (445). Cicero stellt in De or. 3,104 und Part. or. 4-5; 27; 52-54 heraus, dass die amplificatio das rhetorische Stilmittel par excellence ist. 17 Dieses Verständnis von 2,5-11 wird von einer Reihe von Kommentatoren geteilt, so etwa R. Bultmann, Der zweite Brief an die Korinther (KEK Sonderband), Göttingen 1975, 2 1987; V.P. Furnish, 2 Corinthians (AB 32a), New York 1984; F. Lang, Die Briefe an die Korinther (NTD 7), Göttingen 1986. 18 M.M. Mitchell, New Testament Envoys in the Context of Greco-Roman Diplomatic and Epistolary Conventions: The Example of Timothy and Titus, JBL 111 (1992), 641- 662, hier: 661 f. Vgl. auch 660f.: »Das Ergebnis beider Briefwechsel ist eine Bestätigung des gegenseitigen Wohlwollens der beiden beteiligten Parteien. Dieser Austausch von Bekundungen des Wohlwollens gehört zu den konventionellen Ausdrucksmitteln. Er kann intensiviert werden, wenn die Beziehung der Gefahr der Entfremdung und Störung ausgesetzt ist, wie dies in 2Kor offen zutage liegt und vielleicht auch in 1Thess der Fall ist.« Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 26 - 3. Korrektur 26 ZNT 38 (19. Jg. 2016) Zum Thema 19 Zur mahnenden Funktion solcher Gebete vgl. G. P. Wiles, Paul’s Intercessory Prayers: The Significance of the Intercessory Prayer Passages in the Letters of Paul (SNTSMS 24), Cambridge 1974, 52-63 und A.J Malherbe, Paul and the Thessalonians: The Philosophic Tradition of Pastoral Care, Philadelphia 1987, 77 (zu 1Thess 3,10-13), sowie allgemein K. Stendahl, Paul at Prayer, Int. 34 (1980), 240- 249. 20 Vgl. etwa Seneca Ep. 6,5-6; Ambrosius Virg. 2,1,2. Für die Popularphilosophen war es entscheidend, dass sie ihre Lehre mit eigenen Tatbeispielen unterlegten. Vgl. hierzu A.J. Malherbe, Moral Exhortation: A Greco-Roman Sourcebook (LEC 4), Philadelphia 1986, 38-40 und 135-138, und nicht zuletzt H.W. Merrit, In Word and Deed: Moral Integrity in Paul (ESEC 1), New York 1993. Vgl. auch 1Kor 4,16; 11,1; Eph 5,1; Phil 3,17; 1Thess 1,6; 2,14; 2Thess 3,7.9. 21 Rhetorica ad Herennium 4,49,62. Übersetzung: Rhetorica ad Herennium, Lateinisch-deutsch, Übers. von Th. Nüsslein (Hg.), Darmstadt 1994, 299; 301. Zur erklärenden und illustrierenden Funktion des Beispiels vgl. auch Rhetorica ad Alexandrum 8,1,1429a. Quintilian 8,3,73 betont in einem ähnlichen Kontext, dass das Beispiel deutlicher sein muss als das, was es zu erklären unternimmt. Seneca Ep. 6,5 argumentiert für vorrangige Bedeutung des Beispiels als mahnendes Stilmittel gegenüber dem Gebrauch von Enthymemen mit dem Hinweis, dass Menschen mehr Zutrauen in visuelle als in akustische Sinneswahrnehmungen haben. 22 Seneca Ep. 94,40-42. Zur unmittelbaren Wirkung des Beispiels vgl. auch Plut. Mor. 14A-B. 23 Eigene Übersetzung. Griech. Text: TLG. 24 Eigene Übersetzung. Griech. Text: TLG. 25 In meinem Buch analysiere ich unterschiedliche antike Kategorien impliziter Kommunikation, die ähnliche Aspekte wie in den beiden Zitaten aus Demetrios und Longinos ansprechen; vgl. hierzu Vegge, 2 Corinthians-- a Letter about Reconciliation, 122-137. Ich beginne dort mit der Metapher. Zwar ist es durchaus nicht mein Ziel, den 2Kor insgesamt als Metapher zu interpretieren, doch ist die Metapher als Form der impliziten Kommunikation in der Antike weithin verbreitet und bekannt. Mir kommt es darauf an, dass die Auffassungen antiker Rhetoriker und Philosophen von der Metapher sich auch bei ihren Überlegungen zu anderen Weisen der impliziten Kommunikation finden, die für 2Kor 7,5-16 von größerer Bedeutung sind. Ich fange mit dem an, was weiter verbreitet ist und schreite von dort zum weniger Bekannten weiter, u. a. die ratiocinatio, die controversiae figurate und nicht zuletzt die emphasis. 26 Vgl. Demetrios Eloc. 226; Philostrat Ep. II 257,29- 258,28; Gregor von Nazianz Ep. 51,4; Ps.-Libanios Ep. Char. 48, hier als ein Zitat des Philostrat von Lemnos. 27 Ps.- Libanios thematisiert ironische (Ep. Char. 9) wie auch enigmatische Brief-Typen (Ep. Char. 41). Zu den ironischen Briefen vgl. auch Ps.-Demetrios Typoi Ep. 20. Ps.-Demetrios Typoi Ep. 15 kennt außerdem den allegorischen Brief-Typus, und Gregor von Nazianz Ep. 51,5 weiß, wie wichtig es ist, dasjenige zu schätzen, was er die Qualität des Anmutigen nennt. Hierzu gehört, so Gregor, etwa auch der Gebrauch von Rätseln. 28 S.N. Olson, Confidence Expressions in Paul: Epistolary Conventions and the Purpose of 2 Corinthians (Ph. D. diss), Yale University 1976. Vgl. auch S.N. Olson, Epistolary Uses of Expressions of Self-Confidence, JBL 103.4 (1984), 585-597 und S.N. Olson, Pauline Expressions of Confidence in His Addressees, CBQ 47 (1985), 282-95. 29 Eigene Übersetzung. Griech. Text: http: / / papyri.info/ ddbdp/ p.oxy; 4; 745. 30 Eigene Übersetzung. Griech. Text aus Vegge, 2 Corinthians-- a Letter about Reconciliation, 144. 31 Ps.-Demetrios Typoi Ep. 1,1. Eigene Übersetzung. Griech. Text: TLG. 32 Übersetzung: Plutarch, Moralia., hg. von Chr. Weise und M. Vogel, Bd. 1, Wiesbaden 2012, 771. 33 Plut. Mor. 46E-47A; vgl. 56A; 74D-E, 810C; Epiktet Diss. 2,14,14-22; 3,1,10-11; Dio Chrys. Or. 32,10.16- 19. 30. 33; 33,6-7; Klemens von Alexandrien Quis dives salvetur 41,1-3. 34 Übersetzung: Plutarch, Moralia, hg. von Chr. Weise und M. Vogel, Bd. 1, Wiesbaden 2012, 106. 35 Vgl. Plut. Mor. 55A, 68F, 452C, 476F, 961D. Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 27 - 3. Korrektur ZNT 38 (19. Jg. 2016) 27 1. Der Unrechttäter und das Unrecht Im Zentrum der Vertrauenskrise zwischen Paulus und den Korinthern steht eine geheimnisvolle, namenlose Einzelperson, auf die sich Paulus wiederholt bezieht: 1 Jemand, der »Unrecht getan« (7,12) und »Kummer« bereitet hat (2,5). Das Schwergewicht dieses Angriffs erhellt aus seinen Folgen: Paulus verschob seinen geplanten Besuch nach Korinth (1,15 f.23; 2,1) und schrieb stattdessen einen tränenreichen Brief (2,3f.), der, wie er fürchtete, unter den Korinthern für Bestürzung sorgen würde (7,8). Stellt man die Bedeutung dieser Episode in Rechnung, sollte man meinen, dass die Forschung weitaus mehr Mühe darauf verwenden würde, worin denn das Unrecht bestand und wer der Täter war. Doch in den beiden letzten Generationen sind hierzu nur drei Aufsätze erschienen. 2 Der Grund hierfür ist unschwer zu finden: Im Interesse von Vergebung und Aussöhnung verhüllt Paulus den Unrechttäter mit dem Vorhang der Anonymität und vermeidet aus Diskretion die Beschreibung des Unrechts. In der Konsequenz hat es die Forschung aufgegeben, die Identität des Unrechttäters und die Art des Unrechts ergründen zu wollen. 3 Wenn hier doch noch ein Ergebnis erzielt werden soll, ist der einzige Weg, zunächst das Schweigen des Paulus ernst zu nehmen und nach seiner Ursache zu fragen. In dem Abschnitt, in dem Paulus über Vergebung und Aussöhnung im Blick auf den spricht, der ihm Leid zugefügt hat (2,5-11), ist sein Stil bemerkenswert »ausweichend«. 4 Er vermeidet es konsequent, die schuldige Gruppe beim Namen zu nennen und verwendet stattdessen gänzlich unbestimmte Formulierungen (»jemand«, »ein solcher«, »er«, »ihn, der«) zusammen mit subtilen rhetorischen Mitteln, die den Effekt haben, Anschuldigungen abzumildern und eventuellen Kontrollen vorzubeugen: Konditionalsätze (»wenn denn jemand Leid zugefügt hat«, »wenn ich denn etwas zu vergeben hatte«), relativierende Phrasen (»in gewissem Grade«, »um nicht zu viel zu sagen«), Bekundungen höherer Motive (»um euretwillen«, »damit wir nicht vom Satan übervorteilt werden«, »damit euer Eifer für uns bei euch kund werden möge vor Gott«), etc. Die Beachtung solcher Stilmittel ist ein erster Schritt, um die rhetorische Situation des Paulus gegenüber dem Unrechttäter richtig einzuschätzen. Um aber zu einer begründeten Hypothese über die Identität des Unrechttäters und die Art des Unrechts zu gelangen, ist zunächst die Gattung zu erheben, der der Brief des Paulus zuzurechnen ist, um so in der Lage zu sein, die Logik und die Konventionen des paulinischen Diskurses zu verstehen. In seinem großartigen Kommentar zum 2. Korintherbrief hat Hans Windisch festgestellt, dass die Abschnitte 1,1-2,13 und 7,5-16 dem »therapeutischen« oder »versöhnenden« Brieftypus zuzurechnen sind, wie er etwa im Handbuch des Libanios beschrieben wird. 5 Libanios definiert den »therapeutischen« Brief als einen solchen, »in dem wir jemanden versöhnen, der von uns aus irgendeinem Grund betrübt wurde«. 6 Libanios fügt hinzu, dass »diesen manche den apologetischen Typus nennen«. Die Definition zeigt, dass die Funktion dieses Brieftypus darin besteht, »Schmerz« oder »Kummer« (lypē) zu heilen. Der Beispielbrief, den Libanios bietet, versetzt uns in die Lage, die sozialen Beziehungsmerkmale zu erheben, die für diesen Brieftypus konstitutiv sind. 7 Wer einen versöhnlichen Brief schreiben will, wird anhand folgender Beispielsätze instruiert: »Zusätzlich zu dem, was ich sagte, ging ich dazu über, dies in die Tat umzusetzen, denn ich war mir höchst sicher, dass es niemals irgendeine Betrübnis auslösen könnte. Wenn du jedoch verärgert warst über das, was gesagt oder getan wurde, dann sei gewiss, Bester, dass ich hierauf nicht mehr zu sprechen kommen werde. Denn mein Ziel ist immer, auf meine Freunde heilsam zu wirken, nicht, sie zu betrüben.« 8 Die wesentlichen Merkmale dieses Brieftypus sind folgende: (1) Absender und Adressat sind Freunde, (2) der Adressat wurde vom Absender betrübt, (3) der Absender versucht, den Adressaten zu versöhnen und die Beziehung wieder herzustellen. Es ist klar, wie nahe 2Kor 1,1-2,13; 7,5-16 dem versöhnenden Brieftypus steht. Paulus schreibt den Laurence L. Welborn Paulus und der »Unrechttäter« des 2. Korintherbriefes Das Ringen um Versöhnung Zum Thema »Im Interesse von Vergebung und Aussöhnung verhüllt Paulus den Unrechttäter mit dem Vorhang der Anonymität und vermeidet aus Diskretion die Beschreibung des Unrechts.« Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 28 - 3. Korrektur 28 ZNT 38 (19. Jg. 2016) Zum Thema Korinthern, um sie nach der Betrübnis (lypē), die er mit seinen Worten und Taten ausgelöst hat, wieder mit sich zu versöhnen. Paulus hat zugesagt, nach Korinth zu kommen (1,15 f.), aber anstatt dieses Versprechen einzulösen (1,23; 2,1), hat er einen Brief geschrieben, der bei den Korinthern einige Bestürzung ausgelöst hat (2,34; 7,8). Unter denen, die dieser Brief verletzt hatte, war eine Einzelperson, die darunter mehr als alle anderen gelitten hatte, ja, es bestand die Gefahr, dass dieser Einzelne »von übermäßigem Schmerz verzehrt« werden würde (2,7). Paulus schreibt mit dem Ziel, sich mit allen Korinthern auszusöhnen, gibt aber besondere Anweisungen für diese Einzelperson, die ihm besonders am Herzen liegt (2,7 f.). Dass zwischen Paulus und dem Unrechttäter ein solches Maß an gegenseitig zugefügtem Schmerz im Spiel war, dass Paulus solche Anstrengungen unternahm, diesen Bruch zu heilen, und dass er zu Vergebung, Aussöhnung und Liebe aufrief, lässt auf eine besondere Freundschaft schließen (2,7 f.). Aristoteles, Plutarch und andere antike Autoren beschreiben die besondere Anfälligkeit von Freundschaften für Schmerz. 9 Untersucht man Briefe des »versöhnenden« Typus, wird deutlich, dass die Verfasser konsequent vermieden, die in den Konflikt involvierte(n) Person(en), mit der/ denen Aussöhnung erreicht werden sollte, beim Namen zu nennen, und dass sie stattdessen Umschreibungen wie »jemand« oder »solch eine Person« verwendeten. 10 Laurence L. Welborn (*1954) ist Professor für Neues Testament und Frühes Christentum an der Fordham University (USA) und Honorarprofessor für Alte Geschichte an der Macquarie University (Australien). Wichtige Veröffentlichungen: Politics and Rhetoric in the Corinthian Epistles (1997); Paul, the Fool of Christ (2005); An End to Enmity (2011). Welborn ist Herausgeber der Buchreihe Synkrisis (Yale University Press). Prof. Dr. Laurence L. Welborn Der zweite Brief des Demosthenes ist eine auf Aussöhnung bedachte Apologie an die athenische Ratsversammlung, mit der der Rhetor an die Adressaten appelliert, ihn aus dem Exil zurückzuholen. 11 Im Verlauf der Apologie nennt Demosthenes seine Opponenten nirgends mit Namen, obwohl diese den Adressaten aus anderen Zusammenhängen namentlich bekannt sein müssen. Es handelt sich um Dinarch und Hyperides. 12 Demosthenes nennt seine Ankläger lediglich »gewisse Ratsmitglieder« (Ep. 2,2). Das Bemühen, seine Athener mit sich zu versöhnen, geht so weit, dass er den Anklägern im Voraus dafür dankt, dass sie doch die gegen ihn gerichtete Anklage fallen lassen, wie sie es bei anderen Beschuldigten ja auch getan haben. Die angestrebte Verzeihung rechtfertigt er damit, dass er die Ankläger als Akteure des Volkswillens darstellt. Aber selbst an diesem Punkt des Gedankengangs nennt er sie nicht mit Namen (Ep. 2,26). Mark Aurel achtet in seinem Versöhnungsbrief an seinen Freud und früheren Lehrer Herodes Atticus sorgfältig darauf, dass er keine Personen aus dem Hause des Herodes mit Namen nennt, die nach Mark Aurels Darstellung den Konflikt zwischen ihm und Herodes verursacht haben. 13 Stattdessen ist nur die Rede von »von der Beleidigung durch einige aus deinem Hause« (Philostrat Vit. Soph. 2,1,562). Außerdem bestätigt Mark Aurel seinem Adressaten an selber Stelle, dass dieser die Beleidiger »so mild wie möglich« gestraft hat. Diese und weitere Beispiele 14 legen den Schluss nahe, dass die rhetorische Konvention, gekränkte Freunde nicht mit Namen zu nennen, in apologetischen Kontexten zum Tragen kam, in denen es den Verfassern von Briefen und Reden um Aussöhnung mit Gefährten ging, bei denen persönliche Kränkungen im Spiel waren. Umschreibungen ersetzten in diesen Fällen Personennamen, die den Adressaten wohlbekannt waren, also Mitglieder derselben Gruppe bzw. desselben Haushaltes. Damit wird vermieden, durch namentliche Identifikation beteiligter Personen Salz in offene Wunden zu streuen. Damit werden aber zugleich auch diese Personen zugänglich für Versöhnung. Bild und Verhalten des Beleidigers werden außerdem dadurch aufgewertet, dass der Konflikt generalisiert oder der Beleidiger als Repräsentant einer Mehrheit angesprochen wird. Jedenfalls geht es um Versöhnung, um die Wiederherstellung einer beschädigten Beziehung, um die Heilung von Verwundungen. »Dass zwischen Paulus und dem Unrechttäter ein solches Maß an gegenseitig zugefügtem Schmerz im Spiel war, dass Paulus solche Anstrengungen unternahm, diesen Bruch zu heilen, und dass er zu Vergebung, Aussöhnung und Liebe aufrief, lässt auf eine besondere Freundschaft schließen.« Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 29 - 3. Korrektur ZNT 38 (19. Jg. 2016) 29 Laurence L. Welborn Paulus und der »Unrechttäter« des 2. Korintherbriefes Es ist eindrucksvoll, wie eng sich Paulus in 2Kor 1,1- 2,13; 7,5-16 an der Konvention orientiert, seinen verletzten Freund durch Verwendung der üblichen Umschreibungen (»jemand«, »ein solcher«) nicht namentlich zu nennen. Paulus mildert die Härte der gegen den Beleidiger erhobenen Vorwürfe außerdem durch die Verwendung relativierender Formulierungen wie etwa »in gewissem Maße« oder »um nicht zu viel zu sagen« (2,5). Im Interesse von Vergebung und Versöhnung »verbessert« Paulus das Bild des Beleidigers dadurch, dass er den »überaus großen Schmerz« dramatisiert, der ihn zu »übermannen« droht (2,7). Außerdem generalisiert er den vom Beleidiger verursachten Kummer, indem er die Korinther an ihre Mitschuld erinnert, auf die ihre Reue schließen lässt (7,7b.8 f.). Wie die Verfasser anderer versöhnender Briefe auch minimiert Paulus seine Rolle in diesem Konflikt so weit wie möglich, etwa in 2,5 (»Wenn jemand bekümmert hat, so hat er nicht mich bekümmert«) oder in 5,10 (»Wenn ich denn etwas zu vergeben hatte«). Sodann wählt Paulus eine betont objektive Form der Selbstreferenz wie etwa »der, der beleidigt wurde« bei der letzten Erwähnung des Vorfalls in 7,12. Ebenso spricht Demosthenes nicht von »mir«, sondern von »solch einer Person«, wenn er sich selbst als Opfer schlechter Behandlung meint. 15 Bemerkenswert sind auch die terminologischen Gemeinsamkeiten von 1,1-2,13; 7,5-16 mit anderen Versöhnungsbriefen und Reden, die das Stilmittel der Vermeidung von Personennamen gekränkter Freunde verwenden, etwa »betrüben« (lypein), »zu streng sein« (epibarein), »Strafe« (epitimia), »Unrechttun« (adikein), »Unrecht erleiden« (adikeisthai). 16 Die Orientierung des Paulus an den für Aussöhnung maßgeblichen rhetorischen Konventionen ermutigt zu der Frage, ob die Anwendung sozialer Konventionen einen Fortschritt in der Suche nach dem Beleidiger verspricht, verhält es sich doch so, dass rhetorische Konventionen zur Versöhnung soziale Konventionen abbildeten, die einen Versöhnungsvorgang erfolgreich zum Ziel zu führen versprachen. Hierbei ging es um Akte der Gastfreundschaft, zumindest eine gemeinsame Mahlzeit, öfters aber auch ein längerer Aufenthalt, bei dem eine Partei im Versöhnungsprozess der Gast und die andere der Gastgeber war. 17 Das soziale Ritual der Gastfreundschaft zelebrierte das Beiseitelassen von Feindschaft und die Wiederherstellung freundschaftlicher Beziehungen, und es machte die Versöhnung gegenüber anderen öffentlich. 18 Es gibt zahlreiche Anwendungsbeispiele für diese Konventionen in der römischen politischen Geschichte, in der pragmatisch kalkuliertes Eigeninteresse oftmals zur Versöhnung führte. 19 In einem Brief Ciceros an Lentulus Spinther erfahren wir, dass Cicero sich oberflächlich mit dem von ihm stets gehassten Crassus versöhnt hatte. 20 Diese Versöhnung wurde durch neuen Streit und harte Angriffe wieder gestört. 21 Aber Pompeius bemühte sich um eine Aussöhnung mit Crassus, und als diese Bemühungen den gewünschten Erfolg zeigten, notiert Cicero, dass »Crassus, damit unsere Versöhnung gleichsam dem römischen Volk bekannt gemacht würde, in die Provinz kam, fast in mein eigenes Haus, wie ich sagen könnte, denn nach vorheriger Absprache mit mir war er mein Gast zu einem Mahl im Landhaus meines Schwiegersohnes Crassipes« (Fam. 1,9,20). Plutarch, der dieses Ereignis in seiner Cicero-Vita erwähnt, wirft weiteres Licht auf dieses soziale Ritual: »Als Crassus gerade nach Syrien aufbrach, in dem Wunsch, Cicero möge ihm ein Freund und nicht ein Feind sein, ließ er ihn in freundlichem Ton wissen, dass er mit ihm zu speisen wünschte, und Cicero empfing ihn bereitwillig in seinem Haus.« 22 Diese soziale Konvention, Versöhnung zum Abschluss zu bringen, war im öffentlichen Leben Roms so etabliert, dass sie den Stoff für einen von Ciceros berühmten Scherzen abgab. Hierzu nochmals Plutarch: Er erwähnt, dass »als einige Freunde sich bei Cicero für Vatinius verwendeten und äußerten, dass er Versöhnung und Freundschaft anstrebe, da er nämlich ein Feind war, Cicero geantwortet habe: ›Aber es kann doch wohl nicht sein, dass Vatinius auch noch mit mir speisen will? ‹« 23 Die Versöhnungsbriefe enthalten weitere Anwendungsbeispiele dieser sozialen Konvention namentlich im römischen Osten. Ein Versöhnungsbrief Chariremons, Gymnasiarch in Arsinoe, an Apollinius, seinen »Besten und Teuersten«, wirft ein Licht auf die antizipierte Gastfreundschaft, die Differenzen zwischen Freunden auszuräumen im Stande ist: »Wenn die Götter wollen, werde ich dich nach dem Fest des Souchos gewiss besuchen«, verspricht Chairemon. 24 Bemerkenswert ist auch die Rolle, die Religion bei dieser Versöhnung spielt, denn Chairemon und Appollonius waren Amtsbrüder im Kult der Dioskuren. Chairemon versichert seinem Freund: »Ich schwöre dir bei den Dioskuren, denen wir beide dienen […], dass ich mich nach der Freude deiner Gegenwart sehne. Desgleichen »Die Orientierung des Paulus an den für Aussöhnung maßgeblichen rhetorischen Konventionen ermutigt zu der Frage, ob die Anwendung sozialer Konventionen einen Fortschritt in der Suche nach dem Beleidiger verspricht.« Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 30 - 3. Korrektur 30 ZNT 38 (19. Jg. 2016) Zum Thema wird, wenn das Schicksal es zulässt, dies auch für unsere Kultgemeinschaft zum Besten sein.« 25 Apollonius von Tyana war um Aussöhnung mit seinem Bruder Hesitaeus bemüht, mit dem er wegen einer Geldsache gestritten hatte. 26 In seinem 44. Brief ruft Apollonius zur Aussöhnung auf, und am Ende des Briefes lädt er sich selbst ein, zuhause Gast seines Bruders zu sein. Er gibt seiner Sehnsucht Ausdruck, Odysseus gleich, nach Hause zurück zu kehren und die Gräber seiner Väter zu sehen. Der nächste Brief lässt erkennen, dass sein Ansinnen akzeptiert wurde und die Bereitschaft zur Versöhnung vorhanden ist. Zuerst versichert Apollonius gegenüber Hesitaeus, dass seine versöhnliche Gestimmtheit von Dauer ist: Von denen, die mit Ernst Philosophen seien, könne nicht angenommen werden, dass sie ihre Brüder hassten (Ep. 45). Was nun Apollonius am meisten beschäftigt, ist nicht das Missverständnis wegen des Geldes, etwas, das sie schon zu verachten versucht hatten, bevor sie Philosophen wurden, sondern das Misstrauen und die Verletzungen infolge dessen, was er geschrieben hatte. Es war nie seine Absicht, versichert Apollonius, seinen Bruder zu betrüben. Der Brief schließt mit einem Hinweis auf die Gastfreundschaft, die ihre Versöhnung bestätigen und öffentlich kundtun würde: »Nun mache ich auch dies bekannt, dass, wenn der Himmel wohl zustimmt, ich nach einem Treffen mit meinen Vertrauten in Rhodos rasch von dort aufbrechen und gegen Ende des Frühjahrs zu dir zurückkehren werde« (Ep. 45). Ein letztes ansprechendes Beispiel für die Wirkung konventioneller Gastfreundschaft finden wir im Versöhnungsbrief Mark Aurels an seinen Freund Herodes Atticus. Er beendet seinen Brief mit den Worten: »Aber wenn ich dich in irgendetwas betrübt habe oder dich noch immer betrübe, dann fordere Entschädigung von mir im Tempel der Athene zur Zeit der Mysterien. Denn ich leistete einen Schwur, als der Krieg am heftigsten tobte, damit ich eingeweiht würde, und wünschte, dass du selbst mich in diese Riten einweihen würdest.« 27 Dies ist die konventionelle Bitte um Gastfreundschaft, die Versöhnung feierlich vollzieht und öffentlich macht, jedoch mit der Tiefgründigkeit und Weltgewandtheit, die den Äußerungen eines Philosophen-Königs würdig sind. Wenn wir annehmen, dass Paulus und der Unrechttäter den üblichen Konventionen folgten, die für einen Versöhnungsvorgang maßgeblich waren, dann lässt sich eine plausible Hypothese zur Identität des Beleidigers formulieren: Der Beleidiger müsste eine Person sein, bei der Paulus bei seinem nächsten Besuch in Korinth zu Gast sein wird, im Nachgang zum Konflikt und seiner Beilegung. Unter den Grüßen am Ende des in Korinth abgefassten Römerbriefes sendet Paulus Grüße von »Gaius, meinem Gastgeber, und dem Gastgeber der ganzen Gemeinde« (Röm 16,23). Aus Anlass des dritten und letzten Besuches des Paulus in Korinth war er Gast im Hause des Gaius. Wenn Paulus und sein einstiger Gegenspieler den sozialen Konventionen für einen erfolgreichen Versöhnungsprozess gefolgt sind, kann eine plausible Identifikation des Beleidigers vorgenommen werden: Der Beleidiger war Gaius. 28 Diese Identifikation trägt zur Erklärung des hartnäckigen Bemühens des Paulus um Versöhnung im gesamten 2. Korintherbrief Wesentliches bei. Gaius gehörte zu den ersten Bekehrten in Korinth, und er war einer der wenigen, die Paulus persönlich getauft hat (1Kor 1,14). Als »Gastgeber der ekklēsia« (Röm 16,23) war Gaius der de-facto-Patron der Christusgläubigen in Korinth. 29 In der frühen Jesusbewegung wird einzig und allein von Gaius aus Korinth berichtet, dass er sein Haus für alle Christusgläubigen einer Stadt geöffnet und dasselbe als Versammlungsort zur Verfügung gestellt hat, 30 »was ihn zur wohlhabendsten Person macht, die wir aus dem Umfeld des Paulus kennen«. 31 Bis jetzt haben wir unser Augenmerk auf den paulinischen Gebrauch umschreibender Formulierungen in den mehrheitlich versöhnenden Passagen des 2Kor gelegt (Kap. 2 und 7), wo es klar ist, dass Paulus von einer bestimmten Einzelperson spricht. Aber auch in anderen Partien des Briefes, und besonders in den polemischen Kapiteln 10-13, wo der Konflikt zwischen Paulus und seinen Gegnern in vollem Gange ist, verwendet Paulus Pronomina der 1. Pers. Sg. (»jemand«, »ein solcher«) sowie Verben der 3. Pers. Sg., wo es um Kritik an Paulus geht. Es fragt sich, ob Paulus hier eine bestimmte Einzelperson im Blick hat. 32 Jedes Argument muss zunächst für sich gewürdigt werden, denn es ist fraglos möglich, dass Paulus hier generelle Aussagen tätigt, d. h. über das, was »irgendjemand« über ihn denken oder sagen könnte. In 10,18 ist es beispielsweise deutlich, dass Paulus allgemein redet, ja fast sprichwörtlich, über jemanden, der »sich selbst empfiehlt«, freilich nicht ohne polemischen Bezug auf seine Rivalen. 33 An anderen Stellen, wie etwa in 11,4 und 11,20 deuten Inhalt und Zusammenhang darauf hin, dass mit einem Partizip »Der Beleidiger müsste eine Person sein, bei der Paulus bei seinem nächsten Besuch in Korinth zu Gast sein wird, im Nachgang zum Konflikt und seiner Beilegung.« Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 31 - 3. Korrektur ZNT 38 (19. Jg. 2016) 31 Laurence L. Welborn Paulus und der »Unrechttäter« des 2. Korintherbriefes Singular ein rivalisierender Apostel im Blick ist, nicht ein lokaler korinthischer Kritiker. 34 Aber an drei Stellen, in 10,7. 10. 11 deutet das Verb oder das Pronomen im Singular darauf hin, dass eine Einzelperson aus den Reihen der korinthischen Adressaten gemeint ist. Dies ergibt sich aus textlinguistischen Merkmalen, personalisierenden und subjektiven Motiven und einem konsistenten Vokabular. Eine Untersuchung dieser Passagen gibt Einblick in die Wertvorstellungen und Urteile von Paulus’ hauptsächlichem Kritiker in Korinth, und sie erlaubt auch eine plausible Hypothese über die Art des Paulus zugefügten Unrechts. In 10,7 stoßen wir auf eine Ansicht, die ausdrücklich »einer bestimmten Person« oder »jemandem« (tis) zugeschrieben wird: »Wenn jemand von sich selbst überzeugt ist, dass er zu Christus gehört, so bedenke er wiederum dies bei sich selbst, dass, wie er Christi ist, so auch wir«. Mehrere sprachliche Nuancen indizieren, dass es hier tatsächlich um eine Einzelperson geht, Paulus also nicht eine generelle Aussage formuliert. Zuerst ist das verbale pepoithen (»überzeugt sein«) bei einer generellen Aussage unnötig, jedoch passend zur Bezeichnung des Gedankengangs eines Individuums. 35 Außerdem enthält pepoithen die Nuance eines ungerechtfertigten Dünkels, einer unbegründeten Gewissheit. 36 Ein subjektives Moment ist auch im reflexiven heautō enthalten, ganz gleich, ob man den Dativ mit »in sich selbst« oder »mit Bezug auf sich selbst« übersetzt. Eine besondere subjektive Färbung hat die präpositionale Phrase »bei sich selbst« (eph’heautou), d. h. »aus eigenem Verstand oder »zu seinem eigenen Nutzen«, also ein Urteil, das man »für sich selbst« in einem Augenblick des Nachdenkens fällt. Die Ergänzung des »bei sich selbst« zu der Aufforderung »so bedenke er wiederum dies« enthält eine subtile Demütigung. 37 Eine Personalisierung stellt schließlich die Wiederholung der Prämisse in »wie er Christi ist« dar, die reichlich merkwürdig in die angestrebte Konklusion eingeschaltet wird. Alle diese Elemente geben dem Satz eine subjektive und individuelle Note, sind aber streng genommen unnötig für einen direkten Vergleich, der die Gleichheit des Paulus in seiner Zugehörigkeit zu Christus dartun soll. Sie bremsen den Gedankenfluss und erhöhen damit den rhetorischen Effekt. 38 Für einen aufmerksamen Leser, der diese Textsignale beachtet, legt die sprachliche Gestaltung des Satzes die Deutung des »jemand« (tis) auf eine bestimmte Einzelperson nahe. Wie ist nun der Anspruch dieses »jemand« in Korinth, »zu Christus zu gehören«, inhaltlich genauer zu fassen? Wenn wir unser Verständnis der »Zugehörigkeit zu Christus« aus Aussagen der Paulusbriefe wie etwa Gal, 3,29; 1Kor 3,21-23 und 1Kor 15,23 gewinnen, dann ist deutlich, dass diese Erfahrung das Erbe der Abrahamverheißung, den Besitz von Weisheit und Gerechtigkeit und die Teilhabe an der Auferstehung Christi beinhaltete. 39 Warum sollte dann aber ein Einzelner, dessen hohes Christus-Bewusstsein in 10,7 zur Sprache kommt, Paulus die Tiefe dieser Erfahrung bestreiten? Die Antwort liegt in der neuen Bedeutung, die Paulus selbst der Erfahrung der Christuszugehörigkeit gegeben hat, und zwar im Verlauf seiner Beziehung zu den Gläubigen in Korinth. Um der Überbewertung »eloquenter Weisheit« durch einige Korinther zu begegnen, begann Paulus »die Botschaft vom Kreuz« zu betonen (1Kor 1,18). 40 Von besonderer Bedeutung ist die programmatische Aussage in 1Kor 2,2: »Denn ich entschloss mich (ekrina), nichts anderes unter euch zu kennen als Christus, und zwar als Gekreuzigten (estaurōmenon).« Wenn der Aorist des Verbs krinein beim Wort genommen werden kann, dann erinnert Paulus hier an einen Moment in seiner Beziehung mit den Gläubigen in Korinth, als er »sich entschlossen hat«, Christus als »Gekreuzigten« zu verkündigen. 41 Die Wahl des Partizips Perfekt estaurōmenos (1,23; 2,2) zur Charakterisierung des von ihm verkündigten Christus klingt besonders provokativ, denn das Perfekt vermittelt den Gedanken, dass die bleibende und gegenwärtige Bedeutung des Gesagten in nichts anderem besteht, als dass er »der Gekreuzigte« ist. 42 Wie dieses neue Verständnis der »Zugehörigkeit zu Christus« auf diejenige Minderheit unter den korinthischen Christen gewirkt haben muss, die über Bildung, Vermögen und gute Herkunft verfügten, können wir aus dem paulinischen Gedankengang in 1Kor 1-4 und 2Kor 10-13 schließen. Die Reduktion des Evangeliums auf das eine schändliche Ereignis des Todes Christi am Kreuz wurde als »Torheit« (mōria) angesehen. 43 Besonders verwirrend muss Paulus’ Bestimmung der »zu Christus Gehörenden« als »töricht, schwach, von niedriger Geburt, verachtet und nichtswürdig« (1Kor 1,27 f.) gewesen sein. 44 Was wurde aus dem Gefühl der Überlegenheit, dem Besitz von Weisheit, dem Glück und der Hoffnung im Vorblick auf das Kommen Christi, Gaben, die dann diejenigen erhalten würden, die zu ihm gehören? Für jeden, der mit einem Bewusstsein von Weisheit »Für jeden, der mit einem Bewusstsein von Weisheit und Kraft erfüllt war im Blick auf das Kommen Christi, muss die paulinische Aufwertung von Torheit und Schwachheit ein unermesslicher Verlust gewesen sein.« Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 32 - 3. Korrektur 32 ZNT 38 (19. Jg. 2016) Zum Thema und Kraft erfüllt war im Blick auf das Kommen Christi, muss die paulinische Aufwertung von Torheit und Schwachheit ein unermesslicher Verlust gewesen sein. Kurz gesagt, die nicht mit Namen genannte Einzelperson, die Paulus in 10,7 indirekt anspricht, ist von einem leidenschaftlichen Bewusstsein erfüllt, »zu Christus zu gehören«, und sie ist verwirrt durch die von Paulus programmatisch formulierte Infragestellung der Grundlagen dieses Bewusstseins. Hierauf muss besonders hingewiesen werden, weil die Gegner des Paulus im Laufe der Forschungsgeschichte als theologische Epigonen dargestellt wurden, die auf den Augenschein fixiert und mit äußerlichen Dingen befasst waren. 45 Es ist bemerkenswert, dass Paulus den Anspruch seines Kritikers »zu Christus zu gehören«, nicht in Abrede stellt. Seine Entgegnung hat nicht die Form »Allein ich gehöre im Vollsinn zu Christus, du nicht«, sondern »Wie du zu Christus gehörst, so auch ich«, als Bestätigung einer Beziehung unter Gleichen. 46 Was immer dieser Einzelne Paulus an »Unrecht« zugefügt hat, es stellt seinen Status »zu Christus zu gehören« nicht in Frage. Nun zu der Stelle 10,10: Hier finden wir ein explizites Zitat, das ein Urteil über Paulus hinsichtlich des Kontrasts seiner wortmächtigen Briefe und seiner schwachen persönlichen Erscheinung enthält: »Die Briefe, sagt er, sind gewichtig und stark, aber sein Auftreten ist schwach und seine Rede verachtenswert«. Wiederum bedarf es der Angabe der Gründe, die Äußerung in 10,10 einer Einzelperson zuzuschreiben, sie also nicht als generelle Aussage zu lesen, sowie als Urteil eines Gemeindemitglieds, nicht eines Außenstehenden. Das Verb phēsin, für gewöhnlich mit »sagen sie« übersetzt, 47 ist tatsächlich eine 3. Pers. Sg., wörtlich »er sagt« 48 . Zwar kann phēsin auch unpersönlich mit »heißt es« oder »sagt man« wiedergegeben werden, 49 sodass es auch möglich ist, dass Paulus hier eine verbreitete Ansicht wiedergibt, also im Sinne von »so redet man in Korinth«. 50 Aber die Referenzen auf »jemanden« (tis) in 10,7 und »jene Person« (ho toioutos) in 10,11 legen doch nahe, dass die in 10,10 zitierte Äußerung auf eine Einzelperson zurück geht. 51 Wir haben weiter oben auf die zahlreichen Stilelemente hingewiesen, mit denen Paulus die in 10,7 referierte Auffassung personalisiert. In den dazwischen liegenden Versen deutet nichts darauf hin, dass der Sprecher in V. 10 nun ein anderer ist als die Einzelperson, auf die sich Paulus in 10,7 bezieht. Der Abschnitt, der 10,7 und 10,11 umfasst, erhält seine Geschlossenheit durch die Pronomina, die eine ungenannte Einzelperson bezeichnen. Es geht mithin um eine Debatte aus zweiter Hand zwischen Paulus und einer bestimmten Person, eine Debatte, die die Korinther mit anhören sollen. Es liegt deshalb am nächsten, phēsin auf eine Äußerung derjenigen Person zu beziehen, die Paulus indirekt in 10,7 und 10,11 anspricht. Mehrere Stilmerkmale in 10,7-11 legen nun außerdem nahe, dass 10,10 das Verdikt eines ortsansässigen Korinthers enthält, nicht dasjenige eines zugereisten Apostels. Erstens ist auf die Platzierung des Zitats in einem Kontext hinzuweisen, in dem die Korinther direkt angesprochen werden (hymōn in 10,8; hymas in 10,9). Dies lässt vermuten, dass der Sprecher in 10,10 sich unter den Adressaten des Briefes befindet. Zweitens hat die genannte Person die Briefe des Paulus gelesen, und zwar, wie wir sehen werden, mit echter Wertschätzung. Sein Urteil über Paulus’ persönliche Erscheinung enthält eine Einschätzung seines »rhetorischen Vortrags« (hypokrisis), 52 die voraussetzt, dass jene Person ihn persönlich als Verkündiger erlebt hat. Zwar ist nicht auszuschließen, dass auch einer der rivalisierenden Apostel flüchtige Begegnungen mit Paulus hatte, 53 doch ist wahrscheinlicher, dass hier die wiederholte persönliche Erfahrung eines von Paulus bekehrten Korinthers im Hintergrund steht, der Zugang zu seinen Briefen und außerdem die Gelegenheit hatte, ihn reden zu hören. Dass es sich in 10,10 um ein Zitat handelt, ist durch das hoti und das Verb phēsin unzweifelhaft. Die Wortwahl ist hier so präzis, dass wir Grund zu der Annahme haben, dass Paulus das, was er hier wiedergibt, selbst gehört hat, oder dass es ihm von Titus oder einem der anderen Abgesandten des Paulus überbracht wurde. Die Termini, die in 10,10 zur Charakterisierung der Briefe des Paulus verwendet werden-- »gewichtig« (barys) und »stark« (ischyros)-- haben einen festen Platz in der antiken Literaturkritik. 54 In den Essays des Dionysios von Halikarnass gehören »Gewicht« (baros) und »Kraft« (ischys) zu den Stilelementen der besten Autoren, etwa Thukydides bei den Historikern und Demosthenes bei den Rhetoren. 55 Die Eigenschaft, die bei Demosthenes so gelobt wurde, war die Wortmächtigkeit (deinotēs), die nach den Worten des herausragenden Kritikers in dem Traktat »Vom Erhabenen« (De sublimitate) »erhabene Intensität« mit »lebendiger Emotion« verband. 56 Allem Anschein nach teilte jener Kritiker des Paulus die Vorlieben der Literaturkritiker der frühen Kaiserzeit für einen Stil, der ehrwürdig und wortmächtig war. Er fällt also keineswegs ein abschätziges Urteil, 57 sondern »Was immer dieser Einzelne Paulus an ›Unrecht‹ zugefügt hat, es stellt seinen Status ›zu Christus zu gehören‹ nicht in Frage.« Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 33 - 3. Korrektur ZNT 38 (19. Jg. 2016) 33 Laurence L. Welborn Paulus und der »Unrechttäter« des 2. Korintherbriefes er spricht, wenn er die Briefe des Paulus »gewichtig und stark« nennt, allerhöchstes Lob aus. Im Gegensatz zu dieser anerkennenden Beurteilung der Briefe des Paulus erklärt die in 10,10 zitierte Person jedoch: »Sein Auftreten ist schwach (asthenēs) und seine Rede verachtenswert (exouthenēmenos)«. In den Rhetorik-Handbüchern wird die stimmliche und gestische Präsentation eines Redners als »Vortrag« (hypokrisis) bezeichnet. 58 Mit Blick auf Mängel in Stimmgebung und Gestik konstatiert Quintilian, dass »körperliche Grobheit« (corporis deformitas) sich so negativ auswirken kann, dass keine Kunstfertigkeit hier Abhilfe schaffen kann, und dass eine »kraftlose Stimme« (vox exilis) mit einem exzellenten Vortrag nicht zu vereinbaren ist. 59 In seiner Abhandlung Über die Beredsamkeit kritisiert Demetrios einen Redner für eine »schwache Rede« (asthenōs eipōn). 60 Plutarch sieht in der »Schwachheit der Stimme« (phōnēs astheneia) den gravierendsten Defekt, dem ein Rhetor abhelfen muss, wenn er ernst genommen werden will. 61 In 1Kor 2,1- 5 verwendet Paulus den Terminus »Schwachheit« (astheneia) zusammen mit »Furcht« und »Zittern«, um sein Auftreten als Redner bei seinem Auftreten in Korinth zu beschreiben. Wir müssen deshalb mit der Möglichkeit rechnen, dass der Kritiker in 10,10 Paulus mit dessen eigenen Worten verspottet, wenn er von »Schwachheit« (astheneia) spricht. Dies legt zumal auch der zweite Terminus nahe, der in 10,10 zur Kennzeichnung des paulinischen Redevortrages verwendet wird, »verachtenswert« (exouthenēmenos). Auch in diesem Fall ist anzunehmen, dass sich die in 10,10 zitierte Person auf eine zunächst von Paulus selbst verwendete Formulierung bezieht. Das Verb exoutheneō findet sich nur in wenigen Quellen: Außerhalb der Septuaginta und der von ihr beeinflussten Literatur finden wir es hauptsächlich in den Papyri und im Leben des Äsop. 62 Das Fehlen von exoutheneō in den kanonischen Autoren legt die Vermutung nahe, dass der Ausdruck als vulgär galt. Gebräuchlich war für »verachtenswert« stattdessen eukatafronētos, und zwar besonders in der Literaturkritik. 63 Die Frage lautet nun: Warum könnte der Kritiker des Paulus den hochsprachlichen Terminus zur Bezeichnung einer »verachtenswerten« Rede vermieden und stattdessen den vulgären gewählt haben? Die Antwort könnte in dem internen Konflikt mir Paulus liegen. Denn nach lexikalischer Aktenlage gehört zu denjenigen, die das Verb exoutheneō am häufigsten verwenden, Paulus selbst! 64 Das heißt: Eine Person mit einer gewissen rhetorischen Bildung bemerkte die Verwendung eines umgangssprachlichen Terminus durch Paulus und verwendete ihrerseits diesen Terminus, um die Unfähigkeit des Paulus herauszustellen. Die Verspottung durch Übernahme paulinischer Sprache wird damit noch vernichtender. Paulus antwortet auf den kritischen Vergleich zwischen seinem Briefstil und seinem rhetorischen Vortrag damit, dass er jegliche Inkonsistenz zwischen beidem bestreitet: »Dies möge eine solche Person bedenken: Was wir durch das Wort in Briefen sind in unserer Abwesenheit, das sind wir auch durch die Tat, wenn wir anwesend sind« (10,11). Das pronominale ho toioutos (»eine solche Person«) zeigt deutlich, dass Paulus mit seiner Antwort vorrangig jene Einzelperson im Blick hat, die die Kritik an Paulus formuliert und in der korinthischen Gemeinde verbreitet hat. Paulus unternimmt nicht den Versuch, die Kritik an seiner körperlichen Erscheinung und an seinem rhetorischen Vortrag zu entkräften, was er nach der Selbstdemontage als Redner in 1Kor 2,1-5 ja auch schwerlich tun kann. Stattdessen überspielt Paulus mittels der Phrase »das Wort in Briefen« geschickt den Kontrast zwischen seinem rhetorischen Vortrag und seinen Briefen. 65 Seiner Behauptung, dass es keine Diskrepanz zwischen der Person des Briefschreibers und derjenigen des persönlich Anwesenden gibt, liegt die bekannte Formel »in Wort und Tat« zugrunde. Paulus unternimmt damit den Versuch, den widersprüchlichen Eindruck seines Verhaltens durch die Überwindung des Gegensatzes zu beseitigen. 66 Die Entdeckung, dass Paulus in 10,7-11 mit einer Einzelperson diskutiert, und zwar mit seinem hauptsächlichen Kritiker in Korinth, hat eine wichtige Konsequenz für unseren Versuch, die Rolle des Unrechttäters im Konflikt um die Legitimität des paulinischen Apostolats zu verstehen. Wie der Gedankengang in 10,12-18 zeigt, war Paulus herausgefordert, die Legitimität seines Apostolats dadurch zu erweisen, dass er sich mit anderen Aposteln verglich, die die Korinther für qualifiziert hielten. 67 Keine Schlussfolgerung scheint mehr gerechtfertigt als die, dass die Einzelperson, die Paulus in 10,7-11 anspricht, maßgeblich dafür verantwortlich war, dass die rivalisierenden Apostel den Standard vorgaben, an dem Paulus sich zu messen hatte. 68 Eine letzte Folgerung aus unserer Entdeckung, dass der Unrechttäter in den polemischen Passagen des 2Kor präsent ist, bezieht sich auf die Eigenart des Paulus zu- »Eine Person mit einer gewissen rhetorischen Bildung bemerkte die Verwendung eines umgangssprachlichen Terminus durch Paulus [exoutheneō] und verwendete ihrerseits diesen Terminus, um die Unfähigkeit des Paulus herauszustellen.« Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 34 - 3. Korrektur 34 ZNT 38 (19. Jg. 2016) Zum Thema gefügten Unrechts. In 12,16-18 setzt sich Paulus mit einer spezifischen Anklage auseinander: »Ich bin euch nicht beschwerlich gefallen. Vielmehr habe ich [sagt ihr], durchtrieben wie ich bin, euch mit List gefangen. Habe ich euch etwa übervorteilt (epleonektēsa hymas) durch einen von denen, die ich zu euch gesandt habe? Ich habe Titus zugeredet [zu euch zu kommen] und den Bruder mit ihm gesandt; hat euch Titus etwa übervorteilt (epleonektēsen hymas)? Haben wir nicht im selben Geist unser Leben geführt? Sind wir nicht in denselben Fußstapfen gewandelt? « Der Kern des hier angesprochenen Vorwurfs liegt in dem Verb pleonektein, das jede Art von »Habsucht«, einschließlich »Machtlust« und »Besitzgier« bezeichnen kann. 69 Der Kontext von 12,16-18 macht jedoch klar, dass finanzielle Dinge im Spiel sind, 70 sodass pleonektein in diesem Fall genauer zu fassen ist als »jemanden in einer finanziellen Situation betrügen«, »widerrechtlich von jemandem durch Betrug Geld an sich bringen«, »veruntreuen«. 71 Daraus kann geschlossen werden, dass Paulus während seines zweiten Besuchs in Korinth, bei dem es zum Eklat gekommen war (2,1), 72 der Veruntreuung im Zusammenhang mit der Kollekte für die Armen bezichtigt wurde. 73 Bei dieser öffentlichen Unterstellung der Unterschlagung dürfte es sich um das Unrecht handeln, auf das sich Paulus in 7,12 bezieht. 74 Aus 12,20 f. geht hervor, wie Paulus das ihm aus diesem Anlass zugefügte Unrecht erlebt hat: Es endete in einer völligen Demütigung. 75 Möglicherweise war Paulus für den Moment einfach sprachlos. Sobald er die Fassung wiedererlangt hat, mag er sich auf die Zeugenregel des Deuteronomiums berufen haben: »Mit der Aussage von zwei oder drei Zeugen steht oder fällt jede Sache« (13,1, zitiert aus Dtn 19,15). Augenscheinlich ist in der Versammlung niemand aufgestanden, um die Anschuldigung des Unrechttäters zu bekräftigen. Dies ließ die Tür zur Aussöhnung offen. Aber Paulus war erschüttert. In Ephesus, wohin er sich zurückgezogen hatte, wurde seine Seele von Kummer überwältigt, ein Zustand, an den sich Paulus in einer emotionalen Darstellung erinnert: »So schwer und unsere Kräfte weit übersteigend ist die Last, die uns auferlegt wurde, dass wir sogar am Leben verzweifelten. Ja, was uns betrifft, so hatten wir das Todesurteil schon in den Händen« (1,8 f.). 76 Die Sprache, in der Paulus seinen Kummer beschreibt, hat erhellende Parallelen in Versöhnungsbriefen, die gattungstypisch Äußerungen des Bedauerns enthalten. 77 In Ephesus schrieb Paulus nach Korinth »aus großer Bedrängnis und mit angstvollem Herzen, unter vielen Tränen« (2,4). Paulus war klar, dass dieser Brief in Korinth seinerseits für Kummer sorgen würde, und er bedauert zunächst, ihn abgeschickt zu haben (7,8). In seiner Betrübnis sandte Paulus Titus nach Korinth mit der schwierigen Mission, eine Versöhnung auszuhandeln (2,12 f.; 7,5 f.). 78 2. Versöhnung und emotionale Therapie Über die Hypothese zur Identität des Unrechttäters und zur Eigenart des zugefügten Unrechts hinaus eröffnet eine Analyse des 2Kor auf dem Hintergrund antiker Versöhnungsbriefe Einsichten in das paulinische Unternehmen der Versöhnung, das wir auch seine »emotionale Therapie« nennen können. Zunächst ist klar, dass die Entscheidung des Paulus, die Initiative zur Aussöhnung zu ergreifen, eine erstaunliche Abweichung von der Norm griechisch-römischer Freundschaftsethik darstellt. Als derjenige, »dem Unrecht zugefügt wurde« (ho adikētheis), d. h. als die verletzte Partei hätte Paulus der Empfänger eines Versöhnungsangebots sein müssen. Nach dem griechisch-römischen Paradigma war es Sache derjenigen Partei, die den Konflikt verursacht hatte, den Streit beizulegen und Aussöhnung anzustreben. 79 Papyrusbriefe illustrieren diese Konvention. In BGU III.846 bittet ein gewisser Antonius Longinos seine Mutter, mit der er zerstritten ist: »Ich bitte dich, Mutter, sei wieder versöhnt mit mir. Ich weiß, was ich über mich gebracht habe. Ich habe eine passende Lektion gelernt. Ich weiß, dass ich Unrecht getan habe.« 80 Ciceros einziger erhaltener Brief an Markus Licinius Crassus (Fam. 5,8) ist eine Bitte um Versöhnung nach einer langen Periode einer ständig weiter abgekühlten Beziehung. 81 Cicero erkennt seine Rolle an, die er bei der gegenseitigen Entfremdung gespielt hat, und er beschuldigt zugleich ungenannte Dritte heftig, Unrecht getan zu haben: »Gewisse Personen, die ihr Gift verspritzt haben, haben dich von mir entfremdet, und sie haben zeitweise auch meine Haltung dir gegenüber verändert« (Fam. 5,8,2). Cicero bittet daraufhin, dass vergangene Kränkungen verziehen werden mögen: »Wenn in der Zwischenzeit gewisse Verletzungen, mehr eingebildet als real, unsere Beziehung beeinträchtigt haben sollten, die doch missverständlich und ohne Sachgehalt waren, lass sie uns gänzlich beseitigen aus unserem Gedächtnis und aus unserem Leben« (Fam. 5,8,3). Wie »Als derjenige, ›dem Unrecht zugefügt wurde‹ […], d.h. als die verletzte Partei hätte Paulus der Empfänger eines Versöhnungsangebots sein müssen.« Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 35 - 3. Korrektur ZNT 38 (19. Jg. 2016) 35 Laurence L. Welborn Paulus und der »Unrechttäter« des 2. Korintherbriefes viel poetische Fiktion hier auch im Spiel sein mag, um unangenehme Wahrheiten zu kaschieren, 82 Ciceros Bitte entspricht dem geläufigen Paradigma: Die Partei, die das Zerwürfnis verschuldet hat, ist verantwortlich dafür, eine Versöhnungsbitte vorzutragen. Paulus’ Entscheidung, bei der Suche nach Möglichkeiten der Versöhnung die Initiative zu ergreifen, stellte also eine Umkehrung der gewohnten Rollenverteilung in griechisch-römischer Freundschaftsethik dar. Obwohl Paulus sich in der Rolle des Gekränkten sah, tritt er als Agent der Versöhnung auf, und er bittet die Korinther eindringlich um die Fortsetzung der Freundschaft: »So treten wir nun als Gesandte Christi auf, denn durch uns lässt Gott euch seine Bitte kundtun. Als Abgesandte Christi bitten wir euch, das Freundschaftsangebot anzunehmen, das Gott euch macht« (5,20). 83 Die von Paulus vorgenommene Rollenumkehrung ist umso auffälliger, als er augenscheinlich planvoll termini technici der Versöhnungssprache verwendet. Hierzu gehört erstens das Verb katallassō (5,18. 19. 20), das »Feindschaft in Freundschaft umwandeln« bedeutet, 84 sodann die Verben des Flehens parakaleō (5,20; 6,1) und deomai (5,20), die regelmäßig bei brieflichen Versöhnungsbitten verwendet werden, 85 schließlich die Äußerung von Zuversicht mit dem Wort parrēsia, das sich auch in Papyrusbriefen findet. 86 Eine zweite mehr graduelle Neuerung lässt sich in den therapeutischen Partien des 2Kor feststellen, wenn wir sie mit anderen Versöhnungsbriefen vergleichen, nämlich die Intensität des paulinischen Appellierens an Emotionen. Zwar haben alle Versöhnungsbriefe ein emotionales Element, da es ja darum geht, sich einen gekränkten Freund wieder geneigt zu machen. 87 Dementsprechend ist Chairemons auf Aussöhnung bedachte Apologie an seinen »lieben Freund« Apollonius (BGU II.531) von einem warmherzigeren Ton bestimmt, als dies bei anderen Papyrusbriefen der Fall ist. 88 Mark Aurel spielt mit den Emotionen seines Freundes, als er versucht, im allen Menschen gemeinsamen Leid eine Basis für die Aussöhnung zu finden: Er verweilt bei der Strenge seiner Militäreinheiten, klagt darüber, dass kürzlich seine Frau gestorben ist, und er macht Bemerkungen über seine eigene schlechte Gesundheit. 89 Es gibt jedoch unter den antiken Briefen weit und breit nichts, das dem intensiven Rekurs des Paulus auf Emotionen in 2Kor 1,1-2,13; 7,5- 16 gleich käme. Eine Sichtung des semantischen Feldes lässt erkennen, wie sorgfältig Paulus darauf bedacht ist, seinen Worten ein emotionales Gepräge zu geben. Er eröffnet das Exordium (1,3-7) mit dem Lob Gottes als »Vater der Erbarmungen« und »Gott allen Trostes«. In den folgenden Versen entspinnt sich eine komplexe und wirkungsvolle rhetorische Figur durch den repetitiven Gebrauch von hochgradig emotionalem Vokabular wie etwa thlipsis (»Trübsal«), paraklēsis (»Trost«) oder pathēma (»Leid«). Paulus versichert, dass, wenn er »Trübsal« und »Trost« erfährt, dies »um euretwillen« geschieht, und er gibt seiner Hoffnung Ausdruck, dass eine von Zuneigung geprägte Gemeinschaft entsteht, in der er und die Korinther »teil haben an denselben Leiden«. Paulus fundiert die Möglichkeit einer erneuerten Gemeinschaft in gegenseitiger Zuneigung in dem Umstand, dass »die Leiden Christi reichlich über uns gekommen sind«. In der narratio (1,8-11) vermeidet Paulus die explizite Nennung des besonderen Ereignisses, das seine »Betrübnis« verursacht hat. Stattdessen konzentriert er sich auf seinen Seelenzustand in dieser Situation: »So schwer und unsere Kräfte weit übersteigend ist die Last, die uns auferlegt wurde, dass wir sogar am Leben verzweifelten«. Die propositio, die Paulus in 1,12-14 anschließt, ist mit der Motivation seiner Lebensführung befasst, seiner »Einfalt« und »Lauterkeit«, wie dies sein »Gewissen« bezeugt. In den Argumenten, mit denen Paulus sein Handeln rechtfertigt (1,15-2,4), erklärt er, dass er sich in seinem Verhalten gegenüber den Korinthern davon leiten ließ, weder Agent noch Opfer von »Schmerz« (lypē) zu sein, sondern vielmehr der Geber und Empfänger von »Freude« (chara). Paulus beschließt den Abschnitt mit einer anschaulichen Beschreibung der Stimmungslage, in der er den Korinthern geschrieben hat, nämlich »aus großer Bedrängnis«, »mit angstvollem Herzen« und »unter vielen Tränen«, und dies alles als Zeichen der übermäßigen »Liebe«, die er zu den Korinthern hegt. Vor allem aber ist Paulus um das emotionale Wohlergehen des »Unrechttäters« besorgt (2,5-11), und er drängt die Korinther, ihm »zu vergeben«, ihn »zu trösten«, und ihn ihrer »Liebe« zu versichern, »damit er nicht in übergroßer Trauer versinkt«. Paulus’ Darstellung seiner Stimmungslage, in der er Neuigkeiten zur Wirkung seines Briefes an die Korinther erwartete (2,12 f.; 7,5-7), hebt seine tiefe Sorge deutlich hervor: »Ich hatte keine Ruhe in meinem Geist«, »unser Fleisch hatte keine Ruhe«, »bedrängt in jeder Hinsicht«, »nach außen hin Kämpfe, im Inneren Angst«. Aber die Ankunft des Titus, der aus Korinth berichtete, brachte »Tröstung« für den »niedergeschlagenen« Apostel. Die Zusammenfassung dessen, was Paulus über die Korinther erfahren hat, ist ganz auf die emotionale Seite der Reaktion der Gemeinde konzentriert, auf ihr »sehnsüchtiges Verlangen«, ihr »Trauern«, ihren »Eifer«. Die Schlusspassage (7,8-13a) zielt auf den emotionalen Effekt des Briefes bei den Adressaten als Erweis Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 36 - 3. Korrektur 36 ZNT 38 (19. Jg. 2016) Zum Thema der Integrität seiner Handlungsweise. Paulus erkennt an, dass er die Korinther mit seinem Brief »betrübt« hat, ja, dass es ihn zeitweise sogar reute, ihn abgeschickt zu haben. Aber seine Empfindungen verwandelten sich in »Freude«, als er erfuhr, dass die Betrübnis der Korinther zur »Umkehr« anstatt zu »Verzweiflung« oder »geistlichem Tod« geführt habe. Paulus versichert bemerkenswerterweise, dass es so etwas wie »göttliche Trauer« gibt, und dass die Korinther diese erfahren haben. Dann fährt er fort, die Stationen des emotionalen Fortschritts außerordentlich detailliert zu analysieren: »Einsatz« (spoudē), »Bereitschaft zur Entschuldigung« (apologia), »Entrüstung« (aganaktēsis), »Gottesfurcht« (phobos), »Sehnsucht« (epipothēsis), »Eifer« (zēlos), »Willen zu gerechter Bestrafung« (ekdikēsis). 90 Paulus versichert seinen Adressaten, dass sie unter Beweis gestellt haben, dass sie völlig »schuldlos« oder »rein« (hagnoi) in der Affäre des Unrechttäters sind, und er erklärt, dass er selbst »getröstet« ist. Die peroratio (7,13b-16), jubelnd und besonnen zugleich, lobt die Wiederherstellung von Paulus’ »Zutrauen« zu den Korinthern, indem er auf die »Freude« seines Abgesandten Titus verweist. Wiederum wird die Inhaltsebene von Titus’ Bericht zugunsten seiner emotionalen Wirkung völlig ausgeblendet: »Mehr aber noch haben wir uns über die Freude des Titus gefreut, dass sein Geist erquickt wurde von euch allen«. Titus’ emotionale Antwort an die Korinther wird eindringlich beschrieben. Sie rechtfertigt ganz und gar Paulus’ »Rühmen« im Blick auf die Korinther, mit dem Ergebnis, dass er »nicht beschämt wurde«: Titus’ »herzliche Zuneigung« gilt den Korinthern, wenn er sich daran erinnert, wie sie ihn »mit Furcht und Zittern« aufgenommen haben. Die peroratio erreicht ihren Höhepunkt mit einer von Herzen kommenden Bekräftigung: »Ich freue mich, weil ich mich in allem auf euch verlassen kann.« Bereits diese Übersicht macht deutlich, dass das in 1,1-2,13; 7,5-16 verwendete emotionale Vokabular weit über die zur Wiederherstellung einer Freundschaft erforderliche »Liebenswürdigkeit« (philophronēsis) hinausgeht. Was eine Übersicht dagegen nicht vermitteln kann, ist die hochgradig affekthaltige Atmosphäre, die durch die wiederholte Verwendung von Schlüsselbegriffen wie thlipsis, paraklēsis, pathēma, lypē und chara samt den zugehörigen Verbformen hergestellt wird, sowie durch den mehrfachen Gebrauch hyperbolischer Wendungen wie perissoterōs, kath’ hyperbolēn, hyper dynamin etc. Auch kann eine Übersicht nicht den besonderen Sprachklang reproduzieren, der durch den Gebrauch rhetorischer Figuren wie der traductio (in 1,3-7 und 2,1-3) erzeugt wird, oder die Spannung, die durch den geschickten Gebrauch von Partikeln entsteht, oder die in den Konditionalsätzen anklingenden leisen Mahnungen, oder die Empfindungen, die durch den wiederholten Gebrauch von Metonymien aufgerufen werden. 91 Alles in allem kann man sich kaum vorstellen, dass es einen anderen antiken Brief gibt, dem es derart obsessiv um Emotionen zu tun ist, der seinen Verfasser so verwundbar zeigt in der Offenlegung seines Gemütszustandes, oder der so überaus sorgsam umsetzt, was eine »emotionale Therapie« genannt zu werden verdient. Eine erschöpfende Würdigung der Originalität des paulinischen Appels an Emotionen in 2Kor 1,1-2,13; 7,5-16 bedarf einiger Aufmerksamkeit auf emotionale Therapien, wie sie von den Zeitgenossen des Paulus praktiziert wurden. Unter den Philosophen der hellenistischen und römischen Zeit entstand eine lebhafte Diskussion über die Natur von Emotionen und ihre Funktion für das moralische Leben. 92 Die einschlägige Literatur ist nur fragmentarisch erhalten, macht aber gleichwohl deutlich, dass die Philosophen nicht nur die psychologische Basis von Emotionen zu verstehen suchten, sondern auch an Therapien interessiert waren, die geeignet waren, Emotionen zu zügeln, zu modifizieren oder zu eliminieren. Zumal die Stoiker erarbeiteten eine systematische Theorie der Emotionen, in der bestimmte Termini eine technische Bedeutung erhielten. Der Terminus lypē (»Schmerz«) beispielsweise, auf den Paulus in den therapeutischen Passagen des 2Kor sein Augenmerk legt, war im stoischen System eine von vier kategorialen Emotionen, zusammen mit hēdonē (»Lust«), phobos (»Furcht«) und epithymia (»Begehren«). Die Therapie der lypē, nämlich die Entwicklung einer handhabbaren Methode der Tröstung, war das erklärte Ziel des einflussreichen vierten Buches von Chrysipps Werk Über die Affekte, das unter einem eigenen Titel Therapeutik unabhängig vom Rest des Werkes gelesen und verwendet worden zu sein scheint. 93 Im Hinblick auf den Status der lypē unterscheidet sich die Auffassung des Paulus in erstaunlicher Weise von den durchgeformten Systemen seiner intellektuellen Zeitgenossen. Unter den Stoikern wie auch bei denjenigen, die wie Cicero und Seneca stoische Lehren mit platonischer Philosophie zu verbinden suchten, war lypē (lateinisch: aegritudo) die problematischste Emotion von allen. Cicero verleiht dieser Auffassung Ausdruck: »Glaubst du also, dass dies dem Weisen geschehen könne, dass er durch Kummer (aegritudo), also durch Elend bedrückt zu werden vermag? Denn wenn jede Leidenschaft ein Elend ist, so ist der Kummer ein mörderisches. Die Begierde hat ihren Brand, die unmäßige Freude ihre Leichtfertigkeit, die Angst das Demütigende, aber der Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 37 - 3. Korrektur ZNT 38 (19. Jg. 2016) 37 Laurence L. Welborn Paulus und der »Unrechttäter« des 2. Korintherbriefes Kummer ein noch schwereres Leiden, Verfall, Qual, Niedergeschlagenheit, Verworfenheit. Er zerfetzt und zerfrisst die Seele und vernichtet sie ganz. Wenn wir ihn nicht beseitigen, so dass wir ihn ganz von uns werfen, können wir vom Elend nicht wegkommen.« 94 Die problematische Natur der lypē tritt am deutlichsten dadurch zutage, dass sie keinerlei rationalen Widerpart in der Liste der »guten Emotionen« (eupatheiai) hat, die für die Stoiker das Leben des Weisen charakterisierten. Bekanntlich sprachen sich die Stoiker für eine völlige Eliminierung der »Leidenschaften« oder »schlechten Emotionen« (pathē) aus. Diese rigorose Position war unter griechischen und römischen Denkern populär, ja selbst bei Paulus’ jüdischen Zeitgenossen Philon und dem Verfasser des 4. Makkabäerbuches. 95 Allerdings gestatteten die Stoiker dem Weisen gewisse andere Seelenzustände, die sie »gute Emotionen« (eupatheiai) nannten. Diese unterschieden sich von den Leidenschaften dadurch, dass sie mit akkuraten und wahrheitsgetreuen Zuschreibungen von Gutheit und Schlechtigkeit an die Dinge im Einklang standen. 96 Der »Furcht« (phobos) entsprach als rationale Emotion die »Vorsicht« (eulabeia), dem »Begehren« (epithymia) die »Willenskraft« (boulēsis) und der »Lust« (hēdonē) die »Freude« (chara). Aber es gab keine vierte eupatheia: Der Weise konnte keine konstruktive Beziehung zur lypē haben, so zerstörerisch war diese Emotion für das moralische Leben, so widerlich für einen Mann, der sich in Selbstbeherrschung übte. 97 Diese Haltung gegenüber der lypē veranlasst Dio Chrysostomos in seiner Abhandlung Über den Schmerz (peri lypēs) zu der rhetorischen Frage: »Welch eine erbärmlichere Kreatur gibt es, als einen Mann, der in der Sklaverei des Kummers lebt? Welcher Anblick ist schändlicher? « 98 Angesichts der Beobachtung, dass »das Leben voller leidvoller Dinge ist«, macht sich Dio die stoische Therapie zu eigen: »Doch man soll diesen krankhaften Zustand sich vollständig aus der Seele reißen und einen festen Halt in der Wahrheit finden, dass der kluge Mann niemals irgendeinen Schmerz über irgendetwas empfindet, und fortan ein freier Mann ist.« 99 Das Fehlen eines positiven Widerparts zur lypē im stoischen System der Emotionen ist alles andere als zufällig. Vielmehr ist es mit der stoischen Auffassung vom emotionalen Leben organisch verbunden. 100 Tatsächlich bestand das Ziel des stoischen Systems darin, den weisen Mann gegenüber dem Schmerz unempfindlich zu machen, wie viele Rückschläge und Gefahren das Leben auch bereit hielt. Es war dieses Versprechen der Unverwundbarkeit, das die Attraktivität der stoischen Theorie begründete. 101 Was hat es dann aber damit auf sich, dass Paulus nicht nur anerkennt, dass er und der Unrechttäter und mit ihnen alle Korinther lypē erfahren haben, sondern auch dazu übergeht, eben diejenige Erfahrung detailliert aufzugliedern, die Cicero und Seneca als demütigend aufgefasst hätten? Erstaunlicherweise behauptet Paulus sogar, dass es einen »göttlichen Kummer« (hē kata theon lypē) gibt, der über bestimmte emotionale Zwischenschritte zur »Rettung« führt (2Kor 7,9 f.). Der Vergleich mit den Schriften von Paulus’ philosophischen Zeitgenossen macht deutlich, wie sonderbar, ja schockierend seine Bewertung der lypē erscheinen musste. Cicero beispielsweise konstatiert unzweideutig, dass diejenigen, die dem »Kummer« (aegritudo) unterworfen sind, als »dumm« (stulti) gelten müssen. 102 Dio Chrysostomos betont, dass »das Einwilligen in die Sklaverei der Trauer völlig irrational und befremdlich« ist. 103 Allerdings hatte Paulus mit der Meinung, dass lypē eine positive Rolle für das moralische Leben spielen kann, einen einflussreichen Vorgänger, nämlich Sokrates. Nach Platon war Sokrates nachgerade stolz darauf, dass er den Athenern durch seine philosophischen Aktivitäten lypē bereitet hat, 104 und er verstand sein »Bekümmern« (lypein) als »Gottesdienst«. 105 Aber dieser Aspekt von Sokrates’ philosophischem Wirken erschien späteren Denkern rätselhaft, auch denjenigen, die die platonische Psychologie übernahmen. Cicero bezieht sich auf eine Geschichte, in der Sokrates dem jungen Aristokraten Alkibiades »Kummer« (aegritudo) bereitet hat, als er ihn davon überzeugte, dass er nicht der Mann war, der er hätte werden sollen, und dass es, abgesehen von seiner vornehmen Abstammung, zwischen ihm und einem Handwerker keinen Unterschied gab, »und wo dann Alkibiades traurig wurde und weinend Sokrates anflehte, er möge ihm die Tugend geben und seine Schlechtigkeit vertreiben.« 106 Cicero erkennt die Vexierfrage, die diese Begebenheit den Stoikern aufgibt, deren Definition von »Kummer« er sich zu eigen gemacht hat. 107 Aber er weiß nicht recht, was er über Sokrates sagen soll, der »Kummer« nicht als »das größte Elend« ansieht. 108 In der psychagogischen Literatur des 1. Jh. stößt man auf Ansichten zur Rolle von Kummer und Schmerz beim moralischen Fortschritt, die teilweise Parallelen zu der paulinischen Auffassung von der heilvollen Funktion von lypē aufweisen. So rechnet etwa Plutarch mit der Möglichkeit, dass man einen Freund betrübt und ihm damit Hilfe leistet: »Es darf der Freund beleidigen (lypein), wenn er dadurch nützt, nur darf er nicht durch seine Beleidigungen die Freundschaft zerstören, sondern muss sie wie eine angreifende Arznei gebrauchen, um den Kranken zu retten und zu bewahren.« 109 Ebenso be- Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 38 - 3. Korrektur 38 ZNT 38 (19. Jg. 2016) Zum Thema trachtet Epiktet den philosophischen Lehrsaal als einen Ort medizinischer Behandlung. »Leute, der Hörsaal ist ein Hospital! Ihr solltet ihn nicht mit Freude verlassen, sondern im Schmerz.« 110 In einem Text, der von hartem Kynismus geprägt ist, heißt es von Demokrit, er habe danach verlangt, »etwas zu entdecken, das« für seine Mitbürger »schmerzlicher (lypēron) ist«, um eine moralische Reform durchzusetzen. 111 Aber die Autoren der psychagogischen Literatur schreiben der lypē lediglich einen zweckorientierten Wert beim Erreichen moralischer Ziele zu. Plutarch achtet außerdem darauf, das Maß an lypē zu begrenzen, das der Philosoph einsetzt: »Den Biss, den die Philosophie edlen Jünglingen beigebracht, heilt nur die Rede, welche verwundet hat. Deshalb muss man den Tadel ertragen und den Schmerz fühlen, jedoch ohne sich darüber abzuhärmen und mutlos zu werden.« 112 Unter den Zeitgenossen des Paulus gibt es keinen, der sich mit einer »göttlichen lypē« befasst, die über bestimmte emotionale Stadien zur Rettung oder psychischen Gesundheit führt (2Kor 7,10 f.). Ist aber erst einmal zugestanden, dass eine bestimmte Art von Schmerz, derjenige nämlich, der in Übereinstimmung mit dem Willen Gottes erlitten wird, sich positiv auf das moralische Leben auswirkt, ja sogar das höchste Gut des Daseins vermittelt, dann ist die Tür offen für einen ganzen Schwarm anderer Emotionen, die die Stoiker mit aller Gewalt loswerden wollten, etwa »Empörung«, »Furcht«, »Begehren« etc., für die Paulus nicht nur einen Platz im Leben der Christusgläubigen einräumt, sondern sogar erklärt, dass ihr kumulativer Effekt die korinthischen Gläubigen »rein« (hagnoi) gemacht habe (7,11), eine Eigenschaft, die die Stoiker dem Weisen zuschrieben, der alle Emotionen abgetötet hat! 113 Was ist die Ursache für die revolutionäre Neuerung in der Auffassung von psychischer Gesundheit, derer wir im 2. Korintherbrief ansichtig werden? Zu Beginn des Briefes (1,5-7) erklärt Paulus, dass die Möglichkeit einer Gemeinschaft der Affekte unter den Jesusnachfolgern darin begründet liegt, dass »die Leiden Christi reichlich über uns gekommen sind«. Paulus bezieht sich hier auf seine grundlegende Überzeugung, dass »Christus für uns gestorben ist«, dass Christus »gekreuzigt wurde für uns«. 114 Man kann sich natürlich fragen, welche Wirkung Paulus’ neuartige Therapie der Emotionen wohl auf die Korinther gehabt hat, zumal auf den Unrechttäter. Waren die Kritiker des Paulus überrascht, dass Paulus nicht die stoische Therapie übernahm, die Cicero als die »zuverlässigste Methode« (Tusc. 3,79) bezeichnet hat? Chrysipp meinte, »beim Trösten sei es die Hauptsache, den Trauernden von der Meinung zu befreien, er erfülle eine gerechte und geschuldete Pflicht« (Tusc. 3,76). War der Unrechttäter nicht einfach nur verwirrt von der neuartigen Idee des Paulus, dass lypē nicht nur in kleinen Dosen nützlich, sondern eine umfassende Behandlung sei, durch die man psychische Ganzheit erlangte? Doch wir sollten durchaus in Betracht ziehen, dass die paulinische Aufwertung der Trauer, in der der Unrechttäter zu versinken drohte (2,7), dieser Trauer dadurch Bedeutung verliehen hat, dass Paulus ihr einen göttlichen Ursprung zuschrieb (7,9 f.). Immerhin räumte auch Cicero ein, dass die rationale Tröstung Chrysipps in Zeiten der Trauer eine harte Methode war, dann also, wenn jemand nicht bereit war, zu akzeptieren, dass seine Trauer einfach ein Fehlurteil sei (Tusc. 3,79). Paulus scheint jedenfalls darauf bedacht gewesen zu sein, den Schock seiner neuen Therapie durch die Art und Weise zu mindern, in der er sich im Verlauf von 1,15-2,4 und 7,8-13a präsentiert. Man beachte, dass Paulus seine Lauterkeit dadurch erweisen will, dass er bei der Erläuterung seiner Besuchspläne zuerst auf seine Willensentscheidung (boulēsis) verweist (1,15-22: eboulomēn […] boulomenos). Dann verweist er auf seine »Vorsicht« (eulabeia), mit der er die Korinther mit weiterem Kummer »verschonen« (pheidomenos) wollte, dadurch, dass er seinen Besuch aufschob (1,23-2,4). Schließlich dramatisiert er die Umwandlung seiner Besorgnis in »Freude« (chara) durch das Eintreffen des Titus mit den guten Nachrichten über den Sinneswandel der Korinther (7,7. 9. 13.16). Es ist gewiss kein Zufall, dass Paulus sich in einem Brief, der in so hohem Maße mit Emotionen befasst ist und so eifrig eine emotionale Therapie praktiziert, als jemand darstellt, der über die Eigenschaften eines weisen Mannes verfügt: Willenskraft, Vorsicht und Freude. Auch der Hinweis auf seine »Zuversicht« im Hinblick auf die erneute Zuneigung zwischen ihm und den Korinthern (7,6) sagt etwas aus über Paulus als jemanden, der die seelische Disposition eines weisen Mannes hat. In einem Strang der stoischen Tradition ist die eupathische Antwort auf Furcht »Zuversicht«, nicht »Vorsicht«. 115 Wenn Paulus die eupathische Qualität sei- »Es ist gewiss kein Zufall, dass Paulus sich in einem Brief, der in so hohem Maße mit Emotionen befasst ist und so eifrig eine emotionale Therapie praktiziert, als jemand darstellt, der über die Eigenschaften eines weisen Mannes verfügt: Willenskraft, Vorsicht und Freude.« Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 39 - 3. Korrektur ZNT 38 (19. Jg. 2016) 39 Laurence L. Welborn Paulus und der »Unrechttäter« des 2. Korintherbriefes ner Antwort an die Korinther betont, deutet er damit an, dass die ethische Disposition eines weisen Mannes durch einen emotionalen »Überschuss« erreicht werden kann, ebenso wie durch emotionale Sparsamkeit durch die Teilhabe an »den Leiden des Christus« (1,5-7). Ein letzter Paradigmenwechsel im griechisch-römischen Konzept von Freundschaft liegt in der Vergebung gegenüber dem Unrechttäter, zu der Paulus die Korinther drängt (2,7) und die Paulus selbst sehr taktvoll gewährt (2,10). In Korrektur einer Minderheit in Korinth, die auf eine noch härtere Bestrafung drängt (2,6), 116 beharrt Paulus in aller Deutlichkeit darauf, dass die Korinther dem Unrechttäter »vergeben und ihn trösten« sollen (2,7). Paulus ist sogar der Ansicht (2,9), dass die Bereitschaft der Korinther, dem Unrechttäter zu vergeben, ein »Test« ihrer richtigen Einstellung ist, und dass Vergebung nicht in ihr Belieben gestellt, sondern Ausdruck ihres Gehorsams ist. In einem mit großer Umsicht formulierten Satz (2,10) macht Paulus klar, dass er dem Unrechttäter bereits vergeben hat, und er gibt zu verstehen, dass die von den Korinthern geforderte Vergebung Teil des Versöhnungsprozesses ist. 117 Das paulinische Beharren auf Vergebung hat in der griechisch-römischen Literatur kaum Entsprechungen. Keine der philosophischen Schulen scheint ein großes Interesse an diesem Thema gehabt zu haben. 118 Die Stoiker lehrten, dass der Weise sich nichts aus erlittenen Kränkungen macht, was aber nicht heißt, dass er dem Vergeben zugeneigt wäre, würde dies doch der Forderung nach Gerechtigkeit widersprechen und im Ergebnis die Untat billigen. 119 In seiner Abhandlung De clementia fragt Seneca: »Warum wird ein Weiser nicht vergeben? «, und er erläutert: »Verzeihen ist ein Erlass der verdienten Strafe«. Da nun aber der Weise tut, was recht ist, wird er die Strafe für ein willentlich begangenes Vergehen nicht erlassen (Clem. 2,7,2). Seneca hält es zwar für statthaft, dass ein Weiser denjenigen verschont, der ihn beleidigt hat, und dass er versucht, ihn zu bessern, doch auch dann »wird er handeln, als habe er vergeben, aber er wird nicht vergeben, da doch, wer vergibt, damit einräumt, dass er versäumt hat, etwas zu tun, das getan werden muss« (Clem. 2,7,2.). 3. Coda Im Winter des Jahres 56 n. Chr. traf Paulus zu seinem dritten und letzten Besuch in Korinth ein. Wenn die Darstellung der Apostelgeschichte (20,3) zutrifft, blieb Paulus drei Monate in Korinth. Während dieser Zeit war Paulus Gast im Hause des Gaius (Röm 16,23). Die von Gaius gewährte Gastfreundschaft war, wie wir gezeigt haben, keine Frage der Zweckmäßigkeit. Vielmehr verdankte sie sich der etablierten sozialen Konvention, einen Versöhnungsvorgang zwischen zuvor einander entfremdeten Freunden zu vollenden und öffentlich kund zu tun. Man darf wohl versuchen sich vorzustellen, wie sich dies gestaltet haben könnte: Gab es Tränen und Umarmungen, die einen lang andauernden Konflikt lösten (2,4.7)? Paulus hatte »Brüder« aus Makedonien voraus geschickt, um die Dinge im Voraus zu arrangieren (9,3.5). War die ganze Versammlung der Christusgläubigen anwesend, um Augenzeugen der Versöhnung zu sein? Wie wichtig war Paulus’ Aussöhnung mit dem Unrechttäter Gaius? Die Bedeutung dieses Vorgangs bemisst sich an der visionären Qualität der paulinischen Gedanken und am ethischen Gehalt seines Handelns während seines Aufenthalts im Hause des Gaius, denn im Haus des Gaius hat Paulus seinen letzten und bedeutendsten Brief geschrieben, den Römerbrief (16,22f.). An eben diesem Ort hat er seinen wagemutigen Plan einer neuen Missionsinitiative im weit entfernten Spanien bekannt gegeben (Röm 15,13 f.28), und hier hat er auch den mutigen Schritt gewagt, die Kollektendelegation persönlich nach Jerusalem zu begleiten (Röm 15,25-27), obwohl er sich dadurch in Lebensgefahr brachte, und obwohl er damit rechnen musste, dass die Kollekte zurückgewiesen werden würde (Röm 15,30- 32). Die Aussöhnung des Paulus mit dem Unrechttäter und mit der ganzen korinthischen Gemeinde schaffte die psychologischen Voraussetzungen für die letzte und produktivste Phase im Leben des Paulus als Apostel Christi. Für wenige Monate des Jahres 56 n. Chr. muss Paulus in der Gewissheit gelebt haben, dass alle Dinge möglich sind, und dass über allen Verheißungen, die ihm gegeben waren, das »Ja« Gottes stand (2Kor 1,20). Anmerkungen 1 Ähnlich F. Young/ D.F. Ford, Meaning and Truth in 2 Corinthians, Grand Rapids 1987, 22. 2 C.K. Barrett, Ὁ ἈΔΙΚΗΣΑΣ (2 Cor. 7.12), in: O. Böcher/ K. Haacker (Hg.), Verborum Veritas, Wuppertal 1970, 149-157; M.E. Thrall, The Offender and the Offence: A Problem of Detection in 2 Corinthians, in: B.P. Thompson (Hg.), Scripture: Meaning and Method, Pickering 1987, 65-78; C.G. Kruse, The Offender and the Offence in 2 Corinthians 2: 5 and 7: 12, Evangelical Quarterly 88 (1988), 129-139. 3 Vgl. etwa K. Lake, The Earlier Epistles of St. Paul: Their Motive and Origin, London 1914, 169: »Wer war der Beleidiger und worin bestand die Kränkung? Dies eine ist sicher: Eine sichere Antwort kann nicht gegeben werden.« Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 40 - 3. Korrektur 40 ZNT 38 (19. Jg. 2016) Zum Thema 4 Vgl. schon D. Georgi, The Opponents of Paul in Second Corinthians, Philadelphia 1986, 339-340. 5 H. Windisch, Der zweite Korintherbrief (KEK 6), Göttingen 1924 (ND 1970), 8. Windischs Beobachtung wäre selbstredend noch einleuchtender, wenn man 2Kor 1,1- 2,13/ 7,5-16 mit Johannes Weiß und anderen einem ursprünglich eigenständigen Brief zurechnet; vgl. hierzu J. Weiss, The History of Primitive Christianity, 2 Bde., übers. von F. C. Grant, New York 1937, Bd. 1, 349 und L.L. Welborn, Like Broken Pieces of a Ring: 2Kor 1: 1- 2: 13; 7: 5-16 and Ancient Theories of Literary Unity, NTS 42 (1996), 559-583. Aber auch dann, wenn es sich um Teile eines längeren Briefes handelt, sind diese stilistischen Beobachtungen und ihre funktionale Zuordnung von Bedeutung. 6 Ps.-Liban. Ep. Char. 19; Text: A.J. Malherbe, Ancient Epistolary Theorists, Atlanta 1988, 68 f. 7 Zur Bedeutung der sozialen Funktion für die Gattungsbestimmung antiker Briefe vgl. S. K. Stowers, Social Typification and the Classification of Ancient Letters, in: P. Borgen/ J. Neusner (Hg.), The Social World of Formative Christianity and Judaism, Philadelphia 1988, 78-90. 8 Ps.-Liban. Ep. Char. 66. Text: Malherbe, Ancient Epistolary Theorists, 76-77. 9 Arist. Rhet. 2,2,8 f.15, 1379a; Plut. Mor. 460D-463C; Ps.-Liban. Ep. Char. 90; vgl. ebenso Seneca Quomodo amicitia continenda sit. 10 Beispiele versöhnender Briefe: Demosth. Ep. 2; Apollonius von Tyana Ep. 45; Mark Aurel bei Philostrat Vit. Soph. 2,1,562-563; Chion Ep. 16; Ps.-Arist. Ep. 5; Ps.-Eurip. Ep. 5; Chairemon an Apollonius, BGU II.531; Cic. Fam. 3,8; 5,2; 5,8. 11 Zu Anlass und Absicht des Briefes vgl. J. Goldstein, The Letters of Demosthenes, New York 1968, 37-63; 78-94; 157-166. 12 Goldstein, The Letters of Demosthenes, 161. 13 Philostrat Vit. Soph. 2,1,559-563 gibt die Hintergrundinformationen. Vgl. hierzu G. H. R. Horsley, An Imperial Appeal for Reconciliation, in: NDIEC 4 (1991), 83-87. 14 Vgl. etwa Dio Chrys. Or. 45,9. 10. 11.14; Or. 50,3.6. 9. 10. 15 Demosth. Ep. 2.8; vgl. Goldstein, The Letters of Demosthenes, 162. 16 Vgl. Demosth. Ep. 2,2; Dio Chrys. Or. 45,3. 9. 10; Mark Aurel bei Philostrat Vit. Soph. 2,1,563; Chairemon an Apollonius, BGU II.531,18-22; Ps.-Eurip. Ep. 5,2.6; Ps.- Arist. Ep. 5,10-13. 17 D.F. Epstein, Personal Enmity in Roman Politics 218-43 BC, London 1987, 5-11; 13; 15; 18; 86; J. Hall, Politeness and Politics in Cicero’s Letters, Oxford 2009, 71-76. 18 Epstein, Personal Enmity, 5; Hall, Politeness and Politics, 71. 19 B. Rawson, The Politics of Friendship, Sydney 1978, 11- 13; Epstein, Personal Enmity, 5. 20 Cic. Fam. 1,9,20. Zu Ciceros intensiver Abneigung gegenüber Crassus, vgl. Att. 4,13,2; Off. 1,109; 3,75. 21 Cic. Fam. 1,9,20; vgl. Hall, Politeness and Politics, 137 f. 22 Plut. Cic. 26,1. 23 Plut. Cic. 26,2. 24 BGU I,248; vgl. B. Olsson, Papyrusbriefe aus der frühesten Römerzeit, Uppsala 1925, 122. 25 BGU I,248. 26 Text und Kommetar: R. Penella, The Letters of Apollonius of Tyana. A Critical Text with Prolegomena, Translation and Commentary, Leiden 1979, 48-51; 54-57; 62-65; 76- 79; 108-109; 113-14; 118; 128. 27 Philostrat Vit. soph. 2,1,562-563. 28 Es muss betont werden, dass es sich hierbei um eine Hypothese handelt, die ihre Stichhaltigkeit aus der erkennbaren Orientierung des Paulus an für Freundschaft, Feindschaft und Versöhnung maßgeblichen sozialen und rhetorischen Konventionen bezieht. Es ist möglich, dass die Gastfreundschaft, die Paulus während seines letzten Besuches in Korinth bei Gaius genossen hat, in keinem Zusammenhang zu der vorherigen Geschichte von Konflikt und Versöhnung steht. In diesem wie in vielen anderen Fällen ist ein historischer Beweis nicht möglich. Hier geht es darum, den konventionellen Rahmen darzustellen, der die vorgeschlagene Identifikation plausibel erscheinen lässt. 29 P. Lampe, Paul, Patrons, and Clients, in: J.P. Sampley (Hg.), Paul in the Greco-Roman World, Harrisburg 2003, 496. 30 P. Lampe, From Paul to Valentinus: Christians at Rome in the First Two Centuries, Minneapolis 2003, 192. 31 S.J. Friesen, Poverty in Pauline Studies: Beyond the Socalled New Consensus, JSNT 26 (2004), 323-361, hier: 356. 32 Diese Beobachtung hätte selbstredend größeres Gewicht, wenn es sich, wie einige Forscher vorgeschlagen haben, bei den Kapiteln 10-13 um den in 2Kor 2,3 f. erwähnten »Tränenbrief« handelt; vgl. A. Hausrath, Der Vier-Capitel-Brief des Paulus an die Korinther, Heidelberg 1870; F. Watson, 2 Cor. X-Xiii and Paul’s Painful Letter to the Corinthians, JTS 35 (1984), 324-46; L.L. Welborn, The Identification of 2 Corinthians 10-13 with the ‘Letter of Tears’, NT 37 (1995), 138-153. 33 So zutreffend Windisch, Der zweite Korintherbrief, 314. 34 L.L. Welborn, Paul’s Caricature of His Chief Rival as a Pompous Parasite in 2 Corinthians 11: 20, JSNT 32 (2009), 39-56. 35 Windisch, Der zweite Korintherbrief, 300. 36 Dieser Aspekt kommt in einer Textvariante des Codex Vaticanus (dokei pepoithenai) stärker zum Ausdruck; vgl. die Diskussion dieser Variante bei Windisch, Der zweite Korintherbrief, 302. 37 Windisch, Der zweite Korintherbrief, 300, 302; V. Furnish, II Corinthians: A New Translation with Introduction and Commentary (AB 32a), New York, NY [u. a.] 1984, 466. 38 Windisch, Der zweite Korintherbrief, 300. 39 A. Lindemann, Paulus und die korinthische Eschatologie. Zur These von einer ‚Entwicklung‘ im paulinischen Denken, NTS 37 (1991), 373-399; H.D. Betz, Galatians: A Commentary on Paul’s Letter to the Galatians, Philadelphia 1979, 201; J. Weiss, Der erste Korintherbrief (KEK 5), Göttingen 9 1910, 88-92. Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 41 - 3. Korrektur ZNT 38 (19. Jg. 2016) 41 Laurence L. Welborn Paulus und der »Unrechttäter« des 2. Korintherbriefes 40 W. Schrage, Der gekreuzigte und auferweckte Herr, ZThK 94 (1997), 25-38; T.K. Heckel, Der Gekreuzigte bei Paulus, BZ 46 (2002), 190-210. 41 U. Schnelle, Wandlungen im paulinischen Denken, Stuttgart 1989, 49-54. 42 Heckel, Der Gekreuzigte bei Paulus, 196-200. 43 L.L. Welborn, Paul, the Fool of Christ: A Study of 1 Corinthians 1-4 in the Comic-Philosophic Tradition, London 2005, 22-23; 103. 44 Welborn, Paul, the Fool, 147-148; 230. 45 Vgl. Jerry L. Sumney, Identifying Paul’s Opponents: The Question of Method in 2 Corinthians, Sheffield 1990, 15-48. 46 Windisch, Der zweite Korintherbrief, 300. 47 So etwa die King-James-Bibel und die New Revised Standard Version, zusammen mit vielen Kommentaren und Monographien. 48 So übersetzen A. Menzies, The Second Epistle of the Apostle Paul to the Corinthians, London 1912, 73, C.K. Barrett, A Commentary on the Second Epistle to the Corinthians, New York 1973, 260 und C. Roetzel, 2 Corinthians, Nashville 2007, 100. 49 Windisch, Der zweite Korintherbrief, 305. 50 So Furnish, II Corinthians, 468. 51 M. Thrall, A Critical and Exegetical Commentary on the Second Epistle to the Corinthians, Bd. 2, Edinburgh 2004, 630 (Anm. 249). Vgl. auch M.M. Mitchell, The Corinthian Correspondence and the Birth of Pauline Hermeneutics, in: T.J. Burke/ J.K. Elliott (Hg.), Paul and the Corinthians: Studies on a Community in Conflict, Leiden 2003, 30; 33: »Das Subjekt von φήσιν in 10,10 kann als identisch mit ὁ ἀδικήσας in 7,12 angesehen werden, zugleich derjenige, ›der betrübt hat‹ in 2,5.« 52 B.W. Winter, Philo and Paul among the Sophists: Alexandrian and Corinthian Responses to a Julio-Claudian Movement, Grand Rapids 2002, 204-223. 53 Vgl. Thrall, Second Epistle, Bd. 2, 630, die diese Kritik einem »Repräsentanten der rivalisierenden Mission« zuschreibt und hinzufügt: »Dies erfordert die Annahme, dass der Betreffende sich während des Zwischenbesuches des Paulus in Korinth aufhielt.« 54 C. F. G. Heinrici, Der zweite Brief an die Korinther (KEK 6), Göttingen 8 1900, 329-330; P. Marshall, Enmity in Corinth: Social Conventions in Paul’s Relations with the Corinthians, Tübingen 1987, 384-393; Winter, Paul among the Sophists, 204-221. 55 Dion. Hal. Comp. 11; Thuk. 23, 55; Pomp. 3; Dem. 34. 56 Ps.-Longin. Subl. 34. Vgl. auch Demetr. Eloc. 245, 248, 253, 270, 280, 283 und Dion. Hal. Dem. 21 f. 57 So aber Winter, Paul among the Sophists, 212. 58 J. Martin, Antike Rhetorik. Technik und Methode, München 1974, 351-356. 59 Quint. Inst. 11,3,12 f. 60 Demetr. Eloc. 240. 61 Plut. Dem. 7,4. 62 Vgl. etwa BGU IV.1117,31; PMich. 477,23; Vit. Aesop. G80,60; W77b,96,37, 97,2. Vgl. auch Ps.-Kallisthenes 72,19; Ps.-Plut. Mor. 308E; 310C. 63 Dion. Hal. Comp. 3; Demetr. Eloc. 4; Ps.-Longin. Subl. 3. 64 1Thess 5,20; 1Kor 1,28; 6,4; 16,11; Gal 4,14; 2Kor 10,10; Röm 14,3.10. 65 Windisch, Der zweite Korintherbrief, 307. 66 Vgl. H. W. Merritt, In Word and Deed: Moral Integrity in Paul, New York 1993, 112-115. 67 E. Käsemann, Die Legitimität des Apostels. Eine Untersuchung zu II Korinther 10-13, ZNW 41 (1942), 33-71; G. Strecker, Die Legitimität des paulinischen Apostolates nach 2 Korinther 10-13, NTS 38 (1992), 566-586. 68 Ähnlich Mitchell, The Corinthian Correspondence and the Birth of Pauline Hermeneutics, 31. 69 G. Delling, Art. πλεονεκτέω, TDNT 6 (1968), 266-274. 70 Windisch, Der zweite Korintherbrief, 403; Delling, πλεονεκτέω, 273; Thrall, Second Epistle, Bd. 2, 853, 856 f. 71 A. Plummer, A Critical and Exegetical Commentary on the Second Epistle of St. Paul to the Corinthians, Edinburgh 1915, 364; Windisch, Der zweite Korintherbrief, 403. 72 Zur Hypothese, dass Paulus den Korinthern vor der Abfassung des 2Kor einen zweiten Besuch abgestattet hat, vgl. Plummer, Second Epistle, 371; Windisch, Der zweite Korintherbrief, 77f.; 398f.; Furnish, II Corinthians, 140; 557 f. 73 Barrett, Second Epistle, 324; H.D. Betz, 2 Corinthians 8 and 9: Two Administrative Letters of the Apostle Paul, Philadelphia 1985, 77. 74 So bereits Betz, 2 Corinthians 8 and 9, 97: »Paulus erwähnt den Vorwurf [der πλεονεξία] nicht bloß rhetorisch, sondern mit Bezug auf eine Anschuldigung, die jemand in Korinth gegen ihn erhoben hatte, aller Wahrscheinlichkeit nach derjenige, den Paulus in 2Kor 7,12 den ›Unrechttäter‹ (ὁ ἀδικήσας) nennt.« 75 Weiss, Primitive Christianity, Bd. 1, 343. 76 Zum Pathos der paulinischen Formulierung vgl. L. L. Welborn, Paul’s Appeal to the Emotions in 2 Corinthians 1: 1-2: 13; 7: 5-16, JSNT 82 (2001), 31-60. 77 D.E. Fredrickson, Paul, Hardships, and Suffering, in: J.P. Sampley (Hg.), Paul in the Greco-Roman World, Harrisburg 2003, 172-197, hier: 181 f. 78 Weiss, Primitive Christianity, Bd. 1, 345 f. 79 J.T. Fitzgerald, Paul and Paradigm Shifts: Reconciliation and Its Linkage Group, in: Troels Engberg-Pedersen (Hg.), Paul Beyond the Judaism/ Hellenism Divide, Louisville 2001, 241-262. 80 Text und Übersetzung von G. Milligan, Selections from the Greek Papyri, Cambridge 1910, 93-95. Vgl. auch PMich. VIII.502; PGiss. 17. 81 Hall, Politeness and Politics, 71-76. 82 Hall, Politeness and Politics, 74-75. 83 Zur Übersetzung vgl. William Barclay, The New Testament: A New Translation, 2 Bde., London 1969, hier: Bd. 2, 72. 84 C.S. Spicq, Theological Lexicon of the New Testament 2, Peabody 1994, 262. 85 Vgl. etwa PMich. VIII.502,7-8; BGU III.846; PGiss. 17,7-8. Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 42 - 3. Korrektur 42 ZNT 38 (19. Jg. 2016) Zum Thema 86 Vgl. etwa PMich. VIII.502,8-9. 87 Ps.-Liban. Ep. Char. 66. 88 Olsson, Papyrusbriefe aus der frühesten Römerzeit, 120. 89 Philostrat Vit. Soph. 2,1,562-563. 90 Dass sich die Abfolge von Emotionen in 7,11 nicht einer zufälligen Zusammenstellung verdankt, wird daran deutlich, dass sie aus exakt sieben Termini besteht, die alle durch ein anaphorisches alla verbunden werden. Vgl. hierzu Windisch, Der zweite Korintherbrief, 234. 91 Vgl. etwa den Wechsel von boulomai zu bouleuomai in 1,15-17 und die subtile Ersetzung von chara durch charis in 1,15. 92 Um nur die neuesten Beiträge zu nennen: J. Sihvola/ T. Engberg-Pedersen (Hg.), The Emotions in Hellenistic Philosophy, Dordrecht 1998; R. Sorabji, Emotions and Peace of Mind: From Stoic Agitation to Christian Temptation, Oxford 2000; M.R. Graver, Stoicism and Emotion, Chicago 2007; J.T. Fitzgerald, Passions and Moral Progress in Greco-Roman Thought, London 2008. 93 T. Tieleman, Chrysippus’ On Affections: Reconstruction and Interpretation, Leiden 2003. 94 Cic. Tusc. 3,13,27. Übersetzung: Cicero, Gespräche in Tusculum. Übersetzt und mit einer Einführung und Erläuterungen versehen von O. Gigon, München 1991, 150 f. 95 D. Aune, Mastery of the Passions: Philo, 4 Maccabees and Earliest Christianity, in: W.E. Helleman (Hg.), Hellenization Revisited: Shaping a Christian Response within the Greco-Roman World, New York 1994, 125-58. 96 Graver, Stoicism and Emotion, 51-55, 203-204. 97 Cic. Tusc. 4,6,12-14. 98 Dio Chrys. Or. 16,1. 99 Dio Chrys. Or. 16,4. 100 Graver, Stoicism and Emotion, 53-55; 194; 204. 101 Seneca De Cons. Sap. 2,1,3; Ben. 2,25,2. 102 Cic. Tusc. 4,6,14. 103 Dio Chrys. Or. 16,1. 104 Plat. Apol. 41E. 105 Plat. Apol. 23B. 106 Cic. Tusc. 3,32,77. Übersetzung: Cicero, Gespräche in Tusculum. Übersetzt und mit einer Einführung und Erläuterungen versehen von O. Gigon, München 1991, 172. 107 Cic. Tusc. 3,31,74 f. 108 Cic. Tusc. 3,32,77; vgl. die Analyse der Episode von den »Tränen des Alkibiades« bei Graver, Stoicism and Emotion, 191-211. 109 Plut. Mor. 55C. Übersetzung: Plutarch, Moralia, hg. von Chr. Weise und M. Vogel, Wiesbaden 2012, Bd. 1, 106. 110 Epikt. Diatr. 3,23,30. 111 Ps.-Hippokrates Ep. 17,45. 112 Plut. Mor. 47A. Übersetzung: Plutarch, Moralia, hg. von Chr. Weise und M. Vogel, Wiesbaden 2012, Bd. 1, 93. 113 Diogenes Laertius 7,119. 114 C. Breytenbach, ’Christus starb für uns’. Zur Tradition und paulinischen Rezeption des sogenannten Sterbeformeln, NTS 29 (2003), 447-475. 115 Graver, Stoicism and Emotion, 213-220, unter Hinweis auf Cic. Tusc. 4,66 and Epikt. Diatr. 2,1,1-7. 116 Plummer, Second Epistle, 87. 117 Windisch, Der zweite Korintherbrief, 90 f. 118 C. Griswold, Platon and Forgiveness, Ancient Philosophy 27 (2007), 269-287; D. Konstan, Remorse, Repentance and Forgiveness in the Classical World, Phoenix 62 (2008), 243-254. 119 Konstan, Remorse, Repentance and Forgiveness, 247 (unter Hinweis auf Stobaios 2,91,10). Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 43 - 3. Korrektur ZNT 38 (19. Jg. 2016) 43 Einleitung zur Kontroverse Briefteilung oder literarische Integrität: Hermeneutische Positionen zu einer unerledigten Streitfrage Die Literarkritik hat von den Paulusbriefen schon seit geraumer Zeit abgelassen, nur nicht vom 2. Korintherbrief. Wer den Artikel »Korintherbriefe« in der 4. Auflage der Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG) von Margaret M. Mitchell konsultiert, erfährt, dass sich die uns erhaltene korinthische Korrespondenz des Heidenapostels (den 1. Korintherbrief inbegriffen) aus ursprünglich nicht weniger als sechs Teilbriefen zusammensetzt. Ist der 2. Korintherbrief in der auf uns gekommenen Textgestalt also ein sekundäres redaktionelles Gebilde, das die Lesenden auf diverse falsche Fährten lockt? Die kritische Exegese muss es dann richten und die ursprüngliche Ordnung mühsam und hypothesenreich erst wieder herstellen. Dass hier keine sich selbst genügenden Spezialismen ventiliert werden, macht die von Lars Aejmelaeus mit Blick auf 2Kor 7,16 und 13,2 pointiert formulierte Frage, »wie Paulus in demselben Brief gleichzeitig so zufrieden und so unzufrieden mit der Gemeinde sein kann«, beispielhaft deutlich. Dass die kritische Exegese, wenn sie hier erst das Fragen anfängt, aus dem Fragen nicht mehr herauskommt, spricht nicht gegen sie, auch nicht, dass sie mehr Fragen als Antworten produziert, und erst recht nicht, dass am Ende kein Forschungskonsens steht, sondern eine Vielzahl an Forschungsmeinungen. All das spricht nicht gegen sie, denn so geht Wissenschaft. Allenfalls könnte man den Briefteilern vorhalten, dass sie dem Text nicht die nötige Geduld angedeihen lassen, denn ist ein Text erst einmal durchtrennt, kann man ihn zwar wieder zusammenflicken, aber es bleibt eine Naht, ein nicht mehr auszuräumender und in den Lehrbüchern fortan aktenkundiger Verdacht, dass mit dem Text »etwas nicht stimmt«. Sollte man es mit der literarkritischen Schere nicht besser so machen wie mit einem Feuerlöscher (es ist gut, wenn man einen hat, aber noch besser, wenn man ihn nicht einsetzen muss)? Wenn die kritische Exegese »es« richten muss, was ist dann mit »ihm«, dem 2. Korintherbrief? Richtet sie ihn zurecht oder zugrunde? Macht sie ihn allererst genießbar oder (schon allein wegen der schieren Unübersichtlichkeit und Kompliziertheit ihrer Hypothesenproduktion) ungenießbar? All das sind hermeneutische Fragen, um die es in der Kontroverse dieses Heftes vorrangig gehen soll. Thema ist also nicht ein neuerlicher Schlagabtausch von Argumenten für oder wider die Briefteilung, sondern ein Gespräch über die hermeneutischen Implikationen beider Sichtweisen. Partner in diesem kontroversen Gespräch sind mit Reimund Bieringer und Lars Aejmelaeus zwei ausgewiesene Forscher, die in ihren Publikationen zum 2. Korintherbrief in den vergangenen Jahren immer wieder aufeinander Bezug genommen haben, Bieringer als Vertreter der Einheitlichkeit und Aejmelaeus als Vertreter einer moderaten Briefteilung. Reimund Bieringer geht das gestellte Thema so an, dass er differenzierte Betrachtungen zu Verlusten und Gewinnen anstellt, die die gängigen Briefteilungshypothesen in hermeneutischer Hinsicht nach sich ziehen. Lars Aejmelaeus antwortet darauf mit einem umso eindeutigeren Plädoyer für die Briefteilung, die nach seiner Auffassung eine exegetische wie hermeneutische Notwendigkeit darstellt. Die von Bieringer konstatierten Verluste der Teilungshypothese seien so unvermeidlich wie hinnehmbar, die Gewinne aber unveräußerlich: Nur so könne der 2Kor auch theologisch differenziert ausgelegt werden. Die Kontroverse dieses Heftes macht einmal mehr deutlich, in welch hohem Maße sich texttheoretische, psychologische, hermeneutische und theologische Annahmen und Vorannahmen überall dort ein Stelldichein geben, wo mit Blick auf neutestamentliche Texte literarkritische Fragen verhandelt werden. Wir wünschen eine anregende Lektüre. Manuel Vogel Kontroverse Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 44 - 3. Korrektur 44 ZNT 38 (19. Jg. 2016) Die Literarkritik des 2. Korintherbriefes ist vielleicht das unlösbarste Problem der historisch-kritischen Forschung des Neuen Testaments. Im Laufe der letzten 250 Jahre wurden für fast alle paulinischen Homologoumena früher oder später Teilungshypothesen verteidigt. Während aber die literarkritischen Diskussionen bei den anderen Paulusbriefen in den letzten 25 Jahren abgeflaut sind, braust der Sturm bezüglich des 2. Korintherbriefes unvermindert weiter. Der Eindruck legt sich nahe, dass es inzwischen bei dieser Diskussion längst nicht mehr um rationale Argumentation geht, sondern um intuitive a priori Festlegungen, die vielmehr das Spiegelbild einer exegetischen Gesamtpersönlichkeit sind als das Ergebnis von mit dem Verstand überprüfbaren Überzeugungsleistungen. Dies wird vor allem auch darin deutlich, dass unter den Spezialisten nur wenige (wenn überhaupt) »Konversionen« vom einen zum anderen »Lager« bekannt sind. Fragen der Authentizität und Integrität von Texten gehören zum Grundbestand historisch-kritischer Forschung. Im 2Kor wird von einer Minderheit höchstens die Authentizität von 6,14-7,1 in Frage gestellt. Die Diskussion um Teilungshypothesen gehört zum Bereich der Integrität. Alle Forscher eint also die Überzeugung, dass die zur Diskussion stehenden Texte von Paulus selber verfasst sind. Worin sie sich unterscheiden, ist die Frage, in welche präzise historische Situation die Texte, die wir als den kanonischen 2Kor kennen, ursprünglich sprachen. Da historische Kritik ganz wesentlich dadurch gekennzeichnet wird, dass sie Texte in ihrem ursprünglichen historischen Kontext interpretiert, gehört auch und gerade die Frage nach der konkreten Situation, die ein Text voraussetzt, zu ihren wichtigsten Aufgaben. Für Exegeten, die den kanonischen 2Kor als eine sekundäre Kompilation verstehen, stehen je nach Hypothese größere oder kleinere Teile des kanonischen 2Kor nicht in ihrem ursprünglichen Kontext. Die Auslegung muss sie zuerst ihrem (rekonstruierten) ursprünglichen Kontext zuordnen. Die Fronten zwischen Vertretern der Einheitlichkeit und der Uneinheitlichkeit waren von Anfang an verhärtet. Dies hing vor allem damit zusammen, dass die Annahme der Einheitlichkeit der vorkritischen Zeit zugerechnet wurde und dass die Spaltung der Lager in Vertreter der Hypothese der Einheitlichkeit und der Teilungshypothesen anfänglich ausschließlich eine Frage der Glaubensüberzeugung war. Liberale Theologen traten für Teilungshypothesen ein, während konservative sich für die Einheitlichkeit aussprachen. Hinzu kam, dass Teilungshypothesen parallel zu neuen Thesen der Vorgeschichte des 2Kor entwickelt wurden, die implizierten, dass 2Kor fast völlig unabhängig von 1Kor interpretiert wurde. Während die Vertreter der Teilungshypothesen einen Zwischenbesuch und einen Zwischenbrief postulierten, hielten die Vertreter der Einheitlichkeit lange an der vorkritischen Position fest, dass sich 2Kor 2,1 auf den Gründungsbesuch bezieht und der Tränenbrief in 2,4 der 1Kor ist. Außerdem lasen die Ausleger, die 2Kor weiterhin als Einheit verstanden, den Brief wie alle anderen Paulusbriefe viel mehr als Quelle seiner Theologie und als Zeugen göttlicher Offenbarung denn als historisch situierten Gelegenheitstext. Situationsbedingte Spannungen konnten erst entdeckt oder postuliert werden, sobald man den Text in seiner Entstehungssituation zu lesen begann. Heute sind die meisten dieser Fronten aufgeweicht. Auch die Vertreter der Einheitlichkeit versuchen 2Kor als historisches Dokument, das zu einer geschichtlichen Situation gehört, zu interpretieren. Die Position der Einheitlichkeit wird heute außerdem ganz selbstverständlich mit der Rekonstruktion der Vorgeschichte des 2Kor verbunden, wobei der gesamte 2Kor als der letzte uns bekannte Brief der Korrespondenz angesehen wird und der Tränenbrief als verloren gilt. Die Textgliederung verläuft bei den Vertretern der Einheitlichkeit heute oft weitgehend entlang derselben Verse wie die Briefteilung bei den Vertretern der Uneinheitlichkeit (1,1-2,13/ / 2,14-7,4/ / 7,5-16/ / 8,1-24/ / 9,1-15/ / 10,1- 13,10/ / 13,11-13). Die stereotypen Annahmen, dass liberalen Forschern nur die Option der Teilungshypothesen offenstehe, während ausschließlich konservative Exegeten sich für die Einheitlichkeit entschieden, gehört weitgehend der Vergangenheit an. Diese Annäherungen sind sicher wichtig und zeugen von der gegenseitigen Bereicherung der unter- Reimund Bieringer Verluste und Gewinne Hermeneutische Überlegungen zu denTeilungshypothesen zum 2. Korintherbrief Kontroverse Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 45 - 3. Korrektur ZNT 38 (19. Jg. 2016) 45 Reimund Bieringer Verluste und Gewinne auf eine Reihe wichtiger Aspekte in der Interpretation der uns als kanonischer 2Kor bekannten Texte verzichten müssen. Wir werden diese im Folgenden im Detail besprechen. Der grundlegende Verlust, der mit allen Teilungshypothesen einhergeht, scheint mir das Aufgeben der Integrität eines Textes zu sein, der über 1700 Jahre hinweg trotz anerkannter Spannungen als einheitlicher Text interpretiert wurde. Vor Johann Salomo Semler (1776) stand die literarische Einheitlichkeit des kanonischen 2Kor nicht zur Diskussion. Zugegebenermaßen ist dies wahrscheinlich hauptsächlich der Tatsache zuzuschreiben, dass man 2Kor in der Zeit vor Semler nicht aus historisch-kritischer Perspektive gelesen hat und dadurch den historisch situativen Fragen keine Aufmerksamkeit schenkte. Dies bedeutete, dass bestimmte Widersprüche und chronologische Ungereimtheiten nicht auffielen. Ein zweiter Aspekt ist der Verlust der Kohärenz der Interpretationsgemeinschaft. Infolge der Infragestellung der Integrität des 2Kor entstanden zwei »Lager«, das der Vertreter der Kompilationshypothesen und das der Vertreter der Einheitlichkeit. Das erste Lager ist verteilt in mehrere Untergruppen von miteinander inkompatiblen Positionen. Die wichtigste Trennungslinie zwischen den Untergruppen verläuft zwischen denjenigen, die 2Kor 10,1-13,10 als den Tränenbrief (oder zumindest als ein Fragment desselben) ansehen (unter den »klassischen« vier Hypothesen: Hausrath-Kennedy; Weiß- Bultmann; Schmithals-Bornkamm), und denjenigen, die diese Identifikation ablehnen (Semler-Windisch). Dabei ging/ geht es vor allem um die Frage, ob die beiden sogenannten Apologien (2,14-7,4 und 10,1-13,10) ursprünglich zum selben Brief, nämlich dem Tränenbrief (Weiß-Bultmann) gehörten oder zu zwei verschiedenen. In letzterem Fall werden entweder beide Konfliktsituationen zugerechnet (Schmithals-Bornkamm), oder 2,14- 7,4 wird zum sogenannten Versöhnungsbrief und 10,1- 13,10 zum Tränenbrief gerechnet (Hausrath-Kennedy). Zu diesen klassischen Hypothesen sind in jüngster Zeit noch eine Reihe neuerer Vorschläge hinzugekommen. Diejenigen, die für eine Kompilationshypothese eintreten, müssen eine schlüssige Erklärung dafür finden, warum es im Lager der Gegner der Einheitlichkeit so viele einander widersprechende Positionen gibt, und sie müssen für sich entscheiden, ob sie diese Vielfalt als Argument gegen Kompilationshypothesen gelten lassen. Die Tatsache, dass bei genauerem Hinschauen auch die Vertreter der Einheitlichkeit für sehr unterschiedliche schiedlichen Positionen. Dennoch bleibt ein breiter Graben zwischen den beiden Grundsatzpositionen, und das Gespräch sowie das gegenseitige Verständnis bleibt schwierig. Deshalb erscheint es hilfreich, dass sich Vertreter der jeweils anderen Position in die Sichtweise ihrer Gegenüber zu versetzen suchen. Als langjähriger Vertreter einer Hypothese der Einheitlichkeit versuche ich daher im Folgenden, die hermeneutischen Konsequenzen der Teilungshypothesen zu verstehen. Ich tue dies, indem ich mir die Frage stelle, was der hermeneutische Verlust bzw. Gewinn der Annahme von Teilungshypothesen ist. Das Ziel dieser Übung besteht darin, dass ich zu einem tieferen Verständnis des Denkens im anderen »Lager« komme und gewissermaßen im Spiegel meine eigene Position besser zu verstehen lerne. 1. Hermeneutische Konsequenzen der Kompilationshypothesen: Verluste Die Entscheidung für bestimmte Hypothesen wird in der Forschung zumeist von Strategien der Gewinnmaximierung und Verlustvermeidung geleitet. Die Forscher sind sich dabei der Tatsache bewusst, dass keine Hypothese nur Gewinn und keinen Verlust für sich beanspruchen kann. Jede Option für eine Hypothese führt zwangsläufig zu gewissen, allerdings sehr unterschiedlichen Verlusten, von denen ein Teil bewusst mit in Kauf genommen wird. Wer sich für eine Teilungshypothese entscheidet, wird dadurch zweifellos implizit Prof. Dr. Reimund Bieringer (*1957) ist Professor für neutestamentliche Exegese an der theologischen Fakultät der Katholischen Universität Löwen (Leuven), Belgien. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören: Exegese und Theologie des 2. Korintherbriefes, Exegese des Johannesevangeliums, biblische Hermeneutik und hellenistisches Griechisch. Prof. Dr. Reimund Bieringer »[Es] erscheint [...] hilfreich, dass sich Vertreter der jeweils anderen Position in die Sichtweise ihrer Gegenüber zu versetzen suchen.« Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 46 - 3. Korrektur 46 ZNT 38 (19. Jg. 2016) Kontroverse Typen von Positionen (»die Einheit der Abfassung, nicht des Inhalts« und »die Einheit von Abfassung und Inhalt«) eintreten, ist dabei wohl nur ein schwacher Trost. Drittens kann es als ein Verlust angesehen werden, dass Vertreter von Kompilationshypothesen die Regel, dass in einer Hypothese nur eine Unbekannte vorkommen soll, über Bord werfen müssen. Denn ihre Position ruht nicht nur auf der hypothetischen Annahme, dass der kanonische 2Kor ungeachtet seiner durchgehenden textkritischen Bezeugung als einheitlicher Brief aus ursprünglich als selbstständige Briefe verfassten Teilen besteht, sondern auch, dass er von einem Redaktor kompiliert wurde. Außer der Semler-Windisch-Hypothese beruhen alle »klassischen« Kompilationshypothesen außerdem auf der hypothetischen Annahme von Zwischenbesuch und -brief (Tränenbrief ). Wenn wir bereit sind, die Voraussetzung der Einheitlichkeit als Hypothese zu verstehen, dann besteht die Möglichkeit, die Hypothese von Zwischenbesuch und -brief zu verwerfen oder, wie bei der Mehrheit der neueren Vertreter der Einheitlichkeit, diese Hypothese als zweite Unbekannte in die eigene Position aufzunehmen. In letzterem Fall unterscheidet sich die Einheitlichkeitshypothese nicht entscheidend von der Mehrheitsposition der Kompilationshypothesen, wenn auch im Allgemeinen die Menge hypothetischer Elemente bei der Annahme der Einheitlichkeit geringer ausfällt. Ein vierter Verlust, mit dem Kompilationshypothesen zu rechnen haben, besteht darin, dass fast alle zur Erklärung der seit der frühesten Bezeugung um das Jahr 200 bekannten kanonisch gewordenen Form des 2Kor in 13 Kapiteln mit der Hypothese eines Redaktors arbeiten (müssen), eines Redaktors, von dem man dann annehmen muss, dass er einen Text als kohärent präsentiert, den der Autor selbst nie als kohärent empfunden hätte. Es wird also notwendig zu erklären, wieso der Redaktor in seiner sekundären Komposition nicht gesehen hat, dass 2,14-7,4 nicht zwischen 2,12-13 und 7,5-16 passt und dass 10,1-13,10 mit seinem harschen Ton alles das, was Paulus in 1,1-9,15 mühsam aufgebaut hat, wieder zerstören würde. Offensichtlich hatte ein späterer Redaktor kein Interesse an der ursprünglichen Briefsituation und wird daher auch Widersprüche situativer Art kaum wahrgenommen haben. Dennoch bleibt die Frage, welchen situationsüberschreitenden Wert der Redaktor in diesen Texten gesehen haben mag und warum er die Texte der ehemals selbstständigen Briefe gerade in dieser Zusammenstellung präsentiert hat. Schließlich ist es ein fünfter Verlust der Kompilationshypothesen, dass sie für die Rekonstruktion der Briefsituationen postulierter Briefe der korinthischen Korrespondenz dieselben Briefe benutzen müssen (weil es keine anderen Quellen gibt), die sie diesen rekonstruierten Briefsituationen zuordnen wollen, und somit kaum einem hermeneutischen Zirkel entkommen können. Dieses Argument kann allerdings kaum von entscheidender Art sein, da sich jegliche historisch-kritische Exegese mit diesem hermeneutischen Problem konfrontiert sieht. Auch die historisch-kritische Exegese, die mit der Annahme der Einheitlichkeit des 2Kor arbeitet und die Aussagen des Briefes im Licht einer bestimmten Briefsituation, nämlich dem Moment der Rückkehr des Titus zu Paulus mit guten Nachrichten aus Korinth, interpretiert, steht vor dieser hermeneutischen Herausforderung (wenn auch in geringerem Umfang). In diesem ersten Abschnitt diskutierten wir die Verluste, gewissermaßen die Opfer, die Vertreter der Kompilationshypothesen bringen müssen, um ihre Position aufrechtzuerhalten. Wie wir gesehen haben, unterscheiden sie sich dabei nicht in allen Fällen entscheidend von den Vertretern der Einheitlichkeit. Insgesamt erscheinen uns allerdings die Verluste bzw. Opfer der Kompilationshypothesen größer als die der Annahme der Einheitlichkeit. Auf diesem Hintergrund wenden wir uns jetzt den Gewinnen, die mit den Kompilationshypothesen einhergehen, zu. 2. Hermeneutische Konsequenzen der Kompilationshypothesen: Gewinne Kompilationshypothesen zum 2Kor erfreuen sich großer Popularität unter den Exegeten. Auch ihre Gegner können nicht umhin zuzugeben, dass viele ihrer Behauptungen einer gewissen Plausibilität nicht entbehren. In diesem zweiten Abschnitt gehen wir der Frage nach, worin aus der Sicht eines Vertreters der Einheitlichkeit die (hermeneutischen) Gewinne der Kompilationshypothesen bestehen. Der erste Gewinn besteht nach unserer Überzeugung im kompromisslosen Ernstnehmen des historischen Kontexts bzw. der historischen Situation und somit auch des brieflichen Charakters der Texte, was dazu führt, dass Widersprüche und Inkohärenzen entdeckt werden (Es sollte allerdings nicht vergessen werden, dass die Bestreitung der Einheitlichkeit in vielen Kommen- »Insgesamt erscheinen uns […] die Verluste bzw. Opfer der Kompilationshypothesen größer als die der Annahme der Einheitlichkeit.« Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 47 - 3. Korrektur ZNT 38 (19. Jg. 2016) 47 Reimund Bieringer Verluste und Gewinne taren nur in der Einleitung stattfindet, während in der eigentlichen Kommentierung die Situationsbezogenheit der Texte oft in den Hintergrund rückt). Allerdings ist dies kein Alleinstellungsmerkmal. Auch unter der Voraussetzung der Einheitlichkeit ist es möglich (wenn auch nicht nötig), die historische Situation des Textes völlig ernst zu nehmen. Ein zweiter Gewinn kann darin bestehen, dass die Forscher ihre Annahmen hinsichtlich der Kompositions- und Überlieferungsprozesse antiker Texte bestätigt sehen, wenn sie davon ausgehen, dass 2Kor das Ergebnis sekundärer Kompilation ist. Drittens liegt ein Gewinn der Kompilationshypothesen auch darin, dass sie dazu anregen, das Verhältnis zwischen 1Kor und 2Kor näher zu bestimmen. In vorkritischer Zeit gehörten die beiden Korintherbriefe eng zusammen. Der Besuch unter Tränen war der Gründungsbesuch und der Tränenbrief war 1Kor. Das zentrale Problem, das zu der im 2Kor erkennbaren Krise zwischen Paulus und den Korinthern führte, wurde aus 1Kor 5,1-5 rekonstruiert. Durch die Hypothese von Zwischenbesuch, Zwischenfall und Zwischenbrief, die also alle zu einer neuen, durch die neu angekommenen externen Missionare verursachten und vom 1Kor unabhängigen Situation gehören, wurde der 2Kor oder vielmehr wurden die im kanonischen 2Kor gesammelten Briefe vom 1Kor abgekoppelt und so zu einer selbstständigen Korrespondenz. Eine Ausnahme bildet hierbei nur 2Kor 6,14-7,1, ein Text, der häufiger zum 1Kor oder sogar zu dem 1Kor vorausgehenden ersten Brief der gesamten Korrespondenz gerechnet wird. (Zu erwähnen wären auch noch die Positionen, die sowohl 1Kor als auch 2Kor als Kompilationen verstehen und bei ihrer Rekonstruktion der ursprünglichen Briefe Mischungen aus Teilen von 1Kor und 2Kor postulieren). Dieser »Gewinn« relativiert sich jedoch dadurch, dass die Selbstständigkeit von 2Kor bzw. der in ihm gesammelten Korrespondenz weniger eine Konsequenz der Kompilationshypothesen ist als vielmehr der Hypothese von den Zwischenereignissen. Auch bei den Vertretern der Einheitlichkeit, die inzwischen fast ausnahmslos die Hypothese von den Zwischenereignissen akzeptieren, kommt 2Kor zu seinem vollen Recht als selbstständiger Brief. Der vierte Gewinn ist ein Zuwachs an historischer Tiefenschärfe bzw. Profil. Die Exegeten der Paulusbriefe und insbesondere auch der Korintherbriefe sehen sich immer konfrontiert mit einem chronischen Mangel an historischen Informationen und Dokumenten. Mit Hilfe der Archäologie weitere Quellen zu erschließen, erscheint aussichtslos. Da ist es willkommen, wenn man auf literarkritischem Weg eine bisher unbekannte Quelle wie den Tränenbrief erschließen kann. Vor allem in ihrer maximalen Ausformung in der Schmithals-Bornkamm Hypothese wird es möglich, neue historische Einsichten über einen Zeitraum von mehreren Monaten zu gewinnen. Während in der Hypothese der Einheitlichkeit der 2Kor lediglich eine Momentaufnahme ist, liefern die in der Schmithals-Bornkamm Hypothese rekonstruierten und chronologisch über einen Zeitraum von sechs bis acht Monaten sich erstreckenden fünf oder mehr Briefe neue Einsichten in die historische Situation, wenn sie also als Zeugnisse verschiedener Briefsituationen interpretiert werden. Einige neuere Autoren haben hiermit auch das Entstehen der paulinischen bzw. frühchristlichen Hermeneutik verbunden. Schließlich implizieren fünftens die Kompilationshypothesen auch einen Gewinn für das Paulusbild. Es geht vielleicht nicht zu weit, wenn man suggeriert, dass die tiefste Motivation aller Kompilationshypothesen darin besteht, Paulus als Autor bzw. Mensch/ Theologen zu retten im Lichte der Probleme, die sich aus 2Kor 10,1-13,10 ergeben. Vor allem in ihrer am weitesten entwickelten Form erlauben es uns die Kompilationshypothesen, Paulus als vollkommen logisch kohärenten Autor zu verstehen. Vor allem inhaltlich erscheint der in vieler Hinsicht problematische Text 2Kor 10,1-13,10 akzeptabler als Tränenbrief bzw. als Antwort später wieder aufflammender Konflikte denn als Teil des Versöhnungsbriefes. Hinzu kommt, dass die korinthische Korrespondenz in allen Kompilationshypothesen außer der Semler-Windisch Hypothese mit einem »happy end«, mit der Versöhnung zwischen Paulus und den Korinthern abschließt. So erscheint Paulus in den meisten Kompilationshypothesen nicht nur als kompetenter Autor, der seine Briefe ohne Brüche verfasst hat und als verlässlicher, psychologisch stabiler Kommunikator, sondern auch als erfolgreicher Konfliktlöser. Die Kompilationshypothesen führen also (nicht zuletzt auch durch die Ausscheidung von 2Kor 6,14-7,1) zu einem viel attraktiveren Paulusbild. Zu guter Letzt setzen die Kompilationshypothesen auch eine bestimmte Rekonstruktion des Konflikts in Korinth sowie die Annahme eines bestimmten Versöhnungsbegriffs voraus. Sie gehen von einem eindimensionalen Konflikt zwischen Paulus und den Korinthern »Vor allem in ihrer am weitesten entwickelten Form erlauben es uns die Kompilationshypothesen, Paulus als vollkommen logisch kohärenten Autor zu verstehen.« Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 48 - 3. Korrektur 48 ZNT 38 (19. Jg. 2016) Kontroverse aus, der von den externen Missionaren initiiert und von einem Übeltäter aus den Reihen der Gemeinde mit deren Unterstützung ausgetragen wurde. Der hier vorausgesetzte Versöhnungsbegriff ist statischer Art und geht davon aus, dass, so wie Konflikte plötzlich ausbrechen (z. B. das Verhalten des Übeltäters während des Zwischenbesuchs), auch Versöhnung augenblicklich zustande kommt (etwa als Folge des Tränenbriefes durch die Vermittlung des Titus in Korinth). 3. Schlussbemerkung In diesem kurzen Beitrag habe ich versucht, mich in das Denken der Vertreter der Kompilationshypothesen zu versetzen. Ich habe mich bemüht, die Vor- und Nachteile, die Gewinne und Verluste, die mit den Kompilationshypothesen einhergehen, darzustellen. Ich habe eine Anstrengung unternommen, möglichst neutral an die Frage heranzugehen. Am Ende ist mir allerdings bewusst, dass die Darstellung der Verluste und Gewinne dennoch unvermeidlich aus meiner von der Einheitlichkeit überzeugten Perspektive geschah. Dennoch hoffe ich, dass die oben entwickelten Punkte zu einem vertieften Dialog der verschiedenen Lager beitragen können. Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 49 - 3. Korrektur ZNT 38 (19. Jg. 2016) 49 Reimund Bieringer und ich sind uns einig darüber-- an sich heute eine Selbstverständlichkeit--, dass bei der Interpretation der Briefe des Neuen Testaments (wie aller anderen antiken Texte) ihre konkrete Entstehungsgeschichte ernstgenommen werden muss. Auch der Text des 2. Korintherbriefes ist nicht ein zeitloser Offenbarungstext aus göttlicher höherer Sphäre, sondern er wurde in einer konkreten Situation von einem individuellen Verfasser mit einer spezifischen Absicht geschrieben. Nur auf diese Weise kann der 2Kor eine für die christliche Theologie bedeutungsvolle und maßgebliche Schrift sein, und nur so sollte man ihn auch interpretieren. Das gilt sowohl für den Text als Ganzheit wie auch für die einzelnen Abschnitte. Das angemessene Verständnis der Situation hinter dem Text ist dabei der Schlüssel für die richtige Interpretation. Es gibt hinsichtlich des Verständnisses der Briefsituation mehrere Ebenen und in vielen Punkten besteht zwischen Reimund Bieringer und mir ein breiter Konsens. Die meisten Exegeten sind sich auch einig darüber, dass Paulus als Verfasser des 2Kor anzusehen ist. Nur bei der Echtheit der Verse 6,14-7,1 haben viele Forscher begründete Zweifel, aber das stellt diesen Konsens nicht grundsätzlich in Frage. Der Text muss also, der paulinischen Verfasserschaft des 2Kor Rechnung tragend, im Licht der anderen echten Paulusbriefe interpretiert werden, was für das Verständnis des Inhalts von erheblicher Bedeutung ist: Für Wortgebrauch, Begriffe und Gedanken des 2Kor sowie für den Stil und die Rhetorik des Briefes ist der Vergleich mit den anderen echten Paulus-Briefen erhellend und klärend. Die Exegeten sind sich auch einig über die Adresse des Textes und sie haben ein ziemlich einheitliches Bild von der Stadt Korinth und der dort lebenden Gemeinde, weil bereits der 1. Korintherbrief hierzu sehr informativ ist. Auch hinsichtlich des Zeitraums der apostolischen Tätigkeit des Paulus, während dessen der Text entstanden ist, besteht weitgehend Einigkeit. Dies bildet für die Textauslegung eine hinreichend große gemeinsame Basis. Das heißt auch, dass man in vielen Einzelheiten, in denen Paulus mehr allgemein und ohne konkreten Situationsbezug schreibt, den Text auch dann in gleicher Weise auslegen kann, wenn hinsichtlich der Einleitungsfragen Differenzen bestehen. Es gibt aber auch Stellen im Text, wo die einleitungswissenschaftlichen Entscheidungen bei der Auslegung zu beträchtlichen Unterschieden führen, obwohl mit Blick auf andere entscheidende Eckpunkte Einigkeit besteht. Auf diese Problematik werde ich im Folgenden zu sprechen kommen. Reimund Bieringer meldet sich als Vertreter der Einheitlichkeitshypothese zu Wort, ich dagegen vertrete eine Kompilationshypothese. Bieringer hat in früheren Publikationen die Gründe für seine Sicht dargelegt, 1 und ebenso habe auch ich meine einleitungswissenschaftlichen Entscheidungen anderswo zu begründen versucht. 2 Hier geht es nun nicht darum, die geleistete exegetische Arbeit zu rekapitulieren, sondern vielmehr darum, die jeweiligen Konsequenzen zu bedenken. In meiner exegetischen Arbeit kam ich, so wie bereits viele andere Exegeten vor mir, zu dem Endergebnis, dass die Kapitel 10- 13 ursprünglich unmöglich zu demselben Brief wie die Kapitel 1-9 gehört haben können. Auch das Textstück 6,14-7,1 kann nicht an seinem ursprünglichen Platz stehen. 3 Unter dieser Voraussetzung halte ich es für die überzeugendste und wahrscheinlichste Lösung, dass es sich bei den Kapiteln 10-13 um den »Tränenbrief« handelt, auf den Paulus in 2,3-4 verweist. Ich halte es allerdings nicht für nötig, weitere Schnitte im Text vorzunehmen, obwohl ich gut verstehen kann, warum auch der Abschnitt 2,14-7,4 und die Kapitel 8 und 9 das literarkritische Interesse vieler Exegeten auf sich ziehen. Weitere Briefteilungen außer derjenigen zwischen 1-9 und 10-13 (abgesehen von 6,14-7,1) sind meiner Meinung nach nicht notwendig, weil man die verbleibenden Unstimmigkeiten im Text ohne allzu große Schwierigkeiten erklären kann. Auch Lars Aejmelaeus Der 2. Korintherbrief als Drama von Streit und Versöhnung Ein Plädoyer für die Briefteilung Kontroverse »Weitere Briefteilungen außer derjenigen zwischen 1-9 und 10-13 (abgesehen von 6,14-7,1) sind meiner Meinung nach nicht notwendig, weil man die verbleibenden Unstimmigkeiten im Text ohne allzu große Schwierigkeiten erklären kann.« Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 50 - 3. Korrektur 50 ZNT 38 (19. Jg. 2016) Kontroverse Unsicherheit muss man in jedem Fall leben können. Die meisten Exegeten folgen hier verständlicherweise der Regel, die als Ockhams Rasiermesser bekannt ist: entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem (»Entitäten dürfen nicht über das Notwendige hinaus vermehrt werden«). Weil der Philipperbrief keine Veränderung im Verhältnis des Paulus zur Gemeinde in Philippi erkennen lässt, sondern lediglich ein (wenn auch unerwarteter) Wechsel des Themas und der Stimmung zu beobachten ist, gibt es keinen zwingenden Grund, den Text in zwei verschiedene Briefe zu unterteilen. Diese Beobachtungen können hinreichend durch eine Diktatpause und durch das Eintreffen neuer Nachrichten erklärt werden. Diese Erklärungen greifen auch, wenn man das Verhältnis des Textabschnitts 2Kor 2,14-7,4 zum übrigen Text in 2Kor 1-9 betrachtet. Sie greifen aber nicht, wenn man 2Kor 10-13 mit 2Kor 1-9 vergleicht. Hier ist nach meiner Sicht der Dinge ein literarkritischer Schnitt und die Annahme von zwei verschiedenen Briefeinheiten unumgänglich. Dies hat selbstredend Konsequenzen für die Interpretation des Textes, der uns als der kanonische 2Kor vorliegt. Die Interpretation gelangt dann bei einigen wichtigen Passagen zu Auslegungen, die sich von denen der Vertreter der Einheitlichkeitshypothese wesentlich unterscheiden. Inzwischen kann, wie Bieringer zutreffend feststellt, nicht mehr einfach behauptet werden, dass die Grenzlinie zwischen den Vertretern der Einheitlichkeit des 2Kor einerseits und der Uneinheitlichkeit andererseits zugleich auch die Grenzlinie zwischen konservativen und liberalen Exegeten markiert. Jeder, der mit dem Text zu arbeiten beginnt, tut dies zunächst mit der intuitiven Annahme, dass der Text literarisch einheitlich ist, wie er ja auch als einheitlicher Brief im Neuen Testament vorliegt. Erst wenn man auf unüberwindliche Schwierigkeiten im Text stößt, wird man die literarische Einheitlichkeit in Frage stellen. Hier spielen, wie Bieringer feststellt, auch die verschiedenen Forscherpersönlichkeiten eine Rolle. Was für die einen im Text unmöglich zu erklären und nur durch eine Briefteilung zu bewältigen ist, ist für andere Ausleger doch irgendwie erklärbar. Die Tatsache, dass dadurch ein 1700 Jahre lang währender Konsensus der Exegeten endet und die »Kohärenz der Interpretationsgemeinschaft« bricht, ist nur zu akzeptieren. Ähnliches ist auch in anderen Gebieten der Bibelwissenschaft seit der Aufklärung geschehen. Auch die Tatsache, dass die Vertreter der Kompilationstheorie sich in ihren Entscheidungen wäre es viel schwieriger, zu erklären, wie und warum der Textabschnitt 2,14-7,4 und die Kapitel 8 oder 9 in die Mitte des übrigen Textes gelangt sind, als einfach anzunehmen, dass die Kapitel 10-13 als eine kleinere Texteinheit in der Schlussredaktion hinter die größere Texteinheit 1-9 gelangt sind. Der Passus 6,14-7,1 ist ein bleibendes Rätsel: Die Frage, warum er an seinem jetzigen Platz steht, entbehrt einer zufriedenstellenden Antwort. Mit vorurteilslosem Blick betrachtet kann man nur feststellen, dass er ein Fremdkörper im sonstigen Text ist. Wie Reimund Bieringer feststellt, ist der 2Kor heute der einzige Paulusbrief, über dessen literarische Einheitlichkeit oder Uneinheitlichkeit ernsthaft diskutiert wird. Über die Integrität der übrigen echten Paulusbriefe besteht weitgehend Einigkeit. Allenfalls wird noch über die Teilung des Philipperbriefes diskutiert, und zwar wegen des deutlichen Stimmungswechsels am Anfang des 3. Kapitels. 4 Auch über das Problem, ob und inwiefern das letzte Kapitel des Römerbriefes ursprünglich zu dem nach Rom geschickten Brief gehört, wird diskutiert. Dass die Schlussdoxologie Röm 16,25-27 nicht von Paulus stammt, ist hingegen klar. 5 Die Schlussverse des Röm weisen darauf hin, dass wir überhaupt nicht ganz sicher sein können, in welchem Umfang fremde Redaktionsarbeit nach dem Tod des Paulus und vor der Veröffentlichung und stabilen Überlieferung der Paulusbriefe geschehen ist. Mit dieser Prof. Dr. Lars Aejmelaeus (*1945), 1969 Magister der Theologie, 1969-1981 Pastor in verschiedenen Gemeinden der Evangelisch-Lutherischen Kirche Finnlands, 1975-1977 Stipendiat des Weltkirchenrates in Tübingen und Göttingen,1979 Doktor der Theologie an der Universität Helsinki. Seit 1982 Mitglied der Society of New Testament Studies. 1987-2011 Professor der Bibelwissenschaft an der Theologischen Fakultät der Universität Helsinki. Seit 2005 Mitglied der Finnischen Akademie der Wissenschaften. Prof. Dr. Lars Aejmelaeus »Die Trennung der Textblöcke ist […] für mich keine frei verfügbare Hypothese, die ich wählen oder verwerfen könnte, sondern eine schlichte Notwendigkeit.« Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 51 - 3. Korrektur ZNT 38 (19. Jg. 2016) 51 Lars Aejmelaeus Der 2. Korintherbrief als Drama von Streit und Versöhnung nicht einig sind, gehört zur Natur der Sache. Für mich persönlich als Exeget ist es nicht möglich anzunehmen, dass die Kapitel 1-9 und 10-13 einmal zu demselben Brief gehört hätten. Die Trennung der Textblöcke ist darum für mich keine frei verfügbare Hypothese, die ich wählen oder verwerfen könnte, sondern eine schlichte Notwendigkeit. Daraus ergibt sich dann ebenso notwendig, dass ein Redaktor später mit dem Text des 2Kor zu tun hatte. 6 Wenn man den Text des 2Kor als Kombination von mehreren Briefen interpretiert, spielen »der Zwischenbesuch« des Paulus in Korinth und »der Tränenbrief« in der Rekonstruktion der Geschehnisse eine wichtige Rolle. Sie sind aber keine »hypothetischen Annahmen«, weil sie aus dem Text (1,15-16; 2,1.3-4; 7,8; 12,14) zweifelsfrei zu erheben sind. Freilich wird es zu den entscheidenden Fragen der Entstehung des 2Kor wie auch in vielen anderen Fragen in der Bibelwissenschaft niemals einen vollständigen Konsens geben. Die Exegeten sind nämlich Meister der Erklärung. Alles kann erklärt werden und alle Hypothesen können verteidigt werden. Dann ist es auch verständlich, dass für die Vertreter einer bestimmten Auslegung die Art und Weise, wie die Vertreter einer anders gelagerten Auslegung ihre Interpretation verteidigen wollen, oft sehr wenig überzeugend ist. Weil das so ist, ist es gut, in diesem Beitrag nur über die Konsequenzen der gegenseitigen Interpretationen zu diskutieren. Über die Konsequenzen der verschiedenen Auslegungen sollte man doch leichter Einigkeit finden als über die exegetischen Grundentscheidungen. Wenn Paulus beispielsweise in 2Kor 3,1 die Frage stellt »Fangen wir schon wieder an, uns selbst zu empfehlen? «, dann sehe ich hier einen klaren Hinweis auf die Kapitel 10-13 als den »Tränenbrief«. Damit wird auch klar, dass Paulus im Rückblick nicht sehr zufrieden über die Art und Weise war, wie er im »Tränenbrief« seine Sache fördern wollte. Liest man im Licht dieser Tränenbriefhypothese den Abschnitt 2Kor 7,8-12, leuchtet auch sofort ein, dass sich Paulus rückblickend vom Inhalt seines Kampfbriefes distanzieren will. Der Brief hat die Korinther betrübt und Paulus bereut den Inhalt des Briefes. Er hat die Gemeinde zu hart angegriffen, und die Korinther sind in der Folge gekränkt. Gleichzeitig ist er jedoch auch froh darüber, dass er den Brief abgeschickt hat, weil der Brief in der Konfliktsituation zwischen Paulus und der Gemeinde am Ende doch Gottes guten Zwecken gedient hat: Die Gemeinde bekennt sich wieder zu Paulus als ihrem geistlichen Leiter. Für die Auslegung der Kapitel 10-13 bedeutet dies, dass man nicht alles, was da steht, uneingeschränkt ernst nehmen darf, hat Paulus doch selbst später zugegeben, dass er in seiner Selbstverteidigung und in seinem harschen Angriff gegen die Gemeinde zu weit gegangen ist. Von hier aus sind noch weiter reichende Schlüsse möglich, etwa, dass auch das Bild, das Paulus von seinen Gegnern, den »Überaposteln« zeichnet, nicht ein authentisches Portrait bieten, sondern negativ übertreiben wollte. Im späteren »Versöhnungsbrief« (1-9) wird das, was Paulus von den »Überaposteln« geschrieben hat, freilich nicht korrigiert, denn diese Männer sind schon weitergezogen, sodass es nicht nötig ist, weiter über sie zu sprechen. Zugleich scheint Paulus in den Kapiteln 1-9 immer noch bitter gegen sie zu sein, wie einige Stellen nahelegen. Das Thema, das Paulus schon im »Tränenbrief« behandelte, nämlich sein eigenes Verhältnis zur materiellen Unterstützung durch die Gemeinde, das der Auffassung der Gegner entgegenstand, kommt in 2Kor 2,17 erneut zur Sprache: »Wir sind nicht wie die vielen, die mit dem Wort Gottes Geschäfte machen.« Die Anspielung auf die Gegner ist offenkundig. So ist es auch, wenn Paulus über »gewisse Leute« schreibt, die sich anders als er selbst des Mittels der Empfehlungsbriefe bedienen (2Kor 3,1). Wenn Paulus in 2Kor 4,1-6 von der »Offenheit« seines Evangeliums schreibt und dies mit dem »Verhülltsein« des Evangeliums anderer Verkündiger vergleicht, dann nimmt sich dies nach den Vorgaben der oben vorgelegten Tränenbriefhypothese nicht als Selbstverteidigung aus, sondern als ein nachträglicher Angriff gegen die »Überapostel«. In der veränderten Situation der Kapitel 1-9, in der Paulus die Gemeinde wieder auf seiner Seite hatte, und in der die kürzlich gewonnene Versöhnung nach einem unangenehmen Streit noch zerbrechlich war, wäre es nicht klug gewesen, wenn Paulus sehr direkt und aggressiv diejenigen Personen angegriffen hätte, die erst kürzlich wichtige Autoritäten für die Gemeinde gewesen waren. Es genügte, dass er auf indirekte Weise ihre Falschheit ins Licht brachte. In dieser Konstellation erhalten nach meiner Sicht viele Einzelheiten im Text des 2Kor die ungezwungenste Erklärung. Die hermeneutischen Konsequenzen sind von einigem Gewicht: So kann »Die Exegeten sind […] Meister der Erklärung.« »Es ist hermeneutisch von nicht geringer Bedeutung, dass Paulus selbst eigene Meinungen, Urteile und Entscheidungen nachträglich bedauern und modifizieren konnte.« Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 52 - 3. Korrektur 52 ZNT 38 (19. Jg. 2016) Kontroverse man nämlich im Kontext von Unterricht und Predigt nicht nur die Sachaussagen, sondern auch die Wucht, mit der Paulus sie vorträgt, besser ins Verhältnis setzen. Es ist hermeneutisch von nicht geringer Bedeutung, dass Paulus selbst eigene Meinungen, Urteile und Entscheidungen nachträglich bedauern und modifizieren konnte. Wenn man dagegen 2Kor als einen ursprünglich einheitlichen Brief betrachtet, bringt man sich um diese Möglichkeit. Es ist dann nicht mehr möglich, den Umstand, dass Paulus selbst später mit dem Inhalt der Kapitel 10-13 nicht mehr ganz zufrieden war, für die Auslegung fruchtbar zu machen. Wie ernst soll man dann überhaupt die Äußerungen der Freude und Erleichterung und andererseits die Äußerungen des Ärgers, der Enttäuschung, der Drohung und der Strafe nehmen? Hier gelangen Vertreter der Einheitlichkeitshypothese und Vertreter der Kompilationshypothese zwangsläufig zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Dies betrifft besonders die Auslegung des Kapitels 7 und der Kapitel 10-13. Legt man die Annahme der literarischen Einheitlichkeit zugrunde, muss man die Äußerungen der Freude in Kapitel 7 wie auch die negativen Aussagen in den Kapiteln 10-13 in ihrer Stärke und buchstäblichen Bedeutung relativieren. 7 Andernfalls bekommt der Ausleger nämlich Schwierigkeiten, zu erklären, wie Paulus in demselben Brief gleichzeitig so zufrieden und so unzufrieden mit der Gemeinde sein kann. Es ist unter dieser Voraussetzung schlicht nicht möglich, den Text so zu lesen, wie er dasteht. Selbstredend kann hier rhetorische Übertreibung im Spiel sein. Die rhetorische Zuspitzung der Freude des Paulus und seines Zornes in demselben Brief würden aber doch gegen alle vernünftigen Regeln der Rhetorik verstoßen und in ihrer Widersprüchlichkeit keinen Sinn ergeben. Man kommt dann nicht umhin, Äußerungen der Freude ebenso wie Ausbrüche des Zorns zu verwässern. Die Vertreter der Uneinheitlichkeit sind dagegen ohne Probleme dazu in der Lage, die konträren Äußerungen so in ihrem Wortlaut und in ihrer vollen Kraft gelten zu lassen und dementsprechend auszulegen. Trennt man, wie ich es tue, die Kapitel 10-13 von den Kapiteln 1-9, dann darf Paulus in den vier letzten Kapiteln so zornig, bitter, verzweifelt, traurig, höhnisch, närrisch, drohend und protzig bleiben, wie er es hier wirklich ist. Dann dürfen andererseits auch die Kapitel 1-9 ohne diese (im Text tatsächlich auch fehlenden) negativen Stimmungen ausgelegt werden. Dann und nur dann kann man der freudigen und zuversichtlichen Stimmung dieser neun ersten Kapitel freien Raum geben. Wenn Paulus also schreibt: »Ich freue mich, dass ich mich in allem auf euch verlassen kann« (7,16), darf man im Rahmen dieser Hypothese die Äußerung ernst nehmen. Paulus meint dann, was er schreibt. Dies gilt auch, wenn Paulus in einer früheren Phase des Konflikts den Gemeindegliedern wie folgt droht: »Wenn ich wieder komme, werde ich (euch) nicht mehr schonen« (13,2). 8 Gewiss kann man behaupten, dass die skizzierten Unterschiede zwischen den beiden Hypothesen hermeneutisch nicht sonderlich ins Gewicht fallen, sofern ja in diesen Versen keine für den Glauben der Christenheit zentralen Wahrheiten behandelt werden. Die Verse werfen, wenn man sie so oder so auslegt, lediglich näheres Licht auf die Lebensgeschichte und auf die Person des Apostels. Sie scheinen also wichtiger für die akademische Exegese als für die Lehre der Kirche zu sein. Es ist aber nicht gleichgültig, welche Auffassung man von der Person des Paulus hat. Das Gesamtbild, das die Forschung vom Verfasser der Briefe entwickelt, hat auch Auswirkungen darauf, wie man den Inhalt der einzelnen Verse auslegt. Paulus ist von allen Verfassern des Neuen Testaments derjenige, der uns als historische Persönlichkeit am deutlichsten sichtbar wird. Wir können von ihm anhand seiner Briefe und mit Hilfe einer kritischen Lektüre der Apostelgeschichte im Prinzip ein recht anschauliches Bild entwerfen. Darum ist es auch möglich, in seinen Briefen Nuancierungen und Betonungen herauszuarbeiten, die durch seine Lebensgeschichte und seine Persönlichkeit in den Text Eingang gefunden haben. Dass er ein ehemaliger Pharisäer war und die Gemeinde verfolgt hat, verleiht seiner Botschaft ein klares Gepräge. Dass er unter einer chronischen Krankheit litt, ist für das Textverständnis ebenfalls nicht ohne Bedeutung. Wir gewinnen auch einen Eindruck davon, wie er die Welt sah und wie er worauf reagierte. Auch dadurch erschließen sich viele Einzelheiten in seinen Briefen, auch wenn man sich hier zwangsläufig in einem hermeneutischen Zirkel bewegt. Er war sicher kein Durchschnittsmensch, sondern, wie viele andere Genies der Weltgeschichte, eine markante Persönlichkeit mit starken Emotionen und schroffen Urteilen. Übertreibungen in die negative wie in die positive Richtung waren ihm ebenso wenig fremd wie Euphorie und tiefe Niedergeschlagenheit, aber auch der Fanatismus für die Sache, die ihm als unveräußerliche Wahrheit galt, am Anfang der Kampf gegen die Christusverehrer, dann der kompromisslose Kampf für das freie Evangelium. Wenn man den 2Kor »Paulus ist von allen Verfassern des Neuen Testaments derjenige, der uns als historische Persönlichkeit am deutlichsten sichtbar wird.« Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 53 - 3. Korrektur ZNT 38 (19. Jg. 2016) 53 Lars Aejmelaeus Der 2. Korintherbrief als Drama von Streit und Versöhnung für einheitlich hält, den Inhalt in der Abfolge des kanonischen 2Kor liest und dennoch die ins Auge fallenden Widersprüche nicht mit komplizierten und wenig glaubwürdigen Erklärungen zu glätten versucht, müssen in die auch so bereits einzigartige Persönlichkeit des Paulus Züge hineingelesen werden, die einen Exegeten und überhaupt alle, die die Briefe des Paulus als autoritative Texte des Christentums betrachten, nicht wenig beunruhigen müssen. Ist der Mann, der einen so widerspruchsvollen Brief schreibt, bei vollem Verstand? Hat er am Ende des Briefes schon vergessen, was er am Anfang geschrieben hat? Würde ein Verfasser mit gesundem Urteilsvermögen alles, was er durch den Text 2Kor 1-9 erreichen wollte, mit der groben Kritik gegen die Gemeinde am Ende des Briefes ruinieren? So ist namentlich im Hinblick auf die Kapitel 8-9 zu fragen. Sie sind ja eine energische Ermunterung zu einer großzügigen Kollekte für die Jerusalemer Gemeinde, in der auch schmeichelnde Töne an die Adresse der Korinther nicht fehlen. Die hermeneutischen Konsequenzen der Einheitlichkeitshypothese für das paulinische Psychogramm sind schlicht unangenehm: In diesem Licht möchte man den Heidenapostel nicht sehen! Reimund Bieringer hat dieses Problem klar gesehen, wenn er einen »Gewinn« der Kompilationshypothesen eben darin sieht, dass mit diesen Hypothesen Paulus »als Autor bzw. Mensch/ Theologe[n]« gerettet wird: »So erscheint Paulus in den meisten Kompilationshypothesen nicht nur als kompetenter Kommunikator, sondern auch als erfolgreicher Konfliktlöser. Die Kompilationshypothesen führen also […] zu einem viel attraktiveren Paulusbild.« Hier hat Bieringer Recht, aber er geht zu weit, wenn er meint, »dass die tiefste Motivation aller Kompilationshypothesen darin besteht, Paulus als Autor […] zu retten.« Es gibt auch viele andere Fakten im Text des 2Kor, die für die Uneinheitlichkeit sprechen, etwa sprachliche Vergleiche zwischen einzelnen Versen in Kapitel 1-9 und 10-13. Ebenso sprechen Notizen zu den Mitarbeitern des Paulus, zu seinen Reiseplänen und zu dem erwähnten Vorbrief klar für eine Kompilationshypothese. Zur Änderung des Verhältnisses des Paulus zu seiner Gemeinde im »Versöhnungsbrief« (verglichen mit dem »Tränenbrief«) kommt außerdem noch umgekehrt die Änderung des Verhältnisses der Gemeinde zu Paulus: In den Kapiteln 1-9 ist sie wieder treu und zufrieden mit ihrem Apostel, in den Kapiteln 10-13 rebelliert sie gegen ihn. 9 Für unser Verständnis des wichtigsten theologischen Denkers, den wir aus der ersten christlichen Generation kennen, ist die Platzierung seiner Briefe in den tatsächlichen geschichtlichen Kontexten von großer Bedeutung. Der Apostel Paulus war ein lebendiger Mensch von Fleisch und Blut und hat seine Briefe nicht im geschichtslosen Raum als Sammlung von überzeitlich gültigen Offenbarungen verfasst; vielmehr hat er alle seine Briefe für bestimmte Zwecke und für bestimmte Adressaten in einer besonderen Situation und mit besonderen Problemen geschrieben. Eben auf diese Weise bekommen die Briefe auf eine paradoxale Weise ihren Wert als autoritative Schriften für jede christliche Generation und für jede mögliche Situation, in der Christen leben. Dagegen sind Schriften, die von vornherein in der Absicht verfasst wurden, ein überzeitlich gültiges Wahrheitszeugnis zu formulieren, weniger inspirierend und anschaulich. Ebenso droht ein Text, der von allen Seiten durchdacht und gegen Fehlinterpretationen immunisiert wird, dünn und abstrakt zu werden. Die Widerhaken und Reibungspunkte, die ihn interessant und lebendig machen, kommen dann nicht mehr zur Geltung. Eben weil die Paulusbriefe ungeschönt ihre akute und individuelle Entstehungssituation widerspiegeln und weil Paulus seine Person in ihnen so offen zum Vorschein bringt, sind seine Briefe für die Christenheit neben den Evangelien seit jeher die wichtigsten Quellen der Inspiration gewesen. Eben dies stellt die Interpretation aber auch vor Schwierigkeiten ganz eigener Art. Weil es sich bei diesen Texten um Gelegenheitsschriften handelt, ist bei der Exegese auch in Rechnung zu stellen, dass Paulus nicht überall mit demselben Nachdruck diktiert hat. Ebenso variiert sein Stil. Wir finden in seinen Briefen Ironie, rhetorische Wendungen und Übertreibungen neben Stellen, an denen er mit ganzem Ernst über die zentralen Glaubenswahrheiten unterrichten will. Um dies alles gebührend berücksichtigen und unterscheiden zu können, ist es wichtig, sich vom Zweck der Briefe und von der Situation der Adressaten und des Paulus ein möglichst authentisches Bild zu verschaffen. Das sollte zwar eine Selbstverständlichkeit sein, muss hier aber doch betont werden, weil man sonst die hermeneutische Bedeutung der einleitungswissenschaftlichen Entscheidung für oder wider die literarische Einheitlichkeit des 2Kor leicht bagatellisiert. In vielen Einzelheiten unterscheiden sich die Auslegungen beträchtlich. Die Entscheidung hat auch, »Eben weil die Paulusbriefe ungeschönt ihre akute und individuelle Entstehungssituation widerspiegeln und weil Paulus seine Person in ihnen so offen zum Vorschein bringt, sind seine Briefe für die Christenheit neben den Evangelien seit jeher die wichtigsten Quellen der Inspiration gewesen.« Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 54 - 3. Korrektur 54 ZNT 38 (19. Jg. 2016) Kontroverse wie oben erläutert, Konsequenzen für unser Gesamtbild, das wir von Paulus haben, was wiederum Konsequenzen für die Interpretation seiner Texte nach sich zieht. Als Vertreter einer Kompilationshypothese denke ich, dass ich dadurch die Texte am besten und am folgerichtigsten interpretieren kann. Nicht die Rettung des Apostels war hierbei mein Ansinnen, sondern der schlichte Umstand, dass die meisten und wichtigsten Einzelheiten des Textes auf diese Weise meiner Meinung nach die bestmögliche Erklärung erhalten. Dass damit nicht zuletzt und auf eigene Weise auch der Ruhm des Heidenapostels gerettet wird, muss am Ende nicht eigens betont werden. Anmerkungen 1 Vgl. R. Bieringer/ J. Lambrecht (Hg.), Studies on 2 Corinthians (Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium CXII), Leuven 1994. 2 Vgl. L. Aejmelaeus, Streit und Versöhnung. Das Problem der Zusammensetzung des 2. Korintherbriefes (Schriften der Finnischen Exegetischen Gesellschaft 46), Helsinki 1987; L. Aejmelaeus, Schwachheit als Waffe. Die Argumentation des Paulus im ‚Tränenbrief‘ (2Kor. 10-13) (Schriften der Finnischen Exegetischen Gesellschaft 78), Göttingen 2000. 3 Zur Problematik des Abschnitts 6,14-7,1 vgl. E. Gräßer, Der zweite Brief an die Korinther: Kapitel 1,1-7,16 (ÖTK 8/ 1), Gütersloh [u. a.] 2002, 255-265. 4 Vgl. hierzu J. Linko, Paul’s Two Letters to the Philippians? Some Critical Observations on the Unity Question of Philippians, in: L. Aejmelaeus/ A. Mustakallio (Hg.), The Nordic Paul. Finnish Approaches to Pauline Theology, European Studies on Christian Origins, hg. von M. Labahn. (LNTS 374), London [u. a.] 2008, 156-171. 5 Zu den Einleitungsfragen des Röm vgl. etwa E. Lohse, Der Brief an die Römer (KEK 4), Göttingen 2003, 49-53. 6 Warum hat der Redaktor das Textmaterial genau so verbunden, wie es uns heute vorliegt? Hier kann man nur raten. Es gibt jedoch eine Anzahl von möglichen Antworten, die sein Vorgehen plausibl erscheinen lassen. Bieringer mag auf der richtigen Spur sein, wenn er schreibt: »Offensichtlich hatte ein späterer Redaktor kein Interesse an der ursprünglichen Briefsituation […]«. Denkbar ist, dass jemand ziemlich mechanisch einfach den kürzeren Text an den längeren angefügt hat. Vgl. dazu noch Aejmelaeus, Streit und Versöhnung, 24. 7 Freilich: Nicht alles, was Paulus in den Kapiteln 1-9 schreibt, strahlt reine Zufriedenheit und Freude aus. Dies betonen die Vertreter der Einheitlichkeitshypothese immer wieder, so etwa Bieringer, Studies on 2 Corinthians, 168: »Ein Vergleich von Schärfe und Tiefe des vorauszusetzenden Konflikts erlaubt es durchaus, in 2,14-7,4 und Kap. 10-13 von derselben Phase des Konflikts auszugehen.« Hier kann man wahrlich sehr anderer Meinung sein, ebenso, wenn Bieringer, Studies on 2 Corinthians, 168-169, auf folgende Weise die Teile des 2Kor miteinander vergleicht: »[Es ist] vorstellbar, dass der Apostel zunächst über die guten Nachrichten begeistert in eher freudig versöhntem Ton schrieb, dass er sich jedoch schon während der Abfassung des Briefes nach und nach der Tatsache bewusst wurde, dass jetzt erst die Lösung des grundlegendsten Aspekts des Problems (bzw. des eigentlichen Problems) anstand.« 8 Bieringer, Studies on 2 Corinthians, 162-163, legt 7,16 auf folgende Weise aus: »Paulus bescheinigt den Korinthern also nicht volle Vertrauenswürdigkeit, sondern gewährt ihnen eher einen Vorschuss seines Vertrauens, etwa aufgrund ihres jüngsten Verhaltens. Solche Zuversicht macht weitere Versöhnungsaufrufe nicht unmöglich, denn sie kann ja bedeuten, dass gerade jetzt solche Aufrufe Gehör finden können.« Die Worte des Paulus »ich kann mich in allem auf euch verlassen« werden hier auf eine für die Vertreter der Einheitlichkeitshypothese typische Weise in ihrer Bedeutung bagatellisiert. Bieringer sieht die Schwäche dieser Auslegung und versucht, dieselbe auf folgende Weise zu retten: »Bei allen diesen Überlegungen sollte auch nicht vergessen werden, dass Paulus aufgrund seines Temperaments sowie in emotional überladenen Situationen durchaus zu stilistischen Übertreibungen neigt, die sich der strengen Logik entziehen, so dass ein offenbarer Widerspruch in Logik, Ton oder Stil nur schwerlich zum Ausgangspunkt literarkritischer Hypothesen gemacht werden kann.« Wenn wir aber ohne Vorurteile den ganzen 2Kor im Wortlaut lesen, so stellt sich die Frage, ob es denn eine sinnvolle Annahme ist, dass jemand bei der Abfassung eines solchen Briefes seine Sinne nicht gänzlich unter Kontrolle gehabt haben soll. 9 Bieringer, Studies on 2 Corinthians, 165-166 versucht, die Bedeutung der »Reue« der Gemeinde in Kapitel 7 zu relativieren und schreibt: »Nichtsdestoweniger ist […] festzuhalten, dass μετάνοια nicht die volle und endgültige Bekehrung und die daraus resultierende vollständige Aussöhnung beinhaltet […]«. Die Reue der Korinther beziehe sich nur auf den Mann, »der Unrecht tat« (7,12). Auch hier kann man durchaus anderer Meinung sein. Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 55 - 3. Korrektur ZNT 38 (19. Jg. 2016) 55 Kann man Christ sein nach dem 2. Korintherbrief? Natürlich konnte man das im strengen Sinn zur Zeit seiner Entstehung noch nicht, denn das Christentum als eigenständige Religion gab es nicht. Aber kann man es heute? Enthält dieser Brief Aussagen, die heutige Christinnen und Christen mit Recht auf sich beziehen können? So allgemein gefragt, ist die Antwort sicher: Ja. Wenn Paulus etwa den Vater Jesu Christi als den »Gott allen Trostes« (1,3) beschreibt, wenn er dazu aufruft: »Lasst euch versöhnen mit Gott! « (5,20) oder wenn er ermahnt: »Jeder (soll geben), wie er es sich in seinem Herzen vorgenommen hat, nicht unter Schmerz und Zwang. Denn Gott liebt einen fröhlichen Geber« (9,7), dann sind damit Grundmuster der christlichen Botschaft angesprochen, die sich auch in vielen anderen neutestamentlichen Texten finden und die die Kirche zu Recht immer auf sich bezogen hat. Aber wie weit geht diese selbstverständliche Kontinuität und wie weit darf sie gehen? Gibt es nicht auch Texte, die einen exklusiven Sinn haben, die Paulus deutlich auf sich und nur auf sich bezieht? Ein Beispiel: Kaum ein anderer Paulustext ist so bekannt wie 2Kor 12,7b-10. » 7b Deshalb, damit ich mich nicht überhöhe, wurde mir ein Stachel ins Fleisch gegeben, ein Engel Satans, damit er mich schlägt, damit ich mich nicht überhöhe. 8 Was diesen betrifft, habe ich dreimal den Herrn gebeten, dass er von mir ablässt. 9 Er hat zu mir gesagt: Es genügt dir meine Gnade, denn die Kraft wird in Schwachheit vollendet. Sehr gern also will ich mich vielmehr in meinen Schwachheiten rühmen, damit in mir die Kraft Christi wohnt. 10 Deshalb willige ich gern ein in Schwachheiten, in Misshandlungen, in Notlagen, in Verfolgungen und Ängste, wegen Christus. Denn wenn ich schwach bin, bin ich stark.« Gerade die beiden Sätze »Die Kraft wird in Schwachheit vollendet« und »Wenn ich schwach bin, bin ich stark« gehören seit Jahrhunderten zum Kernbestand christlichen Trostes, 1 obwohl Paulus eindeutig von sich und nicht von den Briefadressaten spricht. Viele Generationen haben in den verschiedensten Notlagen darauf zurückgegriffen, wobei der »Stachel«, von dem hier die Rede ist, mit Versuchungen zur Sünde, mit Glaubenszweifeln, vor allem aber mit vielfältigen körperlichen Gebrechen identifiziert wurde. 2 Diese Art der Textrezeption, bei der sich der oder die Lesende unbefangen im Text wiederfindet und ihn direkt auf sich bezieht, ist nicht auf Sätze beschränkt, die (wie 2Kor 12,9 f.) wenigstens durch ihre sentenzartige Formulierung Allgemeingültigkeit auszudrücken scheinen. Sie geht darüber weit hinaus. Wenn Paulus mit »Ihr« die Korinther adressiert, wird daraus in der Wirkungsgeschichte meistens eine Adressierung aller Christen; wenn er in der 1. Person Plural, also mit »Wir«, formuliert, wird das in der Regel, d. h. wenn es vom Kontext nicht eindeutig ausgeschlossen ist, als eine Aussage über die Gemeinschaft aller Glaubenden verstanden. Die beschriebene inklusive Rezeption ist für große Teile der Wirkungsgeschichte und für populäre Lektüren in der Gegenwart, nicht aber für die kritische Exegese typisch. Diese differenziert deutlicher zwischen Aussagen, die nur für Paulus (als Person, als Apostel, als Missionar) gelten, und solchen, die verallgemeinerbar sind. Auch sie zieht allerdings aus der sentenzartigen, scheinbar allgemeingültigen Formulierung der oben zitierten Sätze weitreichende Konsequenzen: Diese Sätze werden meist als Ausdruck einer prinzipiellen Umwertung verstanden. Paulus formuliert-- so eine beliebte Deutung-- ein echtes Paradox. Aus Schwachheit wird Kraft und aus Kraft Schwachheit. Die übliche Füllung der beiden Begriffe wird vertauscht. Eigentlich müsste man übersetzen: »Nur dann, wenn ich schwach bin, bin ich stark.« 3 Nicht nur 2Kor 12,7b-10 enthält in dieser verbreiteten Sichtweise eine solche Umwertung. Der ganze 2Kor ist hier Ausdruck einer völligen Neubewertung des Leidens. Paulus bringt seine Schwachheit und seine Kraft mit dem Kreuz und dem Auferstehungsleben Christi in Verbindung (vgl. 13,4). Erst dann, wenn seine menschlichen Möglichkeiten restlos erschöpft sind und er dem Leid und dem Tod nichts mehr entgegenzusetzen hat, erfährt er die Offenbarung Gottes, der ihm Kraft und neues Leben schenkt. Diese Erfahrung ist empirisch nicht wahrnehmbar, drückt sich also nicht etwa in Vitalität, Durchsetzungsfähigkeit und Erfolgen aus. Sie wird den Korinthern aber in der Verkündigung des Paulus zugänglich und vermittelt auf diesem Weg auch ihnen Leben (vgl. 4,7-12). Im folgenden Beitrag werde ich die beiden genannten Aspekte zunächst je für sich behandeln. Es soll ers- Thomas Schmeller Christsein nach dem 2. Korintherbrief Hermeneutik und Vermittlung Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 56 - 3. Korrektur 56 ZNT 38 (19. Jg. 2016) Hermeneutik und Vermittlung ist, wird heute kaum noch bezweifelt. Er versteht diese Entrückung zwar als einen echten Ruhmestitel, will aber nicht aufgrund von Offenbarungen beurteilt werden, die von ihm selbst erzählt werden und die für andere nicht überprüfbar sind (V. 6-7a). Hier schließt nun die Erzählung vom Erhalt des »Stachels im Fleisch« an. Sie ist doppelt mit dem voranstehenden Kontext verknüpft. Zum einen enthält sie eine weitere Offenbarung in einem Herrenwort (V. 9), setzt also die Behandlung der »Visionen und Offenbarungen des Herrn« fort. Zum anderen enthält sie den (oder: einen) Grund dafür, warum Paulus sich beim Selbstruhm mit Offenbarungen zurückhält (V. 6-7a). Der Stachel- - am ehesten ist darunter eine schmerzhafte körperliche Krankheit zu verstehen-- wurde ihm genau zu dem Zweck gegeben, solchen Selbstruhm zu verhindern. Die Einbindung in den Kontext zeigt, dass Paulus in V. 7b-10 von sich selbst spricht. Er ist es, der durch den Stachel, aber auch in anderen Erfahrungen von Schwachheit (V. 10a) die Kraft Gottes erfährt. Dass sich viele Lesende eingeschlossen fühlen, hängt mit der Allgemeinheit der Formulierung zusammen. Sowohl V. 9a (»Die Kraft wird in Schwachheit vollendet«, also nicht etwa: »Meine Kraft wird in deiner Schwachheit vollendet«) als auch V. 10b (»Wenn ich schwach bin, bin ich stark«, also nicht etwa: »Auch wenn ich schwach bin, bleibe ich stark durch Gottes Kraft«) haben sentenzartigen Charakter. Das heißt aber nicht unbedingt, dass sie Wahrheiten ausdrücken, die immer, überall und für alle gültig sind. In V. 9a dürfte die unpersönliche Formulierung damit zusammenhängen, dass es sich um die göttliche Antwort auf eine menschliche Bitte handelt. Die situative Nähe zu Orakeln hat sich in der Gestaltung der Antwort niedergeschlagen, die mit vielen Orakelbescheiden eine gewisse Rätselhaftigkeit teilt. Bei V. 10b ist die Schlussstellung zu beachten: Sentenzen, die längere Argumentationen abschließen (Epiphoneme), haben eine stark affektische Funktion. 5 Paulus formuliert zu diesem Zweck hier eine paradoxe Aussage, die durch ihre Zuspitzung, nicht durch ihre Plausibilität wirkt. Der ursprüngliche Sinn der beiden Verse ist also klar auf die paulinische Existenz beschränkt. Paulus versucht in einer Situation der Anfeindung den Korinthern nahezubringen, dass seine Autorität durch die Schwachheit, die sie offenbar bei seinen Besuchen selbst erlebt hatten, nicht in Frage gestellt, sondern im Gegenteil bestätigt wird. Eine Generalisierung dieser Aussagen ist ein sekundärer Akt. Er wird vom Text sicher nicht gefordert. Ob er vom Text zugelassen wird, ist noch zu klären. tens gefragt werden, wie weit sich Paulus tatsächlich mit der adressierten Gemeinde zusammenschließt, ob also Aussagen, die sich auf ihn selbst beziehen, für diese transparent werden. Konnte die korinthische Gemeinde aus den Selbstaussagen des Paulus etwas für ihre eigene Existenz lernen? Es soll zweitens untersucht werden, wie weit die Krafterfahrung des Paulus tatsächlich paradoxen Charakter hatte, ob oder wie weit sie also tatsächlich auf seine Erfahrungen der Ohnmacht und des Scheiterns begrenzt war. Wenn die korinthische Gemeinde tatsächlich etwas von ihm lernen konnte, was konnte sie lernen? In beiden Teilen beginnen wir mit 2Kor 12,7b- 10 und wenden uns dann weiteren Texten aus dem 2Kor zu. In einer Auswertung stellen wir schließlich die Frage: Was bedeuten die Ergebnisse für heutige Christen? 1. Die Reichweite der Textaussagen 1.1 2Kor 12,7b-10 4 Die oben zitierten Sätze aus 2Kor 12 sind erkennbar aus dem Kontext gerissen. »Deshalb, damit ich mich nicht überhöhe […]« (V. 7b) bezieht sich auf das Vorangehende. In 12,1 schlägt Paulus im Rahmen seines (notwendigen, aber nicht hilfreichen) Selbstruhms, der seit 11,16 in der sogenannten Narrenrede das Thema war, ein neues Kapitel auf. Es geht jetzt um »Visionen und Offenbarungen des Herrn«, die für den, der sie empfängt, ruhmvoll sind. Ein besonders eindrucksvolles Erlebnis erzählt er in V. 2-5: Dass der »Mensch in Christus« (V. 2), der in den dritten Himmel und ins Paradies entrückt wurde und dort Worte hörte, die er nicht wiedergeben kann und darf, mit Paulus selbst identisch Thomas Schmeller (*1956), 1993 bis 2004 Professor für Biblische Theologie an der Technischen Universität Dresden, seit 2004 Professor für Exegese und Theologie des Neuen Testaments an der Goethe-Universität Frankfurt/ Main. - Forschungsschwerpunkte: Sozial- und Zeitgeschichte des Neuen Testaments; Rhetorik; Paulus. Prof. Dr. Thomas Schmeller Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 57 - 3. Korrektur ZNT 38 (19. Jg. 2016) 57 Thomas Schmeller Christsein nach dem 2. Korintherbrief 1.2 Paulus und die korinthische Gemeinde Wir fragen nun allgemeiner nach der Reichweite der Textaussagen im 2Kor. Relativ unproblematisch ist die Frage nach den Adressaten an Stellen, wo Paulus eine unbestimmte Mehrzahl von Personen mit »Ihr« anspricht (z. B. 1,15-17; 2,3 f.; 11,5-11; 12,11-13). Hier ist die gesamte korinthische Gemeinde adressiert. Es gibt keine Hinweise darauf, dass sich bestimmte Kapitel oder Verse nur an bestimmte Gruppen in der Gemeinde richten würden. 6 Sowohl positive, lobende (wie z. B. 7,16) als auch negative, tadelnde Anreden (wie z. B. 6,11 f.) beziehen sich auf alle Gemeindemitglieder. Ein fiktives Element ist damit nicht ausgeschlossen. Es ist doch auffällig, in welcher Nähe zueinander solche gegensätzlichen Bezugnahmen stehen. Der Wechsel von Lob zu Tadel oder umgekehrt kann sehr abrupt sein (wie z. B. in 2,1-3; 7,2-4). Überraschend ist auch, dass eine zunächst allgemein gehaltene Adresse manchmal im Anschluss spezifiziert wird (12,20 f.) 7 . Beide Beobachtungen sprechen dafür, Lob und Tadel nicht einfach nur mit verschiedenen Aspekten derselben Personengruppe in Verbindung zu bringen. Paulus arbeitet vielmehr mit Pauschalisierungen. Äußerungen der Nähe und Zuversicht bzw. der Distanz und Ablehnung sind in der Gegenwart des Briefs eigentlich nur für einen Teil der Gemeinde angemessen, stellen aber der Gesamtgemeinde ein Bild vor Augen, an das sie sich in der Zukunft angleichen kann und soll oder eben gerade nicht angleichen darf. 8 Obwohl oder gerade weil die Anrede der gesamten Gemeinde in Teilen fiktiv ist, ist sie ernst zu nehmen. Es gehört zur paulinischen Briefstrategie, die Einheit der Gemeinde vorauszusetzen und dadurch zu fördern. Ebenfalls unproblematisch ist ein »Wir«, das in seinem Umfang definiert ist. Das ist allerdings nur einmal, in 1,18 f., deutlich der Fall: » 18 Treu ist Gott, dass unser Wort an euch nicht (zugleich) Ja und Nein ist. 19 Denn der Sohn Gottes, Jesus Christus, der bei euch von uns verkündet wurde, von mir und Silvanus und Timotheus, war nicht Ja und Nein, sondern das Ja ist in ihm geworden.« 9 Nicht viel häufiger sind definierte Aussagen in der 1. Person Plural, die Paulus erkennbar mit der Gemeinde, mit allen Glaubenden oder mit allen Menschen zusammenschließen. Das »Wir« in 3,12 (»Mit einer solchen Hoffnung also legen wir große Offenheit an den Tag«) ist vom Kontext her nicht direkt mit den Adressaten zu verbinden; in 3,18 (»Wir alle aber schauen mit enthülltem Gesicht die Herrlichkeit des Herrn wie in einem Spiegel und werden in dasselbe Bild umgewandelt, von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, wie vom Herrn, dem Geist«) werden sie aber explizit miteinbezogen. In 5,1 (»Denn wir wissen: Wenn unsere irdische Zeltbehausung abgebrochen wird, haben wir einen Bau, der von Gott [stammt], ein nicht mit Händen gemachtes, ewiges Haus in den Himmeln«) kann man noch zweifeln, um wessen »Zeltbehausung« es eigentlich geht (die des Paulus? auch seiner Mitarbeiter? aller Apostel? ); in 5,10 (»Denn wir alle müssen vor dem Richterstuhl Christi erscheinen, damit jeder entsprechend dem erhält, was er im Leib getan hat, Gutes oder Schlechtes«) kann man höchstens noch zweifeln, ob es um alle Christen oder um alle Menschen geht. 10 In aller Regel wird der Bezug der 1. Person Plural nicht näher bestimmt. Häufig schließt sie an ein »Ich« an bzw. wird von einem »Ich« weitergeführt. Diese nicht näher definierten Wir-Formen, besonders in unregelmäßigem Wechsel mit Ich-Formen, stellen das eigentliche Problem dar. 11 Der Wechsel zwischen der 1. Person Singular und der 1. Person Plural ist zwar nicht auf den 2Kor beschränkt, tritt aber in diesem Paulusbrief mit deutlichem Abstand am häufigsten auf. 12 An vielen Stellen fällt es schwer, ihn als Mittel der Kommunikation zu deuten, d. h. ihm eine rhetorische oder literarische Funktion zuzuweisen. Solche Fälle sind etwa: die Abfolge von »wir haben uns gefreut-- ich habe gerühmt-- ich wurde nicht beschämt- - wir haben geredet« in 7,13 f.; die Aussagen über den drohenden Kriegszug und die Vollmacht des Paulus in 10,1-11; die Verbindung von »wir verteidigen uns-- wir reden-- ich fürchte« in 12,19 f. (vgl. auch 11,21a; 13,1-4.5-10). Besonders schwer fällt es, dem Wechsel vom Singular zum Plural bei der Wiederaufnahme von »ich zog weiter (exēlthon) nach Makedonien« (2,13) durch »als wir nach Makedonien kamen (elthontōn hēmōn)« (7,5) eine kommunikative Funktion zuzuweisen. An solchen Stellen handelt es sich offenbar um ein schriftstellerisches »Wir«, das mit einem »Ich« zwar nicht einfach identisch ist, das aber nicht viel mehr als Ausdruck der Bescheidenheit sein dürfte, wenn es nicht einfach dem Bemühen um Variation entspringt. »Der Wechsel zwischen der 1. Person Singular und der 1. Person Plural ist zwar nicht auf den 2Kor beschränkt, tritt aber in diesem Paulusbrief mit deutlichem Abstand am häufigsten auf.« »Es gehört zur paulinischen Briefstrategie, die Einheit der Gemeinde vorauszusetzen und dadurch zu fördern.« Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 58 - 3. Korrektur 58 ZNT 38 (19. Jg. 2016) Hermeneutik und Vermittlung »Auch ohne ein explizites Signal ist eine Ausweitung auf die Gemeinde manchmal wahrscheinlich.« »Durch Pauschalisierungen und Verallgemeinerungen wird ein positives oder negatives Bild der Gemeinde entworfen, dem sie tatsächlich nur teilweise entspricht, an das sie sich aber angleichen soll oder gerade nicht angleichen darf.« An anderen Stellen könnte der Wechsel zwischen Plural und Singular andeuten, dass Paulus sich zu einer bestimmten Form der Mission und einer bestimmten Gruppe von Mitarbeitern rechnet. Das ist dann deutlich, wenn die Gegner ins Spiel kommen. 1,23 f. ist ein schönes Beispiel: » 23 Ich rufe als Zeugen Gott an bei meinem Leben, dass ich (deshalb) nicht mehr nach Korinth kam, um euch zu schonen. 24 Nicht dass wir herrschen über euren Glauben, sondern wir sind Mitarbeiter eurer Freude.« Der Plural in V. 24 könnte die paulinische Mission der völlig anders ausgerichteten Mission seiner Gegner gegenüberstellen, die nach 11,20 die Gemeinde »versklaven«.-- In 11,4 begründet Paulus seine Bitte um Annahme durch die Gemeinde (»Wenn ihr von mir doch nur ein wenig Narrheit ertragen würdet! Ja, ertragt mich doch! « [11,1]) so: »Denn wenn der, der (zu euch) kommt, einen anderen Jesus verkündet, den wir nicht verkündet haben, oder ihr einen anderen Geist empfangt, den ihr nicht empfangen habt, oder ein anderes Evangelium, das ihr nicht angenommen habt, ertragt ihr das gut.« Hier werden zwei Ausprägungen christlicher Mission miteinander konfrontiert. Dass nur die paulinische, nicht die gegnerische im Plural steht, hängt wohl mit dem Kontext zusammen: »Der Kommende (ho erchomenos)« (V. 4) ist an »die Schlange (ho ophis [Maskulinum! ])« aus V. 3 angeglichen und parallelisiert das Wirken der Gegner polemisch mit dem der Schlange im Paradies.-- Auf ein Kennzeichen seiner Mission, den Unterhaltsverzicht, kommt Paulus in 11,12 zu sprechen: »Was ich aber tue, werde ich auch (weiterhin) tun, damit ich denen, die eine Gelegenheit (zum Selbstruhm) suchen, die Gelegenheit dazu nehme; sie sollen daran erkannt werden, worin sie sich rühmen, genauso wie auch wir.« Wird der Vers so übersetzt, 13 konfrontiert er zwei Formen der Mission, die jeweils durch den Inhalt ihres Rühmens charakterisiert werden. Die Gegner rühmen sich ihrer Stellung, die ihnen Anspruch auf Unterhalt verschafft (11,18-20). Paulus rühmt sich seines Unterhaltsverzichts (11,10). An keiner dieser Stellen (zu nennen wäre noch 8,16- 9,5) expliziert Paulus, dass er seine Mitarbeiter einbezieht. Eine solche Deutung kann aber den Wechsel vom Singular zum Plural m. E. am besten erklären. Analog dazu könnten solche Wechsel an anderen Stellen als Einbeziehung der adressierten Gemeinde verstanden werden. Wir haben oben bereits Texte in den Blick genommen, an denen durch die Erweiterung des »Wir« zu »Wir alle« eine Einbeziehung mindestens der Adressaten, wahrscheinlich aber aller Christen (3,18), vielleicht sogar aller Menschen (5,10) ausgedrückt wird. Auch ohne ein explizites Signal ist eine Ausweitung auf die Gemeinde manchmal wahrscheinlich. Das gilt jedenfalls von der Warnung vor Satan in 2,10f. » 10 Wem ihr aber etwas verzeiht, dem (verzeihe) auch ich. Denn auch für mich (gilt): Was ich verziehen habe-- wenn ich etwas verziehen habe-- , das habe ich wegen euch im Angesicht Christi (verziehen), 11 damit wir nicht vom Satan überlistet werden. Denn wir kennen seine Absichten ganz genau.« Das »Wir« in V. 11 kann im Kontext nicht einfach nur Paulus bezeichnen. Es dient dazu, die bereits erzielte und noch zu erzielende Übereinkunft zu unterstreichen. Die Gemeinde hat sich von demjenigen, der Paulus »Schmerzen bereitet hat« (2,5), distanziert und auf die Seite des Paulus gestellt. Dieselbe Übereinstimmung soll es nun in einem Akt des Verzeihens geben. Anderenfalls könnte Satan daraus Nutzen ziehen, weil es ihm mit Hilfe seiner Diener, der fremden Missionare (vgl. 11,1-4.14 f.), gelänge, zwischen Paulus und seine Gemeinde einen Keil zu treiben. Bei der Besprechung der Anreden an die Gemeinde ist bereits aufgefallen, dass es dort ein fiktives Element gibt: Durch Pauschalisierungen und Verallgemeinerungen wird ein positives oder negatives Bild der Gemeinde entworfen, dem sie tatsächlich nur teilweise entspricht, an das sie sich aber angleichen soll oder gerade nicht angleichen darf. Die Äußerungen von ungeteilter Zuversicht oder von grenzenloser Empörung sind keine realistischen Situationsbeschreibungen, sondern dienen der Einflussnahme auf die Gemeinde. Eine ähnliche Textpragmatik lässt sich auch bei manchen Aussagen in der 1. Person Plural erkennen, besonders dort, wo das Bemühen spürbar ist, das Gegenüber (»Ihr«) zu einem Miteinander (»Wir«) werden zu lassen. In 1,13 f. (und 5,11-13) wird diese Veränderung als ein Gegenstand der Hoffnung bezeichnet: » 13b Ich hoffe aber, dass ihr vollständig erkennen werdet, 14 wie ihr uns auch teilweise erkannt habt, (nämlich) dass wir euer Ruhm sind, wie auch ihr unserer, am Tag [unseres] Herrn Jesus.« Es ist klar, dass es noch nicht soweit ist. In 3,18 hat Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 59 - 3. Korrektur ZNT 38 (19. Jg. 2016) 59 Thomas Schmeller Christsein nach dem 2. Korintherbrief die gemeinsame Verwandlung bereits begonnen und schreitet graduell voran (apo doxēs eis doxan). In 5,10 ist der zukünftige Gerichtstag im Blick, an dem die Aussage über Paulus (5,1) auch für alle anderen Christen (oder Menschen? ) gelten wird. Vielleicht kann man hier auch auf 7,2-4 verweisen. Das Ziel einer Gemeinschaft der Herzen (6,11-13) scheint nach 7,4 so gut wie erreicht: »Groß ist mein Freimut euch gegenüber, groß ist mein Rühmen über euch. Ich bin voll Trost, ich habe überreiche Freude in all unserer Trübsal.« Nur die Schlussbemerkung »in all unserer Trübsal« enthält einen gewissen Vorbehalt, denn zu den Ursachen dieser »Trübsal« dürfte auch der noch nicht beigelegte Konflikt mit der Gemeinde gehören. In anderen Texten ist eine Ambivalenz im Gebrauch des »Wir« zu beobachten, die keine klare Entscheidung erlaubt, ob es sich um eine Aussage nur über Paulus oder über Paulus und die Gemeinde handelt. Auch dazu ein Beispiel. In 4,16-18 zeigt Paulus eine ungewöhnlich weitgehende Übereinstimmung mit populärem philosophischem Gedankengut: » 16 Deshalb werden wir nicht mutlos, sondern wenn auch unser äußerer Mensch vernichtet wird, so wird doch unser innerer (Mensch) Tag um Tag erneuert. 17 Denn unsere momentane geringfügige Bedrängnis bewirkt für uns in überwältigendem Übermaß ewige Fülle von Herrlichkeit, 18 da wir nicht auf das achten, was man sieht, sondern auf das, was man nicht sieht. Denn das Sichtbare ist vorübergehend, das Unsichtbare aber ewig.« Mit der Gegenüberstellung von Außen und Innen und der Höherbewertung des Inneren steht Paulus in einer vielfältigen philosophischen Tradition. Diese Übereinstimmung und die sehr allgemein gehaltene Formulierung könnte dazu veranlassen, das »Wir« auf jeden Christen oder jeden Menschen zu beziehen. Das wäre sicher falsch, denn seit 4,1 spricht Paulus eindeutig von seinem eigenen apostolischen Dienst. Noch in 4,14 f. ist die Abgrenzung von der Gemeinde klar erkennbar. Dennoch gibt es Anzeichen dafür, dass das »Wir« nicht nur exklusiv ist: Die Verse 17 f. enthalten Reflexionen, die mit dem apostolischen Dienst, insbesondere mit den Christusleiden des Apostels (V. 10 f.) nichts mehr zu tun haben; eine Ausweitung des Gedankengangs begegnet auch in 3,18 und 5,10; gerade mit 3,18 hat 4,16-18 Gemeinsamkeiten, weil hier wie dort von einem Prozess die Rede ist, der zu vollendeter Herrlichkeit führt. Daraus ergibt sich: Das »Wir« in 4,16-18 ist ambivalent. Es ist zwar zunächst auf Paulus bezogen, lässt aber eine Selbstidentifikation der Adressaten mit den Aussagen dieser Verse (bes. V. 17 f.) zu. Dieses Beispiel legt nahe, dass es im 2Kor ein »Wir« gibt, das der Leserlenkung dient. Es ist ein fiktives »Wir«, das Paulus (ggf. auch seine Mitarbeiter) mit der Gemeinde zusammenschließt, obwohl die ausgedrückte Gemeinsamkeit eigentlich nicht, noch nicht oder nicht vollständig besteht. Es soll also die Gemeinschaft herstellen oder vertiefen, die es als gegeben aussagt. 14 Wenn wir auf die in der Einleitung formulierte Frage zurückkommen, muss die Antwort lauten: Es gibt Selbstaussagen des Paulus, die für die adressierte Gemeinde transparent werden. Diese betreffen auch seine Leidensexistenz (vgl. 1,1-7) und sind nicht auf den 2Kor beschränkt. Das heißt nicht, dass alle Selbstaussagen übertragbar wären. Gerade im Blick auf das Leiden besteht darin ein gewisses Ungleichgewicht, »daß Paulus zwar von seinem eigenen Leiden sprechen kann, ohne im unmittelbaren Kontext auch die Leidensexistenz der Gemeinde in den Blick zu nehmen (vgl. 1Kor 2,2-3; 4,9-13; 2Kor 4,7-12; 6,4-5; 11,23-33; 12,5-10; 13,4; Gal 5,11; 6,17; Phil 1,13), er umgekehrt aber an keiner einzigen der oben genannten Stellen (sc. 2Kor 1,6f.; Phil 1,27.29f.; 1Thess 1,6; 2,14, Th.Sch.) vom Leiden der Gemeinde spricht, ohne auch auf seine eigene apostolische Leidenserfahrung zu verweisen«. 15 Auf die verschiedenen Deutungsmöglichkeiten für diesen Sachverhalt kann ich hier nicht eingehen. 16 Die plausibelste Erklärung scheint mir zu sein, dass Paulus für sich eine unmittelbare Leidensgemeinschaft mit Christus beansprucht, der Gemeinde dagegen nur eine mittelbare, durch ihn selbst vermittelte Leidensgemeinschaft zuspricht. 17 Die Gemeinsamkeit zwischen Apostel und Gemeinde hebt die Vorordnung des Apostels keineswegs auf. Für das Verständnis von 12,9 f. bedeutet das bisher Gesagte: Im Kontext des ganzen 2Kor gelesen liegt es nahe, dass die Gemeinde sich in der Aussage über den Stachel und über die in der Schwachheit erfahrbare Kraft Christi wiederfinden kann, sofern sie dazu bereit ist, auch in der Schwachheit des Paulus diese göttliche Kraft am Werk zu sehen und seine Leidensexistenz als »Christi Wohlgeruch« (2,15), als »Es gibt Selbstaussagen des Paulus, die für die adressierte Gemeinde transparent werden.« »Die Gemeinsamkeit zwischen Apostel und Gemeinde hebt die Vorordnung des Apostels keineswegs auf.« Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 60 - 3. Korrektur 60 ZNT 38 (19. Jg. 2016) Hermeneutik und Vermittlung heilbringenden »Geruch aus Leben zum Leben« (2,16) wahrzunehmen (vgl. dazu u. 2.2.1). 2. Kraft und Schwachheit des Paulus Wenn, wie sich gezeigt hat, die Selbstaussagen des Paulus unter bestimmten Umständen und bis zu einem gewissen Maß auf die Gemeinde übertragbar sind, stellen sich neue Fragen: Was kann die Gemeinde von Paulus lernen? Wie sind diese Aussagen zu verstehen? Soll sie mit ihm-- so eine verbreitete Deutung-- eine prinzipielle Umwertung vornehmen und paradoxerweise die Schwachheit als den einzigen Ort der Krafterfahrung verstehen? Wir beginnen die Klärung dieser Fragen wieder mit 2Kor 12,7b-10, dem Text, der am deutlichsten eine solche Sichtweise nahezulegen scheint. 2.1 2Kor 12,7b-10 im Rahmen der Narrenrede 18 Der Text bildet-- nach den Deuteversen 6-7a-- den Abschluss der Erzählung von der Himmelsreise des Paulus (12,1-5), also des zweiten Teils der sog. Narrenrede 11,16- 12,13. Er ist aber offensichtlich auch auf deren ersten Teil (11,21b-33) ausgerichtet. Der Plural »in meinen Schwachheiten« (12,9) und die Veranschaulichung durch den kleinen Peristasenkatalog in 12,10 machen deutlich, dass auch die Peristasen in 11,23-33 einbezogen sind. Die Entrückung ins Paradies ist ein besonders eindrucksvoller Beleg für die Erfahrung von »Visionen und Offenbarungen« (12,1), die hier das Thema sind. Wie Elija und Baruch wird auch Paulus von Gott dazu auserwählt, Zeuge der himmlischen Wirklichkeit zu werden, ohne dafür sterben zu müssen. Dass ihm ein »Stachel« gegeben wurde, hat mit dieser Erwählung zu tun. Der »Stachel« ist, wie gesagt, am ehesten als eine schmerzhafte Krankheit des Paulus zu verstehen, die ihm die Missionsarbeit erschwerte, aber nicht unmöglich machte. Er hat nach V. 6 f. einen doppelten Zweck: Er soll verhindern, dass Paulus von anderen überschätzt wird, aber auch, dass er sich selbst überschätzt. Offenbar war Paulus der pädagogische Zweck des Stachels nicht von Anfang an bewusst. Er bat den Herrn, hier eindeutig Christus, um ein Ende dieses Leidens, wahrscheinlich nicht nur wegen der Schmerzerfahrung, sondern auch, weil es ihm als Gottesferne erschien und seine Mission behinderte. Im größeren Kontext gelesen, gibt Paulus hier der Einschätzung seines Wirkens durch die korinthische Gemeinde Raum. Auch sie nahm Anstoß an dieser Krankheit, die sie vermutlich beim letzten Besuch, dem sogenannten Zwischenbesuch, erneut an ihm wahrgenommen und negativ bewertet hatte. Die Belehrung durch ein Herrenwort ist also nicht nur eine Belehrung des Paulus, sondern auch der Gemeinde. Was ist aber der Inhalt dieser Belehrung? Anders, als der Text oft gelesen wird, stellt das Herrenwort die vorangehende Bewertung der Schwachheit durch Paulus und die Gemeinde nicht einfach auf den Kopf. Die Erhöhung durch die Himmelsreise und die Erniedrigung durch den Stachel sind natürlich Gegensätze, weisen aber auch Züge der Kontinuität auf. Bei der Schilderung der Entrückung ist auffällig, dass sie die Lesererwartungen nur teilweise befriedigt. Sie ist-- gerade im Vergleich mit anderen frühjüdischen Erzählungen von Himmelsreisen-- außerordentlich arm an Details und auf wenige zentrale Aussagen konzentriert. Nicht nur, was Paulus sieht, sondern auch, was er hört, bleibt verborgen. Die Worte, deren Zeuge er wird, kann oder darf er nicht wiedergeben (V. 4). Zu dieser Zurückhaltung passt die wiederholt (V. 2 f.) geäußerte Unkenntnis über den eigenen Zustand (im Leib? ohne Leib? ) bei der Himmelsreise. Der ebenfalls wiederholte Hinweis auf das alleinige Wissen Gottes zeigt Paulus als passiven Empfänger der erwählenden und erhebenden Kraft Gottes, der er ausgeliefert ist. Ein ungebrochener Selbstruhm ist ihm deshalb nicht möglich. Nicht erst die Erzählung vom Stachel, sondern schon die Darstellung der Himmelsreise führt zu deren Relativierung. Ein weiterer Zug der Kontinuität liegt in der Deutung des Stachels durch ein Herrenwort. Paulus erfährt hier eine Audition, die zu V. 4 parallel steht und wie die Himmelsworte eine besondere Auszeichnung darstellt. Der Stachel wird in V. 10 auf andere Schwachheiten ausgeweitet. Damit dürften vor allem die in 11,21b-33 aufgezählten Erfahrungen gemeint sein. Dort ist eine ganz ähnliche Abfolge wie in 12,1-9a zu erkennen. Die folgende Tabelle 19 zeigt die Entsprechungen: Einleitung Selbstruhm A Deuteverse mit Bekräftigung Selbstruhm B 11,21b: Bereitschaft zur Konkurrenz in Narrheit 11,22-29: Herkunft und Peristasen 11,30 f.: Selbstruhm in Schwachheit, keine Lüge 11,32 f.: Demütigende Erfahrung in Damaskus 12,1: Bereitschaft zum Selbstruhm trotz Nutzlosigkeit 12,2-4: Himmelsreise 12,5-7a: Selbstruhm in Schwachheit, Wahrheit 12,7b-9a: Stachel als Warnung vor Hochmut Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 61 - 3. Korrektur ZNT 38 (19. Jg. 2016) 61 Thomas Schmeller Christsein nach dem 2. Korintherbrief Auch in 11,21b-33 folgen zwei Akte des Selbstruhms aufeinander. Der erste (11,22-29) verweist auf die Abstammung des Paulus und auf seine großen, mit ungeheurem Einsatz und Durchhaltevermögen erzielten Verdienste um das Evangelium. Schon hier handelt es sich nicht um ungebrochenen Selbstruhm, denn es werden keine Erfolge (etwa die Zahl von Gemeindegründungen oder Bekehrten), sondern lediglich Situationen berichtet, in denen Paulus passiv und ausgeliefert als Leidender erscheint. Der zweite Akt des Selbstruhms (11,32 f.) steigert diese Brechung. Auch hier geht es um eine Verfolgungssituation, in die Paulus für das Evangelium gerät, aber hier hält er ihr nicht Stand, sondern entzieht sich ihr durch eine demütigende Flucht in einem Korb. In keinem der beiden Texte (11,21b-33; 12,1-10) bietet Paulus Kreuzestheologie, jedenfalls nicht im eigentlichen Sinn. Anders als in 4,10 f. werden seine Leiderfahrungen nicht als Anteil am Sterben Jesu gedeutet. Die peinliche Damaskusepisode (11,32 f.) ist kein vollständiger Gegensatz zu den tapfer und verdienstvoll ertragenen Peristasen (11,23b-29). Ebensowenig ist der Stachel im Fleisch ein vollständiger Gegensatz zur Himmelsreise. Alle vier Teiltexte schildern Erfahrungen derselben göttlichen Kraft, wobei diese Erfahrung jeweils in der zweiten Schilderung gesteigert wird. Schon bei der katalogartigen Demonstration des Durchhaltevermögens des Paulus und bei der Erzählung von seiner Himmelsreise wird neben der Krafterfahrung auch die menschliche Begrenztheit erkennbar. Deutlicher wird das aber im Damaskuserlebnis und vor allem beim Erhalt des Stachels. Hier ist seine menschliche Schwäche so vollständig, sein Unvermögen so offensichtlich, seine eigene Kraft so am Ende, dass es ganz eindeutig allein der Kraft Gottes zuzuschreiben ist, dass sein Leben und seine Mission dennoch weitergehen und Frucht bringen. In diesem Sinne gilt: »Die Kraft wird in Schwachheit vollendet« (12,9) und »Wenn ich schwach bin, bin ich stark« (12,10). Die Umwertung, die Paulus vornimmt, ist also begrenzt. Er will keineswegs seine Verdienste als Missionar und seine Würde als Offenbarungsempfänger negieren oder auch nur minimieren. In der Konkurrenz mit den Gegnern sind sie für ihn wertvolle Pluspunkte und werden sie auch so eingesetzt. Was er der Gemeinde zeigen will, ist: Die Schwachheit, die sie an ihm (zuletzt beim Zwischenbesuch) erfahren hat, stellt seine Autorität nicht in Frage. Ganz im Gegenteil: Die Kraft Gottes, die in dem wirksam ist, was die Korinther als Vorzüge eines Missionars verstehen (Einsatz für das Evangelium, außergewöhnliche Gottesnähe), wird durch das, was sie als Defizite sehen (Schwäche, Ohnmacht), nicht aufgehoben, sondern vollendet, d. h. bestätigt und überboten. Deshalb will Paulus sich besonders solcher Erfahrungen rühmen-- ohne damit die anderen für wertlos zu erklären. 2.2 Überprüfung des Befunds In aller Kürze soll an zwei weiteren Texten aus dem 2Kor gezeigt werden, dass Paulus das Verhältnis von Schwachheit und Kraft mit unterschiedlichen Schwerpunkten darstellen kann, dass diese das bisher erzielte Ergebnis aber nicht in Frage stellen. 2.2.1 2,14-17 20 Die Einleitungsverse zu einem neuen Hauptteil (2,14- 7,4), der den Dienst des Paulus zum Thema hat, verwenden eine überraschende Metaphorik. Der wichtigste Bildspender für die Verse 14-16 scheint mir, auch wenn das umstritten und nicht die einzige Möglichkeit ist, 21 der römische Triumphzug zu sein. Das verwendete Verbum thriambeuō ist am ehesten als »mitführen im Triumphzug« zu übersetzen. Dabei gibt es zwei Möglichkeiten: Der Triumphator führt einerseits Personen mit, die zur siegreichen Seite gehören und seinen Sieg feiern (also Generäle, Soldaten, weihrauchtragende Sklaven), andererseits (und diese Bedeutung von thriambeuō ist wesentlich besser bezeugt 22 ) aber auch Personen, die zur besiegten Seite gehören und im Verlauf des Triumphzugs in der Regel hingerichtet werden (also Anführer der Feinde). Diesem Bildfeld entstammen wohl auch die Metaphern in V. 15 f.: Paulus sieht sich nicht nur als Teil des Festpersonals, das den Triumphator mit dem Duft von Weihrauch feiert, sondern wird selbst zu diesem Duft, d. h. zur Repräsentanz des Evangeliums. Für die Teilnehmer am Triumphzug hat dieser Duft gegensätzliche Bedeutung. Für die einen, die mit dem Feldherrn feiern, ist er Zeichen des Sieges, für die anderen, die als besiegte Feinde vorgeführt werden, ist er Ankündigung des nahe bevorstehenden Todes. Entsprechend entfaltet das paulinische Evangelium eine gegensätzliche Wirkung. Es kann zu Rettung und Leben oder zu Untergang und Tod führen. Von den folgenden Versen her spricht viel dafür, dass Paulus sich in V. 14 auf der Seite des Triumphators, d. h. Gottes, sieht. Seine Missionsreisen sind ein Triumphzug Gottes im großen Stil; Paulus feiert damit den göttlichen Sieg. Andererseits ist es von den sonstigen Belegen für die Verwendung von thriambeuō her viel wahrscheinlicher, dass die Erstleser/ innen das Verbum mit dem beklagenswerten Schicksal besiegter Feinde in Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 62 - 3. Korrektur 62 ZNT 38 (19. Jg. 2016) Hermeneutik und Vermittlung Verbindung brachten. Ist das denkbar? Was wäre damit über Paulus gesagt und wie sollte man mit der Spannung zum Kontext umgehen? Diese Fragen sind m. E. nur dann befriedigend zu beantworten, wenn man mit einer bewussten Ambivalenz rechnet. Die Größe des paulinischen Dienstes-- auf die am Ende von V. 16 wohl deshalb in Frageform hingewiesen wird, weil sie in Korinth umstritten war-- zeigt sich nicht ungebrochen in der Feier des Sieges Gottes unter den Völkern. Seine Mission ist nach den üblichen Maßstäben alles andere als ein Fest. Seine unendlichen Mühen und Leiden, die ihn in die Nähe des Todes bringen (1,8 f.), stellen ihn viel eher auf die Seite der Besiegten, für die es keine Hoffnung mehr gibt. Die Metapher vom Triumphzug enthält also nicht einfach die Zumutung, die jede Metapher auszeichnet, sondern eine weitergehende Zumutung. Können die Leser/ innen eine so gewagte Verbindung nachvollziehen? Können sie die Mission des Paulus als einen Triumphzug ganz besonderer Art sehen, bei dem der Sieger wie ein Besiegter erscheinen kann? Oder verweigern sie sich dieser Zumutung und lösen die Spannung auf: entweder, indem sie Kraft und Schwachheit trennen, in Paulus also nur den Besiegten sehen; oder, indem sie beides in eins setzen und die Kraft nur noch in der Schwachheit sehen. Beide Möglichkeiten sind verständliche Versuche, die spannungsvolle Metapher zu entschärfen. Aber sie werden ihr nicht gerecht. Der Dienst des Paulus ist durch beides geprägt, durch Vollmacht und durch Ohnmacht. 2.2.2 4,7-12 23 Auch bei der Besprechung des nächsten und letzten Texts, 4,7-12, kann ich nur auf wenige Fragen eingehen. Nachdem Paulus in 3,1-4,6 die große Bedeutung des ihm anvertrauten Dienstes beschrieben hat, mit dem er sogar Mose bei weitem übertrifft, wendet er sich jetzt der leidvollen Seite seiner Existenz als Apostel zu. Mit »dieser Schatz« ist wohl alles gemeint, was im voranstehenden Kontext zu seinem großartigen Dienst ausgeführt wurde, auch, aber nicht nur die »Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes auf dem Angesicht Jesu Christi« (4,6) und das von ihm verkündete Evangelium. Paulus ist dieser Schatz anvertraut, aber »in tönernen Gefäßen«, d. h., wie der Fortgang zeigt, in einer schwachen, jederzeit dem Untergang nahen Existenz. Die eigene Hilflosigkeit soll explizit die Kraft Gottes demonstrieren. Wie diese Verbindung allerdings genau gedacht ist, bleibt unklar. In V. 8 f. wird V. 7 in vier gleichgebauten Antithesen konkretisiert. Das Verhältnis der vorderen zu den hinteren Gliedern der Konstruktion ist umstritten. Wird das Leiden, das jeweils im Vorderglied benannt wird, im Hinterglied eingeschränkt oder wird es aufgehoben? Geht es also darum, dass Paulus leidet, aber daran nicht zerbricht, sondern durch die Kraft Gottes unerwarteterweise überlebt, 24 oder geht es darum, dass er zwar leidet, in Wirklichkeit aber, d. h. aus der Perspektive des Glaubens, doch nicht leidet 25 ? Verhindert Gott, dass das Leiden zur vollen Wirkung kommt und unerträglich wird, oder gibt er ihm eine neue Qualität, indem er ihm seinen bedrohlichen Charakter nimmt? Die Antwort hängt davon ab, ob man die Verse 8 f. von vorne oder von hinten her liest. Im Anschluss an V. 7 liegt die erste Deutung nahe: Nur die Kraft Gottes verhindert das Zerbrechen der tönernen Gefäße. Von V. 10-12 her, wo eine Antithese zwischen dem Sterben und dem Leben Jesu entfaltet wird, wird man aber die vorderen Glieder in V. 8 f. mit dem Sterben, die hinteren mit dem Leben verbinden. Dann kann nicht gemeint sein, dass Paulus vor dem Schlimmsten bewahrt wird, sondern er erfährt in den Peristasen den Tod, der auch Jesus nicht erspart blieb. Es ist also nicht sinnvoll, sich für eine der beiden Deutungen zu entscheiden. Der paulinische Gedankengang ist nicht ausgeglichen, sondern zeigt auch hier eine spannungsvolle Verbindung zweier Deutungen des Leidens im Glauben: Einerseits schreibt Paulus das Überleben der rettenden Kraft Gottes zu, andererseits sieht er im Durchleben des Leidens eine Teilhabe an Sterben und Auferstehen Jesu. Die erste Sichtweise ist für andere leichter nachzuvollziehen als die zweite: Sie können immerhin wahrnehmen, dass Paulus im letzten Moment aus Situationen gerettet wird, die nach menschlichem Ermessen zum Tode führen müssten. Dagegen ist der zweite Zugang, dass er nämlich das Leiden bis zum bitteren Ende auskosten muss, 26 dass es für ihn aber umschlägt in eine Erfahrung der Kraft Gottes, für andere nur dann plausibel, wenn sie sich seiner Deutung anschließen. Ein vermittelndes Element enthält vielleicht der Schluss von V. 11: »Das Leben Jesu wird offenbar (phanerōthē) an unserem sterblichen Fleisch« könnte bedeuten, dass das Leben des Auferstandenen an Paulus wahrnehmbar wird. Er würde dann das Auferstehungsleben in der Gegenwart antizipieren. Überraschend ist eine neue Wendung des Gedankengangs in V. 12. Hier sind nicht mehr wie in V. 7-11 »Einerseits schreibt Paulus das Überleben der rettenden Kraft Gottes zu, andererseits sieht er im Durchleben des Leidens eine Teilhabe an Sterben und Auferstehen Jesu.« Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 63 - 3. Korrektur ZNT 38 (19. Jg. 2016) 63 Thomas Schmeller Christsein nach dem 2. Korintherbrief sowohl der Tod als auch das Leben Kennzeichen der paulinischen Existenz, sondern der Tod wird nun mit Paulus, das Leben mit der Gemeinde verbunden. Es können hier nicht gegensätzliche Existenzweisen gemeint sein. Das würde dem Kontext widersprechen und ist auch von 1,6 her ausgeschlossen (vgl.-o.). Gemeint ist vielmehr die Hinordnung der paulinischen Leidensexistenz auf die Gemeinde. Nur weil Paulus diese Existenz führt, erhält die Gemeinde am Leben des Auferstandenen Anteil. Es kann also nicht davon die Rede sein, dass in 4,7-12 die Erfahrung von Kraft an die Erfahrung von Schwachheit gebunden würde, so als sei diese die Voraussetzung für jene. 27 Vielmehr wird den Korinthern eine positive Interpretation der paulinischen Leidensexistenz nahegelegt. Sie spricht nicht gegen seine Autorität, sondern gerade für diese, weil sie deutlich macht, dass wirklich Gott die Quelle seiner Kraft ist. Zudem wirkt sie sich für die Gemeinde heilbringend aus. Es ist zwar hier nur vom Leiden des Apostels, nicht der Gemeinde die Rede, aber im Kontext des 2Kor und anderer Paulusbriefe gelesen, ist damit eine Leidens- und Lebensgemeinschaft auch der Gemeinde mit Christus nicht aus-, sondern eingeschlossen. V. 12 ist eine durch das situative Anliegen bedingte Kurzfassung der Überzeugung des Paulus, dass nicht nur er selbst, sondern-- vermittelt durch ihn-- auch die Gemeinde an Tod und Auferstehung Christi Anteil hat. 3. Auswertung In meinem Beitrag habe ich mich auf Aussagen des 2. Korintherbriefs zu Schwachheit und Leiden konzentriert. Andere Aspekte der Frage, ob bzw. wie man nach diesem Schreiben Christ sein kann, wurden nur gestreift. Das hat mit der vorgegebenen Länge meines Beitrags zu tun, aber auch mit der Eigenart des Briefs. Die Einschätzung und der Umgang mit dem Leiden ist ein wichtiger inhaltlicher Schwerpunkt des 2Kor (immerhin stehen von den sieben Peristasenkatalogen, die im Corpus Paulinum begegnen, vier im 2Kor). Die Ergebnisse fasse ich in drei Punkten zusammen: im Hinblick auf Paulus, auf die korinthische Gemeinde und auf heutige Christen. Paulus selbst bemüht sich, seine Erfahrungen der Ohnmacht, die auch den Korinthern nicht verborgen geblieben war, mit seiner Vollmacht zu verbinden. Er tut das nicht auf dem Weg einer paradoxen Umwertung, die aus Schwachheit Kraft macht. Er reklamiert für sich durchaus auch Kraft im üblichen Sinn, also entschiedenes, wirkungsvolles Engagement und unbeirrbare Durchsetzungsfähigkeit. Auch auf diesem Feld kann er mit seinen Gegnern konkurrieren. Aber seine menschliche Kraft kommt ihm nur durch die Kraft Gottes zu, und dieselbe göttliche Kraft ist auch in seiner menschlichen Schwachheit zu erkennen. Kraft und Schwachheit sind deshalb weder zu trennen noch in eins zu setzen. Sie prägen ungetrennt und unvermischt die Existenz des Paulus und zeichnen ihn mit besonderer Gottesnähe und Autorität aus. Mit den Problemen, die die korinthische Gemeinde mit der Leidensexistenz ihres Apostels hatte, geht Paulus auf verschiedene Weisen um. Relevant ist hier nur: Er greift zu Mitteln der Fiktionalität. Er zeichnet ein Bild der Gemeinde, in dem entweder völlige Versöhnung oder völlige Entfremdung dominiert. Weder die Äußerungen uneingeschränkter Zuversicht noch diejenigen tiefer Empörung sind als realistische Beschreibungen der Situation zu werten, sondern sie sollen die beschworene Versöhnung herbeiführen bzw. Entfremdung vermeiden helfen. Dazu dienen auch Aussagen in der 1. Person Plural, die als Mittel der Leserlenkung ein echtes »Wir« herbeiführen sollen. Die korinthische Gemeinde soll in Gemeinschaft mit Paulus seine Schwachheit nicht als Gottesferne, sondern als Gottesnähe verstehen lernen und daraus auch eine neue Sicht ihrer eigenen Existenz gewinnen. Für heutige Christen bedeutet dieser Befund: Aussagen wie 2Kor 12,7b-10 auf sich selbst zu übertragen, setzt im Sinne des Paulus voraus, seine Autorität zu akzeptieren. Die Differenzen gegenüber der Situation der Erstleser/ innen sind natürlich gravierend. Paulus ist nicht direkt der Begründer heutigen Glaubens und der Gründer heutiger Gemeinden; er ist überhaupt nicht mehr persönlich, sondern nur noch im Text seiner Briefe präsent. Dennoch kann ein redlicher Umgang mit Texten wie 2Kor 12 diese nur dann als Trost für heute verstehen, wenn zugleich Paulus zu einem heutigen Apostel, zu dem Apostel der Lesenden wird. Es geht also um eine Rezeption, die dem Text Autorität und Verbindlichkeit zuschreibt. Wer die Frage stellt, ob er oder sie solche paulinischen Textaussagen auf sich beziehen darf, zeigt bereits die notwendige Akzeptanz. Vielleicht kann daraus die Bereitschaft werden, sich von Paulus nicht nur durch den 2. Korintherbrief und im Blick auf »[Paulus] greift zu Mitteln der Fiktionalität. Er zeichnet ein Bild der Gemeinde, in dem entweder völlige Versöhnung oder völlige Entfremdung dominiert.« Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 64 - 3. Korrektur 64 ZNT 38 (19. Jg. 2016) Hermeneutik und Vermittlung das Leiden, sondern auch durch andere Briefe und im Blick auf andere Themen prägen zu lassen. Anmerkungen 1 Vgl. dazu U. Heckel, Schwachheit und Gnade. Trost im Leiden bei Paulus und in der Seelsorgepraxis heute, Stuttgart 1997. 2 Beispiele aus der Wirkungsgeschichte biete ich in: Th. Schmeller, Der zweite Brief an die Korinther. Teilbd. 2: 2Kor 7,5-13,13 (EKK VIII/ 2), Neukirchen-Vluyn 2015, 313-320. 3 In diese Richtung gehen z. B. die Auslegungen von D.A. Black, Paul, Apostle of Weakness: Astheneia and Its Cognates in the Pauline Literature (AmUStTR 3), New York 1984, 151; E. Gräßer, Der zweite Brief an die Korinther II (ÖTK 8/ 2), Gütersloh 2005, 204; C.J. Roetzel, The Language of War (2 Cor. 10: 1-6) and the Language of Weakness (2 Cor. 11: 21b-13: 10), Biblical Interpretation 17 (2009), 77-99, hier: 91-99; H. Windisch, Der zweite Korintherbrief, hg. v. G. Strecker (KEK 6), Göttingen 1970 (= 9 1924), 393. 4 Zu Einzelfragen der Auslegung dieses Textes vgl. vor allem L. Aejmelaeus, Schwachheit als Waffe. Die Argumentation des Paulus im Tränenbrief (2. Kor. 10-13) (SESJ 78), Göttingen 2000, 261-321; Black, Paul (s. Anm. 3) 146-159; Y.S. Choi, »Denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark«. Die paulinischen Peristasenkataloge und ihre Apostolatstheologie (Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie 10), Tübingen 2010, 231-246; M. Ebner, Leidenslisten und Apostelbrief. Untersuchungen zu Form, Motivik und Funktion der Peristasenkataloge bei Paulus (fzb 66), Würzburg 1991, 173-195; U. Heckel, Kraft in Schwachheit. Untersuchungen zu 2. Kor 10-13 (WUNT 2/ 56), Tübingen 1993, 272-288 296-331; G. Hotze, Paradoxien bei Paulus. Untersuchungen zu einer elementaren Denkform in seiner Theologie (NTA NF 33), Münster 1997, 202-227; J. Krug, Die Kraft des Schwachen. Ein Beitrag zur paulinischen Apostolatstheologie (TANZ 37), Tübingen 2001, 258-291; Schmeller, 2Kor II (s. Anm. 2) 304-327; M. Theobald, Die überströmende Gnade. Studien zu einem paulinischen Motivfeld (fzb 22), Würzburg 1982, 244-253; J. Zmijewski, Der Stil der paulinischen »Narrenrede«. Analyse der Sprachgestaltung in 2 Kor 11,1-12,10 als Beitrag zur Methodik von Stiluntersuchungen neutestamentlicher Texte (BBB 52), Köln 1978, 324-411. 5 Vgl.-H. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. Bd. I, München 2 1973, § 879. 6 So hat z. B. die Vermutung, die Kap. 1-9 würden sich an den umkehrbereiten Teil der Gemeinde, Kap. 10-13 an den umkehrunwilligen Teil oder an die Gegner richten (so etwa B. Bosenius, Die Abwesenheit des Apostels als theologisches Programm. Der zweite Korintherbrief als Beispiel für die Brieflichkeit der paulinischen Theologie [TANZ 11], Tübingen 1994, 98-105), wenig Anhalt am Text. 7 Zur Begründung vgl. Schmeller, 2Kor II (s. Anm. 2) 360 f. 8 Zu dieser textpragmatischen Strategie vgl. Th. Schmeller, No Bridge over Troubled Water? The Gap between 2 Corinthians 1-9 and 10-13 Revisited, JSNT 36 (2013), 73-84, hier: 78-81. 9 In die Nähe kommt noch 12,18: »Ich habe Titus zugeredet und habe den Bruder mitgeschickt. Hat euch etwa Titus übervorteilt? Haben wir unseren Lebenswandel nicht in demselben Geist geführt? Nicht in denselben Fußspuren? « 10 Hinweisen kann man auch auf ein ähnliches Phänomen in 1,3-11, wo das »Wir« zunächst die Adressaten einschließt (V. 3), spätestens ab V. 6 aber nicht mehr so verstanden werden kann. 11 Die Forschungsgeschichte zu diesem Problem kann ich hier nicht behandeln. Erwähnen möchte ich nur eine im vergangenen Jahr erschienene Arbeit von Loïc P.M. Berge, Faiblesse et force, présidence et collégialité chez Paul de Tarse. Recherche littéraire et théologique sur 2 Cor 10-13 dans le contexte du genre épistolaire antique (NT.S 161), Leiden 2015. Berge vertritt die These: Die betr. Wir-Formen sind als Plural ernst zu nehmen und beziehen sich auf den Mitarbeiterkreis des Paulus. Ich stimme Berge zu, dass es möglich ist, manche paulinische Wir-Aussagen als Repräsentation seines Mitarbeiterkreises zu lesen. Ich stimme Berge aber nicht zu, wenn er daraus die einzige Möglichkeit macht. Wir haben gesehen, dass es explizite Inklusionen gibt, die sich auf bestimmte Mitarbeiter (1,19), auf alle (mit dem 2Kor adressierten? ) Christen (3,18) und vielleicht auf alle Menschen beziehen (5,10). Wo die Inklusionen implizit sind, können sie sich ebenfalls auf den Mitarbeiterkreis (4,13 f.; 9,11; 12,19), auf die Adressaten (4,17 f.; 5,19; 7,1) oder auch auf alle Christen oder Menschen beziehen (1,2 f.; 5,21). Darüber kann jeweils nur der Kontext entscheiden. Oft ist aber eine sichere Zuordnung nicht möglich. 12 Vgl. die Statistik bei Berge, Faiblesse (s. Anm. 11), 2 (Anm. 2). 13 Zur Begründung vgl. Schmeller, 2Kor II (s. Anm. 2), 225 f. 14 Vgl. dazu auch den Exkurs »Das ›Wir‹ im 2Kor«, in: Th. Schmeller, Der zweite Brief an die Korinther. Teilbd. 1: 2Kor 1,1-7,4 (EKK VIII/ 1), Neukirchen-Vluyn 2010, 59- 62. 15 M. Wolter, Der Apostel und seine Gemeinden als Teilhaber am Leidensgeschick Jesu Christi. Beobachtungen zur paulinischen Leidenstheologie, NTS 35 (1990), 535-557, hier 541. 16 Vgl. dazu Schmeller, 2Kor I (s. Anm. 14), 64. 17 Ich folge hier Wolter, Apostel (s. Anm. 15), 549; 551. 18 Für relevante Literatur zu diesem Text vgl.-o. Anm. 4. 19 Übernommen aus Schmeller, 2Kor II (s. Anm. 2), 326. 20 Zu Einzelfragen der Auslegung dieses Textes vgl. vor allem C. Breytenbach, Paul’s Proclamation and God’s »Thriambos« (Notes on 2 Corinthians 2: 14-16b), Neotest. 24 (1990), 257-271; P.B. Duff, Metaphor, Motif, and Meaning: The Rhetorical Strategy Behind the Image »Led in Triumph« in 2 Corinthians 2: 14, CBQ 53 (1991), 79-92; G.H. Guthrie, Paul’s Triumphal Pro- Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 65 - 3. Korrektur ZNT 38 (19. Jg. 2016) 65 Thomas Schmeller Christsein nach dem 2. Korintherbrief cession Imagery (2 Cor 2.14-16a): Neglected Points of Background, NTS 61 (2015), 79-91; S.J. Hafemann, Suffering and Ministry in the Spirit. Paul’s Defense of His Ministry in II Corinthians 2: 14-3: 3, Grand Rapids 1990, 7-179; B. Kuschnerus, Die Gemeinde als Brief Christi. Die kommunikative Funktion der Metapher bei Paulus am Beispiel von 2 Kor 2-5 (FRLANT 197), Göttingen 2002, 101-150; P. Müller, Wer ist geeignet und würdig? 2Kor 2,14-17 und der römische Triumph, in: D. Sänger (Hg.), Der zweite Korintherbrief. Literarische Gestalt-- historische Situation-- theologische Argumentation. FS D.-A. Koch (FRLANT 250), Göttingen 2012, 224-239; T. Novick, Peddling Scents: Merchandise and Meaning in 2 Corinthians 2: 14-17, JBL 130 (2011), 543-549; Schmeller, 2Kor I (s. Anm. 14), 151-168; J. Schröter, Der versöhnte Versöhner. Paulus als unentbehrlicher Mittler im Heilsvorgang zwischen Gott und Gemeinde nach 2 Kor 2,14-7,4 (TANZ 10), Tübingen 1993, 9-48; A. Wypadlo, Paulus im Triumphzug Christi (2 Kor 2,14). Überlegungen zum Selbstverständnis des Apostels Paulus vor dem Hintergrund antiker Triumphzugspraxis, SNTU 38 (2013), 147-187. 21 Vereinzelt werden auch Deutungen von thriambeuō vertreten, die vom Triumphzug unabhängig sind: »öffentlich der Schande aussetzen«, »in einer Epiphanieprozession mitführen«, »bekannt machen«. 22 Vgl. die Belege bei Breytenbach, Proclamation (s. Anm. 20), 259-265. Die von Guthrie, Procession (s. Anm. 20), 81-83, an diesem Befund geäußerten Zweifel sind nicht überzeugend, weil er sich nur auf die Verwendung von thriambeuō ohne persönliches Objekt stützt. 23 Zu Einzelfragen der Auslegung dieses Textes vgl. vor allem Bosenius, Abwesenheit (s. Anm. 6), 45-57; P.B. Duff, Apostolic Suffering and the Language of Processions in 2 Cor 4: 7-10, BTB 21 (1991), 158-164; Ebner, Leidenslisten (s. Anm. 4), 196-242; E. Gräßer, Der Schatz in irdenen Gefäßen (2Kor 4,7). Existentiale Interpretation im 2. Korintherbrief? , ZThK 97 (2000), 300-316; Heckel, Kraft (s. Anm. 4), 246-261; Hotze, Paradoxien (s. Anm. 4), 253-287; Krug, Die Kraft des Schwachen (s. Anm. 4), 197-225; Kuschnerus, Gemeinde (s. Anm. 20), 235-267; T.B. Savage, Power Through Weakness. Paul’s Unterstanding of the Christian Ministry in 2 Corinthians (MSSNTS 86), Cambridge 1996, 164-182; Schmeller, 2Kor I (s. Anm. 14), 250-269; Schröter, Versöhner (s. Anm. 20), 169-216; Theobald, Gnade (s. Anm. 4), 212- 225; J.R. Unwin, »Thrown Down but not Destroyed«: Paul’s Use of a Spectacle Metaphor in 2 Corinthians 4: 7- 15, NT 57 (2015), 379-412. 24 So etwa Savage, Power (s. Anm. 23), 171 f.; Windisch, 2Kor (s. Anm. 3), 143. 25 So etwa R. Bultmann, Der zweite Brief an die Korinther, hg. v. E. Dinkler (KEK Sonderbd.), Göttingen 1976, 116 f.; E. Gräßer, Der zweite Brief an die Korinther I (ÖTK 8/ 1), Gütersloh 2002, 164 f.; Schröter, Versöhner (s. Anm. 20), 174-177. 26 Die Partizipien der Vorder- und Hinterglieder müssen nicht, können aber als mehr oder weniger synonym verstanden werden. 27 So etwa Theobald, Gnade (s. Anm. 4), 213. Vorschau - Sonderheft 39/ 40 zum Thema »sola scriptura« Mit Beiträgen von: Stefan Alkier, Eve-Marie Becker, Claire Clivaz, Kristina Dronsch, Jan Dochhorn, Ute Eisen, Matthias Klinghardt, Matthias Konradt, Annette M erz, Karl-Wilhelm Niebuhr, Petr Pokorný, Eckart Reinmuth, Günter Röhser, Gerd Theißen, Peter Wick und Oda Wischmeyer Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 66 - 3. Korrektur 66 ZNT 38 (19. Jg. 2016) Buchreport Christopher D. Land The Integrity of 2 Corinthians and Paul’s Aggravating Absence Sheffield: Sheffield Phoenix Press 2015 (New Testament Monographs Bd. 36) ix, 306 Seiten, gebunden ISBN 13-978-1-909697-76-8 Preis: 60,00 £ Auf den beiden letzten Seiten seines Buches kommt Christopher D. Land, Assistant Professor für Neues Testament und Linguistik am kanadischen Mc- Master Divinity College (Hamilton, Ontario), auf den auf dem Cover abgebildeten Rubiks Würfel zu sprechen. Mit dem 2. Korintherbrief sei es so wie mit diesem Würfel: Jede Änderung an der einen Stelle nimmt unweigerlich eine Änderung an anderer Stelle vor, die man weder beabsichtigt, noch im Blick hat, und die das Gesamtgefüge manchmal zum Besseren, manchmal zum Schlechteren verändert. Anders freilich als bei jenem berühmten Drehpuzzle gibt es bei einem so komplexen Gebilde wie dem 2Kor keine mechanistische Lösung (280 f.). Um im Bild zu bleiben: Der Autor dreht seinerseits an diesem Würfel auf höchst eigenständige und methodisch bisher wenig erprobte Weise, und er zeigt das textuelle und situative Gesamtgefüge des 2Kor in einer Konstellation, die der Forschung in dem Maße wichtige neue Impulse zu geben verspricht, wie sie ungewöhnlich anmutet. Wie bereits der Titel des Buches verrät, nimmt sich Land der Frage nach der literarischen Integrität des 2Kor an, einer Frage, die nicht nur bis heute kontrovers diskutiert wird, sondern längst zu einer Art Leitfrage für weite Teile der Forschung geworden zu sein scheint, und zwar dergestalt, dass immer neue Methoden ausprobiert werden, von denen man sich hierzu neue Einsichten erhofft. Namentlich die antike Rhetorik hat die neuere Forschung nicht wenig beflügelt, Wesentliches zum Verständnis des 2Kor beigetragen und damit einen neuen Forschungstrend etabliert. 1 Abseits von diesem Trend liegt das von Land gewählte linguistische Verfahren. Er unterzieht den gesamten 2Kor einer linguistischen Analyse nach den Vorgaben der Systemic Functional Linguistics. Von dieser Methode verspricht sich der Autor die Überwindung von Aporien, unter denen s. E. ältere linguistische Ansätze leiden. Auf Darstellung und Kritik dieser Ansätze fokussiert Land folgerichtig das 1. Kapitel (7-47). Hier geht es zunächst um »a survey of language related facts that have been invoked in previous discussions about the composition of 2 Corinthians« (7). Land unterscheidet Arbeiten zur Wortstatistik, die anhand des paulinischen Wortgebrauchs innerhalb des 2Kor seine Einheitlichkeit behaupten oder bestreiten (7-11), sowie, mit demselben Beweisziel, Studien, die »›topics‹, ›themes‹, ›subjects‹, or ›concerns‹« (11) untersuchen (11-20), sodann den viel beschworenen Wechsel im »Ton«, der zu mancherlei literarkritischen Hypothesen Anlass gegeben hat (20-25), und schließlich syntaktische Analysen zu Satzkonjunktionen (25-29), etwa zur literarkritisch stark frequentierten Stelle peri men gar in 9,1. Lands Kritik an den Ergebnissen dieser Untersuchungen, deren Wert er im Einzelnen gar nicht in Abrede stellt, lautet bündig: »[L] anguage-related arguments about the literary integrity of 2 Corinthians remain under-theorized, under-specified and inconclusive« (29). Nämliches gelte, so Land, auch für Beobachtungen zur Situation des 2Kor mit Blick auf die bei der Abfassung leitenden Absichten (»[p] urposes«, 30-36), wie auch im Blick auf die Beziehungsdynamik (»[r]elational [d]ynamics«, 36-44). Auch diese Studien sind nicht angetan, für die einander teilweise diametral widersprechenden Auffassungen der Forschungen zum 2Kor eine methodologisch ausgewiesene gemeinsame Diskussionsgrundlage bereitzustellen. Abhilfe soll hier, wie das methodologische 2. Kapitel (»A Theory of Text and an Analysis of 2 Corinthians«) ausführt (48-81), die Systemische funktionale Linguistik (Systemic Functional Linguistics, SFL) schaffen, die maßgeblich von Stanley E. Porter in die neutestamentliche Forschung eingebracht wurde. 2 Im ersten Teil dieses Kapitels (»Systemic Functional Linguistics and the Notion of Text«) stellt Land die Methode recht ausführlich vor (49- 60), um anschließend (»An Analysis of 2 Corinthians«) ihre Anwendung auf den 2Kor zu skizzieren (60-81). Anders als bei psychologischen und kognitiven Ansätzen geht es der SFL als einer »theory of language-in-use« vorrangig um »naturally occuring texts«, d. h. um den »text as the de facto locus of linguistic meaning«. Dies macht die »SFL very applicable to New Testament studies«. Eine funktionale Theorie ist die SFL insofern, als sie fragt, »how texts themselves function in human cultures« (49). Dabei bildet der Text als »an instance of human culture« diese »culture« bzw. »situation« (50) nicht einfach ab, weshalb »SFL does not define contexts of situation historically«. Ein gegebener Text »does not emerge ›out of‹ an actual context«. Vielmehr gilt: »Context and text are mutually defining« (51). Für das, was in der SFL »culture«, »situation« oder »context« heißt, bedeutet dies: Diese Größe(n) ist (sind) im Text nicht positiv gegeben, entziehen sich mithin dem historisierenden Zugriff, wohl aber sind sie (wie das letzte Kapitel des Buches thesenreich vorführt, s. u.) in einem methodisch kontrollierten linguistischen Lektüreverfahren erschließbar. Auf den 2Kor gemünzt: Jede Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 67 - 3. Korrektur ZNT 38 (19. Jg. 2016) 67 Aussage über den konkreten situativen Hintergrund und Entstehungskontext des Briefes ist jedenfalls nicht ohne dieses Lektüreverfahren zu gewinnen. Und: Im Unterschied zu bisherigen linguistischen Arbeiten zum 2Kor ist der gesamte Text vollflächig Gegenstand der Analyse, nicht nur einzelne Wortfelder oder angeblich beherrschende »Themen«. Also: »SFL provides a way for situational analyses of 2 Corinthians to produce something other than historical reconstructions, and for linguistic analyses of 2 Corinthians to move beyond ad hoc descriptions« (55). Für die literarische Integrität des 2Kor ist der Textbegriff der SFL unmittelbar relevant: »[T]he defining characteristic of a text, according to SFL, is its realization of a single situation« (57). Die Frage lautet dann, wieviel »linguistic variation« innerhalb einer gegebenen »situation« möglich ist. Zwar rechnet die SFL mit der Möglichkeit, dass »an unfolding text has been interrupted in some way or another, perhaps by the intervention of another text« (56), andererseits aber auch mit der Möglichkeit, dass »what at first glance seems to be a ›seam‹ within a document redacted from multiple texts, may, when viewed from a greater distance, turn out to be a predictable transition within the unfolding structure of a single text« (58f.). Der zweite Teil des 2. Kapitels (60-81) ist den linguistischen Parametern gewidmet, die auf den 2Kor angewendet werden, sowie den konkreten Textphänomenen, die mit Hilfe dieser Parameter analysiert werden. Indes kann und muss die Buchbesprechung an dieser Stelle nicht ins Detail gehen und den umfangreichen Begriffsapparat der SFL vorführen, kann es vielmehr dabei belassen, linguistisch näher Interessierte und Kundige auf diesen Buchteil zu verweisen. 3 Die anschließenden Kapitel bieten nämlich nicht die Durchführung einer Analyse des 2Kor auf Grundlage der SFL, sondern ihre Ergebnisse. Dies zeitigt einerseits eine gewisse Unanschaulichkeit im Blick auf den konkreten Vollzug der linguistischen Textanalyse, erlaubt aber auch dem linguistisch wenig Bewanderten, diese Analyse »an ihren Früchten zu erkennen«, und diese Früchte sind, um es vorweg zu nehmen, beachtlich. Die Kapitel 3 bis 7 (82-237) enthalten einen abschnittsweisen Durchgang durch den gesamten 2Kor, mithin eine lineare Lektüre des Briefes unter der Leitfrage, ob der 2Kor als einheitlicher Text im Sinne der SFL gelesen werden kann. Dies wird abschließend bejaht: »In this study, I have inquired whether or not the linguistic meanings that Paul makes in 2 Corinthians give the appearance of comprising a single text. And, after analysing various linguistic features across all of 2 Corinthians, I have answered this question affirmatively. Second Corinthians hangs together as a text because it realizes a well-structured situation wherein Paul and Timothy are enacting church leadership in relation to their converts in Corinth.« (280). Der Ertrag der Studie besteht freilich nicht in erster Linie darin, dass dem 2Kor bescheinigt werden kann, dass er nach Maßgabe der SFL einen literarisch integren Text darstellt oder doch zumindest methodisch verantwortet als ein solcher gelesen werden kann, sondern in den jeweiligen »exegetical implications« (passim), nämlich darin, dass die methodisch kontrollierte lineare Lektüre des gesamten Briefes das Binnengefüge seines Aussagezusammenhangs an nicht wenigen Stellen in einer Weise neu arrangiert, dass die erzielten Ergebnisse der aktuellen Forschung erheblichen weiteren Diskussionsbedarf bescheren. Exemplarisch soll dies an der Stellung des notorisch schwierigen Abschnitts 2Kor 6,14-7,1 gezeigt werden, der in der Forschung regelmäßig ein nicht geringes Befremden auslöst, bis dahin, dass dieser Passus zu einem verirrten Fragment qumranischer Theologie erklärt wurde. Wie schwer es das Stück 2Kor 6,14-7,1 in der Forschung hat, wird etwa daran deutlich, dass es im Artikel »Korintherbriefe« in der 4. Auflage der RGG von Margaret Mitchell nur an einer Stelle vorkommt, nämlich in einer beiläufigen Notiz, die vermerkt, dass es nicht vorkommt. 4 Bei Land ist der Passus dagegen nicht nur integraler Bestandteil des 2Kor, er ist sogar »the core of 6.1-7.2« (242). Wie ist das möglich? Die erste Weichenstellung, die zu dieser Sicht führt, betrifft den berühmten Passus 5,18-21 über die diakonia tēs katallagēs (5,18). Die Anrede in 5,20 mit der Bitte um Versöhnung mit Gott richtet sich nämlich, so Land, nicht, wie vielfach angenommen, an die Korinther (mit der Pointe, dass die Aussöhnung mit Paulus als dem von Gott bestellten Apostel nichts Geringeres impliziert als eine-- man müsste dann sagen: erneute-- Versöhnung mit Gott), sondern an die in V. 19 genannte »Welt« (kosmos). Indem Paulus diese Größe namhaft macht, konstatiert er einen Gegensatz zwischen »uns« und der »Welt«, wobei die Adressaten in die 1. Pers. Pl. inkludiert sind. Das heißt: »[T]he firstvs. third-person contrast in 9.15 […] serves to underscore the distinction that Paul wishes to draw between the church and the world«. Damit versuchen Paulus und der Mitverfasser Timotheus »to draw their readers into the strong missional thrust of 2.14-5.21« (136). Die zweite Weichenstellung erfolgt in 6,1: Die »Mitarbeiter« (synergountes) sind nicht Paulus und Timotheus im Gegenüber zu den Korinthern, sondern die Adressaten werden als Mitarbeiter von Paulus und Timotheus angesprochen. Ab 6,1 geht es nun darum, die Korinther auf diese Position einzuschwören: »Paul and Timothy are exhorting their corinthian partners to conduct themselves in an manner befitting their status as foreign ambassadors in a world opposed to God« (143). In dieser Rolle als Partner der paulinischen Mission werden die Adressaten ermahnt, dass die empfangene Gnade an ihnen nicht vergeblich ist. Versichert das Schriftzitat in 6,2 den Adressaten, dass sie sich als Botschafter Gottes in der Welt der Hilfe Gottes je und je gewiss sein können, ergänzt 6,3- 10 ein »[p]aradigmatic [e]xample« (146) für die Zuverlässigkeit der Hilfe Gottes. Mithin geht es, so die dritte Weichenstellung, nicht um eine apologetische Selbstverteidigung des Paulus gegenüber seinen Adressaten, wie aber nahezu einhellig angenommen wird, sondern Paulus und Timotheus »are setting forth their own experience as an inspirational example of what is possible with divine assistance« (147). In 6,11-13 (147- 154) geht es (in einer vierten Weichenstellung) nicht um »mutual affection« zwischen Paulus und der Gemeinde (so wiederum die Mehrheitsmeinung), sondern um einen Appell, Paulus und Timotheus in ihrer unerschrockenen Verkündigung im Gehorsam gegen- Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 68 - 3. Korrektur 68 ZNT 38 (19. Jg. 2016) Buchreport über Gott, der diesen Gehorsam mit zuverlässiger Hilfe in jedweder Notlage quittiert, nachzuahmen. Verhandelt wird also nicht die Beziehung zwischen Apostel und Gemeinde, sondern diejenige zwischen den Adressaten (als Mitarbeitern der paulinischen Mission) und Gott. Die in 6,13 geforderte autē antimisthia, nach der Züricher Übersetzung die »gleiche Erwiderung«, ist diejenige, die bereits in 6,3-10 exemplifiziert wird, nämlich der Gehorsam im Dienst der Versöhnung, und im Gegenzug die zuverlässige Hilfe Gottes. Um nichts anderes geht es nun aber auch in 6,14- 7,1: Auch hier wird Gehorsam gefordert in der Distanzierung von der Welt und die Nähe Gottes zugesagt. Land führt hierzu aus: »Granting that Paul and Timothy are not defending themselves or appealing for affection in 6.1-13, but rather preparing their readers to undertake a costly obedience of some kind, the transition into 6.14-7.1 becomes much less abrupt and much easier to explain. Indeed, I would go so far as to claim that it requires no real comment at all« (155). Tatsächlich erhält mit dieser neuen Sicht auf den vorlaufenden Co-Text der Passus 6,14-7,1, den weite Teile der 2Kor-Forschung am liebsten totschweigen würden, auf einmal einen Ehrenplatz als »[a]ppeal [p]roper« (155) innerhalb der Kapitel 6 und 7. Das herausgegriffene Beispiel ist mit Blick auf die gegenwärtige Diskussionslage dasjenige mit den weitreichendsten Konsequenzen für das Gesamtverständnis des 2Kor, zugleich jedoch nur eine unter vielen »exegetical implications«, die Lands Arbeit so wichtig und bedeutend machen. Gewiss bedürfen seine Urteile ausnahmslos der näheren Diskussion, so wenig die Monographie das leistet, was nur ein Kommentar leisten kann- - »I wish to underscore that this monograph should not be read as a commentary« (6)-- sie verdienen aber ausnahmslos Aufmerksamkeit, weil sie sich einem linguistischen Analyseverfahren verdanken, das auf den 2Kor bisher noch nicht vollflächig angewendet wurde, und das in einer linearen, abschnittsweisen Lektüre eine formalisierte Textwahrnehmung ermöglicht und damit den Freiraum schafft, von etablierten Sichtweisen und Vorannahmen der aktuellen Forschung (die Land breit rezipiert hat) zunächst einmal abzusehen (»regain a sense of contextual agnosticism«, 238). Dass sich unter diesen Bedingungen die Gewichte derart verschieben können, ist schon erstaunlich. Auf das abschließende Kapitel 8 (»The Text, Situation and Setting of 2 Corinthians«, 238-279) sei hier nur noch in aller Kürze hingewiesen. Land entwirft hier eine Gesamtsicht der korinthischen Situation, die nun auch Überlegungen zu konkreten historischen Sachverhalten anstellt, etwa zum Zwischenbesuch nach dem Gründungsaufenthalt (den es, so Land, nicht gegeben habe), zu dem berühmten »Beleidiger«, für den Land ebenfalls keinen Anhalt am Text findet, oder zur Identität der Gegner. Auch dieses Kapitel setzt in vielen Einzelfragen neue Akzente. Viel stärker als in der neueren Forschung sieht Land den 2Kor »concerned about the purity of the Christian church« (277), weniger dagegen mit der Versöhnung mit der korinthischen Gemeinde. Paulus gehe es vielmehr darum, dass die Gemeinde ihre Probleme selbst löst. Um es zu wiederholen: Das Buch ist wichtig, es lässt aufmerken, und die Forschung zum 2Kor wird einen großen Nutzen daraus ziehen, wenn sie es eingehend zur Kenntnis nimmt und diskutiert. (rez. von Manuel Vogel) Anmerkungen 1 Vgl.-v. a. I. Vegge, 2 Corinthians-- a Letter about Reconciliation: A Psychagogical, Epistolographical and Rhetorical Analysis (WUNT II/ 239), Tübingen 2008. 2 Land nennt als früheste Arbeit aus dem Jahr 1985: S.E. Porter/ N. J. C. Gotteri (Hg.), Ambiguity, Vagueness and the Working Systemic Linguist (Sheffield Working Papers in Language and Linguistics 2), 105-18 (48 Anm. 1). 3 Eine konzentrierte Zusammenfassung des methodischen Vorgehens wird auf S. 82 formuliert: »[T]he linguistic analysis at the heart of the present study seeks to abstract from the meanings of 2 Corinthians some general contextual parameters relating to what is being done, who is/ are taking part and what is being talked about. It does this by observing the progressive moves that advance the discourse and by observing how conjunctive relations are used to relate those moves to one another. It does this by taking careful note of those places where Paul and Timothy discuss either the letter they are writing or the semiotic behaviour enacted in it. lt does this by observing which semantic domains are used. And it does this by means of a cohesive harmony analysis, which observes both how cohesive devices are used to form identity chains as well as how the participants involved in those chains interact with semantic domains« (Kursive im Original). 4 Margaret M. Mitchell, Art. Korintherbriefe, RGG 4, Bd. 4, Tübingen 2001, 1688-1694 unterteilt die Korinthische Korrespondenz einschließlich des 1Kor in insgesamt 6 ursprünglich selbständige Teilbriefe, deren dritter folgenden Text enthält: »2Kor 2,14-7,14 (ohne 6,14-7,1)« (1691).