ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
121
2017
2039-40
Dronsch Strecker Vogelwww.francke.de Dieses Sonderheft der ZNT nimmt sich im Reformationsjahr 2017 aus neutestamentlicher Sicht eines reformatorischen Kernthemas an: Sola Scriptura. In der Fülle der Publikationen zum Reformationsjahr besteht das Besondere dieses Heftes darin, dass es sich konsequent auf die exegetische Perspektive in protestantischer Tradition konzentriert und die Stimmen von 15 evangelischen Neutestamentlerinnen und Neutestamentlern um die Frage versammelt, welche Rolle dem protestantischen Schriftprinzip heute aus exegetischer und theologischer Sicht zukommt. Mit Beiträgen von Stefan Alkier, Eve-Marie Becker, Claire Clivaz, Jan Dochhorn, Kristina Dronsch, Matthias Klinghardt, Matthias Konradt, Karl-Wilhelm Niebuhr, Petr Pokorný, Eckart Reinmuth, Günter Röhser, Gerd Theißen, Manuel Vogel, Peter Wick und Oda Wischmeyer SOLA SCRIPTURA 39/ 40 ZNT Zeitschrift für Neues Testament Heft 39/ 40 · 20. Jahrgang · 2017 ZNT Zeitschrift für Neues Testament Das Neue Testament in Universität, Kirche, Schule und Gesellschaft Stefan Alkier, Eckart Reinmuth, Manuel Vogel (Hrsg.) 39/ 40 SOLA SCRIPTURA Zeitschrift für Neues Testament Heft 39 / 40 20. Jahrgang (2017) Inhalt Editorial � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 3 Stefan Alkier Die Zumutung der Schriftauslegung Sola scriptura als ihr Grund legendes hermeneutisches und methodisches Prinzip � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 7 Eve-Marie Becker Sola scriptura als bibel wissenschaftliches Prinzip � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 25 Claire Clivaz Die Bibel im digitalen Zeitalter Multimodale Schriften in Gemeinschaften � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 35 Jan Dochhorn Die Kirche und das Alte Testament Ein Debattenbeitrag mit Fokus auf dem Corpus Paulinum � � � � � � � � � � � � 59 Kristina Dronsch Vom bedeutungsgenerierenden Grund des reformatorischen Schriftprinzips nicht nur für die neutestamentliche Wissenschaft � � � � � � 77 Matthias Klinghardt Die Schrift und die hellen Gründe der textkritischen Vernunft Zur Textgeschichte der neutestamentlichen Handschriftenüberlieferung � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 87 Matthias Konradt Die historisch-kritische Exegese und das reformatorische Schriftprinzip Eine Reflexion über die Bedeutung der Exegese des Neuen Testaments in der Theologie � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 105 2 Inhalt Karl-Wilhelm Niebuhr Sola Scriptura und Communio Sanctorum Zum Verhältnis von Schriftgemäßheit und Kirchengemeinschaft � � � � � � 127 Petr Pokorný Die biblische Vorgeschichte des Schriftprinzips � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 143 Eckart Reinmuth Sola scriptura Eine neutestamentliche Anmerkung � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 159 Günter Röhser Kanonische Schriftauslegung und sola scriptura heute � � � � � � � � � � � � � � � 173 Gerd Theißen Sola Scriptura - Grundlage für Konsens und Individualisierung des Glaubens? � � � � � � � � 195 Peter Wick Vom „sola scriptura“-Prinzip zu einem „Prä“ der Heiligen Schrift � � � � � 213 Oda Wischmeyer Sola scriptura , claritas scripturae und sacra scriptura sui ipsius interpres Kritische Überlegungen aus exegetischer und hermeneutischer Sicht � � 229 Stefan Alkier, Eckart Reinmuth, Manuel Vogel Epilog Theologische, kulturelle, ästhetische und politische Perspektiven im Zeichen des reformatorischen sola scriptura heute: Drei Beispiele � � � � � 243 Zeitschrift für Neues Testament Heft 39 / 40 20. Jahrgang (2017) Editorial Liebe Leserin, lieber Leser, mit dem vorliegenden Heft halten Sie die ZNT in einem neuen Layout in Händen, ebenso in einem neuen Format und mit einem anderen Schriftbild� Erstmals seit Bestehen der Zeitschrift haben wir außerdem zwei Hefte zu einem einzigen verbunden: Die Hefte 39 und 40 des aktuellen Jahrgangs erscheinen als Doppelheft� In das Reformationsjahr 2017, das auf 500 Jahre Reformation zurückblickt, fällt auch das zwanzigjährige Bestehen der ZNT� Zu jenem großen Jubiläum gesellt sich also unser kleines, und wir führen beides zu einem Doppelheft zusammen, das sich aus neutestamentlicher Sicht eines reformatorischen Kernthemas annimmt: Sola scriptura � In der Fülle der Publikationen zum Reformationsjahr besteht das Besondere dieses Heftes darin, dass es sich konsequent auf die exegetische Perspektive in protestantischer Tradition konzentriert und die Stimmen von fünfzehn evangelischen Neutestamentlerinnen und Neutestamentlern (unter Absehung von den in der ZNT üblichen Rubriken) um die Frage versammelt, welche Rolle dem protestantischen Schriftprinzip heute aus exegetischer und theologischer Sicht zukommt� Mit Blick auf den historischen Entstehungskontext kann die Frage nach dem sola scriptura folgendermaßen beantwortet werden: Sola scriptura ist die epistemologische Antwort der Reformation des 16� Jahrhunderts auf die Frage, wo unter den Bedingungen menschlicher Kommunikation das Wort Gottes „am gewissesten, am leichtesten zugänglich, am klarsten“ (Martin Luther, Assertio omnium articulorum , Vorrede) gesucht werden kann� Sola scriptura verweist dann als hermeneutisches Konzept nicht nur auf den Primat der Heiligen Schrift, sondern zugleich auf die unhintergehbare Notwendigkeit und ebenso auf die Möglichkeit der Auslegung der Heiligen Schrift durch jeden wohlwollenden Rezipienten mit dem „Geist der Urteilsfähigkeit und Leidenschaft“ (Luther, Assertio , Vorrede)� Sola scriptura steht für die Zumutung und die Unhintergehbar- 4 Editorial keit der Interpretation und damit zugleich für die Unverfügbarkeit des Wortes Gottes� Sola scriptura verlegt den Ort der Wahrheitsfrage von der Institution in den existenziellen Lebensvollzug� Aber welche Rolle spielt diese grundlegende epistemologische, hermeneutische und institutionenkritische reformatorische Schrifttheorie faktisch heute in der protestantischen Exegese? Hat die Etablierung historisch-kritischer Exegese die mit dem Schlagwort sola scriptura verbundenen Grundüberzeugungen nicht längst ausgehöhlt? Und welche Konsequenzen wären daraus zu ziehen: Sollte das mit sola scriptura angezeigte Schriftkonzept mit dem 500jährigen Reformationsjubiläum eine Bestattung erster Klasse erhalten, oder können die grundstürzenden Einsichten der reformatorischen Schrifttheorie in transformierter Weise zu einer Erneuerung der Schriftauslegung in Universität, Kirche, Schule und Gesellschaft führen und damit auch endlich wieder die performativen und politischen Dimensionen der Schriftauslegung in angemessener Weise zur Geltung bringen? Die in diesem Heft versammelten Beiträge nähern sich der gestellten Frage aus unterschiedlichen Richtungen und mit je eigenen thematischen Schwerpunkten an� Im Ergebnis liegt ein facettenreiches Bild vor, in welcher Weise evangelische Exegese sich heute auf das reformatorische sola scriptura bezieht� In eigener Sache ist zu vermelden, dass es auch im 20� Jahr des Bestehens der ZNT personelle Veränderungen gibt� Aus dem Kreis der Hauptherausgeber werden Prof� Dr� Stefan Alkier (Frankfurt) und Prof� Dr� Eckart Reinmuth (Rostock) mit Erscheinen des aktuellen Heftes ausscheiden� Stefan Alkier ist nicht nur Gründungsmitglied der ZNT, sondern er war auch zwanzig Jahre lang kontinuierlich einer der Hauptherausgeber, über viele Jahre von Frankfurt aus außerdem in redaktioneller Hauptverantwortung� Er hat die ZNT von Anfang an maßgeblich geprägt� Ihm sei an dieser Stelle für sein unermüdliches Engagement besonders herzlich gedankt, nicht zuletzt auch dafür, dass er der ZNT als Mitglied des erweiterten Kreises erhalten bleibt� Ganz ausscheiden wird Eckart Reinmuth im Zuge seiner Emeritierung� Er gehörte seit Heft 18 (2006) dem erweiterten Kreis an und war seit Heft 26 (2010) einer der drei Hauptherausgeber� Auch ihm und seinem stets kritischen und ruhelosen Fragen, wie denn das Neue Testament in Universität, Kirche, Schule und Gesellschaft zur Sprache zu bringen sei, verdankt die ZNT viel, und auch ihm ist besonderer Dank zu sagen� An beider Stelle treten Dr� Kristina Dronsch (Berlin) und Prof� Dr� Christian Strecker (Neuendettelsau)� Kristina Dronsch ist mit Heft 16 (2005) zur ZNT gestoßen und war von Heft 18 (2006) bis Heft 25 (2010) bereits Hauptherausgeberin� Christian Strecker gehört seit Heft 27 (2011) zum erweiterten Kreis� Beiden sei sehr gedankt für ihre Bereitschaft, nun als Hauptherausgebende für die ZNT Verantwortung zu übernehmen� Prof� Dr� Manuel Vogel ( Jena) wird Editorial 5 weiterhin Hauptherausgeber sein und auch weiterhin für den Redaktionssitz zur Verfügung stehen� Im erweiterten Kreis begrüßen wir herzlich Dr� Susanne Luther (Mainz), Prof� Dr� Werner Kahl (Hamburg), Prof� Dr� David Moffitt (St� Andrews) und Prof� Dr� Michael Sommer (Halle)� Wir danken den Genannten für ihre Bereitschaft, bei der ZNT mitzuwirken und freuen uns auf die Zusammenarbeit und die neuen Perspektiven und Ideen, die die ZNT und ihre Leserinnen und Leser von den neu Hinzugekommenen erwarten dürfen� Ein herzlicher Dank gilt zuletzt Dr� Marion Hauck, die mit Erscheinen dieses Heftes aus dem Redaktionsteam der ZNT ausscheidet� Sie hat drei Jahre lang die ZNT äußerst kompetent, zuverlässig, gewissenhaft und eigenständig betreut� Wir danken ihr für ihr Engagement und wünschen ihr für ihren weiteren Weg alles Gute� Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, wünschen wir nun eine anregende und ertragreiche Lektüre� Stefan Alkier Eckart Reinmuth Manuel Vogel Zeitschrift für Neues Testament Heft 39 / 40 20. Jahrgang (2017) Die Zumutung der Schriftauslegung Sola scriptura als ihr Grund legendes hermeneutisches und methodisches Prinzip Stefan Alkier 1. Zur Krise des Schriftprinzips und der Krise historisch-kritischer Hermeneutik Wenn sola scriptura als Schlagwort des reformatorischen Schriftprinzips biblizistisch oder dogmatisch eng geführt wird, hat es als Thema einer neutestamentlichen Zeitschrift, die der theologischen Aufklärung und Praxis der Gegenwart dienen möchte, nur wenig Plausibilität� Tatsächlich werden bereits seit Johann Salomo Semlers epochaler programmatischer Schriftenreihe, „Von Freier Untersuchung des Canon“ (Halle 1771-1775), immer wieder Stimmen protestantischer Theologen laut, die das reformatorische Schriftprinzip eher als unbrauchbar gewordenes Korsett einer vorurteilsfreien wissenschaftlichen Exegese ablehnen bzw� ignorieren� Was Walter Mostert dann aber 1979 für die Schriftauslegung Luthers konstatierte, lässt sich heute für das reformatorische Schriftprinzip sola scriptura wohl insgesamt feststellen: „Die Schriftauslegung Luthers spielt in der modernen Exegese keine wesentliche Rolle�“ 1 Schon 1964 hatte Gerhard Ebeling mit Blick auf das Konzept sola scriptura festgestellt: „Obwohl es die reformatorische Antwort ist, steht sie heute doch auf evangelischer Seite in Frage�“ 2 1 W� Mostert, Scriptura sacra sui ipsius interpres� Bemerkungen zu Luthers Verständnis der Heiligen Schrift, in: W. Mostert, Glaube und Hermeneutik, Tübingen 1998, 9-41, hier: 9. 2 G� Ebeling, „Sola scriptura“ und das Problem der Tradition, in: ders�, Wort Gottes und Tradition� Studien zu einer Hermeneutik der Konfessionen, Kirche und Konfession 7, Göttingen 1964, 91-143, hier: 91. 8 Stefan Alkier Friedemann Stengel zieht neuerdings sogar in Zweifel, ob das so genannte reformatorische Schriftprinzip überhaupt auf die Reformatoren des 16� Jahrhunderts zurückgeht, oder nicht vielmehr eine dogmatische Erfindung sei als „vielleicht des zentralen Wesensmerkmals des Protestantismus im 19� Jahrhundert�“ 3 Wenn wir Herausgeber der Zeitschrift für Neues Testament mit dem vorliegenden Heft aber genau die Frage zum Thema erheben, welche Relevanz heutige Neutestamentlerinnen und Neutestamentler einem Konzept wie sola scriptura in ihrer wissenschaftlichen Arbeit zukommen lassen, dann verweist dies weniger auf eine gemeinsame theologiegeschichtliche, methodische oder theologische Position der Herausgeber, als vielmehr auf deren gemeinsamer hermeneutischer Überzeugung, dass die Reflexion darauf, was sola scriptura heute heißen kann, von erheblicher Bedeutung für die hermeneutische und theologische Selbstverständigung und Selbstaufklärung gegenwärtiger Exegese im Allgemeinen und Evangelischer Theologie im Besonderen ist� Wenn sola scriptura keine hermeneutische Grundorientierung evangelischer Schriftauslegung anzeigt, gibt es dann überhaupt so etwas wie eine Leitperspektive protestantischer Exegese, die sich wie die Reformatoren des 16� Jahrhunderts bei allen Differenzen und strittigen Fragen unter einer hermeneutischen Perspektive auf die Bibel als alleinigen normativen und Grenzen der Auslegung setzenden Bezugsgrund theologischer Interpretationen versammeln konnten? Hat sich die Mehrheit protestantischer Exegetinnen und Exegeten nicht längst von der theologischen Motivation der Reformation des 16� Jahrhunderts verabschiedet und sich weitgehend in literatur-, religions- und sozialgeschichtlichen Diskursen eine konfessionslose Heimat oder gar eine theologiefreie Zone gesucht? Kann man den selbstkritischen Optimismus heute wirklich noch teilen, den Ebeling im schon oben zitierten Aufsatz so formulierte: „Was die Vielgestaltigkeit des Protestantismus als Gemeinsames verbindet, ist, sofern man von der geschichtlichen Herkunft und der Antithetik gegen Rom als gestaltenden Faktoren einmal absieht, weniger ein bestimmter dogmatischer Lehrgehalt als das im Prinzip durchweg festgehaltene, wenn auch sehr verschieden verstandene und gehandhabte, auf den Zusammenhang mit der reformatorischen Grunderkenntnis meist nicht recht bedachte, aber doch bestimmte sachliche Konsequenzen für das Verständnis des Glaubens in sich schließende sola scriptura. “ 4 Gilt dieses „Gemeinsame“ für die gegenwärtige protestantische Schriftauslegung in Universitäten, Kirchen und Schulen der deutschsprachigen Länder? Und sind 3 F� Stengel, Sola Scriptura im Kontext� Behauptung und Bestreitung des reformatorischen Schriftprinzips (THLZ�F 32), Leipzig 2016, 26� 4 Ebeling, a� a� O�, 137� Die Zumutung der Schriftauslegung 9 international gesehen z� B� diejenigen us-amerikanischen protestantischen Kirchen, die Donald Trump maßgeblich zur politischen Macht verholfen haben und ihn in ihrer großen Mehrheit auch nach seiner Wahl immer noch unterstützen, nicht gerade einflussreiche Gestalten des Protestantismus ohne kritisches Schriftprinzip? Eine der mit diesem Jubiläumsheft gestellte Frage lautet also: Gibt es im Jahr des 500jährigen Reformationsjubiläums so etwas wie eine kollektive Identität protestantischer Schriftauslegung? Und wenn diese Frage - wie mir scheint - in der Gegenwart zu verneinen ist, sollte grundsätzlicher gefragt werden: Gibt es überhaupt eine protestantische Schriftauslegung bzw� sollte es eine protestantische Schriftauslegung geben? Wenn es aber keine protestantische Schriftauslegung gibt und wenn es darüber hinaus auch keine geben sollte - was freilich nicht meine Position ist -, dann hätte das erhebliche Konsequenzen für das Selbstverständnis, die Konzeption und den Sachgrund für den Bestand evangelisch-theologischer universitärer Einrichtungen 5 und auch für die Frage nach einem konfessionellen evangelischen Religionsunterricht� Ebelings Konstatierung kollektiver Identität protestantischer Schriftauslegung, die sich der Geltung des reformatorischen Schriftprinzips verdanke, trifft jedenfalls schon kaum noch für Johann Salomo Semler zu, der den Kanon für einen machtpolitisch begründeten Irrtum des zur römischen Staatsreligion gewordenen Christentums hielt� 6 In Abgrenzung zu den verschiedenen Spiel- 5 Vgl� St� Alkier / H�-G� Heimbrock, (Hg�), Evangelische Theologie an Staatlichen Universitäten: Konzepte und Konstellationen Evangelischer Theologie und Religionsforschung, Göttingen 2010� 6 Vgl� St� Alkier, Urchristentum� Zur Geschichte und Theologie einer exegetischen Disziplin (BHTh 83), Tübingen 1993, 44� Vgl� auch ders�, Unerhörte Stimmen - Bachtins Konzept der Dialogizität als Interpretationsmodell biblischer Polyphonie, in: M� Köhlmoos / M� Wriedt Prof. Dr. Stefan Alkier ist seit 2001 Professor für Neues Testament und Geschichte der Alten Kirche am Fachbereich Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt / Main� 2009 erschien im Francke-Verlag als NET 12 seine Monographie: Die Realität der Auferweckung in, mit und nach den Schriften des Neuen Testaments� 2010 erschien wieder im Francke Verlag sein Lehrbuch: Neues Testament, UTB Basics� Er ist seit Heft 1 der ZNT einer ihrer drei geschäftsführenden Herausgeber� Seit 2008 gibt er zudem den neutestamentlichen Teil des bibelwissenschaftlichen Internetlexikons www� wibilex�de heraus� 10 Stefan Alkier arten der Inspirationslehren urteilte Semler: „Es war eine unnütze Demonstration, dass man alle Bücher, der ganzen Bibel, und des Neuen Testaments, in ein homogenes Ganze verwandelte; und den daseienden localen Unterschied also wieder wegschmelzte�“ 7 Auch die am Paradigma der Geistesgeschichte orientierte historische Kritik des bedeutendsten Neutestamentlers und Kirchenhistorikers des 19� Jahrhunderts, Ferdinand Christian Baur, die er zwischen 1830 und 1860 ausarbeitete, wird man kaum einem Konzept von sola scriptura zuordnen können� 8 Baur hatte nicht als Erster den Kanon destruiert� Er sah wie alle anderen kritischen Theologen nach Semler dessen historisch-analytische Ergebnisse prinzipiell als unstrittig an, war aber mit der bloßen Konstatierung der radikalen Diversität christlicher Optionen, wie sie Semler vorschwebte, gerade nicht einverstanden� Baur ersetzte den von Semler destruierten Zusammenhang des Kanons durch einen dialektisch konstruierten Zusammenhang der Geschichte des Christentums von seinen Anfängen bis zur Gegenwart� 9 Bei aller Kritik an Baur wurde dessen entwicklungsgeschichtlicher Ansatz bis heute zum leitenden Paradigma historisch-kritischer Exegese, freilich mit anderen oder überwiegend sogar mit keinerlei ausgewiesenen geschichtsphilosophischen Begründungen, die dann implizit aber umso wirksamer sind� 10 Die Ablehnung der Geltung des Kanons wurde geradezu zum Markenzeichen historisch-kritischer Exegese, wie es mit protestantischem Pathos 1897 William Wrede formulierte: „Wer also den Begriff des Kanons als feststehend betrachtet, unterwirft sich damit der Autorität der Bischöfe und Theologen jener Jahrhunderte� Wer diese Autorität in anderen (Hg�), Wahrheit und Positionalität, Kleine Schriften des Fachbereichs Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main 3, Leipzig 2012, 45-70. 7 J� S� Semler, Lebensbeschreibung von ihm selbst abgefaßt I, Halle 1781, 282� 8 Vgl� D� Lincicum, Ferdinand Christian Baur and the Theological Task of New Testament Introduction, in: M� Bauspiess / Chr� Landmesser / D� Lincicum (Hg�), Ferdinand Christian Baur und die Geschichte des frühen Christentums (WUNT 333), Tübingen 2014, 91-105. 9 Diese Zusammenhänge habe ich ausführlich dargestellt in meiner Dissertation: S� Alkier, Urchristentum, a� a� O� Zum kaum zu überschätzenden Einfluß Semlers auf die Geschichte der historisch-kritischen Exegese vgl� schon J� G� Eichhorn, ’Johann Salomo Semler’, in: Allgemeine Bibliothek der biblischen Litteratur, 5. Vol. 1. Stück, Leipzig 1793, 1-183; vgl. auch M� Schröter, Aufklärung durch Historisierung� Johann Salomo Semlers Hermeneutik des Christentums, Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 44, Berlin / Boston 2012� 10 Vgl� zur Problematik der geschichtsphilosophischen Implikationen neutestamentlicher Wissenschaft E� Reinmuth, Neutestamentliche Historik, Probleme und Perspektiven (THLZ�F 8), Leipzig 2003; Chr� Strecker, Das Gewesene, das Fremde und die Exegese� Die jüngeren Grundlagendebatten in Geschichtswissenschaft und Kulturanthropologie und ihre Bedeutung für die biblische Wissenschaft, in: Kontexte der Schrift II� Kultur, Politik, Religion, Sprache - Text, W� Stegemann zum 60� Geburtstag, hg� v� Christian Strecker, Stuttgart 2005, 120-131. Die Zumutung der Schriftauslegung 11 Dingen nicht anerkennt - und kein evangelischer Theologe erkennt sie an -, handelt folgerichtig, wenn er sie auch hier in Frage stellt�“ 11 So wird man wohl eher schon Wolfhart Pannenbergs Analyse der Situation zustimmen müssen, die er 1962 wie folgt formulierte: „Die Auflösung der Lehre von der Schrift bildet die Grundlagenkrise der modernen evangelischen Theologie�“ 12 Umstritten hingegen bleibt aber die von ihm formulierte Alternative: „Die ‚Sache’ der Schrift, die Luther im Sinne hatte, nämlich Person und Geschichte Jesu, ist für unser historisches Bewußtsein nicht mehr in den Texten selbst zu finden, sondern muß hinter ihnen erschlossen werden� Dadurch ist für die Theologie die Frage entstanden, was nun eigentlich als theologisch maßgeblich zu gelten hat, die biblischen Texte oder die hinter ihnen zu erschließende Geschichte� Das ist in der evangelischen Theologie bekanntlich heute noch und wieder umstritten�“ 13 Zu hinterfragen ist aber das Verständnis von sola scriptura , das deren Kritiker wie Pannenberg als „Schriftpositivismus“ 14 gründlich missverstehen und wie etwa dessen Schüler Falk Wagner 15 als unvereinbar mit „der“ Aufklärung und Jörg Lauster 16 als unvereinbar mit „dem“ modernen historischen Denken verabschieden wollen� Dass die Ersetzung des Schriftprinzips durch systematischtheologische Ideen dramatische Konsequenzen mit sich bringt, wird schon deutlich an der Verabschiedung des Alten Testaments als unverzichtbarer Be- 11 W� Wrede, Über Aufgabe und Methode der sogenannten Neutestamentlichen Theologie (1897), in: G� Strecker (Hg�), Das Problem der Theologie des Neuen Testaments (WdF 367), Darmstadt 1975, 81-154, hier: 85. 12 W� Pannenberg, Die Krise des Schriftprinzips, in: ders�, Grundfragen systematischer Theologie� Gesammelte Aufsätze, Göttingen 3 1979, 11-21, hier: 13. Vgl. die wegweisende Kritik an solcher Diastase von E� Güttgemanns, „Text“ und „Geschichte“ als Grundkategorien der Generativen Poetik� Thesen zur aktuellen Diskussion um die „Wirklichkeit“ der Auferstehungstexte, LingBib 11 (1972), 1-12. 13 Pannenberg, a� a� O�, 15 f� 14 Pannenberg, a� a� O�, 12� Vgl� zur Kritik an Pannenberg und Wagner, Chr� Schwöbel, Sola Scriptura - Schriftprinzip und Schriftgebrauch, in: U�Heckel u� a� (Hg�), Luther heute� Ausstrahlungen der Wittenberger Reformation, Tübingen 2017, 1-27, insbes. 20 f. 15 Vgl� F� Wagner, Auch der Teufel zitiert die Bibel� Das Christentum zwischen Autoritätsanspruch und Krise des Schriftprinzips, in: R� Ziegert (Hg�), Die Zukunft des Schriftprinzips (Bibel im Gespräch 2), 1994, 236-258. 16 Vgl� J� Lauster, Prinzip und Methode� Die Transformation des protestantischen Schriftprinzips durch die historische Kritik von Schleiermacher bis zur Gegenwart, Tübingen 2004� 12 Stefan Alkier standteil der Bibel von der spätantiken Gnosis bis zur frühromantischen Gnosis Friedrich Schleiermachers 17 und zur „aufgeklärten“ Gnosis Falk Wagners� 18 Mittlerweile ist aber der Universalitätsanspruch historisch-kritischer Hermeneutik und Methodik selbst fraglich geworden angesichts der komplexen Fragestellungen und Perspektiven, die der linguistic turn in diversen Neuansätzen, Umformungen und Weiterbildungen exegetischer Theoriebildung und Methodik hervorbrachte, 19 so dass die gegenwärtige exegetische Situation eher noch unübersichtlicher geworden ist als zu Pannenbergs Zeiten� Lieb gewordene Gewissheiten historisch-kritischer Exegese sind brüchig geworden� Längst hat die Zwei-Quellen-Hypothese - das Flaggschiff deutscher historischer Kritik des ausgehenden 19� Jahrhunderts - ihren Nimbus als einzig evidente Theorie der literaturgeschichtlichen Erklärung der Abhängigkeitsverhältnisse der synoptischen Evangelien verloren, 20 wird die Existenz einer Quelle „Q“ immer fraglicher, und von einem Konsens in der Rekonstruktion einer Geschichte des Frühen Christentums kann insgesamt nicht mehr die Rede sein� 21 In der alttestamentlichen Wissenschaft hat man nicht nur längst den „Abschied vom 17 Vgl� St� Alkier, Das Neue Testament im Kreis der theologischen Fächer� Neutestamentliche Wissenschaft als Beitrag zur Erschließung eines evangelischen Wirklichkeitsverständnisses, in: M� Buntfuß / M� Fritz (Hg�), Fremde unter einem Dach? Die theologischen Fächerkulturen in enzyklopädischer Perspektive (TBT 163), Berlin / Boston 2014, 43-67, insbes. 54-57. 18 Vgl� zur Kritik an Falk Wagners geistesgeschichtlich simplizistischem Verständnis der Aufklärung F� Stengel, Sola Scriptura im Kontext� Behauptung und Bestreitung des reformatorischen Schriftprinzips (THLZ�F 32), Leipzig 2016, 14 f� 19 Vgl� z� B� E� Güttgemanns, Fragmenta semiotico-hermeneutica� Eine Texthermeneutik für den Umgang mit der Hl� Schrift, Bonn 1983; The Bible and Culture Collective, The Postmodern Bible, Yale UP 1995; dazu meine Rezension in: ZNT 3 (1999), 63-66; St. Alkier / R� Brucker (Hg�), Exegese und Methodendiskussion (TANZ 23), Tübingen [u� a�] 1998; St�D� Moore, F� F� Segovia, Postcolonial Biblical Criticism� Interdisciplinary Intersections, London / New York 2005; Chr� Strecker (Hg�), Kontexte der Schrift II: Kultur, Politik, Religion, Sprache - Text� Wolfgang Stegemann zum 60� Geburtstag, Stuttgart 2005� 20 Vgl� dazu D� Laird Dungan, A History of the Synoptic Problem� The Canon, the Text, the Composition and the Interpreting of the Gospels, New Haven / London 2009; F� Watson, Gospel Writing� A Canonical Perspective, Grand Rapids, Michigan / Cambridge U� K� 2013; M� Müller / H� Omerzu, Gospel Interpretation and the Q-Hypothesis, 2017 (im Druck)� 21 Vgl� u� a� die Kontroverse zwischen J� D� G� Dunn und T� Nicklas, Parting(s) of the ways? ZNT 37, Themenheft Perspektiven des Jüdischen (2016), 47-57. Vgl. auch St. Alkier / H. Leppin (Hg�), Religiöse Inklusion und Exklusion im römischen Kleinasien (WUNT), Tübingen 2017 (im Druck)� Dieser Band stellt die Frage, ob man überhaupt von einem „Christentum“ im 1� Jh� n� Chr� sprechen kann und ob nicht schon die Trias von Juden, Christen und Heiden eine christliche Positionierung in die Texte und Artefakte des 1� Jh� n� Chr� hineinprojiziert, die der Vielfalt religiöser Kombinatorik, wie sie in den überlieferten Texten zu finden ist, gerade nicht gerecht wird� Die Zumutung der Schriftauslegung 13 Jahwisten“ 22 verkündet, sondern zeigt sich in den historischen Verortungen der alttestamentlichen Schriften so uneins wie lange nicht mehr, so dass die Fixierung auf die so umstrittene Literaturgeschichte zu einem erheblichen theologischen Relevanzverlust der alttestamentlichen Wissenschaft geführt hat� Der Eindruck steht im Raum, dass der alttestamentliche Diskurs leidenschaftlicher über die je eigenen hypothetischen Datierungen als über den Inhalt der alttestamentlichen Texte debattiert� Man muss heute nicht nur von einer „Krise des Schriftprinzips“, sondern ebenso von einer „Krise historisch-kritischer Exegese“ sprechen� Aber nicht nur das Zerbrechen ehemaliger Gewissheiten und die Disparatheit der Diskurse, sondern mehr noch die folgenreiche internationale Pluralisierung bibelwissenschaftlicher Ansätze erzeugt den Eindruck einer Beliebigkeit der Methoden, Ansätze und Interpretationen, die einhergeht mit einem erstaunlich weit verbreiteten theologischen Desinteresse und der damit einhergehenden Ausblendung normativer Probleme auch in der exegetischen Arbeit an Evangelischtheologischen Fakultäten und anderen Evangelisch-theologischen Institutionen� Kann die kritische Rückbesinnung auf das reformatorische Schriftprinzip in der gegenwärtigen pluralistischen Situation neue Impulse für die exegetische Arbeit setzen, die der Diastase zwischen universitärer Unverbindlichkeit im Zeichen eines beliebigen Methodenpluralismus und verbindlicher gottesdienstlicher Verkündigung der Heiligen Schrift als Wort Gottes entgegenwirken kann? Wenn sola scriptura als hermeneutisches und methodisches Konzept zu begreifen ist und nicht als dogmatische Gängelung der Freiheit von Forschung und Lehre, müsste zumindest geklärt werden, worauf dieses Konzept zielt und wo seine Stärken und Schwächen liegen� Ist es unter den Bedingungen gegenwärtiger wissenschaftlicher Standards reformulierbar mit dem Potential, die immer noch - aber auch hierzulande bröckelnde - vorherrschende historistische Engführung der Bibelwissenschaften zu überwinden, die die Bibel doch eher zu einem hübschen Museumsstück erklärt und damit domestiziert� Kann die Bibel auf neue Weise wissenschaftlich reflektiert als Quell von Wahrheit mit Zukunftsperspektiven begriffen werden, dessen widerständiges Denken zum Grund-legenden Umdenken ( metanoia ! ) führt, und gerät damit ihre kritische, prophetische Dimension endlich wieder in den Blick? Hält nicht gerade das sola die Notwendigkeit der normativen Frage wach, wie die Schrift gewordene Überlieferung als lebendiges Wort Gottes in der Verkündigung der Kirche und darüber hinaus wirken kann? Könnte die Orientierung am sola scriptura nicht 22 J� Christian Gertz / K� Schmid / M� Witte (Hg�), Abschied vom Jahwisten� Die Komposition des Hexateuch in der jüngsten Diskussion (BZAW 315), Tübingen 2002� 14 Stefan Alkier doch so etwas wie eine kollektive Identität evangelischer 23 Schriftauslegung zumindest vorstellbar machen, wenn auch lediglich als aspirierte Identität? 24 Das alles sind offene Fragen, die keine leichtfertig dahingeworfenen Antworten vertragen� Man wird sich mit den Texten der Reformatoren wieder - bzw� endlich - selbst auseinandersetzen müssen, aber auch mit den hermeneutischen, methodologischen und kanontheologischen Entwürfen und Wissensbeständen vor der Reformation bis zurück in die entstehende alte Kirche und damit bis hinein in die Schriften des Neuen Testaments selbst� 25 Wenn wir sola scriptura zum Thema des ersten Doppelbandes in der nun zwanzigjährigen Geschichte der Zeitschrift für Neues Testament erklären, möchten wir damit anzeigen, dass die Rückbesinnung der exegetischen Arbeit an theologischen Einrichtungen auf die Fragehorizonte und Probleme, die das Konzept sola scriptura in den Blick genommen hat, nicht nur von rezeptionsgeschichtlicher Bedeutung ist und auch über die - notwendige - Verständigung über eine strittige kollektive Identität protestantischer Exegese weit hinausgeht� Sie ist vielmehr von dauerhafter Relevanz für die Theologie der Heiligen Schrift und ihrer Schriften und die damit verbundenen normativen, hermeneutischen, methodologischen und historischen Probleme über die konfessionellen Prägungen hinaus� Aber worum geht es bei diesem protestantischen Schlagwort? Meine These lautet: Sola Scriptura verweist bei Martin Luther nicht nur auf den Primat der Heiligen Schrift, sondern auf die unhintergehbare Notwendigkeit und ebenso auf die Möglichkeit der Auslegung der Heiligen Schrift durch jeden wohlwollenden Rezipienten� Sola Scriptura steht für die Zumutung und die Unhintergehbarkeit der Interpretation und zugleich für die Unverfügbarkeit des Wortes Gottes � 2. Sola Scriptura-- hermeneutische, methodologische und theologische Skizzen Im Folgenden möchte ich zumindest mit einigen Skizzen konkretisieren, worin ich die zukunftsweisende Relevanz von sola scriptura sehe mit Blick auf eine 23 Vgl� dazu St� Alkier, Evangelisch - Katholisch - Orthodox� Evangelische Theologie aus neutestamentlicher Perspektive, in: H� Schulz (Hg�), Evangelische Theologie� Eine Selbstverständigung in enzyklopädischer Absicht, Kleine Schriften des Fachbereichs Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main 7, Leipzig 2016, 54-75. 24 Vgl� dazu St� Alkier, Identitätsbildung im Medium der Schrift, in: Marianne Grohmann (Hg�), Identität und Schrift� Fortschreibungsprozesse als Mittel religiöser Identitätsbildung (BThST 169), Göttingen 2017, 105-161. 25 Vgl� M� Öhler / F� Wilk (Hg�), Paulinische Schriftrezeption� Grundlagen - Ausprägungen - Wirkungen - Wertungen (FRLANT 268), Göttingen 2017� Die Zumutung der Schriftauslegung 15 gleichermaßen hermeneutisch, methodologisch und theologisch reflektierte Schriftauslegung in universitären, schulischen, kirchlichen und gesellschaftlichen Kontexten� 2.1. Sola Scriptura und der kirchenrechtliche Primat der Heiligen Schrift Aufbauend auf die nach wie vor unverzichtbare Arbeit von Friedich Kropatschek 26 zur Vorgeschichte des reformatorischen Schriftprinzips hat Hermann Schüssler in einer detaillierten Studie das Konzept von sola scriptura in die Diskussionen um den Primat der Heiligen Schrift im Spätmittelalter 27 eingezeichnet� Er konnte zeigen, dass diese kontrovers geführte Debatte maßgeblich in den kirchenrechtlichen Diskursen verortet war, die die Verhältnisse der Autoritäten insbesondere von Heiliger Schrift, Tradition und kirchlichem Lehramt zu klären versuchten, wenn diese Autoritäten nicht übereinstimmten� Volker Leppin hat jüngst auf dieser Basis nochmals ins Bewusstsein gerufen, dass Luthers Schrift assertio omnium articulorum von 1520, in der die Wortzusammenstellung sola scriptura von Martin Luther wohl erstmals konzeptionell verwendet wird, 28 doch auch als Reaktion auf die Bannandrohungsbulle zu begreifen ist - was ja schon der vollständige Titel 29 der assertio anzeigt -, weil sie im Kontext eines Rechtsstreits abgefasst wurde� 30 Zweifellos sind diese rechtsgeschichtlichen Zusammenhänge von großer Bedeutung, wenn man die protestantische Schriftlehre in ihrer historischen 26 F� Kropatscheck, Das Schriftprinzip der lutherischen Kirche I� Die Vorgeschichte� Das Erbe des Mittelalters, 1904� 27 H� Schüssler, Der Primat der Heiligen Schrift als Theologisches und kanonistisches Problem im Spätmittelalter, Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz 86, Wiesbaden 1977� 28 „Sola Scriptura“ ist keine Begriffsbildung Luthers, wie folgendes Zitat von Johannes von Staupitz in den Tübinger Predigten, Sermo 31, Z� 141 zeigt: „Facies […] domini, id est aspectus divinitatis, in praesenti ambulantibus adhuc in spe et fide in sola scriptura sacra ostenditur“� Luther bezog sich nach eigenen Ausführungen aber nicht auf Staupitz sondern in der Sache auf Jodocus Trutfetter, vgl WA� B 1,Nr� 74� Ich danke für diese Hinweise Tim Lorentzen� 29 M� Luther, Assertio omnium articulorum Martini Lutheri per bullam Leonis X� novissimam damnatorum / Wahrheitsbekräftigung aller Artikel Martin Luthers, die von der jüngsten Bulle Leos� X verdammt worden sind (1520), in: Martin Luther, lat�-dt� Studienausg. 1: Der Mensch vor Gott, hg. v. W. Härle, Leipzig 2006, 71-217, hier: 73. 30 V� Leppin, Differenz oder Harmonie� Die Herausbildung der konfessionellen Unterschiede im Schriftverständnis vor spätmittelalterlichem Hintergrund, (JBTh) 2016 (im Druck), vertritt die Hypothese, „dass die starke Entgegenstellung der Schrift zur Tradition ihren stärksten Anhalt in der Kanonistik des späten Mittelalters hatte und zunächst auch von hier aus in der reformatorischen Bewegung aufgenommen wurde�“ Ich danke Volker Leppin dafür, dass er mir das Mansukript seines im Druck befindlichen Aufsatzes zur Verfügung gestellt hat� 16 Stefan Alkier Genese nachzeichnen möchte� Sola scriptura lediglich als eine spezifische Form der Lehre vom Primat der Heiligen Schrift aufzufassen, greift aber zu kurz� Die These vom Primat der Heiligen Schrift hätte kaum das Tridentinum veranlasst, da sie mit der römisch-katholischen Kirchenlehre durchaus im Einklang steht� 31 Sola scriptura führt aber zur Differenz im Kirchenbegriff, 32 weil es dem Lehramt den Primat und erst Recht das Monopol der Auslegung prinzipiell abspricht� Luthers sola scriptura formuliert nämlich eine radikale Institutionenkritik� Die Wahrheitsfrage als Frage nach der richtigen Auslegung der Heiligen Schrift wird im Konzept von sola scriptura überhaupt nicht mehr von einer Institution beantwortet, sei es eine kirchliche oder eine politische Institution� Vielmehr wird sie von der Institution in das Gewissen des Menschen verlagert� Das darf aber nicht mit einer Subjektivierung der Wahrheit verwechselt werden� Das Individuum entscheidet bei Luther ja nicht subjektivistisch über die Wahrheit, vielmehr bringt Luther es als den Ort der Wahrheitsfrage zur Geltung, an dem sich entscheidet, ob die objektive Wahrheit des Wortes Gottes zur existentiellen Erfahrung wird, so dass die rezipierende Existenz zu einer vom Wort neu geschaffenen Existenz wird� Nicht nur die Kirche ist nach Luther creatura verbi , sondern jeder Glaubende wird durch das verwandelnde Wort Gottes zum neuen Geschöpf (vgl� schon Gal 6,15) - und genau das ist die Grundlage für das „Priestertum aller Gläubigen“� 33 Ob Luther selbst klar war, dass er mit dieser Verlagerung der Wahrheitsfrage vom institutionellen Ort in den Ort des jeweiligen Gewissens eine in seiner theologischen wie politischen Bedeutung kaum zu überschätzende Institutionenkritik geleistet hat, die Grundfesten mittelalterlicher Denkstrukturen zum Einstürzen brachte, müssen seine Biographen diskutieren� Für die Gegenwart und Zukunft der Schriftauslegung bleibt aber festzuhalten, dass diese Frage von grundsätzlicher Bedeutung bleibt� Sie impliziert nämlich in ihrer Radikalität, dass auch nicht die Universitäten der Gegenwart und Zukunft der Ort der Wahrheitsfrage sind, und sie sich deswegen auch nicht so präsentieren dürfen� Das Lehramt, das Luther mit seiner Institutionenkritik im Blick hatte, war der Klerus mit dem Papst an der Spitze� In heutiger Perspektive muss darüber diskutiert werden, ob sich die Professionalisierung der Schriftauslegung nicht an die Stel- 31 Vgl� dazu K� Rahner, Heilige Schrift und Tradition, in: ders�, Schriften zur Theologie VI, Neuere Schriften, Einsiedeln [u. a.] 1965, 121-138. 32 Vgl� zum gegenwärtigen Stand des römisch-katholischen Schriftverständnisses das online gestellte Papier der päpstlichen Bibelkommission: (http: / / www�vatican�va/ roman_curia/ congregations/ cfaith/ pcb_documents/ rc_con_cfaith_doc_19930415_interpretazione_ ge�html ) 33 Vgl� dazu: V� Leppin, Priestertum aller Gläubigen� Amt und Ehrenamt in der lutherischen Kirche, in: Luther heute, a. a. O., 149-169. Die Zumutung der Schriftauslegung 17 le des Klerus gesetzt hat und nun in strukturell vergleichbarer Weise als Ort der Wahrheitsfrage stilisiert wird und teils explizit, teils implizit beansprucht, nur wissenschaftliche, d� h� universitäre Bibelauslegung könne die Heilige Schrift „richtig“ verstehen� Meine These lautet, dass die Professionalisierung der Schriftauslegung den Zaun um die Bibel neu errichtet hat, den Luther mit seinem institutionenkritischen Ansatz von s ola scriptura niederreißen wollte� Nicht wenige Pfarrerinnen und Pfarrer und wohl noch mehr Lehrerinnen und Lehrer sind von der Fehleinschätzung betroffen, dass sie selbst gar nicht oder nicht ausreichend die Kompetenz zur Schriftauslegung haben, weil sie gar nicht oder nicht gut genug Griechisch und Hebräisch beherrschen, kaum Zeit finden, exegetische Fachliteratur zu lesen und nicht über die wissenschaftlich-methodischen Kompetenzen verfügen, die Bibel „wissenschaftlich“ auszulegen� Genau das aber ist das Gegenteil von sola scriptura � Wenn der nicht professionelle Bibelleser oder -hörer sich selbst abspricht oder es ihm von institutioneller Seite implizit oder sogar explizit abgesprochen wird, die Bibel mit dem „Geist der Urteilsfähigkeit“ 34 verstehen zu können, wird die hermeneutische Grundauffassung von sola scriptura aufgegeben� Mit dieser Institutionenkritik wird in keiner Weise der relative Wert und große Nutzen akademischer Bibelauslegung geschmälert� Sie bleibt eine unverzichtbare, Impulse für die Interpretationsmöglichkeiten und ihnen Grenzen setzende kritische Arbeit, wenn sie mit ihren Publikationen und ihrem performativen Auftreten in Lehre und außeruniversitärer Öffentlichkeit die Auslegung der Schrift jedes Einzelnen nicht herabwürdigt und stillstellt, sondern sie kritisch fördert und begleitet� Die Aufgabe wissenschaftlicher Exegese, die sich am Leitfaden von sola scriptura orientiert, heißt Ermutigung zur Wahrheit suchenden, kritischen Schriftauslegung jedes Einzelnen innerhalb und außerhalb der Universität in Kirche, Schule und Gesellschaft� Eine ihrer wichtigsten Aufgaben ist es, sachlich zu informieren und hermeneutisch wie theologisch über die Unhintergehbarkeit der Interpretation aufzuklären� 2.2. Die Zumutung der Auslegung oder inwiefern die Bibel am klarsten ist Am Anfang der reformatorischen Bewegung steht nicht die systematische Darlegung eines Schriftprinzips, sondern die Schriftauslegung in existentieller Anfechtung und Wahrheitssuche mit dem „Geist der Urteilsfähigkeit und der Leidenschaft“� 35 Es ist von Grund legender Bedeutung, dass Luther in seiner assertio diese intellektuelle und emotionale Kompetenz zusammenbindet und sie auch den Laien der Schriftauslegung zuspricht� Es geht dabei nicht um ei- 34 Luther, Assertio, a� a� O�, 73� 35 Luther, Assertio, a� a� O�, 73� 18 Stefan Alkier nen subjektivistischen Ansatz im Sinne frühromantischer Hermeneutik, wie sie prägnant in einem Aphorismus des Novalis zusammengefasst wird: „Wie ich und was ich lesen soll, kann mir keiner vorschreiben�“ 36 Vielmehr geht es um Luthers epochale Einsicht, dass der Zugang zur Schrift allen offen steht, die sich von diesem Geist der Urteilsfähigkeit kritisieren lassen, um den eigenen Geist vom Geist der Schrift zu unterscheiden� 37 Diese differenzhermeneutische Einsicht führt Luther zu der Unterscheidung von Wort Gottes und Heiliger Schrift� Sie führt aber zu dem hermeneutischen und methodischen Ausgangspunkt, dass die Interpretation bei der Schrift selbst beginnen muss, und die Vorgabe der dort zu findenden Zeichen das Kriterium der Angemessenheit der jeweiligen Interpretation darstellt� Insofern ist die Vorfindlichkeit der Schrift auch der Richter ihrer Auslegung� Sola scriptura befähigt also nicht nur zur Unterscheidung von Wort Gottes und Heiliger Schrift, sondern gerade auch zur Unterscheidung der Schrift und ihrer Interpretationen� Sola scriptura hält die Erkenntnis der unhintergehbaren Notwendigkeit fortwährender Auslegungen fest, die kein Dogma, keine Lehrentscheidung, keine stille Übereinkunft, kein noch so großartiger Bibelkommentar stillstellen kann� Es gilt, die Schrift immer wieder zu interpretieren, eine Notwendigkeit, die die hermeneutische Situation in ihrer Grundsätzlichkeit für alle gleichermaßen erfasst: alle interpretieren, alle müssen interpretieren, alle sind Interpreten der Schrift - und keiner ihrer Interpreten kann die Stelle der Schrift ausfüllen� Das bedeutet aber, dass sich der Sinn der Schrift nicht von der Schrift ablösen kann� Sinn ist kein Abstraktum , das sich dann in Lehrsätzen, Dogmen oder interpretatorischen summaries im Stile eines „der Autor will sagen …“ festhalten ließe� Sinn bleibt gebunden an den Auslegungsprozess� Deswegen führt sola scriptura auch zu einer Kompetenzdidaktik der Bibelauslegung, in der es um die Befähigung auch der Laien geht, ihre geschöpflichen intellektuellen wie emotionalen Potentiale für die Bibelauslegung fruchtbar werden zu lassen� Weil alle - auch die Kirchenväter, die Konzile, der Papst und freilich auch Luther selbst - interpretieren müssen, kann keine Interpretation die Bibel ersetzen, vielmehr haben die Schriftgelehrten die Aufgabe, alle zur eigenen Auslegung im „Geist der Urteilsfähigkeit und der Leidenschaft“ 38 zu motivieren� Die Übersetzung der Bibel ins Deutsche lebte von dieser Zumutung, dass jeder die Bibel selbst interpretieren könne und müsse� Man kann sich nicht 36 Novalis, Schriften 2� Das philosophische Werk I, hg� v� R� Samuel in Zusammenarb� m� H�-J� Mähl u� G� Schulz, Darmstadt 3 1981, 609: „Es gibt kein allgemeingeltendes Lesen, im gewöhnlichen Sinn� Lesen ist eine freye Operation� Wie ich und was ich lesen soll, kann mir keiner vorschreiben�“ 37 Vgl� Luther, Assertio, a� a� O�, 77 ff� 38 Luther, Assertio, a� a� O�, 73� Die Zumutung der Schriftauslegung 19 auf Autoritäten und Institutionen verlassen, denn auch diese müssen interpretieren und sind damit der Gefahr des Missverstehens ausgesetzt� Es gibt keinerlei Gewähr für eine unfehlbare Auslegung� Dieser Anspruch ist vielmehr eine institutionenfundamentalistische Anmaßung, die nicht mehr die Differenz zwischen dem Wort Gottes und der eigenen Auslegung wahrnimmt, und sich daher an die Stelle des Wortes Gottes setzt und es schon damit verstellt� Zumutung der Auslegung meint also beides: Jedem aufrichtig Wahrheit Suchenden wird zugetraut, dass er an der Kompetenz der Urteilsfähigkeit partizipieren kann und diese leidenschaftlich, d� h� mit Leib und Seele in den Prozess der Interpretation einbringt� Zumutung bedeutet aber auch, dass jedem einzelnen abverlangt wird, Zeit und Mühe in die Auslegung zu investieren, und zwar aufgrund der demütigen Einsicht, dass jede Interpretation in die Irre führen kann - auch die eigene� Die Gefahr, den eigenen Geist mit dem Geist der Schrift zu verwechseln, gilt für alle Interpreten - Luther zufolge für die professionellen Interpreten aufgrund ihrer Selbstherrlichkeit und Selbstgewissheit noch mehr, als für die der Laien� 39 Aber das sind letztlich nur graduelle Unterschiede, denn kein Individuum, keine Auslegungsgemeinschaft, keine Institution kann der Notwendigkeit und damit auch den Unwägbarkeiten und Gefahren des Interpretierens entfliehen� Die methodische Basis von sola scriptura ist also das unabschließbare eigene Lesen� Verfahren eines „ close readings “ wie es etwa in der Literaturwissenschaft der Mitte des 20� Jahrhunderts 40 entwickelt und von der Amsterdamer Schule 41 für die Exegese fruchtbar gemacht wurde, oder intratextuelle Interpretationsverfahren wie sie in der semiotisch-kritischen Exegese ausgearbeitet werden, 42 kommen dem methodischen Ansatz von sola scriptura sehr nah� Konkret heißt das: Bevor ich zu einem Kommentar greife, lese und interpretiere ich die Schrift selbst und zwar nach den Regeln der Philologie, ganz gleich, in welcher Sprache die Schrift vorliegt: „Zuerst musste nach dem Beiseitelegen aller menschlichen Schriften umso mehr und umso nachhaltiger allein über den [Heiligen] Schriften geschwitzt werden, je gegenwärtiger die Gefahr ist, dass jemand sie im eigenen Geist versteht, so dass der Brauch eines beharrlichen Studiums uns schließlich - nach der Überwindung einer solchen Gefahr - des Geistes der 39 Vgl� Luther, Assertio, a� a� O�, 73� 40 Vgl� W� Empson, 7 Types of Ambiguity� A Study of its Effects in English Verse, Revised Edition 1949� 41 Vgl� A� Wolf-Steger, Die Bibel ist eine Grosse Erzählung - und die Erzählung geht weiter� Frans Breukelmann zum 100. Geburtstag, Texte und Kontexte 150 (2016), 21-31. 42 Vgl� St� Alkier, Neues Testament (utb basics, UTB 3405), Tübingen / Basel 2010, 139-174. 20 Stefan Alkier Schrift gewiss machen würde, der überhaupt nicht gefunden wird, außer in der Schrift�“ 43 Wie ist diese Notwendigkeit harter und beharrlicher Interpretationsarbeit als Zumutung für alle zu kombinieren mit der steilen These von der Klarheit der Schrift? Luthers assertio gibt darauf eine plausible Antwort: Die These von der Klarheit der Schrift ergibt sich aus der vergleichenden Zuordnung eines Zugangs zur Schrift, der bei der Schrift selbst beginnt und sie allein als Richter der eigenen Interpretation anerkennt, gegenüber Verfahren, die erst ein Studium von Kommentaren und dogmatischen Systemen einfordern, bevor auch nur eine Seite der Schrift aufgeschlagen werden darf� Gegenüber dem zweiten Verfahren ist das erste, das bei der Schrift selbst beginnt „klarer und gewisser“ 44 ; denn auch die Kommentare und Dogmen und Lehrsysteme müssen ja erst gelesen und verstanden werden und was man dann im besten Fall verstanden hat, ist gegenüber der Schrift Sekundärliteratur� Wenn ich verstehe, wie Origenes, ein Konzil oder das römisch-katholische Lehramt in einer bestimmten Äußerung Paulus verstanden hat, habe ich noch nicht Paulus verstanden� Ja, es kommt eine weitere Unklarheit in diesen Weg über die Sekundärliteratur hinzu: es potenziert das mögliche Missverständnis, denn vielleicht habe ich ja den Kommentar oder das Dogma missverstanden, denn auch diese müssen doch „bis ins Unendliche“ 45 interpretiert werden� Was Luther in seiner Zeit vor Augen war, kann vergegenwärtigt werden an den aktuellen Kontroversen um die Quelle „Q“� Wenn die Interpretation der synoptischen Evangelien abhängig gemacht wird von der Existenz einer verloren gegangenen Quelle Q, vergrößert sich die Unsicherheit in der Auslegung, denn die Existenz von Q ist zwar nicht abwegig, aber keinesfalls evident� Der Streit um Q führt weg von der Interpretation der synoptischen Evangelien, er verunklart die Gabe der Schrift� Man schwitzt über einer literaturgeschichtlichen Hypothese und nicht über der Schrift, man verstellt den Laien den Zugang zur Schrift, indem man implizit oder explizit behauptet, nur wenn man an die Existenz von „Q“ glaubt, und dann auch noch weiß, in welche literargeschichtliche Schichten diese hypothetisch zu rekonstruierende Quelle zu analysieren ist, könne man die synoptischen Evangelien verstehen� Hatte Luther mit seiner methodischen Kritik an der Vorordnung der Sekundärliteratur vor dem eigenen Studium, Kirchenväterkommentare, mittelalterliche Lehrbücher, Konzilsbeschlüsse und Dogmen vor Augen, so wäre heute danach zu fragen, ob nicht wissenschaftliche Dogmen wie die Existenz von „Q“, oder wie unbezweifel- 43 Luther, Assertio, a� a� O�, 79� 44 Luther, Assertio, a� a� O�, 81� 45 Luther, Assertio, a� a� O�, 77� Die Zumutung der Schriftauslegung 21 bare Fakten vorgetragene literaturgeschichtliche hypothetische Datierungen alttestamentlicher Texte die Schrift verunklaren und gegenüber solchen vorgeschalteten Zäunen um die Schrift ein philologisch orientiertes close reading nicht der klarere Weg in die Schrift sein könnte� Wieviel Hypothesenballast hat eine wissenschaftliche Bibelinterpretation wirklich nötig? Diese Abwägung der beiden Wege in die Schrift führt Luther dann auch zu seiner programmatischen Formulierung, die ich - zumindest teilweise - auf Latein zitieren muss, um zwei Alternativen der Übersetzung kenntlich machen zu können, die zu sehr verschiedenen Perspektiven auf Luthers sola scriptura führen� Die entscheidende Passage lautet: „Man muss nämlich hier mit der Schrift als Richter ein Urteil fällen, was [aber] nicht geschehen kann, wenn wir nicht der Schrift in allen Dingen, die den Vätern beigelegt werden, den ersten Rang einräumen� Das heißt, ut sit ipsa per sese certissima, facillima, apertissima, sui ipsius interpres, omnium omnia probans, iudicans et illuminans … �“ 46 Die gut gelungene Übersetzung der assertio , die Sibylle Rolf vorgelegt hat, übersetzt philologisch vertretbar wie folgt: „Das heißt, dass sie durch sich selbst ganz gewiss ist, ganz leicht zugänglich, ganz verständlich, ihr eigener Ausleger, alles von allen prüfend, richtend und erleuchtend“� Ich schlage dagegen vor, die Superlative certissima, facillima, apertissima nicht mit „ganz“ wiederzugeben, sondern ihre superlativische Bedeutung auch in der Übersetzung beizubehalten, denn die Einleitung mit „das heißt“ ( hoc est ) zeigt doch das folgende als Erläuterung der im vorherigen stehenden Vorordnung der Schrift als Primärliteratur vor die Sekundärliteratur� Demnach ist die Schrift „durch sich selbst am gewissesten, am leichtesten zugänglich, am klarsten “ und zwar als Alternative zu einer Auslegungspraxis, die erst die Sekundärliteratur und dann erst von dem Vorverständnis und den Setzungen der Sekundärliteratur ausgehend die Schrift interpretiert� Es geht bei Luthers sola scriptura nicht um die Ablehnung der Sekundärliteratur, also auch nicht um die Ablehnung der Tradition als solcher, sondern es geht zunächst und vor allem anderen um die Vorgabe der Schrift� Keine Lehre und kein Lehramt, sei es der Papst oder die Universitätsprofessoren, sei es ein Dogma oder eine wissenschaftliche Hypothese, soll der Interpretation der Schrift normierend vorangestellt werden� Keine Interpretation darf sich an die Stelle der zu interpretierenden Schrift setzen� Die Schrift ist immer reicher, offener, lebendiger als eine ihrer Interpretationen� Diese Einsicht führt zur Demut der Interpretation� „Auf diese Weise stellt sich Luther als ein Theologe dar, der gleichsam alle Kräfte seines Intellekts, seines Glaubens, seines Affekts, 46 Luther, Assertio, a. a. O., 79-81. 22 Stefan Alkier seines Herzens und seines Gewissens aufbietet, um den Inhalt, das Wort der Schrift zu hören und zu empfangen�“ 47 2.3. Die Stimmen der Schrift und die Ein-Leuchtung des Wortes Gottes: Intertextuelle und rezeptionsästhetische Implikationen von sola scriptura Luthers sola scriptura deformiert christlichen Glauben nicht zu einer Buchreligion� Es steht wegen der Dynamik seines Interpretaionsverständnisses jedem Schriftpositivismus entgegen� Die Schrift ist Luther zufolge vielmehr ein Notbehelf für das lebendige und deshalb Leben schaffende und Leben ermöglichende Wort Gottes� Luther kritisiert die Verschriftlichung des Evangeliums sogar als „eyn grosser abbruch und ein geprechen des geystis“ 48 , zugleich aber gilt ihm die Schrift als notwendiges, weil zuverlässigstes und klarstes Medium der Kontinuität des Evangeliums unter den historischen und semiotischen Bedingungen menschlicher Kommunikation� Deswegen tritt er nicht nur für den rechtlichen Primat der Heiligen Schrift ein, sondern erklärt sie allein zum Richter aller den Glauben betreffenden Wahrheitsbehauptungen� Nur der Schrift kommt deshalb die Funktion zu, normierende Norm aller theologischen Aussagen zu sein� Die gleichermaßen intellektuelle wie existentielle Hingabe an die Schriftauslegung steht gerade nicht in Widerspruch zu der Freiheit Luthers gegenüber dem überlieferten Kanon, der dazu führte, dass Luther einen eigenen Kanon kreierte, den es in dieser Gestalt vor ihm nicht gegeben hat� 49 Im alttestamentlichen Teil folgt er der Anordnung der Septuaginta bzw� der Vulgata, lässt aber nur solche Bücher als kanonisch gelten, die auch auf Hebräisch bzw� Aramäisch überliefert sind� Im Neutestamentlichen Teil gelten ihm die Briefe des Jakobus und Judas, der 2� Petrusbrief und die Johannesapokalypse nicht etwa als kanonisch, sondern als apokryph� Luthers sola scriptura ermöglicht es geradezu, die Polyphonie des Kanons wahrzunehmen und sogar antagonistisch Schrift mit Schrift zu kritisieren� 50 Ihm geht es nämlich um den Zusammenhang der Schrift, wie er es trefflich in einer Predigt formulierte: „Du musst scripturam sacram nicht stückweise ansehen, sed integram�“ 51 Diese hermeneutische Überzeugung von der Übersummativität 47 Mostert, Scriptura sacra sui ipsius interpres, a� a� O�, 10� 48 Zit� nach A� Beutel, Erfahrene Bibel� Verständnis und Gebrauch des verbum dei scriptum bei Luther, in: ders�, Protestantische Konkretionen� Studien zur Kirchengeschichte, Tübingen 1998, 66-103, hier: 75. 49 Vgl� dazu U� H� J� Körtner, Arbeit am Kanon� Studien zur Bibelhermeneutik, Leipzig 2015, 20 ff� 50 Vgl� A� Beutel, Erfahrene Bibel, a� a� O�, hier: 85� 51 Luther, WA 47, 681, 1-2. Die Zumutung der Schriftauslegung 23 der Teile drückt sich auch in der viel zitierten, aber oft aus dem Zusammenhang gerissenen Formulierung der Selbstauslegung der Schrift aus (scriptura … sui ipsius interpres) 52 � Das führt Luther aber nicht zu einer Harmonisierung der Polyphonie der Schrift, sondern vielmehr zu einem intertextuellen Auslegungsverfahren einerseits und zu einem rezeptionsästhetischen Kriterium im Konflikt der sich widerstreitenden Stimmen der biblischen Schriften andererseits� Die von Luther eingeforderte fortwährende Lektüre aller biblischen Schriften nimmt nicht nur deren Übereinstimmungen wahr, sondern auch ihre Differenzen und unvermittelbaren Widersprüche� Sie verschafft dem beharrlichen Studierenden die intertextuelle Kompetenz, Schriften miteinander in Beziehung zu setzen und sich gegenseitig erläutern oder auch kritisieren zu lassen� Wer etwa Jesu letztes Wort am Kreuz, wie er es im Markus- und im Matthäusevangelium liest, auf die Gottesferne eines Verzweifelten reduziert, dem verhilft der intertextuelle Verweis darauf, dass Jesus hier einen Psalm betet, zu einem ganz anderen Verständnis dieses ergreifenden Verses im Rahmen der markinischen und matthäischen Darstellung der Kreuzigung Jesu: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen“ eröffnet Psalm 22, der mit der Zuversicht des Kommens des Reiches Gottes endet: „Denn des HERRN ist das Reich, und er herrscht unter den Völkern� Ihn allein werden anbeten alle Großen auf Erden; vor ihm werden die Knie beugen alle, die zum Staube hinabfuhren und ihr Leben nicht konnten erhalten� Er wird Nachkommen haben, die ihm dienen; vom Herrn wird man verkündigen Kind und Kindeskind� Sie werden kommen und seine Gerechtigkeit predigen dem Volk, das geboren wird� Denn er hat’s getan.“ (Psalm 22,29-33). Liest man die Schrift „integram“, so legt sie sich auf diese intertextuelle Weise selbst aus und führt nicht nur zu einem besseren Verständnis dunkler Stellen, sondern zu einer Gesamtperspektive, die durchaus auch Passagen der Schrift in Frage stellen kann� Die methodischen Verfahren des sola scriptura im Sinne eines intratextuellen close readings und eines intertextuellen Wahrnehmens und aufeinander Beziehens der Polyphonie der Schrift sind methodische Leitprinzipien, die gerade auch im heutigen Diskurs neutestamentlicher Wissenschaft hoch aktuell und interdisziplinär plausibel reformulierbar sind� 53 Die rezeptionsästhetische Pointe des sola scriptura gerät aber damit allein noch nicht in den Blick� Die klügste und philologisch korrekteste Interpretation eines biblischen Textes kann nämlich nicht machen, dass die Schrift als Wort Gottes wahrgenommen wird und als solche wirkt� Die Wirksamkeit der 52 Luther, Assertio, a. a. O., 79-81. 53 Vgl� dazu St� Alkier / R� B� Hays, Kanon und Intertextualität, a� a� O�; Chr� Schwöbel, Sola Scriptura, a. a. O., 24-27. 24 Stefan Alkier Schrift als Wort Gottes entzieht sich der Machbarkeit des menschlichen Geistes, welcher Methoden auch immer er sich bedient� „Was Christum treibet“ kann als hermeneutisch-theologische Leitperspektive immerhin noch im Streit der Interpretationen diskutiert werden� Dass Christum treibet, ist aber dem Wirken des Geistes der Schrift vorbehalten, oder wie es trefflich und schön Albrecht Beutel formuliert hat: „So ist die Schriftlichkeit der Schrift ein zwar defizitärer, aber doch notwendiger Modus des Evangeliums� Er ist notwendig, um eben durch seine Defizienz die Erinnerung wachzuhalten, daß das Neue Testament erst dann auf die ihm einzig gemäße Weise Schrift werden kann, wenn man es sich vom Geist in das eigene Herz schreiben lässt�“ 54 54 Beutel, Erfahrene Bibel, a� a� O�, 76 f� Zeitschrift für Neues Testament Heft 39 / 40 20. Jahrgang (2017) Sola scriptura als bibelwissenschaftliches Prinzip Eve-Marie Becker 1. Ein historischer Slogan aus Luthers „Wunderjahr“ Martin Luthers Rede von der sola scriptura geht auf das Jahr 1520 zurück� Sie begegnet erstmalig in der „Assertio Omnium Articulorum M� Lutheri per Bullam Leonis X� novissimam damnatorum“ ( WA 7,94-151). 1 Luther reagiert mit seiner Assertio auf die Bannandrohungsbulle des Papstes („Exsurge Domine“) vom 15� Juni 1520� Nach Ulrich Köpfs Beschreibung verwirft diese Bulle „41 aus 17 Schriften Luthers zusammengestellte ‚Irrtümer’ ohne Begründung und mit undifferenzierter Bezeichnung ihrer Gefährlichkeit, verurteilt die Schriften, in denen sie enthalten sind, und räumt ihrem Verfasser und seinen Anhängern 60 Tage für einen Widerruf ein“� 2 Im Falle der Verweigerung dieses Widerrufs wurde Luther mit der Verurteilung als Ketzer gedroht� „Alle Schriften Luthers sollten dann vernichtet werden“� 3 In seiner schriftlichen Reaktion auf die Bulle des Papstes versucht Luther zunächst in lateinischer Sprache - im Januar 1521 dann auch auf Deutsch ( WA 7,308-457) - „eine ausführliche Begründung aller in der Bannandrohungsbulle verworfenen Artikel“� 4 Zugleich insistiert Luther darauf, dass er selbst und seine Lehre nur durch die Schrift belegt oder widerlegt werden können, und 1 Die Wendung sola scriptura findet sich vorher sonst in der lateinischen Literatur nur bei Augustinus, cat rud 4 in der Bedeutung „nur in der Schrift“ - diesen Hinweis verdanke ich Wolfgang Wischmeyer (Wien)� 2 U� Köpf, Martin Luther� Der Reformator und sein Werk, Stuttgart 2015, 89 f� 3 U� Köpf, Luther, 90� - Zu den weiteren entstehungsgeschichtlichen Hintergründen der „Assertio“ siehe auch die Hinweise in WA 7,91-93. 4 U� Köpf, Luther, 91� 26 Eve-Marie Becker prägt dabei die Wendung: … sed solam scripturam regnare … ( WA 7,98 f�, Zeile 40)� Biographisch und werkgeschichtlich betrachtet stammt die „Assertio“ aus „Luthers ‚Wunderjahr’“ 1520, in welchem dem Reformator - wie Thomas Kaufmann meint - die geistigen und literarischen „Schaffenskräfte zu(wuchsen), die den eigentlichen Höhepunkt seiner gesamten Lebensleistung markieren“� 5 Allerdings wird gerade die „Assertio“ den wichtigen Werken dieses Jahres oft nicht eigens zugerechnet, obwohl sie sich besonders in Hinsicht auf die Entwicklung der Bibelhermeneutik Luthers als bedeutsam erweist: So entwickelt Luther in der „Assertio“ 1520 / 1521 einen zunehmend kritischen Umgang mit den Kirchenvätern und den Paradigmen patristischer Schriftexegese 6 und stellt den traditionellen Formen der Schriftauslegung das Prinzip des eigenverantworteten und so auch (selbst-)kritischen Bibellesers gegenüber� Das sola scriptura in der „Assertio“ entspringt - wie wir der kurzen geschichtlichen Einordnung entnehmen können - also zuerst der Theologie- und Kirchenkritik und dabei auch der Selbstverteidigung Luthers� Es dient dem Schutz des einzelnen nach Wahrheit suchenden Christenmenschen vor der möglichen Willkür kirchlicher (und politischer) Autoritäten� Reinhard Schwarz spricht in diesem Zusammenhang sogar von der „Befreiung des Gewissens“ durch die apostolische Predigt: Für Luther seien die „christliche Befreiung des Gewissens einerseits und seine gleichzeitige Bindung durch die Kirche andererseits … unvereinbar“� 7 Das später so genannte reformatorische Schriftprinzip entsteht im 16� Jahrhundert anfänglich als ein kritisches, ja auch als ein seelsorgerliches Instrument gegen mutmaßlich fehlgeleitete kirchlich-institutionelle und religiöse Autoritäts- und Machtansprüche� Der normierende Anspruch, den die lutherische bzw� die protestantische Schriftlehre später aus dem sola scriptura ableitete und auch heute noch reklamiert - wohl wissend, dass sich der Slogan, normativ verstanden, schnell in ein Oxymoron verkehrt 8 und schon in der Reformationszeit selbst zu widersprüchlichen Deutungen führen musste, wie der Streit mit den Wiedertäufern 9 und dem fundamentalisierenden Missbrauch der Schrift zeigt -, wohnt dem Prinzip selbst zuerst nicht inne. Martin Luther geht es beim sola scriptura in erster Linie nicht um die normierende Festschreibung einer theologisch-hermeneutischen Regel� Luther sucht 5 T� Kaufmann, Martin Luther, München 2006, 52 f� 6 Vgl� dazu T� Khomych, Luther’s Assertio: A Preliminary Assessment of the Reformer’s Relationship to Patristics, in: ASE 28 (2011), 351-363. 7 R� Schwarz, Martin Luther� Lehrer der christlichen Religion, Tübingen 2015, 28� 8 Vgl� etwa R� W� Jenson, Systematic Theology� Vol� 1: The Triune God, Oxford 1997, 28� 9 Vgl� dazu zuletzt etwa auch L� Roper, Martin Luther� Renegade and Prophet, London 2016, 346 ff� Sola scriptura als bibel wissenschaftliches Prinzip 27 vielmehr nach der ,(Wieder-)Entdeckung’ der christlichen Freiheit 10 mittels Schrift-, besonders Paulusstudium, wie er in den anderen wichtigen Schriften, die in seinem „Wunderjahr“ entstehen - so im Traktat: „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ (vgl� etwa WA 7,24) -, darlegt. 11 Das ius Christianae libertatis ist durch die Autorität der Schrift legitimiert, welche somit eine „freedom from illegitimate human claims to authority“ schafft� 12 Im Lichte des sola scriptura kann auch die gegenwärtige neutestamentliche Exegese - in vielerlei Hinsicht - auf die ihr ursächlichen und ureigenen Aufgaben verwiesen, also gleichsam ad fontes , geleitet werden� 2. Ein mediales und medientheoretisches Prinzip frühchristlicher Kulturproduktion Denn jenseits aller kirchen- und machtpolitischen Kontroversen des 16� Jahrhunderts erscheint der Bezug auf die das theologische Denken legitimierende Kraft der biblischen Texte, wie er im sola scriptura emphatisch gefordert wird, seit jeher auch als ein mediales Prinzip christlicher Theologie� Dahinter steht nicht nur die fundamentaltheologisch wichtige Einsicht, dass die ‚Schrift’ im Laufe der Theologie- und Kirchengeschichte ein notwendiges, weil: kritisches Korrektiv zur (kirchlichen) Traditionsbildung darstellt� Skripturalität hat neben dieser ihr eigenen kritisch-korrektiven Funktion zudem auch eine mediale, ja sogar medientheoretische Signifikanz� 10 Vgl� B� Muhlhan, Being Shaped by Freedom� An Examination of Luther’s Development of Christian Liberty, 1520-1525, Eugene 2012, 42 f. 11 Vgl� dazu auch etwa B� Hamm, The Early Luther� Stages in a Reformation Reorientation, Grand Rapids / Cambridge 2010, bes. 167-171. 12 B� Hamm, Luther, 169� Prof. Dr. Eve-Marie Becker, geboren 1972; Studium der Ev� Theologie in Marburg und Erlangen-Nürnberg; 2001 Promotion zum Dr� theol�; 2004 Habilitation; seit 2006 Professorin für neutestamentliche Exegese an der Universität Aarhus, Dänemark; 2016-17 Distinguished Visiting Professor of New Testament an der Candler School of Theology, Emory University Atlanta, USA ; 2017-18 Research Fellow am Israel Institute for Advanced Studies in Jerusalem, Israel� 28 Eve-Marie Becker Sola scriptura verweist zudem darauf, dass das Christentum schon seit frühester Zeit eine (eigene) Schriftkultur entwickelt hat und diese fortlaufend bewahrt und ausarbeitet� Besonders die neutestamentliche Forschung ist im Rahmen der antiken Literaturgeschichte damit befasst, die strukturellen Prozesse, literarischen Formen und geschichtlichen Kontexte zu beschreiben, in denen sich die Kulturproduktion im frühesten Christentum wesentlich als eine solche Schriftkultur etabliert und entwickelt� Wir dürfen dabei nicht nur erst die rasante Entstehung vielfältiger textlicher und literarischer Dokumente im 2� Jahrhundert n� Chr�, also in weitgehend nach -neutestamentlicher Zeit, im Zeichen der entstehenden ‚christlichen Buchkultur’ sehen� 13 ‚Literaturbetrieb’ im Sinne einer strategisch organisierten literarischen Infrastuktur, die durch die Faktoren von Textproduktion und -rezeption in ihrer Einwirkung auf das literarisch genre definiert wird, setzt vielmehr bereits um 49 / 50 n� Chr� ein 14 - in dem Augenblick nämlich, als Paulus mit dem 1� Thessalonicherbrief erstmals ein an Christus- Glaubende adressiertes literarisches Produkt auf den Weg bringt� Jenseits jeder Alltagskommunikation, wie wir sie aus den zeitgenössischen Papyrus-Briefen kennen, 15 bietet schon das früheste paulinische Schreiben nicht nur epistolare Belehrung und Ermahnung (1Thess 4 f�), sondern auch die narrative Konstruktion einer missionsgeschichtlichen literary memory (1Thess 1,2-10) 16 , die von allen Gemeindegliedern gelesen und gehört, also öffentlich gemacht und 13 Vgl� dazu J� S� Kloppenborg, Literate Media in Early Christ Groups: The Creation of a Christian Book Culture, in: Journal of Early Christian Studies 22 (2014), 21-59. 14 Vgl� dazu E�-M� Becker, Earliest Christian Literary Activity: Investigating Authors, Genres and Audiences in Paul and Mark, in: Mark and Paul, Comparative Essays Part II� For and Against Pauline Influence on Mark� Edited by E�-M� Becker et al�, Berlin/ Boston 2014/ 2017 (BZNW 199), 87-105, wiederabgedruckt in: E.-M. Becker, Der früheste Evangelist� Studien zum Markusevangelium, Tübingen 2017 (WUNT 380), 35-52� - Die Frage nach den literatur- und kulturgeschichtlichen Bedingungen und Kontexten, unter / in denen die frühchristlichen Texte entstanden sind, hat in der neutestamentlichen Forschung in den vergangenen Jahren - zu Recht - erneut an Bedeutung gewonnen, vgl� dazu etwa: C� Keith, Early Christian Book Culture and the Emergence of the First Written Gospel, in: ders�/ D� T� Roth (eds�), Mark, Manuscripts, and Monotheism� Essays in Honor of L� W� Hurtado, London etc� 2015 (LNTS 528), 22-39; L. W. Hurtado, Oral Fixation and New Testament Sudies? ’Orality’, ’Performance’ and Reading Texts in Early Christianity, in: NTS 60 (2014), 321-340; U. Schnelle, Das frühe Christentum und die Bildung, in: NTS 61 (2015), 113-143; M. R. Hauge / A. W. Pitts (eds.), Ancient Education and Early Christianity, London / New York 2016 (LNTS 533)� 15 Vgl� dazu etwa P� Arzt-Grabner, Neues zu Paulus aus den Papyri des römischen Alltags, in: Early Christianity 1 (2010), 131-157. Besonders wichtig ist die Beobachtung, dass das paulinische Briefeschreiben zwar in einigen Aspekten mit der brieflichen Alltagskultur vergleichbar ist, darin aber nicht aufgeht, wie Arzt-Grabner hier etwa am Beispiel der Empfehlungsbriefe aufzeigt (a� a� O�, 137 ff�)� 16 Vgl� dazu z� B� E�-M� Becker, The Birth of Christian History� Memory and Time from Mark to Luke-Acts, New Haven 2017 (Anchor Yale Bible Reference Library), bes� 12 ff� rezipiert werden soll (1Thess 5,27)� Nicht erst Lukas in den Acta , sondern schon Paulus in seinem frühesten brieflichen Schreiben gestaltet und ‚veröffentlicht’ kollektive Erinnerung als Konstruktion frühchristlicher Geschichte� So sind die Literalität und Literarizität neutestamentlicher Texte von Beginn an mehr als nur Verschriftlichung und Konservierung ursprünglich mündlicher Traditionen� Sie haben ihrerseits einen produktiven, weil: transformativen Wert� Literarisierte Texte transformieren die proklamativen oder narrativen Formen und Inhalte der Evangelienkommunikation und ermöglichen so die kreative Entwicklung theologischen Denkens und Argumentierens (Briefe) wie auch geschichtlichen Erzählens (Evangelien und Acta )� Zwei Beispiele dazu: Paulus gibt in 1Kor 15,3bff� nicht nur den kerygmatischen Inhalt der Evangeliumsverkündigung in Korinth - und nun in verschriftlichter Form - wieder, sondern greift die paradosis so auf und formuliert sie eigenständig, dass sie in den aktuellen Diskussionen über den Realitätsgehalt der frühchristlichen Auferstehungsbotschaft (1Kor 15,12) zu einer vergewissernden gemeinschaftlichen Erinnerung wird (1Kor 15,1)� Zugleich wählt Paulus die paradosis als Einleitung in einen ausführlichen Traktat über die Auferstehung (1Kor 15,1-58), in welchem er die Wirklichkeit der anastasis nekrōn einerseits darlegt (1Kor 15,12 ff�) und andererseits in einem apokalyptischen Narrativ antizipiert (1Kor 15,51 ff�), um sie so im Blick auf den geschichtlichen Rückbezug wie auch die Zukunftserwartung der Christus-Glaubenden argumentativ zu verifizieren� Auch Markus gibt die mutmaßliche Verkündigung Jesu von der basileia tou theou nicht einfach in verschriftlichter Form wieder (Mk 1,14 f�), sondern platziert sie im Gesamtaufriss seiner Evangelienerzählung so, dass sie die erzählte Zeit, die Zeit des Erzählers und die Zeit der Leser programmatisch miteinander verzahnt� So reflektiert und transportiert das Verkündigungs-Summarium das Wirken Jesu aus der retrospektiven Sicht des Erzählers - des Evangelisten - im Blick auf die glaubende Adaption durch den jeweiligen Rezipienten� Indem das Markusevangelium besonders in Kapitel 1 permanent zwischen Narration und Proklamation oszilliert, wie nicht zuletzt die polyvalente Bedeutung des Begriffs euaggelion zeigt, produziert der literarische Text einen noetischen Mehrwert: Leser aller Zeiten werden durch erklärendes Erzählen nun selbst zum Adressaten der Evangeliums-Verkündigung und der darin enthaltenen Zeitansage Jesu� Der Verfasser des Johannesevangeliums wird das literarische Konzept des Markusevangeliums aufgreifen und seinerseits transformieren: Johannes macht die literarische Erzählung vom Wirken des inkarnierten Logos nun zu einem reflektierten schriftlichen Zeugnis, das - sogar noch lange nach dem Tod der Christus-Zeugen ( Joh 21,24-25) - Glauben an den Gottessohn wecken und so Teilhabe am (ewigen) Leben ermöglichen soll ( Joh 20,30-31). Sola scriptura als bibel wissenschaftliches Prinzip 29 30 Eve-Marie Becker 3. Ein hermeneutischer Faktor (früh)christlicher Identitätsbildung Von Beginn an entsteht die frühchristliche Schriftkultur in explizitem Rückbezug auf die Schriften Israels und in Schriftauslegung� Die in den Evangelien erzählte Geschichte von den Anfängen der Evangeliumsverkündigung (Mk 1,1) wird so retrospektiv im Lichte prophetischer Zukunftsansage gedeutet (z� B� Mk 1,2 f�; 9,12; Mt 2,5; 11,10; Lk 7,27)� Zwischen dem geschriebenen (z� B� Mk 12,24) und dem gesprochenen (z� B� Hebr 1,1) Wort des Mose oder der Propheten kann, aber muss nicht zwingend unterschieden werden (z� B� Röm 1,2; 3,19)� Für die frühchristlichen Autoren in neutestamentlicher Zeit ist vielmehr entscheidend, dass die Evangelienbotschaft Jesu in eine direkte Kontinuität zur Geschichte Israels gestellt wird� Dahinter steht eine theologische Grundprämisse: Der Vater Jesu Christi ist identisch mit dem Gott Israels (z. B. 2Kor 1,3-11). Die für (nahezu) alle neutestamentlichen Schriften charakteristische Suche nach der Kontinuität des Evangeliums von Jesus Christus zur Heils- und Glaubensgeschichte Israels führt beim hermeneutischen Umgang mit der Schrift, also der Septuaginta, im Einzelnen zu sehr unterschiedlichen theologischen und hermeneutischen Lösungen: 17 So behält die graphē (Schrift) Israels ihre grundlegende Bedeutung (z� B� Mk 12,24), sie ist aber mit dem Wirken Jesu erfüllt (z� B� Lk 4,21), d� h�, an ihr Ziel gekommen� Nach diesem Verständnis ist Jesus von Nazaret der vollmächtige und endgültige Lehrer der Tora (Mt 7,28 f�)� So dient der schriftauslegende Bezug auf die Septuaginta teils der sachlichen Legitimierung und Autorisierung der Evangeliumsbotschaft (z� B� 1Kor 15,3) - neutestamentliche Autoren geben dabei zu erkennen, dass sie die „Schrift“ kennen und deren Auslegung beherrschen (z� B� Apg 1,20; Phil 3,5)� Teils soll die „Schrift“ Israels in den neutestamentlichen Texten - besonders im Zusammenhang der Lehre und Verkündigung Jesu - sachlich (z� B� Mt 5,21 ff�), vielleicht auch literarisch (z� B� Apg 7,2 ff�) überboten, im Blick auf nomistisch engführende Deutungen sogar außer Kraft gesetzt, besser: auf die ihr eigenen (Glaubens-)Grundlagen zurückgeführt (z� B� Röm 4,3) werden� Paulus bietet sich als ein von Gott selbst berufener (Gal 1,15 f�) Apostel an, diese Grundlagen vor dem Hintergrund der „erfüllten Zeit“ (Gal 4,4) heilsgeschichtlich offenzulegen (Gal 4,21 ff�), für alle Christus-Glaubenden transparent zu machen (2Kor 3) und in ihren zukünftigen Konsequenzen für den Heilsanspruch Israels konkret zu bedenken (Röm 9-11). Bei allen schriftstellerischen und konzeptionellen Unterschieden gilt die Schrift Israels den neutestamentlichen Autoren übereinstimmend als zeugnisgebendes, geschichtliches Dokument von Gottesrede und zugleich als sprachlicher, immer 17 Vgl� etwa die verschiedenen Beiträge in: C� A� Evans / D� H� Zacharias (eds�), What does the Scripture say? Studies in the function of Scripture in early Judaism and Christianity, London / New York 2012 (LNTS 469 / 470)� noch sprechender Ausdruck des göttlichen Heilswillens� Im Rückbezug auf wie in kritischer Auseinandersetzung mit der „Schrift“ ist das entstehende Christentum gefordert, nicht nur Schriftauslegung zu praktizieren, sondern auch den kerygmatischen Gegenstand des Christus-Glaubens - das Evangelium - entsprechend dem Modell von Sprache, Wort und Schrift zu konfigurieren� Der neutestamentlichen Forschung fällt die Aufgabe zu zu untersuchen, mit welchem Autoritätsverständnis und -anspruch die neutestamentlichen Autoren diese Konfigurierung vornehmen und ihrerseits Schriftauslegung betreiben� Zu fragen bleibt: Wieweit begründet der von den neutestamentlichen Autoren selbst gewählte Umgang mit der „Schrift“ im Ergebnis ein christlich-theologisches Paradigma von Schriftauslegung, das - durchaus im Sinne Luthers - einen literatur- und theologiekritischen Umgang mit der Schrift, Alten und Neuen Testaments, eröffnet? 4. Ein globales Paradigma intra- und interkonfessioneller (Wissenschafts-)Kommunikation Das sola scriptura Luthers verweist die neutestamentliche Forschung auf den Faktor der Textualität und Schriftlichkeit ihres primären Untersuchungsgegenstands: nämlich des Neuen Testaments� Führende internationale wissenschaftliche Gesellschaften zur Erforschung der biblischen Literatur („Society of Biblical Literature“) oder des Neuen Testaments („Studiorum Novi Testamenti Societas“) geben schon in ihrem Namen zu erkennen, dass sie ihre Aufgabe wesentlich in ebendieser Untersuchung der textlichen und literarischen, also der skripturalen Traditionen Israels und der frühchristlichen Welt sehen� Wir treffen dabei nicht auf eine veraltete akademische Selbstverpflichtung, sondern auf die - früher wie heute - grundlegende Annahme, dass die Bibel als eminentes Schriftencorpus, das wie sonst keine Textsammlung der Weltliteratur auch kulturgeschichtlich wirkungsvoll war und ist, in methodischer und hermeneutischer Hinsicht eine besondere wissenschaftliche Aufmerksamkeit und Anstrengung verdient und erfordert� Diese Annahme wird grundsätzlich von allen Exegeten und Exegetinnen weltweit geteilt, und zwar unabhängig von ihren kulturellen und konfessionellen Prägungen und weitgehend unabhängig von methodischen Präferenzen bei der Textauslegung und -interpretation� Der Diskurs über das lutherische sola scriptura und seine theologie- und dogmengeschichtlichen Folgen kann dazu anregen, diese zumeist unausgesprochen geteilten Annahmen auszusprechen und vor dem Hintergrund zu diskutieren, dass die neutestamentliche Wissenschaft - so wie jede andere (Teil-)Disziplin in den Geistes- und Kulturwissenschaften - in ihrem jeweiligen akademischen setting konkurrenztüchtig, gesellschaftsrelevant, zukunftsorientiert und exzellent Sola scriptura als bibel wissenschaftliches Prinzip 31 32 Eve-Marie Becker agieren muss, um ihren akademischen Ort nicht nur zu behalten, sondern auch zu profilieren� So ermöglicht das sola scriptura - jenseits konfessioneller Traditionen und Interessen - letztlich eine wissenschaftsstrategische Diskussion über die Geschichte und die Zukunft der neutestamentlichen Exegese� Daneben hat das sola scriptura auch eine intra-konfessionelle Bindekraft� Auf der gemeinsamen Suche nach dem gegenwärtigen Umgang mit dem lutherischen Schriftprinzip haben Lutheranerinnen und Lutheraner von allen Erdteilen in den vergangenen Jahren auf vier gemeinsamen Konsultationen des „Lutherischen Weltbundes“ in Nairobi, Eisenach, Chicago und Aarhus diskutiert, was ein lutherisches reading des Johannesevangeliums, der Psalmen, des Matthäusevangeliums und der Paulusbriefe 18 hermeneutisch impliziert und bedeutet� Die politischen, kulturellen, ökonomischen und sozialethischen Bedingungen, unter denen lutherische Christen weltweit biblische Texte lesen, variieren so stark, dass der Faktor der Kontextualität, bedingt durch die verschiedenen Lesewelten, immer wieder anstelle des Strebens nach einem gemeinsamen branding lutherischer Kirchen zu treten droht� Er bleibt ein wichtiger Faktor, ja muss es bleiben� Gleichwohl hat das fortlaufende Bemühen, miteinander die biblischen Texte zu lesen und einander dabei die unterschiedlichen Verstehenshorizonte zu eröffnen - getragen durch die stetige Erfahrung, dass die biblischen Texte fortlaufend Deutung provozieren und stimulieren - gezeigt, dass nicht in allen Fragen der Auslegung, wohl aber im geteilten Willen zur Auseinandersetzung mit dem Text - also im Dass der exegetischen und hermeneutischen Arbeit - das sola scriptura ein unerschöpfliches Potential an Gemeinschaftsgeist generiert� Es wirkt so als meta-ethisches Prinzip der Sorge für Kircheneinheit in Vielfalt 19 � 5. Luthers sola scriptura-- ein Meta-Konzept? Für Luther ist die Bibel kein sakrosankter Text� Sie ist vielmehr - wie Heiko A� Oberman es einmal vereinfachend beschrieben hat - ein „notwendiges Übel …, wenn sie als papierner Papst in Heiligkeit erstarrt“� Nach Luthers Verständnis ist das Evangelium wohl „vergilbten Seiten anvertraut, doch es will mit frischen Worten frohe Botschaft werden“ (vgl� auch WA 5,537,16 ff�)� 20 So ist das sola scriptura der eigentliche Ermöglichungsgrund bibelwissenschaftlich 18 Vgl� dazu zuletzt: E�-M� Becker/ K� Mtata (eds�), Pauline Hermeneutics� Exploring the „Power of the Gospel“, Leipzig 2017 (LWF Studies 2016/ 3)� 19 Vgl� dazu die Schlusserklärung: „In the beginning was the word“: The Bible in the Life of the Lutheran Communion - A Study Document on Lutheran Hermeneutics, 2016 - s�: https: / / www�lutheranworld�org/ sites/ default/ files/ dtpw-hermeneutics_statement_en�pdf 20 H� A� Oberman, Luther� Mensch zwischen Gott und Teufel, Berlin 1982, 184� geleiteter theologischer Argumentation, die aber auslegenden, nicht spekulativkonstruierenden Charakter hat� Aus den Tischreden Luthers ist entsprechend der Satz überliefert: „Wer ein ϑεολογος will werden, der hatt erstlich ein grossen vortheil: Er hatt die bibel“ ( WA Tr 5,204,16 f�)� 21 Denn das Bibelstudium ermöglicht die eigenverantwortete theologische Urteilsbildung� Nach Luther ist Theologie demnach in erster Linie, zuerst und zuletzt eine Bibelwissenschaft � Wir können Luthers Bibel- und Theologieverständnis heute für problematisch oder insuffizient halten - allerdings folgt eine solche Kritik dann in Wirklichkeit wohl aus einem grundlegenden Zweifel an und Misstrauen gegenüber der Behauptung der sachlichen Suffizienz der biblischen Texte� Luther würde einer solchen Beurteilung sicher entschieden widersprechen� Er würde die Aufgabe der christlichen Theologie so bestimmen, dass sie wesentlich in der Auslegung des Evangeliums, wie es in den biblischen Texten zu finden ist, aufgeht� Wir dagegen haben gelernt, Wahrheitsansprüche zu kontextualisieren und zu relativieren� So hat sich die Aufgabenbestimmung der neutestamentlichen Exegese verselbständigt und vom Anspruch, christliche Theologie als Verkündigung der Evangeliumsbotschaft zu verstehen, längst gelöst� Zwischen uns und Luther liegt die Aufklärungszeit� Wir meinen, im Sinne Kants verstanden zu haben, dass die Relativierung des Wahrheitsanspruches notwendig daraus folgen müsse , dass wir Mündigkeit - auch und gerade gegenüber den biblischen Texten - eingefordert haben� Doch würde Luther dieses Bestreben nach Mündigkeit ablehnen? Dem Reformator fehlte es wohl kaum an Entschließung oder Mut, als er das sola scriptura in der „Assertio“ 1520 zu Papier brachte� Er kämpfte ja gerade für die Mündigkeit des Christenmenschen als Bibelleser und wollte dessen Ausgang aus der durch kirchliche Doktrin, also fremd verschuldeten Unmündigkeit ermöglichen� Was uns von Luther trennt, ist daher weniger der aufklärerische Weckruf zur Mündigkeit als vielmehr Luthers unerschütterlicher Optimismus, dass die biblischen, besonders die neutestamentlichen Texte so reich und vielfältig sind, dass sie eine in sich suffiziente Quelle zu den Anfängen und Grundlagen des Christentums sind und bleiben� So wie Luther im „sola scriptura“ keine normierende Ausschließlichkeit, wohl aber die sachliche Unbedingtheit und Überlegenheit des Bibelstudiums zum Ausdruck bringen wollte, könnte dieser Optimismus Luthers der neutestamentlichen Forschung in unseren Tagen nicht nur Mut zur Entschließung einflößen, sondern auch neue Orientierung geben im Blick auf das, was heute - und morgen noch - in der Wissenschaft zu tun ist� 21 Angeführt auch bei H� A� Oberman, Luther, 178� Sola scriptura als bibel wissenschaftliches Prinzip 33 Zeitschrift für Neues Testament Heft 39 / 40 20. Jahrgang (2017) Die Bibel im digitalen Zeitalter Multimodale Schriften in Gemeinschaften Claire Clivaz Einleitung: Die Schnittstelle zwischen gedruckten und digitalen Welten Es erscheint paradox, dass eine protestantische Exegetin einen Aufsatz über die Bibel im digitalen Zeitalter schreibt, wenn man sich klarmacht, dass die Besucher der Internationalen Reformationsausstellung in Wittenberg im Mai 2017 mittels eines „riesigen Buches“ in Gestalt einer 27 Meter hohen Bibel willkommen geheißen wurden� Die Website der Ausstellung präsentierte dies so: „Die Hauptattraktion im Torraum Welcome , dem ersten von insgesamt sieben Torräumen, ist der als riesiges Buch gestaltete Aussichtsturm� Entworfen von Studierenden der Bauhaus-Universität Weimar wurde er eigens für die Weltausstellung Reformation gebaut� Treppen führen 27 Meter hoch auf die Aussichtsplattform, die einen außergewöhnlichen Blick über die Stadt bietet� Willkommen in Lutherstadt Wittenberg! Willkommen zur Weltausstellung Reformation! “� 1 In Entsprechung hierzu war der Mittelpunkt des Schweizer Pavillons, der gemeinsam von Leitern der schweizerischen protestantischen und katholischen Kirchen eröffnet wurde, eine großartige alte Druckerpresse� 2 Das Leben der protestantischen Kirchen kommt kaum irgendwo klarer zum Ausdruck als in der Äußerung des reformierten Theologen Pierre Gisel, die möglicherweise für 1 https: / / r2017�org/ weltausstellung/ welcome/ ; Zugriff am 25� Mai 2017� Herzlichen Dank an Prof� Dr� Manuel Vogel für die deutsche Übersetzung� 2 https: / / www�cath�ch/ newsf/ inauguration-pavillon-suisse-a-lexposition-universelle-dereforme/ ; Zugriff am 25� Mai 2017� 36 Claire Clivaz das Christentum insgesamt gilt: „Die Bibel besetzt die Stelle des Ursprungs, während sie historisch betrachtet ein sekundäres Phänomen ist“� 3 Die Besucher der Wittenberger Reformations-Ausstellung von 2017 werden eingeladen, die Ausstellung durch das „Ursprungs-Tor“ in Gestalt einer Bibel zu betreten� Angesichts einer solch klaren theologischen und kulturellen Grundsatzerklärung stellt sich die Frage, wie die Auswirkungen der digitalen Wende auf die Bibelwissenschaften hierzu ins Verhältnis zu setzen sind, zumal diese Wende institutionelle Neubildungen und neue Publikationsorgane hervorgebracht hat: Seit 2016 bzw� 2017 gibt es die Masterstudiengänge Digital Theology (Universität Durham) und Biblical Studies and Digital Humanities (Freie Universität Amsterdam)� 4 Außerdem hat der Brill-Verlag eine neue wissenschaftliche Reihe ins Leben gerufen, die Digital Biblical Studies, gemeinsam herausgegeben von David Hamidović und der Verfasserin dieses Beitrages. 5 Zu verweisen ist auch auf die jährlichen internationalen Treffen der Society of Biblical Literature (SBL) und der European Association of Biblical Studies ( EABS ), die seit 2012 bzw� 2013 Seminargruppen zu Digital Humanities abhalten� Das erste Zentrum für digitale Theologie wurde in 2014 an der Universität Durham eröffnet� 6 In wenigen Monaten wird sodann Jeffrey Siker in Zusammenarbeit mit dem Verlag Fortress Press die erste Monographie über die Bibel im digitalen Zeitalter vorlegen, die auf der SBL-Konferenz in Boston diskutiert werden wird� 7 Einige Forscher haben bereits Überblicksartikel zur Begegnung von Bibelwissenschaft und digitaler Wende vorgelegt� So hat etwa in 2010 Wido van Peursen die Wendung von „Texten“ zu „Dokumenten“ beschrieben� 8 Aus dem Jahr 2012 stammt ein Aufsatz von Ulrich Schmidt über die Entwicklung der neutestamentlichen Texteditionen� 9 In 2014 wurde die Frage aufgeworfen, ob 3 P� Gisel, Apocryphes et canon: leurs rapports et leur statut respectif� Un questionnement théologique, Apocrypha 7 (1996), 225-234, hier: 230. 4 https: / / www�dur�ac�uk/ codec/ courses/ ; http: / / www�godgeleerdheid�vu�nl/ nl/ Images/ BiblicalStudies_tcm238-829352�pdf; Zugriff am 25� Mai 2017� 5 www�brill�com/ dbs; Zugriff am 25� Mai 2017� 6 https: / / www�dur�ac�uk/ codec/ ; Zugriff am 25� Mai 2017� 7 Als eine der Podiumsteilnehmerinnen hat die Verfasserin dieses Beitrages vorab ein Exemplar des Buches erhalten, dasselbe jedoch vor der Abfassung des vorliegenden Beitrages absichtlich noch nicht in Augenschein genommen� Auf die Diskussion auf der SBL- Tagung darf man gespannt sein� Der Titel des Buches von J� Siker lautet: Liquid Scripture: The Bible in a Digital World, Minneapolis (Minnesota) 2017 (im Erscheinen)� 8 W� van Peursen, Text Comparison and Digital Creativity: An Introduction, in: W� van Peursen / E� D� Thoutenhoofd / A� van der Weel (Hg�), Text Comparison and Digital Creativity� The Production of Presence and Meaning in Digital Text Scholarship (Scholarly Communication 1), Leiden 2010, 1-27. 9 U� Schmid, Thoughts on a Digital Edition of the New Testament, in: C� Clivaz / J� Meizoz / F� Vallotton / J� Verheyden (Hg�), unter Mitarbeit von B� Bertho, Reading Tomorrow� Die Bibel im digitalen Zeitalter 37 das Neue Testament ein bibliardion werden würde, ein „Büchlein“, das vom Web verschlungen wird, wie jenes aus Apk 10,10, das der Seher Johannes verschlingt� Nachfolgende Artikel und Sammelbeiträge sind dieser Frage weiter nachgegangen� 10 In einem Aufsatz von 2016 hat Carrie Schroeder dargelegt, dass sich die Erforschung digitaler Texte absehbar auch mit „multimodal geschichteten Welten des empowerment , des Engagements und der Interaktivität“ befassen wird, ein Thema, das nicht auf biblische Studien beschränkt, sondern auch in der Religionswissenschaft und darüber hinaus in der Diskussion ist� 11 Ein Beispiel für die fruchtbare religionswissenschaftliche Forschung ist der From Ancient Manuscripts to the Digital Era / Lire Demain� Des manuscrits antiques à l’ère digitale, Lausanne 2012 (e-book), 299-306. Vgl. besonders auch den älteren Beitrag von D� C� Parker, Through a screen darkly: Digital texts and the New Testament, JSNT 25 (2003 / 4), 395-411. 10 C� Clivaz, New Testament in a Digital Culture: A Bibliardion (Little Book) Lost in the Web? , JRMDC 3 (2014 / 3), 20-38; https: / / jrmdc.com/ journal/ article/ view/ 28; Zugriff am 25� 5� 2017� Vgl� auch C� Clivaz, Homer and the New Testament as „Multitexts“ in the Digital Age? , Scholarly and Research Communication 3 (2012 / 3), 1-15; http: / / src-online. ca/ index�php/ src/ article/ view/ 97; Zugriff am 25� 5� 2017; C� Clivaz, Jamais deux sans trois! Théologie, exégèse et culture, in: E� Cuvillier / B� Escaffre (Hg�), Entre exégètes et théologiens: la Bible� 24 e congrès de l’ACFEB (Toulouse 2011), Paris 2014, 253-269; C. Clivaz, Introduction� Digital Humanities in Jewish, Christian and Arabic traditions, JRMDC 5 (2016), 1-20; url: https: / / www.jrmdc.com/ journal/ article/ view/ 118; Zugriff am 25. 5. 2017; C. Clivaz / A. Gregory / D. Hamidović (Hg.), in Zusammenarbeit mit S. Schulthess, Digital Humanities in Biblical, Early Jewish and Early Christian Studies (Scholarly Communication 2), Leiden 2013; C. Clivaz / P. Dilley / D. Hamidović (Hg.), in Zusammenarbeit mit A� Thromas, Ancient Worlds in Digital Culture (Digital Biblical Studies 1), Leiden 2016; C. Clivaz / P. Dilley / D. Hamidović / M. Popović / C. T. Schroeder / J. Verheyden (Hg.), Digital Humanities in Jewish, Christian and Arabic traditions, JRMDC 5 (2016 / 1), https: / / www�jrmdc�com/ journal/ issue/ view/ 9; Zugriff am 25� 5� 2017� 11 C� T� Schroeder, The Digital Humanities as Cultural Capital: Implications for Biblical and Religious Studies, JRMDC 5 (2016 / 1), 21-49; hier: 43; https: / / www.jrmdc.com/ journal/ article/ view/ 84; Zugriff am 25� 5� 2017� Nach sechs Jahren als Assistenzprofessorin im Fach Neues Testament an der Universität Lausanne ist Claire Clivaz seit 2015 Leiterin des „Digital Enhanced Learning“ am Swiss Institute of Bioinformatics in Lausanne� Sie leitet interdisziplinäre Projekte im Schnittfeld von Neuem Testament und Digital Humanities� Ihre Publikationen bewegen sich auf diesen beiden Gebieten� 38 Claire Clivaz Überblicksartikel von Heidi Campbell Digital Religion. Understanding Religious Practice in New Media Worlds mit weiteren Publikationen in 2015 und 2016� 12 Freilich ist dieses digitale Sprudeln allein noch kein Beweis dafür, dass wir Zeugen einer epistemologischen Wende sind, geschweige denn, dass die enge theologische und kulturelle Bindung an die Bibel als Buch hiervon affiziert wird� Trotz jahrelanger Forschung zur digitalen Wende in den Geistes- und Bibelwissenschaften muss man zur Kenntnis nehmen, dass die weitere Annäherung nur Schritt für Schritt erfolgen kann� Inmitten eines kulturellen Kontexts, der sich möglicherweise zu schnell entwickelt, als dass er von der Mehrheit bereits in Gänze erfasst werden könnte, bedarf es erheblicher Anstrengungen, um unserem Verstand, der so sehr an die Kultur des Buchdrucks gewöhnt ist, zu einer Beobachterposition in ausreichender Distanz zu verhelfen� Im thematischen Zusammenhang des vorliegenden Sonderheftes der ZNT im 500� Jahr der Reformation geht es nachfolgend um die berühmte Formel sola scriptura und um die Wirkung der digitalen Wende auf die Erforschung des Neuen Testaments� Der Schweizerische Evangelische Kirchenbund ( SEK ) hat in Ansehung der Zeichen der Zeit nicht etwa anlässlich des Reformationsgedenkens eine Studie zum protestantischen sola scriptura vorgelegt, sondern hierfür das titelgebende Thema sola lectura gewählt� Die schweizerischen Theologinnen und Theologen, die diese Schrift verfasst haben, formulieren es so: „Der Übergang von der ,Gutenberg-Galaxie’ zur Welt der elektronischen Medien fordert die auf der Bibel beruhende Lesekultur des Christentums heraus� Dieser Einschnitt wird jedoch relativiert durch die Langzeitperspektive� In der Mediengeschichte des Christentums zeigen sich zwar besondere Affinitäten zwischen der christlichen Botschaft und dem Medium Buch� Aber diese Verbindung ist nicht wesenhaft; sie reicht nicht hinein in die Identität christlichen Glaubens� […] Das Christentum ist keine Buchreligion“� 13 In Anerkennung der „Emanzipation der Schrift vom Buch“ unterstreicht das SEK -Dokument, „dass ,Schrift’ im elektronischen For- 12 H� A� Campbell (Hg�), Digital Religion� Understanding Religious Practice in New Media Worlds, London 2013; H� A� Campbell / B� Altenhofen, Methodological Challenges, Innovations and Growing Pains in Digital Religion Research, in: S� Cheruvallil-Contractor / S� Shakkour (Hg�), Digital Methodologies in the Sociology of Religion, London 2015� Theologische Arbeiten sind: H� A� Campbell / S� Garner, Networked theology� Negotiating faith in digital culture, Grand Rapids 2016� Vgl� besonders auch O� Krüger, Die mediale Religion� Probleme und Perspektiven religionswissenschaftlicher und wissenssoziologischer Medienforschung (Reihe Religion und Medien Bd� 1), Bielefeld 2012; T� Hutchings, Creating Church Online, London 2017, Bookshelf Online; https: / / online�vitalsource�com/ #/ books/ 9781136277498/ ; Zugriff am 25� 5� 2017� 13 SEK, Institut für Theologie und Ethik (ITE), Sola lectura? Aktuelle Herausforderungen des Lesens aus protestantischer Sicht, Bern 2016, 7, http: / / www�kirchenbund�ch/ de/ publika tionen/ studien/ sola-lectura, Zugriff am 25� 5� 2017� Die Bibel im digitalen Zeitalter 39 mat interaktiver und damit weniger kanonisch wird: nicht mehr als vorgegebene, gedruckte Heilige Schrift, sondern als Teil eines fortwährenden Kommunikationsprozesses“� 14 Folgerichtig kann der über das sola scriptura hinausgehende Fokus auf sola lectura in Erinnerung rufen, dass „Lesen eine Kernkompetenz des Protestantismus [ist]� Seit seinen Anfängen in der Reformation ist er mit Leseerfahrungen verbunden - bezogen auf die Bibel und weit darüber hinaus“� 15 Anders als die Wittenberger Reformationsausstellung erhebt das SEK -Dokument nicht die Forderung, dass alle „durch das Willkommenstor des Buches“ eintreten� Vielmehr verwendet sie einige Geduld darauf, die Herausforderung zu verstehen, die von der „Emanzipation der Schrift vom Buch“ 16 und ihrer Mitwirkung am Kommunikationsprozess ausgeht� Lange vor der sich Bahn brechenden digitalen Wende hat Karl Barth betont, dass Schreiben ein Kommunikationsprozess mit einer „unsichtbaren Gemeinschaft“ ist� In einem kurzen Vimeo- Video 17 äußert sich Barth zum Schreibprozess seines Römerbriefkommentars� In den frühen 20er Jahren des 20� Jh� war er auf der Suche nach Weggefährten für ein gemeinsames Verstehen der Bibel: „Was ich damit erreichen wollte: ursprünglich nicht ein Buch, das ich herausgeben wollte, sondern eine Sammlung von Manuskripten, die ich dann meinen Freunden vorgelesen habe� Und dann kam es so Schritt für Schritt dazu, dass es doch ein Buch werden sollte, und dann ist also ein Buch geworden� Aber wenn ich gefragt bin, was ich damit erreichen wollte, so könnte ich eigentlich nur sagen, ich habe mich umgesehen nach Genossen, nach Mitmenschen, nach Mitchristen, die möglicherweise aus derselben Verlegenheit, in der ich mich befand, ebenfalls im Begriff waren, wieder ganz anders nach der Bibel, und nach dem Neuen Testament und dem Römerbrief zu greifen, mit denen zusammen, wie soll ich sagen, in unsichtbarer Gemeinschaft diesen alten Text zu lesen“� Hält man sich das SEK -Dokument und das Barth-Video vor Augen, erscheint es lohnend, sich mit dieser Emanzipation des biblischen Textes vom Buch eingehender zu befassen, sowie damit, wie diese Emanzipation - sei es zum Guten 14 Ebd�, 10� 15 Ebd�, 31� 16 Die französische Übersetzung von „die Emanzipation der Schrift vom Buch“ lautet unglücklicherweise „la dissociation entre l’écrit et le livre“, also „die Trennung zwischen dem geschriebenen Text und dem Buch“� Die Dynamik, die im deutschen „Emanzipation“ enthalten ist, die potentielle Ermächtigung zu neuen Möglichkeiten, geht in der französischen Übersetzung verloren; vgl� FEPS, Institut de théologie et d’éthique (ITE), Sola lectura? Enjeux actuels de la lecture dans une perspective protestante, Bern 2016, 10� http: / / www�kirchenbund�ch/ fr/ publications/ tudes/ sola-lectura; Zugriff am 25� 5� 2017� 17 Karl Barth, https: / / vimeo�com/ 90346827 (ohne Orts- und Zeitangabe der Aufnahme, upload durch The Center for Barth Studies am Freitag, den 28. 3. 2014, 1: 27 MEZ; Zugriff am 25� 05� 2017� 40 Claire Clivaz oder zum Schlechten - durch den von ihr ausgelösten Kommunikationsprozess den biblischen Text wieder mit unterschiedlichen Gemeinschaften verbindet� Das erste Kapitel dieses Beitrages stellt die These auf, dass die „Emanzipation der Schrift vom Buch“ einen Schock und eine Herausforderung für die gesamte geisteswissenschaftliche akademische community darstellt� Die symbolischen Dimensionen der Bibel als eines besonderen Buches haben sich hemmend auf die Etablierung der Digital Humanities ausgewirkt, in denen vielfach religiöse Vorstellungen wirksam sind, ohne immer wahrgenommen oder gar kritisch reflektiert zu werden� Das zweite Kapitel befasst sich mit den neuesten Entwicklungen auf dem Gebiet der kritischen Editionen des Neuen Testaments: Dass sie zahlreicher werden, weist auf eine Pluralisierung der akademischen communities , die sie lesen� Dieses Kapitel wirft die Frage nach der Kanonizität auf, und ob die digitale Bibel „weniger kanonisch“ 18 ist, dafür aber multikultureller und vielsprachiger, wie etwa die Platform of the Arabic Versions of the New Testament ( PAVON e) beispielhaft zeigt� 19 Das dritte Kapitel analysiert die Herausforderung der digitalen Bibel, die im tagtäglichen Umgang zunehmend multimodal wird, sofern sich ihr Bilder, Klänge und Musik hinzugesellen� Unterschiedliche christliche Gemeinschaften verbreiten bereits biblische Inhalte in multimodaler Weise, so etwa die erfolgreiche Anwendung YouVersion 20 , oder die Facebook Seite Pain de ce jour. 21 Es wird von Tag zu Tag schwieriger, der Frage auszuweichen, welche Bedeutung diese Entwicklungen für die Zukunft der Bibelwissenschaften haben könnten� Mit Blick auf den theologischen Horizont werfen diese wenigen Überlegungen zu den Herausforderungen an die Bibel im digitalen Zeitalter eine neues Licht auf ein Diktum, das ich in einer meiner frühesten Forschungsbeiträge in die Diskussion gebracht habe, nämlich: sola scriptura in koinonia � 22 18 Dieses Thema des SEK-Dokuments habe ich ausführlicher behandelt in: C� Clivaz, Categories of Ancient Christian texts and writing materials: ’Taking once again a fresh starting point’, in: Clivaz et al., Ancient Worlds (Anm. 10), 35-58. 19 http: / / pavone�uob-dh�org/ ; Zugriff am 25� 5� 2017� 20 https: / / www�youversion�com; Zugriff am 25� 5� 2017� 21 https: / / www�facebook�com/ paindecejour/ ? fref=ts; Zugriff am 25� 5� 2017� 22 C� Clivaz, La troisième quête du Jésus historique et le canon: le défi de la réception communautaire� Un essai de relecture historique, in: D� Marguerat / E� Norelli / J�-M� Poffet (Hg�), Jésus de Nazareth� Nouvelles approches d’une énigme (MBo 38), Genf 1998, 541-558, hier: 558� Die Bibel im digitalen Zeitalter 41 1. Der Text außerhalb des Buches: Ein Wendepunkt für die gesamten Geisteswissenschaften Im Jahr 1998 hat der Philosoph Jacques Derrida in einem Radiointerview die tiefgreifenden epistemologischen Veränderungen erläutert, die er in ihrem Frühstadium beobachtete: „Was gegenwärtig im Entstehen ist, und zwar in einem Rhythmus, den wir noch immer nicht berechnen können, sehr langsam und sehr schnell zugleich, ist, ganz klar, ein neuer Mensch, ein neuer menschlicher Körper, eine neue Beziehung zwischen dem menschlichen Körper und den Maschinen, eine Transformation, die wir bereits wahrnehmen können“� 23 Innerhalb dieser Transformation interessiert ihn besonders die Zukunft des Buches� Er erkennt einerseits seine eigene Verbundenheit mit dieser Form des Schreibens, will andererseits aber auch nicht der Entwicklung der zahlreichen Kommunikationsweisen entgegenwirken, die vom Buch unabhängig sind� Die Transformation des Schreibens durch digitale Hilfsmittel ist auf diesem generellen hermeneutischen Hintergrund zu lesen� Es handelt sich um ein zutiefst uneindeutiges Phänomen, angesichts dessen wir mit Fug und Recht Unsicherheit verspüren� Dieses Gefühl der Unsicherheit schlägt sich in der abweichenden Übersetzung des deutschen „Emanzipation“ durch das französische „dissociation“ nieder: Die „Emanzipation der Schrift vom Buch“ wird in der französischen Fassung mit „la dissociation entre l’écrit et le livre“, „die Trennung zwischen dem geschriebenen Text und dem Buch“ wiedergegeben� 24 „Emanzipation“ ist etwas potentiell Stärkendes, etwas Positives, das in „Trennung“ nicht enthalten ist� Diese Diskrepanz illustriert die gemischten Gefühle der gesamten Geisteswissenschaften angesichts des Aufbruchs - des Exodus? - des geschriebenen Textes aus dem Buch� So hat sich etwa Robert Darnton, wie ich wiederholt angemerkt habe, angesichts der digitalen Kultur sowohl mit Besorgnis wie auch mit erheblichem Enthusiasmus geäußert� 25 Ober man denke an 23 J� Derrida, Radiointerview vom Dezember 1998, wieder gesendet auf France Inter in A voix nue am 14� Oktober 2010: A voix nue - Jacques Derrida (4 / 5) 29 Miuten, von Catherine Paoletti; Realisation: Bruno Sourcis: 4) La pression des événements ou comment se manifester dans la vie publique. Zitat bei min. 16: 22: „Ce qui se prépare, à un rythme encore incalculable, de façon à la fois très lente et très rapide, c’est un nouvel homme bien sûr, un nouveau corps de l’homme, un nouveau rapport du corps de l’homme aux machines, et on l’aperçoit déjà cette sorte de transformation“ (https: / / www�franceculture�fr/ 2016-01-20engagement-politique-et-nouvelles-technologies-a-voix-nue-jacques-derrida-45; Zugriff am 25� 5� 2017)� 24 Vgl� Anm� 16� 25 R� Darnton, The Case for Books: Past, Present, Future, New York 2009, 53 und XIII; zitiert bei C� Clivaz, Common Era 2�0� Mapping the Digital Era from Antiquity and Modernity, in: Clivaz et al., Reading Tomorrow (Anm. 9), 23-60, hier: 24 und 53. 42 Claire Clivaz die völlige Ablehnung der „Mutter aller Listen“, des World Wide Web , das „jede Unterscheidung von Wahrheit und Irrtum“ 26 verwischt, durch Umberto Eco� Wenn ich auch mit Jacques Derrida anerkenne, dass der Exodus weg vom Papier nichts Geringeres ist als ein Erdbeben, 27 bin ich jedoch nach wie vor der Überzeugung, dass sich die Geisteswissenschaften, die den Weg heraus aus dem Buch gehen - die losgebundenen Geisteswissenschaften 28 - innerhalb des digitalen Abenteuers prächtig entwickeln können� Losgebunden von Buchdeckeln, Seiten und Papier können die Geisteswissenschaften zu neuen digitalen Grenzen vorstoßen, die nicht so etwas wie eine „bessere Welt“ versprechen, wohl aber neue Bedingungen des Denkens und Forschens schaffen, die man auf den Begriff der „Erbeutung“ bringen kann� Die digitale Geisteswissenschaftlerin Johanna Drucker hat in 2011 den klugen Vorschlag gemacht, den Begriff der data (Daten) gegen den der capta (die erbeuteten Dinge) zu ersetzen: „Die unterschiedliche Etymologie von ,data’ und ,capta’ verdeutlicht die Unterscheidung zwischen konstruktivistischen und realistischen Ansätzen� Mit ,capta’ ist das ,Erbeutete’, aktiv ,Angeeignete’ gemeint, während ,data’ das ,Gegebene’ bezeichnet, das aufgezeichnet und beobachtet werden kann� Aus dieser Unterscheidung erwächst eine ganze Welt von Unterschieden� Die geisteswissenschaftliche Erkundung erkennt den situativen, partiellen und gestaltenden Charakter von Wissensproduktion an, die Einsicht, dass Wissen konstruiert, angeeignet ist, nicht einfach gegeben als natürliche Repräsentation präexistierender Fakten“� 29 Die Erbeutung von Wissen auf dem Ozean der losgebundenen Geisteswissenschaften erinnert an die epistemologischen Bedingungen des 17� Jh�, so der französische Theologe Olivier Abel: „Die Hochblüte der Seeräuberei fand vor allem in der Karibik zwischen 1630 und 1670 statt� In den neuen Welten wird alles dargeboten in der Überfülle der göttlichen Providenz� […] Wir befinden uns hier nicht mehr in einer Ökonomie der Gabe und des Tausches, sondern in 26 U� Eco, The Infinity of Lists, übers� von A� McEwen, New York 2009, 327; zitiert bei C� Clivaz, Common Era 2�0 (Anm� 25), 44� 27 J� Derrida, Paper of me, You Know … (New Speculations on a Luxury of the Poor), in Paper Machine, J. Derrida, Board of Trustees (Übs.), Stanford (California) 2005, 41-65, hier: 42; http: / / users�clas�ufl�edu/ burt/ Derridapaperorme�pdf, Zugriff am 25� 5� 2017, zitiert bei C� Clivaz, Covers and Corpus wanted! Some Digital Humanities Fragments, DHQ 10 (2016 / 3), § 12, http: / / www�digitalhumanities�org/ dhq/ vol/ 10/ 3/ 000257/ 000257�html, Zugriff am 25� 5� 2017� 28 C� Clivaz / D� Vinck (Hg�), Les humanités délivrées, Les Cahiers du Numériques 10 (2014 / 3); D� Vinck / C� Clivaz (Hg�), Les humanités délivrées, La Revue d’Anthropologie des Connaissances 8 (2014 / 4)� 29 J� Drucker, Humanities Approaches to Graphical Display, DHQ 5 (2011 / 1), § 3; http: / / www�digitalhumanities�org/ dhq/ vol/ 5/ 1/ 000091/ 000091�html, Zugriff am 25� 5� 2017� Die Bibel im digitalen Zeitalter 43 einer Ökonomie der ,Erbeutung’, die sich sogar im Titel der Schrift Vom Recht auf Beute des niederländischen Philosophen Hugo Grotius findet“� 30 Diese „Kultur der Erbeutung“ impliziert, dass „das Recht aufzubrechen die Bedingung für die Fähigkeit ist, sich zu binden� Die politische Frage lautet dann zunehmend: ,Wie können wir bei einander bleiben, wenn wir stets die Möglichkeit haben, ungebunden zu sein? “� 31 Die Geisteswissenschaften sind heute, da sie auf dem Ozean der Daten segeln, mit exakt dieser Frage konfrontiert: Wie können Forscher Verbindungen herstellen, wie werden sie Wissen erbeuten auf den Meeren der losgebundenen Geisteswissenschaften? Die Alternative von Bindung und Ungebundensein lenkt alle Aufmerksamkeit auf die Frage, welche Rolle Gemeinschaften in der digitalen Kultur spielen� In einem Text von 2009 hat die Digital-Humanities -Forscherin Kathleen Fitzpartick auf die Bedeutung der Bildung von Gemeinschaften hingewiesen, um eine neue Weise des peer-review in digitalen akademischen Kreisen zu entwickeln: Eine Gemeinschaft zu bilden „ist der Schlüssel für künftige Netzwerke wissenschaftlichen Publizierens, und besonders für die Implementierung des peer-topeer-review “, ein peer-review , das nach ihrer Einschätzung künftig nicht mehr publikations-, sondern gemeinschaftsbasiert sein wird� 32 Nach nunmehr acht Jahren ist dieser Wandel im Prozess des peer-review noch nicht eingetreten, aber die (Re-)Konfiguration akademischer Gemeinschaften ist erkennbar ein strategischer Punkt, der ansatzweise sogar Auswirkungen auf die Edition(en) des Neuen Testaments hat, wie wir in Kapitel 2 sehen werden� Der Dialog zwischen den Geisteswissenschaften und den sogenannten „exakten Wissenschaften“ ist ebenso ein Thema in dieser Zeit der Rekonfiguration von Gemeinschaften� 33 Wenn die Geisteswissenschaftler in der Lage sind, alte Grenzen hinter sich zu lassen und zu neuen Grenzen vorzudringen, wird ihr Jahrhunderte altes Wissen nützlicher sein denn je, freilich so, wie der Digital- Humanities -Forscher Domenico Fiormonte unterstreicht, dass „jeder Akt des Enkodierens, oder besser jeder Akt der Repräsentation eines spezifischen ,Objekts’ mittels einer formalen Sprache die Wahl aus einem Set von Möglichkeiten 30 O. Abel, L’océan, le puritain, le pirate, Esprit 356 (2009), 104-110, hier: 107. 31 O� Abel, Essai sur la prise� Anthropologie de la flibuste et théologie radicale protestante, Esprit 356 (2009), 114-115, hier: 115; http: / / olivierabel.fr/ nuit-ethique-les-cultures-et-ledifferend/ pirates-puritains�php; Zugriff am 25� 5� 2017� 32 K� Fitzpatrick, Planned Obsolescence: Publishing, Technology, and the Future of the Academy, MediaCommons Press, 2009, 16; http: / / mcpress�media-commons�org/ plannedobsolescence/ ; Zugriff am 25� 5� 2017� Printversion: New York, 2011� 33 Weiteres zu diesem Thema bei C� Clivaz, Lost in translation? The odyssey of the ,digital humanities‘ in French, Studia UBB Digitalia 62 (2017/ 1), 26-41� 44 Claire Clivaz einschließt und deshalb einen interpretativen Akt darstellt“� 34 Auch Computersprachen wie Unix 35 bleiben Sprachen und bedürfen der Interpretation, die eine Kernaufgabe der Geisteswissenschaften 36 ist� In diesem Kontext befassen sich etliche Geisteswissenschaftler mit unserer Beziehung zur Symbolik des Buches, oder gar des Buches der Bücher, wenn sie von der symbolischen Wirkung der Bibel sprechen, etwa Jean-Claude Carrière, Umberto Eco, 37 oder neuerdings Maurice Olender� Während das SEK-Dokument daran erinnert, dass die Beziehung zwischen dem Christentum und dem Buch nicht essentiell ist 38 , gehört Olender mit seinem jüdischen kulturellen Hintergrund zu denjenigen Geisteswissenschaftlern, die eine grundlegende Verbindung zwischen dem Urkundenbestand zumal des Christentums und der westlichen Zivilisation sehen� 39 Seine Sorge ist, dass das digitale Schreibmaterial uns am Vergessen hindert und uns zwingt, ohne Maß alle geistigen Spuren aufzubewahren� 40 Sein Buch endet mit einer Art Parabel: Ein Mann führt ein „analphabetisches Lesen“ 41 vor, das die Lesenden zu der Frage anregt, ob ein comutergesteuertes automatisches Lesen ebenfalls solch analphabetisches Lesen hervorbringt� Während Schriftsteller, Philosophen und Denker aus verschiedenen Gebieten sich über den Exodus der Geisteswissenschaften aus dem Buch vielfältige Gedanken machen, nehmen Exegten an dieser Debatte nicht teil� Ihr bevorzugtes Studienobjekt, die Bibel, steht ganz im Zentrum des Interesses, und dementsprechend sind auch ihre Kernkompetenzen das Lesen und die Interpretation� Ich halte es für dringlich zu sehen, dass unser Forschungsfeld in die voranstehend 34 D� Fiormonte, The Digital Humanities from Father Busa to Edward Snowden, Media Development LXIV (2017 / 2), 29-33, hier: 30. Fiormonte bezieht sich hier interessanterweise auf Arbeiten der italienischen Forscher Tito Orlandi, Raul Mordenti and Giuseppe Gigliozzi� Das genannte Heft von Media Development wird ab August 2017 auf der WAAC Website (http: / / www�waccglobal�org/ resources/ media-development; Zugriff am 25� 5� 2017) zur Verfügung stehen, es zirkulierte aber vorab auch als pdf in der Humanist Discussion Group 31 (2017 / 51, http: / / lists�digitalhumanities�org/ pipermail/ humanist/ 2017-May/ 014809�html; Zugriff am 25� 5� 2017)� Ich zitiere aus dieser Quelle, nachdem ich vergeblich versucht habe, das Heft über die WACC-Website käuflich zu erwerben� 35 https: / / de�wikipedia�org/ wiki/ Unix; Zugriff am 25� 5� 2017� 36 Vgl� Y� Citton, L’Avenir des Humanités� Économie de la connaissance ou culture de l’interprétation? , Paris 2010, 21� 37 J�-C� Carrière / U� Eco, N’espérez pas vous débarrasser des livres, Paris 2009, 294: „In den Buchreligionen hat das Buch nicht nur als Behälter gedient, als Gefäß, sondern auch als ,weiter Winkel’, von dem aus es möglich war, alles zu beobachten, es zu einander in Beziehung zu setzen, möglicherweise sogar über alles zu entscheiden�“ 38 SEK, Sola lectura (Anm� 13), 7� 39 M. Olender, Un fantôme dans la bibliothèque, Paris 2017, 78-80. 40 Ebd�, 65� 41 Ebd., 190-192. Die Bibel im digitalen Zeitalter 45 skizzierte übergreifende Debatte involviert ist, und dass wir an dieser Debatte aus mindestens zwei Gründen teilnehmen sollten� Erstens geistert viel religiöses Vokabular in der digitalen Kultur herum, das kritisch reflektiert werden sollte, angefangen mit dem französischen Wort „ordinateur“ (Computer)� Jacques Perret, Professor an der Sorbonne, wurde im Jahr 1953 vom Präsidenten von IBM gebeten, eine französische Übersetzung für das englische „computer“ zu wählen� In einem Brief erläutert er seine Wahl mit Bezug auf die Schöpfungsgeschichte, ja sogar auf die katholische Zeremonie der priesterlichen „Ordination“� 42 Ein anderes Beispiel ist das Wort „cloud“ 43 , das die Vorstellung evoziert, dass digitales Material „in die Luft steigt“, und das außerdem unwillkürlich an die Wolke aus der Wüstenwanderung Israels erinnert, die die Gegenwart Gottes symbolisiert� Dieses Vokabular sollte analysiert und gegebenenfalls entzaubert werden� Dann würden wir möglicherweise auch davon Abstand nehmen, die digitale Welt als etwas „Entmaterialisiertes“ 44 anzusehen� Zweitens sollten Theologen und Exegeten an der Diskussion über die Frühphase der digitalen Geisteswissenschaften teilnehmen, in der immer wieder der Name des Jesuitenpaters Roberto Busa eine herausragende Rolle spielt, wie Julianne Nyhan und Andrew Flinn in Erinnerung rufen� 45 Der Besuch Busas beim Präsidenten von IBM im Jahr 1949 wird oft als Datum von historischer Tragweite betrachtet, und für Fiormonte besteht kein Zweifel, dass „Busas Besuch das Gründungsdatum für die Disziplin des Humanities Computing war (eine Bezeichnung, die Jahre später in Digital Humanities abgeändert wurde), vor allem aber schaffte er die Grundlage für eine tiefgreifende epistemologische und kulturelle Transformation“� 46 Mit Milad Doueihi stimme ich völlig darin überein, dass eine solch grundsätzliche historische Lektüre auch andere wichtige Gestalten in Betracht ziehen muss, etwa den genialen Informatiker Alan Turing (1912-1954). 47 Die kluge 42 Man kann diesen Bief online lesen: P� Nieuwbourg, Découvrez l’origine du mot ordinateur, 28� 07� 2009, http: / / blog�museeinformatique�fr/ Decouvrez-l-origine-du-mot-ordinateur-invente-il-y-a-pres-de-55-ans-par-Jacques-Perret-a-la-demande-de-IBM_a212�html; Zugriff am 25� 5� 2017� 43 S� J� Shep, Digital Materiality, in: S� Schreibman / R� Siemens / J� Unsworth (Hg�), A New Companion to Digital Humanities, New York 2016, Kindle edition, Z. 10 861-11 168. 44 C� Clivaz, Vous avez dit ’dématérialisation’? Diagnostic d’une panne culturelle� Le Temps 2� 07� 2016, https: / / blogs�letemps�ch/ claire-clivaz/ 2016/ 07/ 02/ vous-avez-dit-dematerialisa tion-diagnostic-dune-panne-culturelle/ ; Zugriff am 25� 5� 2017� 45 J�Nyhan / A� Flinn, Computation and the Humanities Towards an Oral History of Digital Humanities (Springer series on Cultural Computing), Cham 2016, 1; open access unter: https: / / link�springer�com/ book/ 10�1007%2F978-3-319-20170-2; Zugriff am 25� 5� 2017� 46 Fiormonte, The Digital Humanities (Anm� 34), 30� 47 M� Doueihi, Préface� Quête et enquête, in: O� Le Deuff (Hg�), Le temps des humanités digitales, Limoges 2014, 7-10; hier : 8-9. 46 Claire Clivaz Monographie von Steven E� Jones über Busa hat eine sinnvolle Forschungsfrage aufgeworfen, die uns besser verstehen hilft, was es mit diesem Jesuiten auf sich hatte� Jones versteht sein Buch nicht als ein religiöses oder theologisches Portrait Busas 48 , macht aber auf einige Punkte aufmerksam, die Theologen und Exegeten unterschiedlicher Konfessionen einzuladen geeignet sind, eine eigene Sicht auf diese Begebenheiten zu entwickeln� Jones unterstreicht, dass „das Interesse von IBM in den Jahren zwischen 1949 und 1952 darin bestand, in der Nachkriegszeit die diplomatischen Beziehungen zum Vatikan, zu Italien und zu ganz Europa zu stabilisieren, und damit die Belange der 1949 gegründeten firmeneigenen World Trade Corporation zu stärken“� 49 Busa, dem dieser kommerzielle Kontext klar vor Augen stand, fragt, ob wohl diese Kooperation zwischen einem Geschäftsmann und einem Priester als von Gott gesegnet angesehen werden könne, und er bejaht diese Frage unter Hinweis auf ein nicht verifizierbares Bibelwort� 50 Seine Begeisterung für Humanities Computing ist noch seiner in 2004 erschienenen Einleitung zur ersten Auflage des Companion to Digital Humanities zu entnehmen, wo er schreibt „ Digitus Dei est hic ! Der Finger Gottes ist hier! “� 51 Busa hat niemals die Computer-Philologie auf die Bibel angewendet, wohl aber auf die Qumran-Texte und auf die Werke des Thomas von Aquin, 52 die, wie ein IBM -Dokument hervorhebt, 53 den Umfang der Bibel um das Sechzehnfache überschreiten� Der erste Forscher, der sich tatsächlich eines computergestützten Zugangs zur Bibel bedient hat, war der Episkopale Pastor Rev� John W� Ellison, der zeitgleich mit Busas Index zu Thomas von Aquin einen Index zur englischen Revised Standard Version der Bibel erstellte� 54 Niemand kennt heute mehr seinen Namen, während der Name Roberto Busa durch einen regelmäßig vergebenen Preis auf dem Feld der Digital Humanities geehrt wird� 55 Im Hinblick auf die theologischen, politischen, ökonomischen und konfessionellen Implikationen dieser Geschichte wären weitere Forschungen von hohem Interesse� Ob man es nun begrüßt oder bedauert, das sola scriptura hat in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts mit John W� Ellison den digitalen Teil seiner Geschichte betreten, 48 S� E� Jones / Roberto Busa, S� J�, and the emergence of Humanities Computing� The priest and the punched cards, London 2016, 14� 49 Ebd�, 97� 50 Ebd�, 97� 51 R� Busa, Foreword: Perspectives on the Digital Humanities, in: S� Schreibman / R� Siemens / J� Unsworth (Hg�), A Companion to Digital Humanities, Oxford 2004, http: / / www�digitalhumanities�org/ companion/ ; Zugriff am 25� 5� 2017� 52 Jones, Roberto Busa, 13� 53 Ebd�, 126� 54 Ebd., 100-101. 55 http: / / adho�org/ awards/ roberto-busa-prize; Zugriff am 25� 5� 2017� Die Bibel im digitalen Zeitalter 47 und das Milieu der Bibelwissenschaften tut gut daran, sich an der Analyse dieser epochalen Neuerung des Beschreibmaterials zu beteiligen, der wichtigsten seit dem Übergang von der Rolle zum Kodex, so Roger Chartier und Christian Vandendorpe� 56 Wir wenden uns nun der Frage zu, was die besagte Neuerung gegenwärtig für die Edition des Neuen Testaments selbst bedeutet� 2. Textualität in der Diskussion: Vom Edieren des Neuen Testaments in einer digitalen Kultur Aufmerksame Professoren, die das Neue Testament in der Originalsprache unterrichten, machen die überraschende Erfahrung, dass Studierende zunehmend von der online-Version des Griechischen Neuen Testaments Gebrauch machen, anstelle ein gedrucktes , NT Graece‘ in der 28� Auflage des Nestle-Aland aufzuschlagen� 57 Wenn dann von studentischer Seite ein anderer Text als derjenige des Nestle-Aland vorgelesen wird, bedarf es regelmäßig einer Unterbrechung, um zu verifizieren, was für ein Griechisches Neues Testament die Studierendenden im Netz gefunden haben� Sucht man über google auf Französisch „Nouveau“ + „Testament“ + „Grec“, erscheint an erster Stelle eine anonyme, selbstgemachte Ausgabe des Griechisches Neuen Testaments, publiziert von der sogenannten „TheoTeX edition“� 58 Nach geduldiger Suche findet man eine einzigartige Erklärung zu TheoTeX: dieses Editionsprojekt möchte „Bücher über protestantische, evangelische Theologie mit Hilfe von LaTeX und Pearl in den Formaten PDF und ePub neu herausgeben“� 59 Zur anonymen Edition des Griechischen Neuen Testaments gibt TheoTeX die mit „Phoenix, den 12� September 2014“ unterzeichnete Erklärung 60 ab, dass es sich bei dem Text um eine Adaption der Robinson- Pierpont-Ausgabe des Byzantinischen Griechischen Neuen Testaments handelt, mit Änderungen und Modifikationen nach einem eigenen System� 61 Der/ die 56 R� Chartier, Les métamorphoses du livre: Les rendez-vous de l’édition� Le livre et le numérique, Paris 2001, 8; C� Vandendorpe, From Papyrus to Hypertext: Toward the Universal Digital Library (Topics in the Digital Humanities), Urbana (Illinois) 2009, 127; vgl� hierzu C� Clivaz, The New Testament at the Time of the Egyptian Papyri� Reflections Based on P12, P75 and P126 (P� Amh� 3b, Bod� XIV-XV and PSI 1497), in: C� Clivaz / J� Zumstein (Hg�), Reading New Testament Papyri in Context - Lire les papyrus du Nouveau Testament dans leur contexte (BETL 242), Leuven 2011, 15-55; hier: 20-23. 57 Nestle-Aland, Novum Testamentum Graece, Stuttgart 28� Aufl� 2012� Griechischer Text ohne Apparat: www�nestle-aland�com/ en/ read-na28-online/ , Zugriff am 25� 5� 2017� 58 https: / / theotex�org/ ntgf/ cover�html; Zugriff am 25� 5� 2017� 59 http: / / www�lulu�com/ spotlight/ TheoTeX; Zugriff am 25� 5� 2017� 60 https: / / theotex�org/ ntgf/ notice_theotex�html; Zugriff am 25� 5� 2017� 61 M� A� Robinson / W� G� Pierpont (Hg�), The New Testament in the Original Greek Byzantine Textform, Southborough (Massachusetts) 2005� 48 Claire Clivaz anonyme Autor/ in bringt seine/ ihre Freude darüber zum Ausdruck, dass es im digitalen Zeitalter so einfach ist, das Neue Testament in der Originalsprache zu lesen, macht jedoch keine Aussage darüber, ob er / sie das Copyright für die Robinson-Pierpont-Ausgabe eingeholt hat� 62 Auch fällt kein Wort über die finanziellen und / oder institutionellen Ressourcen für die Erstellung dieser selbstgemachten Edition� Wenn Studierende sich im akademischen Unterricht solcher Quellen bedienen, mag die Lehrperson in einem ersten Reflex mit Umberto Eco beklagen, dass das World Wide Web „jede Unterscheidung von Wahrheit und Irrtum verwischt“ (s� o� Kap� 1)� Aber diese selbstgemachte TheoTeX-Edition ist nur ein besonders seltsamer Fall der erdbebenartigen Situation auf dem Feld der Edition des Griechischen Neuen Testaments und der neutestamentlichen Textkritik (NtTk)� David Parker hat die digitale Wende in der NtTk in 2008 als „dramatische Veränderung“ bezeichnet 63 , auf einem Feld also, auf dem das Institut für Neutestamentliche Textforschung ( INTF ) und das International Greek New Testament Project ( IGNTP ) seit Jahrzehnten die Verantwortung für die wissenschaftliche Edition des Griechischen Neuen Testaments tragen� In 2012 habe ich diese „dramatische Veränderung“ in einigen Grundzügen beschrieben, mit Bezug v� a� auf den „Paukenschlag“ im Jahr 2010: auf dem Annual Meeting der Society of Biblical Literature ( SBL ) im November 2010 in Atlanta wurde eine neue, unabhängige Ausgabe des griechischen NT präsentiert und allen Teilnehmenden angeboten, herausgegeben von dem auf diesem Feld anerkannten Gelehrten Michael Holmes, mit Unterstützung von Logos Software und der Society of Biblical Literature. 64 Weder das INTF noch das IGNTP waren über das Projekt informiert worden� Für die mit neutestamentlicher Textforschung befassten Forscher war dies ein regelrechter Schock� 65 Obwohl die SBL -Edition auf der Ausgabe von Westcott / Hort aus dem 19� Jh� basiert 66 und sämtliche Informationen der Papyri ausblendet, wurde sie enthusiastisch aufgenommen, v� a� deshalb, weil sie den textkritischen Apparat open access anbietet, während die 28� Auflage des Nestle-Aland nur den griechischen 62 https: / / theotex�org/ ntgf/ notice_theotex�html; Zugriff am 25� 5� 2017: „Die Beschaffung derjenigen Werke, die nötig sind, um das Neue Testament in seiner Originalsprache zu lesen, war nie so einfach wie in unserem digitalen Zeitalter“ (anonymer Autor)� 63 D� C� Parker, An introduction to the New Testament manuscripts and their texts, Cambridge 2008, 1� 64 H� W� Holmes (Hg�), The SBL Greek New Testament, SBL / Logos Bible Software, 2010� Online edition: http: / / www�sblgnt�com; Zugriff am 25� 5� 2017� 65 Clivaz, Homer (Anm� 10), 2� 66 B� F� Westcott / F� J� A� Hort, The Greek New Testament� Peabody 2007; Reprint von The New Testament in the original Greek� Vol� 1: Text� Cambridge / London 1881� Die Bibel im digitalen Zeitalter 49 Text ohne Apparat open acess zur Verfügung stellt� 67 Der autodidaktische Chemiker Wiland Willker, Moderator des Yahoo Forums zur NtTk 68 , hat in 2010 den Wunsch geäußert, dass weitere Textkritiker neue Editionen des griechischen NT in der Art der Edition von Mike Holmes produzieren sollten� 69 In diese Richtung geht die angekündigte Tyndale House Edition of the Greek New Testament ( THEGNT ), von Dirk Jongkind, Peter Head und Peter Williams� Sie basiert auf der Tregelles-Edition aus dem 19� Jh� 70 und entsteht unter Mitarbeit des Teams von Dan Wallace am Center for the Study of the New Testament Manuscripts in Texas� 71 Dieses Phänomen, das ich in 2012 als „institutionelle Deregulierung“ der wissenschaftlichen Edition des Griechischen Neues Testaments bezeichnet habe 72 , hat sich in den vergangenen Jahren noch weiter ausgebreitet� Heute würde ich eher von einer institutionellen Diversifikation oder Transformation sprechen� Diese neutralere Bezeichnung ist erforderlich, weil einerseits klar ist, dass wir die frühere Situation nicht wiederherstellen werden, und andererseits, weil es mit Blick auf die NtTk eine Gesamtsicht dieser überaus komplexen Entwicklung zu gewinnen gilt, um zu verstehen, welche Prozesse tatsächlich ablaufen� Auf der Grundlage meiner eigenen Analysen, die in den kommenden Jahren gewiss noch weitergehen werden, möchte ich hierzu einige Bemerkungen machen� Erstens möchte ich mit Nachdruck unterstreichen, dass das INTF und das IGNTP ihre Arbeit mit aller Geduld und Beharrlichkeit forstsetzen sollten, damit auch künftig gewährleistet ist, dass es eine kritische Standardausgabe gibt, die von allen, die sich mit dem Neuen Testament wissenschaftlich befassen, vorrangig konsultiert werden sollte� Nicht zuletzt ist zu hoffen, dass diese Arbeit weiterhin mit Mitteln der öffentlichen Bildungshaushalte intensiv unterstützt wird� Das Aufkommen nichtakademischer Initiativen wie der TheoTeX-Edition des Griechischen Neuen Testaments hinterlässt einen durchaus zwiespältigen Eindruck: Nur detaillierte Nachforschungen könnten das Autorenteam oder 67 Vgl� Anm� 57� 68 Für eine Analyse der Entwicklung der NtTk in den sozialen Netzwerken vgl� C� Clivaz, Internet Networks and Academic Research: The Example of the New Testament Textual Criticism, in: C. Clivaz / A. Gregory / D. Hamidović (Hg.), in Zusammenarbeit mit S. Schulthess, Digital Humanities in Biblical, Early Jewish and Early Christian Studies (Scholarly Communication 2), Leiden 2013, 151-173. 69 W� Willker, Analysis of the SBL GNT in the Gospels, 2010, http: / / www-user�uni-bremen� de/ ~wie/ texte/ SBL-GNT-Analysis�pdf; Zugriff am 25� 5� 2017� 70 http: / / www.tyndale.cam.ac.uk/ thegnt; Zugriff am 25. 5. 2017; S. P. Tregelles, Hē kainē diathēkē = The Greek New Testament, London 1887. 71 http: / / www�tyndalehouse�com/ tregelles/ page8�html; http: / / www�csntm�org; Zugriff am 25� 5� 2017� 72 Clivaz, Homer (Anm� 10), 3� 50 Claire Clivaz die Gruppe ausfindig machen und die strategischen Intentionen hinter solch einem ja gewiss kostspieligen Projekt offenlegen� Bisher haben wir auf diese Fragen schlicht keine Antworten� Alte Handschriften neutestamentlicher Texte stoßen heute auf das Interesse in Kreisen, bei denen man ein solches gar nicht vermutet, bis hin zu salafistischen Zirkeln, die eine arabische Übersetzung des gesamten Codex Vaticanus open access zur Verfügung stellen� 73 Eine soziologische Analyse würde helfen, die Hintergründe einer solchen Initiative besser zu verstehen� Nicht zuletzt sichern das INTF und das IGNTP einen etischen 74 Zugang zur Erforschung und Edierung von Handschriften des Griechischen Neuen Testaments� Wenn sich beispielsweise Robinson und Pierpont auf Gott berufen und in die Einleitung zu ihrer Edition des Byzantinischen Griechischen Neuen Testaments ein Gebet für ihre Arbeit einfügen, 75 kann dies eine deutliche Barriere für säkulare Studierende und Forschende bedeuten� Im Anschluss daran ist zweitens zu bedenken: Die digitale Wende transformiert das Feld der NtTk in einer Weise, die die 28� Auflage des Nestle-Aland und erst recht eine zukünftige 29� Auflage mit erheblichen Herausforderungen konfrontiert� Es scheint mir ein dringendes Erfordernis zu sein, dass die Deutsche Bibelgesellschaft in Betracht zieht, den Apparat der 28� Auflage open access zu stellen� Solange dies nicht der Fall ist, werden vielerorts Apparate, die sich kritischen Standards allenfalls annähern, verwendet werden, nur weil sie open access zur Verfügung stehen� Dem Editionsteam des Nestle-Aland drängt sich außerdem die Frage auf, die Oliver Abel im Blick auf die neuen Freiräume des 17� Jh� gestellt hat (s� o� Kap� 1): „Die politische Frage lautet dann zunehmend: ,Wie können wir bei einander bleiben, wenn wir stets die Möglichkeit haben, ungebunden zu sein? ’“� 76 Die Innovation des New Testament Virtual Room of Manuscripts ( NTVRM ) ermöglicht ganz neue Formen direkter Zusammenarbeit zwischen Forschenden bei der Transkription von Handschriften� 77 Zugleich ist es aber illusorisch anzunehmen, dass eines Tages alle interessierten For- 73 Die Adresse der Website war: http: / / ww38�sheekh-3arb�net/ vb/ showthread�php? t=2127; sie ist nun archviert unter https: / / web�archive�org/ web/ 20140703080949/ http: / / www� sheekh-3arb�net/ vb/ showthread�php? t=2127&page=3; letzter Zugriff in 2016� Ein Screenshot einer Seite des transkribierten Codex Vaticanus in Arabisch ist abgedruckt bei S� Schulthess, The role of the Internet in New Testament Textual Criticism: the Example of the Arabic Manuscripts of the New Testament, in: Clivaz et al�, Digital Humanities, (Anm. 68), 71-81; hier: 76. 74 „Etisch“ wird hier gebraucht gemäß der in der Religionswissenschaft derzeit üblichen Definition: https: / / en�wikipedia�org/ wiki/ Emic_and_etic; Zugriff am 25� 5� 2017� 75 Vgl� etwa Robinson / Pierpont, The New Testament (Anm� 62), ii: „Unser Gebet und inständige Hoffnung ist, dass der Herr Jesus das Werk unserer Hände gedeihen lässt, und dass er unsere Arbeit zum Nutzen seines Reiches geschehen lasse�“ 76 Abel, Essai sur la prise (Anm� 31), 115� 77 http: / / ntvmr�uni-muenster�de/ ; Zugriff am 25� 5� 2017� Die Bibel im digitalen Zeitalter 51 schenden im selben virtual research environment ( VRE ) mit dem Edieren des Neuen Testaments befasst sein werden, wenn wir der Analyse von Fitzpatrick zur Bedeutung von Gemeinschaften in der digitalen Kultur folgen� 78 Die Wichtigkeit spezifischer, enger und diverser Gemeinschaften bzw� sozialer Netzwerke von Forschungsgemeinschaften wird täglich deutlicher� Ein eindrucksvolles Beispiel ist das derzeitige open-access -Projekt von PAVON e 79 an der Universität Balamand im Libanon, das eine Plattform für die arabischen Versionen des Neuen Testaments werden soll� Man sieht ohne Schwierigkeiten, dass ein solches Projekt in einem Land im Mittleren Osten seinen angemessenen Standort hat, und es ist gewiss für Arabisch sprechende Forschende in diesen Ländern und darüber hinaus von höchstem Interesse und von größter Wichtigkeit� Der linguistische Aspekt markiert fraglos einen Unterschied zwischen PA- VON e und dem NTVRM , aber die Frage nach Interaktionsmöglichkeiten mit der in Deutschland beheimateten Plattform sollte doch mindestens gestellt werden� Andere online-Projekte zur Edition neutestamentlicher Handschriften sind in Vorbereitung oder laufen bereits, wie etwa HumaReC, ein Projekt des schweizerischen Nationalfonds unter meiner Leitung, 80 für das Sara Schulthess und Anastasia Chasapi tätig sind� In diesem Projekt geht es um die einzige uns bekannte trilinguale neutestamentliche Handschrift in Arabisch, Griechisch und Latein, die unter der Sigel Marc� Gr� Z� 11 (379), GA 460 geführt wird� Neben der Untersuchung ihres Inhalts geht es zugleich darum, ein neues Modell kontinuierlicher Publikation von Daten zu testen, 81 ein virtual research environment ( VRE ), das mittlerweile von der schweizerischen Nationalbibliothek eine ISSN erhalten hat� Die einschlägigen Folioseiten werden nach und nach online gestellt� 82 Im Dialog mit dem Brill-Verlag arbeitet unser Team außerdem an einem neuen Modell der Hyperlink-Monographie, dem Web book. 83 Die Zusammenarbeit mit einem österreichischen Team erlaubt es uns, die Software Transkribus zur Erkennung handschriftlicher Texte zu testen� 84 Ein derartiges Projekt erfordert dementsprechend die Entwicklung eines spezifischen VRE � Die Frage 78 Vgl� Anm� 32� 79 http: / / pavone�uob-dh�org/ ; aktuelle Einträge: http: / / www�balamand�edu�lb/ News/ Pages/ PAVONe�aspx; Zugriff am 25� 5� 2017� 80 https: / / humarec�org/ ; http: / / p3�snf�ch/ project-169869; Zugriff am 25� 5� 2017� 81 https: / / humarec�org/ index�php/ continuous-publications-blog/ 12-announcements/ 18launching; Zugriff am 25� 5� 2017� 82 http: / / humarec-viewer�vital-it�ch; Zugriff am 25� 5� 2017� 83 https: / / humarec�org/ index�php/ continuous-publications-blog/ 11-articles/ 15-webbook; Zugriff am 25� 5� 2017� 84 https: / / humarec�org/ index�php/ continuous-publications-blog/ 19-transkribus; https: / / humarec�org/ index�php/ continuous-publications-blog/ 24-humarec-mentioned-by-theh2020-project-red-transkribus; Zugriff am 25� 5� 2017� 52 Claire Clivaz einer Interaktion mit dem NTVRM in Münster ist der nächste Punkt auf unserer Tagesordnung� Diese beiden Beispiele zeigen, wie dringlich die Frage „Wie können wir bei einander bleiben, wenn wir stets die Möglichkeit haben, ungebunden zu sein? “ auf dem Feld der NtTk ist� Neue Ideen und Innovationen in der Computertechnik sind hier zu entwickeln, um die effizienteste Interaktion zwischen dem NTVRM und anderen Plattformen mit neutestamentlichen Handschriften zu erreichen� Dieser Überblick fügt sich genau zu der Wendung von „Texten“ zu „Dokumenten“, die van Peursen in 2010 im Blick hatte 85 , eine Wendung, die beispielsweise auch von dem Projekt Homer Multitext zugrunde gelegt wurde, ein Projekt, das zu jedem einzelnen Manuskript arbeitet, anstatt eine kritische Ausgabe anzustreben� 86 Diese Wendung vom Text zum Dokument erklärt eine gewisse Besorgnis unter Neutestamentlern: Die Textausgaben der SBL und von Tyndale House , die auf gedruckte Ausgaben des 19� Jh� zurückgreifen, sind eine verständliche Reaktion auf eine Situation, in der die Idee eines unbestrittenen griechischen Standard-Texts des Neuen Testaments in Frage gestellt zu sein scheint� Folgerichtig bedarf es erneut eines „Mehrheitstextes“, eines textus receptus � Zugleich zeigt die einfache Tatsache, dass das Team von Tyndale House eine eigene Ausgabe vorbereitet, dass die Büchse der Pandora viel zu weit geöffnet ist, als dass man sie wieder schließen könnte� Wir haben bereits die Mehrzahl der neutestamentlichen Handschriften online, und es werden täglich mehr� Die Forschenden sind nicht mehr in der Lage, dies einfach zu ignorieren und so zu tun, als seien sie dem einfachen Zugriff verschlossen� Wird also die Bibel „weniger kanonisch“, so das SEK -Dokument (s� Kap� 1)? In dieser Situation ist es verblüffend zu lesen, was ich 1998 geschrieben habe, in einem „prädigitalen“ Abschnitt meiner Berufsbiographie� 87 Ich hatte mich damals für das sola scriptura in koinōnia ausgesprochen, in der Erwartung, dass der Kanon im Kontext der third quest in der Jesusforschung seine Bedeutung verlieren würde: „Man kann sich fragen, ob nicht die Neubestimmung des Kanons im Gefolge gewisser Auswirkungen der third quest die Apotheose der Verselbstständigung des sola scriptura offenbart: Wird dieses geflügelte Wort nicht das Faktum seiner Isolation sprengen? Werden die Buchdeckel nicht auf- 85 Vgl� Anm� 8� 86 http: / / www�homermultitext�org/ about�html: „Im Unterschied zu gedruckten Editionen, die eine Rekonstruktion des ursprünglichen Textes bieten, wie er vermutlich zur Zeit und an dem Ort seiner Entstehung existierte, stellt Homer Multitext Anwendungen zur Verfügung, die die Rekonstruktion einer Vielzahl von Texten erlauben, wie sie zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten vorhanden waren“; Zugriff am 25� 5� 2017; zitiert bei Clivaz, Homer (Anm� 10), 5� 87 Zur digitalen Wende innerhalb meiner eigenen neutestamentlichen Forschung vgl� Clivaz, Categories (Anm. 18), 35-39. Die Bibel im digitalen Zeitalter 53 springen und die Buchblätter in den Wind fliegen lassen, aus denen das Schriftwerk bestand? “� 88 Fast zwanzig Jahre später ist es das Schreiben selbst, das sich vom Buch emanzipiert hat, und das sola scriptura sucht nach neuen Ausdrucksformen, entweder als sola lectura , so das SEK -Dokument, oder, wie hier vorgeschlagen, als sola scriptura in koinōnia � In 1998 hatte ich freilich den Zusammenhang zwischen dem materialen Schreiben und unserer Wahrnehmung der Texte selbst überhaupt nicht im Blick� Nimmt man die digitale Wende mit hinzu, wird es möglich zu zeigen, in welcher Weise die Auffassungen von den alten christlichen Texten zu verschiedenen Zeiten vom Schreibmaterial selbst bestimmt werden� 89 In einer Zeit, da wir so vieler christlicher Handschriften ansichtig werden und sie bewerten können, so wie sie uns vorliegen, steht das Erfordernis, nicht eine einzige kritische Ausgabe des Neuen Testaments vorzuhalten, sondern mehrere von unterschiedlicher Art, augenscheinlich in einem engen Zusammenhang mit der Frage nach der Gemeinschaft, sei es die vertraute, große akademische Gemeinschaft (für die Nestle-Aland-Ausgabe) oder spezifischere Gemeinschaften (für die SBL - oder die Tyndale House -Edition)� Anders gesagt finden wir uns in einer Situation vor, die einige Gemeinsamkeiten mit der „Ära der wichtigen Kodizes“ im 4�/ 5� Jh� aufweist (Sinaiticus, Vaticanus, Alexandrinus, etc�): Der Kodex Sinaiticus präsentiert ein Griechisches Neues Testament gemäß der Sinaiticus- Gruppe, und ganz ähnlich präsentiert die Tyndale House -Edition ein Griechisches Neues Testament gemäß Tregelles und den Forscher von Tyndale House � Es ist dementsprechend sehr nützlich, auf die Worte Karl Barths aus jenem Video zu hören, wenn er erklärt, dass sein Schreiben etwas mit Menschen zu tun hat, mit einer „unsichtbaren Gemeinschaft“� Barth erklärt sie mit seiner eigenen Stimme und in seinem eigenen Akzent, in einem kurzen und eindrucksvollen Video: 90 Gewiss hat es auf uns eine andere Wirkung, Barth selbst zuzuhören, als wenn wir seine Sätze lesen (siehe Kap� 1)� Lassen Sie uns im letzten Teil dieses Aufsatzes über multimodale digitale Kulturen … und Schrift(en) nachdenken� 3. Eine digitale multimodale Schrift in Gemeinschaften Typisch für die Bedingungen der heutigen digitalen Kultur ist das Barth-Video open access verfügbar, ein Upload des Zentrums für Barth-Studien, jedoch ohne Angaben zu Ort, Zeit und Umständen seiner Produktion� Geisteswissenschaftler, die an diesem Zentrum arbeiten, sind im exakten Zitieren von Texten samt 88 Clivaz, La troisième quête (Anm� 22), 557� 89 Clivaz, Categories (Anm. 18), v. a. 48-55. 90 Vgl� Anm� 17� 54 Claire Clivaz genauer Quellenangabe gewiss hervorragend ausgebildet� Textwissenschaftler behandeln üblicherweise eine gesprochene Sequenz von 60 Sekunden in Baslerdütsch nicht in gleicher Weise wie einen schriftlichen Text in Hochdeutsch� Diese kleine Anekdote lässt ahnen, welch mächtige digitale Welle die Geisteswissenschaften transformiert, nämlich die Möglichkeit, multimodales Wissen und multimodale Ausdrucksweisen, Textkreuzungen, Bilder und Klänge zu schaffen� Über zwei Generationen hinweg (1945-2000) haben die Geisteswissenschaften computergenerierte Resourcen wesentlich als Weise des „Auflistens“ von Wissen verstanden, um Kataloge und Klassifikationssysteme jeglicher Art entsprechend einer Logik der Zuordnung zu erstellen� Die „Geisteswissenschaften“ und das „Computerwesen“ waren wesentlich textbasiert und auf Textualität gegründet� Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges hat der geniale Vannevar Bush ein hypothetisches Proto-Hypertext-System beschrieben, das er „memex“ ( memory extender ) nannte� Darin könne „ein Individuum seine sämtlichen Bücher, Aufzeichnungen und seine gesamte Kommunikation speichern“ und damit „ganz neue Formen der Enzyklopädie“ 91 erschaffen� Eine Liste „literarischer Werke in maschinenlesbarer Form“ wurde im Jahr 1966 veröffentlicht� 92 In der Zeit von den sechziger bis in die achtziger Jahre wurden zahlreiche Textverarbeitungsprogramme entwickelt, und 1987 wurde das Konsortium mit Namen Text Encoding Initiative gegründet, um die Anstrengungen auf dem Gebiet der elektronischen Editionen in den Geisteswissenschaften zu koordinieren� Dutzende Forscherinnen und Forscher kooperierten, um gemeinsame Richtlinien zu erarbeiten� Deren Veröffentlichung erfolgte erstmals in 2002� 93 Diese zentrale Beziehung zwischen Geisteswissenschaften, Computerwesen und Textualität kann gar nicht wichtig genug genommen werden� Als Busa in 2004 sein Vorwort zur ersten Auflage seines Companion to Digital Humanities schrieb, betonte er, dass „das Computerwesen in den Geisteswissenschaften nichts anderes bedeutet, als jede mögliche Analyse menschlicher Ausdrucksweisen (weshalb es eine ausgesucht ,humanistische‘ Tätigkeit ist), im weitesten Sinne des Wortes, von der Musik bis zum Theater, vom Design und der Malerei bis zur Phonetik, doch bildet den Kern stets der Diskurs geschriebener Texte“� 94 Aber bereits ein kurzer 91 V� Bush, As we May Think, The Atlantic Magazine 9 July 1945, http: / / www�theatlantic� com/ magazine/ print/ 1945/ 07/ as-we-may-think/ 303881/ ; Zugriff am 25� 5� 2017� 92 G� Carlson, Literary Works in Machine-Readable Form� Computers and the Humanities 1, Computer and the Humanities 1 / 3 (1967), 75-102. 93 C. Clivaz / D. Hamidović, Critical Editions in the Digital Age, in: M.-L. Ryan / L. Emerson / B� Robertson (Hg�), The Johns Hopkins Guide to Digital Media and Textuality, Baltimore 2014, 94-98. 94 R� Busa, Foreword: Perspectives on the Digital Humanities, in: S� Schreibman / R� Siemens / J� Unsworth (Hg�), A Companion to Digital Humanities, Oxford 2004, http: / / www� digitalhumanities�org/ companion/ ; Zugriff am 25� 5� 2017� Die Bibel im digitalen Zeitalter 55 Blick auf die Art von Daten, die wir in den kommenden Jahren im Internet zu erwarten haben, zeigt, dass sich die Geisteswissenschaften gewissermaßen „aus dem Papier herausdigitalisiert“ haben und multimodal werden in digitalen Formaten, die nicht mehr druckbar sind: In den 2020er Jahren werden nach Vorhersagen von IBM drei Viertel aller Daten aus audio-visuellem Material bestehen (Videos, Bilder, Audio-Material)� 95 Geisteswissenschaftlern fehlt üblicherweise die Zeit, sich (und ihre exzellenten Fähigkeiten) auf dieses zunehmend relevante Material einzustellen� Schon in 2009 äußerte Fitzpatrick immerzu: „Wenn wir die Möglichkeit haben, per Video auf Videos zu antworten, wenn wir nahtlos von Audio-Dateien zu Bildern und zu Texten wechseln können als ein Mittel der Darstellung von Musik, dann sehen wir uns möglicherweise veranlasst, uns Gedanken darüber zu machen, was wir eigentlich produzieren, wenn wir schreiben, und was es damit auf sich hat, dass diese unterschiedlichen Modi der Kommunikation in komplexen Dokumentenformen zueinander kommen“� 96 Gegenwärtig werden interessante Projekte im Schnittfeld von Texten und Klängen entwickelt, etwa das Baudelaire Song project. 97 Multimodale Editionsprogramme entstehen, etwas Scalar oder Etalks 98 , und das Thema der Visualisierung von Daten ist in den digitalen Geisteswissenschaften vorherrschend� 99 Die Revolution des multimodalen Wissens erreicht selbst die Biblische Exegese mit dem Aufkommen des Performance Criticism 100 , oder mit dem in 2017 erschienenen Buch Art Visual Exegesis: Rhetoric, Texts, Images von Robbins und Melion� 101 Noch fällt es natürlich schwer vorauszusagen, wie sich die Neutestamentliche Exegese in einer mutimodalen Kultur entwickeln wird, aber die Gebrauchsweisen der Bibel sind bei ihren Leserinnen und Lesern bereits im Umschwung, wie man anhand von bibelbezogenen Anwendungsprogrammen, die man auf dem Markt findet, beobachten kann� Tim Hutchings stellt fest, dass „in vielen Gemeinden und Bibelgruppen, zumindest in England und den Vereinigten Staaten, 95 Die zu erwartende Welle von Daten ist ablesbar an der Zunahme audiovisueller Daten (Videos, Bilder, Audio-Dateien), wie sie von IBM Market Insights (2013) abgebildet wird: https: / / avindhsig�wordpress�com/ background/ ; Zugriff am 25� 5� 2017� 96 Fitzpatrick, Planned Obsolescence (Anm� 32), 27� 97 https: / / www�baudelairesong�org/ ; Zugriff am 25� 5� 2017� 98 http: / / scalar�usc�edu/ ; etalk�vital-it�ch; Zugriff am 25� 5� 2017� Vgl� C� Clivaz / M� Rivoal / M� Sankar, A New Platform for Editing Digital Multimedia: The eTalks, in: B� Schmidt / M� Dobreva (Hg�), New Avenues for Electronic Publishing, Amsterdam 2015, 156-159. 99 Vgl� z� B� T� Arnold / L� Tilton, Humanities Data in R� Exploring Networks, Geospatial Data, Images, and Text, Cham 2015� 100 B� Oestreich / G� S� Holland, Performance Criticism of the Pauline Letters, Eugene 2016� 101 W� K� Robbins / W� S� Melion, Art Visual Exegesis: Rhetoric, Texts, Images (Emory Studies in Early Christianity Book 19), Houston 2017� 56 Claire Clivaz Smartphones und Tablets benutzt werden anstelle von gedruckten Bibeln� […] Verlage sind dazu übergegangen, Bibeln mit Multimedia-Ressourcen auszustatten, die den Lesenden zu tieferen und häufigeren Begegnungen mit dem Text zu verhelfen versprechen“� 102 In zwei Aufsätzen hat Tim Hutchins die beiden erfolgreichsten Bibel-Anwendungen analysiert, YouVersion und GloBible 103 , die von evangelikalen christlichen Gruppen beworben werden� 104 YouVersion ist eine Gründung von Life�Church, „nicht eine unabhängige onlinecommunity , sondern der online-Dienst einer einzigen, großen Kirche, die 1996 in den Vereinigten Staaten gegründet wurde“, und die in 2009 über 13 örtliche Niederlassungen verfügte� 105 Hutchings wichtigster Punkt ist klarzumachen, dass im Unterschied zur Auffassung vieler evangelikaler Theologen die Bibel sich mit diesen Anwendungen nicht „verflüchtigt“ oder „verflüssigt“� Sie bleiben innerhalb eines starken evangelikalen Interpretationsrahmens, während sie sich aller verfügbaren Multimedia-Formate bedienen: „Diese Produkte umfassen umfangreiche Bibliotheken mit Audio- und Multimedia-Angeboten, sowie eine Auswahl aus Tausenden von Texten, jedoch keine endlosen Portfolios� Die Inhalte werden gründlich ausgewählt, ebenso die Optionen für die Nutzer beim Navigieren durch die Bibliothek� Gelegentlich kann das digitale Produkt sogar zu Lasten der Unabhängigkeit des Nutzers gehen, wenn Ratschläge gegeben oder Abwege getadelt werden, oder wenn persuasive Techniken verwendet werden, um auf Gewohnheiten der Beschäftigung mit den Texten einzuwirken� […] Meine Belege zeigen, dass die Gründer, Designer und Vermarkter einiger digitaler Bibeln sehr um eine traditionelle evangelikale Einstellung zur Bibel bemüht sind� Es bedarf jedoch“, meint er, „weiterer Forschungen, um die Folgen eines großflächigen Gebrauchs digitaler Texte innerhalb religiöser Gemeinschaften beurteilen zu können“� 106 Interdisziplinäre Forschungsprojekte von Theologen sollten sich dieses Themas annehmen� Diese Anwendungen sind auf jeden Fall ein reiches Laboratorium, um die unterschiedlichen Gebrauchsweisen multimodaler Repräsentationen biblischer Inhalte zu beobachten� Ein besonderes Phänomen scheint die Wiederkehr der 102 T� Hutchings, Design and the digital Bible: persuasive technology and religious reading, Journal of Contemporary Religion 32 (2017 / 2), 205-219, hier 205; DOI: 10�1080 / 13 537 90 3�2017�1 298 903; http: / / dx�doi�org/ 10�1080/ 13537903�2017�1298903; Zugriff am 25� 5� 2017� 103 https: / / www�youversion�com/ ; https: / / globible�com/ ; Zugriff am 25� 5� 2017� 104 Vgl� auch T� Hutchings, E-reading and the Christian Bible, Studies in Religion / Sciences Religieuses 44 (2015 / 4), 423-440. 105 Hutchings, Creating Church (Anm� 12), https: / / online�vitalsource�com/ books/ 9781136277498/ epubcfi/ 6/ 32! / 4[ch08]/ 8@0: 31�3; https: / / www�life�church; Zugriff am 25� 5� 2017� 106 Hutchings, Design (Anm. 102), 215-216. Die Bibel im digitalen Zeitalter 57 Mündlichkeit zu sein� Am 15� April 2017 war auf YouVersion zu erfahren, dass dessen Benutzer in Indien 166 schriftliche Verse geteilt haben, dass in Ägypten 3525 Audio-Kapitel gehört wurden, und 94 in der Ukraine� Am selben Tag wurden in Schweden 25 schriftliche Verse geteilt, aber im selben Land 2532 Kapitel der Bibel angehört� Diese Beobachtungen fügen sich zum generellen Eindruck einer Wiederkehr der Mündlichkeit in der westlichen Kultur� Hierbei kann man beispielsweise auf das Aufkommen von „Kinos für die Ohren“ verweisen, oder auch Festivals literarischer Aufführungen, oder auf das neue kulturwissenschaftliche Forschungsfeld der Sound Studies. 107 Das Wort und die Schrift, das alte theologische „von Angesicht zu Angesicht“ schickt sich an, unsere volle Aufmerksamkeit zu beanspruchen� In diesem Kontext verliert die Versicherung, dass „die Schrift die Stelle des Ursprungs besetzt“, auch wenn sie als „historisch betrachtet sekundäres Phänomen“ 108 erkannt wird, an Plausibilität� Wenn dagegen das SEK -Dokument formuliert, dass „das Christentum keine Buchreligion ist“ 109 , scheint dies unserer gegenwärtigen kulturellen Situation näher zu stehen� „Die Emanzipation der Schrift vom Buch“ verweist uns in aller Deutlichkeit auf jene Frage, die seit dem 17� Jh� unbeantwortet ist: „Wie können wir bei einander bleiben, wenn wir stets die Möglichkeit haben, ungebunden zu sein? “� Das Thema der Gemeinschaft ist uns aufgegeben, wenn sola lectura zur protestantischen Kernkompetenz erklärt wird� 110 Sind die unterschiedlichen protestantischen Kirchen bereit, das sola sciptura als lectura zu verstehen, die in koinōnia geschieht? In der digitalen Kultur ist dies nicht so sehr eine theologische oder konzeptionelle, sondern eine sehr konkrete Frage, da sich die Schrift selbst vom Buch emanzipiert hat� Die ungebundenen digitalen Geisteswissenschaften werden zu neuen Grenzen vorstoßen für das fünfhundert Jahre alte sola scriptura � 107 Clivaz et al., A New Platform, 156-157. 108 Vgl� Anm� 3� 109 SEK, Sola lectura? (Anm� 13), 7� 110 Ebd�, 31: „Lesen ist eine Kernkompetenz des Protestantismus� Seit seinen Anfängen in der Reformation ist er mit Leseerfahrungen verbunden - bezogen auf die Bibel und weit darüber hinaus�“ Zeitschrift für Neues Testament Heft 39 / 40 20. Jahrgang (2017) Die Kirche und das Alte Testament Ein Debattenbeitrag mit Fokus auf dem Corpus Paulinum Jan Dochhorn 1. Der Anlass Der Systematiker Notger Slenczka hat - nach einer Zeit längeren Nachdenkens zum Thema und im Anschluss an Martin Luther sowie vor allem an Schleiermacher, von Harnack und Bultmann - kürzlich Thesen formuliert, die ich hier dahingehend zusammenfasse, dass dem Alten Testament in der Kirche, im Lebensraum einer in Christus qua Gott erfahrenen universalen Gottesliebe, nicht kanonische Geltung zukommen könne, und dies ungeachtet der erkennbaren Bezogenheit der neutestamentlichen Autoren auf das Alte Testament, sondern dass ihm eher der Rang der Apokryphen in der Lutherbibel eignen müsse, gut und nützlich zu lesen, ein Platzhalter vorchristlicher Glaubenserfahrung, nicht auf Christus hin auszulegen, partikular auf Israel bezogen und als Anrede Gottes alleine dem Judentum zugehörig: Es sei „respektlos gegenüber dem Judentum und daher nicht akzeptabel“, wenn Christen angesichts dieses jüdischen Buchs sagen: „Sorry, Leute, durch Jesus Christus gehört das halbe Wohnzimmer hier uns, und das richten wir jetzt neu ein - Christus, Ostern, unsere Liturgie usw�“ 1 1 Slenczkas Thesen haben Aufsehen erregt und sehr heftige Reaktionen ausgelöst� Material pro et contra zur Diskussion findet sich auf den Lehrstuhlseiten von Slenczka, vgl� https: / / www�theologie�hu-berlin�de/ de/ st/ AT; von den Beiträgen Slenczkas sind vor allem aufzuführen: N� Slenczka, Die Kirche und das Alte Testament, in: E� Gräb-Schmidt (Hg�), Das Alte Testament in der Theologie (Marburger Theologische Studien 119), Leipzig 2013, 83-119 sowie ein Vortragsmanuskript - ders., Was soll die These „Das AT hat in der Kirche keine kanonische Geltung mehr? “, https: / / www�theologie�hu-berlin�de/ de/ st/ wassoll-die-these�pdf, wo er auf S� 1 ältere Veröffentlichungen aus seiner Produktion auf- 60 Jan Dochhorn Das zuletzt Mitgeteilte ist wichtig für eine gerechte Würdigung dieses Standpunkts: Notger Slenczka geht aus von Grundanliegen des christlich-jüdischen Dialogs� Meines Erachtens liegt hier der archimedische Punkt seiner Argumentation, und an ihm werde ich nachfolgend in der Hauptsache ansetzen� Es wird darum gehen, eine kirchliche Israelologie zu formulieren, in deren Rahmen der Stellenwert des Alten Testaments zu bestimmen ist� Dafür werde ich zunächst Spezifika der Argumentation Slenczkas in den Blick nehmen (2), sodann paulinische Befunde zum Thema Israel und Gesetz / Heilige Schrift skizzieren (3) und davon ausgehend thesenartig israelologische und ekklesiologische Aussagen formulieren, die eine christliche Rezeption des Alten Testaments begründen, aber auch das Verhältnis von Christen zur jüdischen Religion und darüber hinaus zu nichtchristlicher Religiosität überhaupt betreffen (4)� 2. Zu den Thesen Slenczkas 1. Das Neue am Christentum und die Religionsgeschichte: Ein wesentliches Moment in der Argumentation Slenczkas besteht in der Feststellung, dass mit dem Christentum schon im Neuen Testament ein dem Judentum gegenüber Neues enstanden ist� Passend dazu datiert er (ähnlich wie etwa Larry Hurtado und ich selber) hoheitschristologische Konzepte früh (er sieht sie schon bei Paulus, vgl� Slenczka, Geltung, 14)� Forschungstendenzen, die auf eine späte Trennung der Wege von Judentum und Christentum hinauslaufen, 2 scheint er nicht aufzunehmen� Dass dabei das Judentum eine historische Voraussetzung des Christentums sei, stellt er nicht in Abrede, anderenfalls wäre das Christentum ja auch nicht ein dem Judentum gegenüber Neues� Diese Denkfigur ist für sich genommen logisch intakt: Voraussetzung ist nicht Wesen, ähnlich wie causa efficiens nicht causa formalis ist� Zu fragen wäre, ob es „das Judentum“ überhaupt schon gegeben habe (Peter Schäfer hebt den Einfluss des Christlichen bei der Gestaltwerdung des klassischen Judentums hervor) 3 und ob bei Slenczka und den von ihm referierten Vorgängern Altes Testament und Judentum hinreichend differenziert werden� listet, anhand derer sich sein Entwicklungsgang rekonstruieren lässt� Zum Zitat oben vgl� Slenczka, Geltung 11� 2 Zur Forschungsdiskussion vgl� etwa A� Becker / A� Yoshiko-Reed, The Ways that Never Parted� Jews and Christians in Late Antiquity and the Early Middle Ages (Texte und Studien zum Antiken Judentum 95), Tübingen 2003� 3 Vgl� Peter Schäfer, Die Geburt des Judentums aus dem Geist des Christentums� Fünf Vorlesungen zur Entstehung des rabbinischen Judentums (Tria Corda 6), Tübingen 2010� Die Kirche und das Alte Testament 61 2. Evolutionismus : Das wesentlich Neue des Christentums ist nach von Harnack und Schleiermacher und mit ihnen auch Slenczka allerdings nicht bei seinen Anfängen „wie Athene vollgerüstet dem Haupt des Zeus entspr[ungen]“ (Slenczka, Kirche, 92), sondern ist erst im Verlaufe eines geschichtlich-evolutionären Prozesses der Bewusstseinsbildung zu sich selbst gekommen, speziell in der Neuzeit� Das fromme Selbstbewusstsein des Christentums in der Neuzeit erfasst dieses als eine Religion universaler Menschheitsliebe� Infolge dessen findet es sich in Texten des Alten Testaments vielfach nicht wieder, da dieses primär partikular orientiert ist (s� u�)� Die Denkfigur, derzufolge sich erst im Laufe einer Entwicklung das Wesen eines Phänomens voll herausbildet, kann historiographisch ihre Berechtigung haben: Anfänge mögen für die Eigenart eines historischen Phänomens typisch sein, sind aber nicht die Eigenart selber� Ich selbst habe eine ähnliche Denkfigur auf die Trinitätstheologie bezogen, die offenbar auch Slenczka für eine sachgerechte Entfaltung christlicher Anfänge hält (Slenczka, Geltung, 14-15; sein Verhältnis zu kirchlicher Tradition ist keineswegs nur negativ; ich sehe in manchem, was er schreibt, einen konservativen Zug)� Kennzeichnend für Slenczka und seine neuprotestantischen Vorgänger ist allerdings, dass am Ergebnis christlicher Bewusstwerdung auch die Voraussetzungen des Bewusstwerdungsprozesses (Schrift und Tradition) gemessen werden (im gegebenen Falle das Alte Testament)� 4 Ein solcher Vorgang ist für kulturevolutionäre Prozesse nicht ungewöhnlich; er hat sich schon in der 4 Zur Illustration dieses hermeneutischen Vorgangs vgl� das Schleiermacherreferat bei Slenczka, Kirche, 99 über Elemente, die „der Glaube“ aus dem Judentum übernimmt: „Entweder eignet er sie so an, dass sie zum genuinen Ausdruck der spezifisch christlichen Gestalt der Frömmigkeit werden, oder er stößt die Elemente, die nicht Ausdruck dieser Frömmigkeit sein können, wieder ab� Der Prozess der Rezeption … hat sein Kriterium am christlich frommen Selbstbewusstsein�“ Dr. theol. Jan Dochhorn, geboren am 23� 12� 1968 (Hannover), 2007-2014 Lektor / Associate Professor für Neues Testament in Aarhus (Dänemark)� Seit 2014 Senior Lecturer / Associate Professor für Neues Testament in Durham (United Kingdom)� 62 Jan Dochhorn griechischen Kirche ereignet, die aufgrund der trinitätstheologischen und christologischen Klärungen des vierten bis achten Jahrhunderts vieles Ältere einer Zensur unterworfen hat, nicht zuletzt Origenes, von dem wohl nicht nur ich gerne mehr zu lesen hätte� Es ist hier ein Problem angedeutet: Das vom Bewusstwerdungsprozess ausgelöste Selbstbewusstsein kann eine Zensierung der Vergangenheit und damit eine Verarmung auslösen, im schlimmsten Falle eine Erstarrung in einem narzisstischen Selbstgespräch� Es muss nicht jetzt so sein, erst recht nicht bei Slenczka, über dessen Affinitäten zu Hochchristologie und Trinitätstheologie ja schon die Rede war, aber ich denke an zukünftige Generationen� Für deren geistiges Wohlergehen wird es notwendig sein, dass wir uns (nicht nur in der Theologie) vom Avantgarde-Konzept verabschieden� Avantgarde erhebt - oftmals ausgestattet mit reichem Traditionswissen - den Anspruch, einen Standard zu begründen, hinter den man nicht zurück könne� Sie produziert damit tendenziell Epigonen, die nur noch auf eine Wand sehen, die eine Vorgängergeneration zwischen ihnen und der Vorwelt errichtet hat� Ich halte dagegen: Der Blick zurück ist möglich und notwendig (für Katholiken: Es gibt ein Leben vor dem zweiten Vaticanum)� Wir brauchen Frischluftzufuhr aus der Vergangenheit� Die Vergangenheit kann indes als ein Lebendiges wieder nur in einem Akt kritischer Rezeption angeeignet werden� Wir dürfen feststellen: Die heiligen Schriften und desgleichen die Tradition, auf denen Religion, die rechte Verehrung Gottes, gründet, können Mist sein� Aber wir stehen drauf: Auf dem Mist wächst es sich am besten� 3. Das Alte Testament als Dokument eines partikularen Religionsverständnisses: Nicht immer wird klar, worin der Partikularismus des Alten Testaments sich für Slenczka manifestiert, aber einige Hinweise gibt er doch: Er erwähnt Rachepsalmen, in denen der Beter seine Feinde oder die Feinde Israels verwünscht, nicht zuletzt das Ende von Psalm 139, und konstatiert, dass hier das christlich-fromme Bewusstsein Fremdheit empfinde (Slenczka, Geltung, 12)� Unklar bleibt für mich, ob bei der hier geübten Sachkritik nicht die Grenzen zwischen den Konzepten „partikular“ und „gewaltbesetzt“ verschwimmen� Zu fragen bleibt auch, welche Rolle dem Judentum in diesem Zusammenhang zukommen soll� Nachalttestamentlich-jüdische Tradition, auf die Slenczka so weit ich sehe, nicht zu sprechen kommt, kann durchaus eine universale Religiosität widerspiegeln, mitunter viel eher als christliche Tradition: Während etwa Gottesebenbildlichkeit im Neuen Testament fast durchgängig christologisch vermittelt erscheint und damit zum Heilsstand der Christen gehört (auf eine mögliche Ausnahme in 1 Kor 11,7 sind die wenigsten stolz), verstehen rabbinische Überlieferungen sie als Merkmal der Gesamtmenschheit, etwa in Die Kirche und das Alte Testament 63 Sifre Leviticus 19,18 / / jNedarim 9,4 (etwas anders: Bereschit Rabbah 24,7): Dort bezeichnet Aqiba die Liebe des Nächsten nach Lev 19,18 als großes Prinzip der Thora, während Ben Azzaj die Gottesebenbildlichkeit des Menschen nach Gen 5,1 zu einem noch größeren Prinzip erhebt, wohl im Sinne allgemeiner Menschenliebe, die als den Nächsten nicht nur den Volksverwandten versteht� Der gelehrte Rabbinist Billerbeck kennt diese - wohl unzweifelhaft universalistische - Tradition, hält aber mit einiger Mühe daran fest, „dass der erste, der die Menschheit gelehrt hat, in jedem Menschen den „Nächsten“ zu sehen … Jesus gewesen ist“� 5 Wir haben Glück: Die betreffende Tradition datiert wohl nach Jesus� Aber was ist damit gewonnen im Sinne einer passablen Christologie? Ein Nachweis der Einzigartigkeit Jesu im supranaturalistischen Stil wäre möglicherweise überzeugender ausgefallen� Universalismus ist nicht exklusiv christlich, Christentum nicht exklusiv universalistisch� Aber sehen wir einmal vom Christentum (und Judentum) ab und gestatten wir uns wenigstens en passant eine Frage, die Slenczka meines Wissens nicht berührt: Ist Universalismus überhaupt gut? Mindestens Slenczkas Vorgänger Schleiermacher und von Harnack haben ihren offenbar hochgeschätzten christlichen Universalismus im Kontrast zu einem jüdischen Partikularismus entworfen (vgl. Slenczka, Kirche, 89-100). Weswegen eignet dieser Menschenliebe ein derart polemischer Zug? War ein jüdisches Beharren auf identitätsbezogener Abgrenzung, das es gewiss gegeben hat, im Vergleich dazu nicht eher sympathisch? Seit der französischen Revolution liegt das Ideal universaler Menschenverbrüderung in der Luft, meines Erachtens überwiegend als Ursache für Kriege� Der zeitliche Einklang des Universalismus-Ideals mit der Kolonialzeit kann doch nicht nur ein Zufall sein� Die vom Kommunismus hinterlassenen Leichenberge in nur einem Satz zu erwähnen, verbietet sich schon fast angesichts des Ungeheuerlichen, was diese apokalyptische Weltbefreiungsphantasie hinterlassen hat (und verführbar waren vor allem Intellektuelle, weithin unfähig zum Eingeständnis der Verblendung bis heute)� Und für die Gegenwart lässt sich konstatieren, dass Ideale einer universalen Menschheitsliebe mit Internationalisierung einhergehen können, als explizite oder implizite ideologische Rechtfertigung der Entmachtung nationaler Willensbildungsprozesse durch internationale Machtkonglomerate, die demokratisch nicht kontrolliert sind (beispielsweise die immerhin diskutierten Freihandelverträge; ich könnte auch 5 Vgl� H� L� Strack / P� Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, erster (Doppel-)Band: Das Evangelium nach Matthäus, München 1926, 354; 356-359, speziell: 354. Für weitere Belege zur Gottesebenbildlichkeit im Judentum vgl. J. Bonsirven, Le Judaïsme Palestinien au temps de Jésus-Christ, Paris 1934-1935, II,344 ( sub verbo „image de Dieu“)� 64 Jan Dochhorn den kaum diskutierten, eher nur exekutierten Kopenhagen-Prozess nennen)� Als vorläufiges Resumée konstatiere ich: Universalistische Denkformen können sinnvoll sein (s� o� die rabbinische Tradition), aber mit dem Universalen ist das Gute nicht notwendigerweise gefunden� Negativ gewendet: Die Tötung des Menschen durch den Menschen ist immer möglich; wenn universale Konzepte zeittypisch sind (also für gut gehalten werden), wird man eher auf diese zurückgreifen� Partikulare Konzepte gehen auch� „Ich komme mit guten Absichten, ich führe nur Gutes im Schilde“, sagte der Teufel� 4. Das formale Partikularismus-Argument: Slenczka will das Alte Testament, zumindest als kanonisch gültige Gottesanrede, den Juden vorbehalten - aus Respekt vor dem Judentum (s� o�)� Aus der Perspektive einer auch außertheologischen Rezeptionshermeneutik kann ich indes nicht einsehen, warum es auch nur irgendjemandem verboten sein sollte, mit dem Alten Testament oder dem Tenakh anzufangen, was ihm beliebt; ist die Frage, wem dieses Corpus gehört, nicht immer schon unangemessen gewesen angesichts mangelnder Arkandisziplin im Judentum und zudem anachronistisch in Zeiten von Postmoderne und Globalisierung? Ich habe in meiner Jugend wesentliche Begriffe von Religion im Konfuzianismus und im Rigveda für mich entdeckt (wieviel auch immer ich verstanden haben mag); muss ich jetzt bei den Indern und Chinesen Abbitte tun? Ich werde mich eher bedanken� Und überhaupt, sollte dann nicht auch das Judentum seine Thorah aufgeben, weil sie den Samaritanern heilig ist? Nein, es gibt eine Rezeptionserlaubnis für das Alte Testament; man kann diesem Werk der Weltliteratur nur wünschen, gelesen zu werden, in welchem Sinne auch immer, und auch von Christen, selbst wenn nur ihnen verständlich wäre, wie sie auf die Idee kämen, am Israel-Bezug dieser Texte entweder vorbeizulesen oder sich mit Israel zu identifizieren� 5. Das Christologieverbot aus der alttestamentlichen Wissenschaft : Slenczka begründet seine Neubewertung des Alten Testaments auch mit Ergebnissen der alttestamentlichen Wissenschaft, angesichts derer traditionelle christliche Rezeptionsstrategien, vor allem die im Neuen Testament reichlich belegte christologische Auslegung alttestamentlicher Texte, unmöglich geworden seien (Slenczka, Geltung, 6-8). Auch hier wäre wieder die Rezeptionshermeneutik in Geltung zu bringen, aber mich interessiert etwas anderes: Woher wissen wir so genau, dass die frühen Christen nicht doch - zumindest grundsätzlich - Recht hatten mit ihren Christus-Entdeckungen im Alten Testament? Wieviel wissen wir wirklich über die religionspsychologischen Hintergründe alttestamentlicher Textproduktion? Das Gottesknechtslied in Jes 53 ist vielleicht Ergebnis prophetischen Erlebens, in jedem Fall Dichtung; kann Dichtung nicht etwas ahnen, das hinausgeht über das vom Autor bei seinem intendierten Leser angezielte Die Kirche und das Alte Testament 65 Verstehen? Die Hermeneutik etwa des Habakuk-Pescher, der von einem Wissen im Buch Habakuk wusste, das über Habakuks Wissen hinausgeht (1Q pHab VII ,1-5), ist für mich nicht ganz erledigt. 6. Zur fundamentaltheologischen Begründung: Ein Argumentationsgang erledigt sich bei Slenczka ungewöhnlich schnell: Nach einer Exegese von Röm 9-11 (Kirche, 112-118) stellt er fest, dass man mit dem Alten Testament und der Israel-Frage so wie Paulus nicht verfahren könne (ebd�, 118), und geht dann unbeirrt den Weg weiter, den er zuvor mit Schleiermacher, von Harnack und Bultmann eingeschlagen hat� Das überrascht; wie kann man den Apostel einfach so zur Seite schieben? Vermutlich spielt auch hier wieder das neuzeitlich fromme Selbstbewusstsein eine Rolle, das faktisch an die Stelle des alten Schriftprinzips getreten ist (und der Tradition ebenfalls)� Ich meine, schon angedeutet zu haben, dass ich diesen Weg nicht für gangbar halte, so sehr ich auch in liberaler Theologie Potential sehe (vor allem, wenn es um die Würdigung von Außerchristlichem geht)� Ich halte mich lieber an die ererbten Grundregeln traditionell-christlichen Argumentierens� Eine dieser Grundregeln ist: Fragen von größerer Bedeutung (etwa solche mit Credo-Bezug), die hier vorliegen (insofern mindestens die Ekklesiologie von der Frage nach dem Alten Testament und Israel betroffen ist), erörtert man mit der Schrift und nicht gegen diese, wie auch immer dabei hermeneutische Naivität zu vermeiden ist� Wenden wir uns daher nun der Schrift zu - mit einer Beschränkung auf paulinische Texte, die pragmatische Ursachen hat, aber cum grano salis auch eine sachliche Berechtigung, da das Corpus Paulinum als erste kanonische Sammlung des Christentums in besonderem Maße für die Gründungssituation christlicher Theologie steht: Was können wir - in der hier gebotenen Kürze 6 - dem Corpus Paulinum an israelologischen Grundgedanken entnehmen und verbunden damit zum Stellenwert des Alten Testament für ein christliches Selbstverständnis? 6 Die hier vertretene Paulus-Interpretation ist nicht gerade „The Radical New Perspective on Paul“, aber wohl ebenfalls nicht traditionell lutherisch� Auf eine Kontextualisierung in der Forschungsdiskussion muss hier aus Platzgründen verzichtet werden� Vgl� J� Dochhorn, Von Jesus zu Paulus: Zur Entwicklungsgeschichte der Theologie des Gesetzes im Urchristentum, demnächst veröffentlicht von Udo Rüterswörden, speziell § IV� 66 Jan Dochhorn 3. Befunde im Corpus Paulinum a. Gal 3-4 In Gal 3-4 verteidigt Paulus seine gesetzesfreie Heidenmission; ein Ertrag zum Thema Israelologie ist zu erwarten. Die zentrale Idee von Gal 3-4 besteht darin, dass Christen Rechtfertigung und damit Leben auf die gleiche Weise empfangen wie Abraham: nicht durch das Tun des Gesetzes, sondern durch den Glauben an eine Verheißung� Die Verheißung an Abraham galt ihm und seinem Samen und sollte auf alle Völker übergehen� Paulus identifiziert den Samen Abrahams mit Christus, der als Sohn „uns“ eine der seinigen analoge Sohnschaft im Verhältnis zu Gott ermöglicht, und sieht in der Verkündigung des derart begründeten christusbezogenen Verheißungsglaubens an die Völker eine Erfüllung des mit der Verheißung an Abraham verbundenen Völkersegens� Zwischen dem Glauben Abrahams und dem Glauben der Christen jetzt spielt das Gesetz eine Rolle lediglich als Interludium : Es ist erst mehrere Jahrhunderte nach Abraham gekommen (Gal 3,17) und vermag den ihn überbrückenden Verheißungszusammenhang nicht dahingehend zu stören, dass es etwa selbst Rechtfertigung und Leben ermöglichte (Gal 3,21-22). Wir sehen eine Geschichte, die urzeitlich mit Abraham beginnt, durch eine Gesetzes-Geschichte unterbrochen wird und jetzt in Christus und im Glauben an Christus ihre Vollendung findet� Entscheidend ist nun: Diese Geschichte wird erfahren von einem Wir, das sich für eine Zwischenzeit als Untertan des Gesetzes sieht; es war zwar als Erbe des Abrahambundes eigentlich immer Sohn, blieb aber in der Jugend dem Gesetz als Aufseher untertan, um schließlich, da sich die Zeit erfüllt hatte, die Sohnschaft zu erhalten - und zwar dadurch, dass Gott seinen Sohn sandte (Gal 3,23-4,7). Ziemlich klar scheint, dass dieses Wir nur ein jüdisches Wir sein kann, denn es ist zwischenzeitlich dem Gesetz untertan� Es muss sich um das Volk Gottes handeln und wird mit dem Israel Gottes in Gal 6,16 zu identifizieren sein� Was haben die Galater, die Paulus als Heiden ansieht, mit diesem Wir zu tun? Sie werden in dieses Wir eingeschrieben - ohne die leisteste Andeutung, dass damit etwas Besonderes geschieht; nur syntaktisch holpert es ein bisschen, weil es einen Wechsel von Wir und Ihr gibt. Deutlich wird dies etwa in Gal 4,4-6: Zuerst schreibt Paulus dort, dass „wir“ die Sohnschaft aufgrund der Sendung des Sohnes empfangen (4,4-5), und dann sagt er zu den Galatern: Ihr seid Söhne, und darum habt ihr des Sohnes Geist empfangen, der „Abba, Vater“ ruft (4,6a)� Und schon heißt es wieder, der Geist sei in „unserem“ Herzen (4,6b)� Das Ihr der Galater ist von dem Gottesvolk-Wir umgeben, wird von ihm inkorporiert� Es holpert, wie gesagt, syntaktisch, und dem entspricht auch eine inhaltliche Unebenheit: Zwar gibt es eine israelitische Wir-Geschichte, mit der sich Die Kirche und das Alte Testament 67 die Galater offenbar assoziieren sollen, aber sie haben eben auch eine andere Vorgeschichte: Sie waren Heiden (4,8)� Doch gerade im Hinblick auf diese Vorgeschichte hebt Paulus hervor, was sie mit dem Gottesvolk verbindet� Wie für das Gottesvolk war auch für die Galater die vorchristliche Geschichte ein Unterworfensein unter die Elemente dieser Welt (4,9; vgl� Gal 4,3)� Wesentlich unterscheidet sich die Gottesvolk-Geschichte gar nicht von derjenigen der Heiden; untertan unter die Elemente waren beide� Ob man als Nichtchrist Heide ist oder Jude, ist also gleichgültig, beides ist falsch, gleich falsch, weil es Untertänigkeit gegenüber kosmischen Größen bedeutet im Unterschied zur Weltüberlegenheit christlicher Sohnschaft� Für die an Christus nicht glaubenden Juden, damals sicher die Mehrheit, bedeutet das wenig Gutes, und dies kommt meines Erachtens ziemlich klar in Gal 4,21-31 zur Sprache� Es ist dort von einem „Herauswurf“ von Hagar und Ismael die Rede (Gal 4,30), die mit dem Sinai-Gesetz assoziiert erscheinen (Gal 4,24-25). Es dürfte das von Paulus (ob zu Recht oder Unrecht) als Einheit wahrgenommene nicht-christliche Israel gemeint sein, hier Mehrheitsjudentum genannt, für das in der Sicht des Paulus die Unterordnung unter das Gesetz spezifisch ist� In Gal 4,29 ist dann von Verfolgungen die Rede, die der Verfolgung Isaaks durch Ismael analog sind� Gemeint sind wohl Verfolgungen von Christen durch das Mehrheitsjudentum, die auch in 1Thess 2,14-16 Erwähnung finden, wo über den Heilsstand des Mehrheitsjudentums ebenfalls nichts Gutes verlautet: „Der Zorn Gottes ist über sie gekommen bis zum Ende“ (2,16)� Man kann sich fragen, ob „bis zum Ende“ eine Einschränkung bedeutet, für die Jetztzeit des Paulus aber ist die Diagnose des Gotteszorns eindeutig� Herausgeworfensein (Gal 4,30) und Zorn Gottes (1 Thess 2,16) ist also zunächst einmal das, was Paulus zum Mehrheitsjudentum konstatiert� Ich könnte, was sich mir hier als Befund zur paulinischen Israelologie darbietet, relativieren, etwa mit dem Hinweis, dass Paulus sich hier nicht gegen das Mehrheitsjudentum richtet, sondern gegen Christen, die er auf dem Weg sieht, das christliche Proprium im Mehrheitsjudentum aufgehen zu lassen, aber damit wäre an den Sachaussagen wenig geändert� b� Israel im Römerbrief Paulus bleibt bei dieser Auffassung zum Mehrheitsjudentum nicht stehen; es regt sich bei ihm ein Bedürfnis nach Differenzierung, dem er in einem Spätwerk, dem Römerbrief nachkommt� Doch auch hier dominiert zunächst einmal dasselbe Bild: Auch für den Paulus des Römerbriefes ist es überhaupt keine gute Idee, etwas anderes zu sein als Christ, ob nun als Jude oder als Heide: Heiden wie Juden stehen unter der göttlichen Zornesoffenbarung (Röm 1,18), für beide gilt, dass alle Menschen ausnahmslos gesündigt haben (Röm 3,9)� Und dem- 68 Jan Dochhorn entsprechend kläglich erscheint dann ja auch der Zustand des nicht christusgläubigen Judentums, seiner Volksverwandten, wie er ihn in Röm 9,1-5 anspricht: Er empfindet bitterstes Herzeleid angesichts ihrer Lage (9,2), wünscht sich sogar weit weg von Christus um ihrer willen (9,3) und vergleicht sie dann in seinem berühmten Ölbaumgleichnis mit abgehauenen Ölbaumzweigen; sie gehören zumindest gegenwärtig dem Ölbaum nicht mehr an, der für die Kontinuität der Gottesvolkgeschichte steht (11,17-24). Nach einem doppelten Ausgang der Heilsgeschichte und nach ähnlich Freundlichem, was Christen seit dem Holocaust aufgrund eines viel zu spät entwickelten schlechten Gewissens formuliert haben, sieht das nicht aus, vielmehr liegt hier bezogen auf das Mehrheitsjudentum dieselbe Diagnose vor wie in 1Thess 2,14-16: Über ihm lastet der Zorn Gottes, genauso wie über Heiden, so dass also - von den Christen abgesehen - präzise 100 % der Menschheit von diesem Phänomen betroffen sind� Nun aber kommt das Moment der Differenzierung ins Spiel� Paulus liebt sein Volk und er kann sich nicht vorstellen, dass die Verheißungen, die es ja schließlich in seiner Geschichte erlebt hat, einfach hinfällig wären (Röm 9,6)� Und so fragt er - unter reichlicher Herbeiziehung von Schriftbelegen, speziell aus dem Jesajabuch -, ob dem gegenwärtigen Zustand seiner Volksverwandten nicht doch eine tiefergehende gute göttliche Absicht zugrundeliege, und er findet heraus, dass ihr gegenwärtiges Gefallensein dem Ziele diene, die „Fülle der Heiden“ (wahrscheinlich die für die Zugehörigkeit zum Gottesvolk vorgesehene Menge) dem Gottesvolk zuzuführen (11,11� 12� 15�25), eine Konstellation, die er selber anscheinend eher geheimnisvoll als logisch findet (11,33), aber nun einmal aufgrund des heilsgeschichtlichen Tatbestandes und der heiligen Schriften konstatieren muss� Endzeitlich aber wird dann ganz Israel erlöst werden (11,26a) durch den aus Zion kommenden Erlöser (11,26b), was wohl eine Hinwendung von ganz Israel zu Christus bedeutet, nachdem zuvor Israel vor allem der Bezug zu Jesus Christus gefehlt hatte (vgl. 9,31-10,13, wo wie in 11,26b Zion und Christus assoziiert sind)� Ein Moment der Differenzierung lässt sich auch rein sprachlich ausmachen: Israel ist in Röm 9-11 nicht mehr ausschließlich eine Bezeichnung für ein christliches Wir (wie etwa in Gal 6,16)� In Röm 9,31 nennt Paulus klar erkennbar das Mehrheitsjudentum Israel, freilich in einer Negativaussage (Israel hat das Gesetz nicht erlangt)� Wie auch immer diese Negativaussage zu verstehen ist (dazu s� u� unter c), wichtig ist hier: Christliche Rede von Israel ist bei Paulus offenbar nicht nur Rede von der Kirche als Israel; es gibt auch noch das historisch-genealogisch mit dem Gottesvolk verbundene Israel� Paradigmatisch für eine nuanciertere Sicht des Mehrheitsjudentums dürfte auch die Geschichte des vorchristlichen Ich in Röm 7,7-25 sein: Dieses Ich ist jüdisch, da es mit dem Gesetz konfrontiert erscheint; es gerät angesichts des Die Kirche und das Alte Testament 69 Gesetzes in einen als Tod erfahrenen Zustand der Ich-Spaltung, um schließlich die Erlösung in Christus zu erfahren� Strukturparallelen mit der Wir-Geschichte in Gal 3-4 sind durchaus vorhanden, nur dass diesmal ein Ich porträtiert wird� Über dieses unerlöste jüdische Ich aber verlautet nicht nur Negatives: Es erkennt nämlich das Gute und stimmt ihm nach dem „inneren Menschen“ zu (7,22), nur dass es das Gute nicht tut, sondern stattdessen das Böse (7,14-23). Noetisch ist bei dem jüdischen Ich also alles in Ordnung, nur nicht praktisch� Analoges verlautet in Röm 7,7-25 über das Gesetz, das ja eine für das Mehrheitsjudentum typische Größe ist: Es ist das Gesetz, das vom Ich das Gute fordert, und dementsprechend wird es in Röm 7,14 als geistlich und gut bezeichnet� Eine destruktive Rolle kommt ihm gleichwohl zu, aber nicht wesensmäßig, sondern kontextuell und sekundär - indem die Sünde es instrumentalisiert zum Zwecke der Unterwerfung des Ich (7,7-13), wodurch es Gesetz der Sünde wird (7,23). c� Paulus und das Alte Testament Wir sind bei einer positiven Bestimmung des jüdischen Gesetzes angelangt, und dies kann Anlass sein, darüber nachzudenken, welche Rolle das Alte Testament denn bei Paulus spielen mag� Vorwegzuschicken ist eine begriffliche Klärung: Paulus zitiert, wenn er Schrift zitiert, vielfach aus der Thorah, aber auch aus den beiden anderen Bestandteilen des späteren Tenakh (Propheten und Schriften)� Damit ist zu konstatieren, dass für Paulus der im Judentum etwas später konstituierte Tenakh-Kanon grosso modo schon als Schrift gilt� Wenn wir diesen Tenakh-Kanon Altes Testament nennen (was Christen tun können, sofern sie anderen diesen Sprachgebrauch nicht aufnötigen und einmal kurz darüber hinwegsehen, dass für die Mehrheit der Christen das Tenakh-Schrifttum zwar den Kernbestand des AT , aber nicht seine Gänze ausmacht) und wenn wir zugleich den Umstand vernachlässigen, dass dieser Kanon damals noch nicht ganz fertig war, dann können wir von einer Rolle des Alten Testaments bei Paulus reden� Welche Rolle aber spielt es? Die Hauptsache dürfte den bisherigen Ausführungen zur Israelologie des Paulus schon zu entnehmen gewesen sein: Paulus referiert ständig auf alttestamentliche Texte, und zwar schlicht um aufzuzeigen, wie „es ist“: Dass die Abraham-Geschichte von Verheißung handelt, die jetzt bei den Christen Realität wird, dass dem Gesetz eine andere, weniger günstige Rolle als (un-) heilsgeschichtliches Interludium zukommt; dies alles und noch viel mehr weiß Paulus, weil es so in alttestamentlichen Texten steht, und er belegt es dementsprechend mit Zitaten� Dies ist die Praxis des Paulus, aber gibt es dazu auch eine Lehre? Ansätze dazu sehe ich in seinen Ausführungen zum Gesetz, und zwar insofern, als dieses für Paulus erkennbar nicht nur eine (un-) heilsgeschichtliche Größe ist, sondern auch ein Buch, dem zu entnehmen ist, wie „es ist“, das also die Wahrheit enthält� 70 Jan Dochhorn Diese Wahrheit indes lautet oft, dass dem Gesetz in bestimmter Hinsicht gerade keine Geltung zukommt: Das Gesetz selbst bezeugt, dass es nicht Mittel zur Erlösung ist� Schon die Galater hätten dies nach Paulus merken können, vgl� Gal 4,21-31. Dem entspricht es, wenn Röm 3,31 dann die in Röm 4 erfolgende Herleitung der Nachrangigkeit der Gesetzeswerke aus der Abrahamsgeschichte als Aufrichtung des Gesetzes darstellt: Das Gesetz kommt erst dann angemessen zur Geltung, wenn seine Nichtgültigkeit für Christen nachgewiesen wird - aus dem Gesetz selber, denn dann wird ja seiner Absicht Genüge getan� Analog wird die Aussage von Christus als Ende des Gesetzes zu verstehen sein (Röm 10,4). Mit ihr ist ausweislich der in Röm 10,6-8 nachfolgenden Zitate aus Dtn 30,11-14 gemeint, dass die Schlussworte des Gesetzes, des Gesetzes Ende also, auf Christus deuten (Paulus hat Dtn 30,11-14 offenbar als Abschluss des eigentlichen Gesetzestextes verstanden - und 30,15 ff� als Peroratio oder Appendix)� Das Gesetz selbst findet damit seinen krönenden Abschluss in Christus, und das Mehrheitsjudentum ist darum nicht richtig „in das Gesetz hineingekommen“ (Röm 9,31), weil es an diesem Tatbestand vorbeilebt und statt dessen die Werke des Gesetzes (wohl schlicht: seine Bestimmungen) als Mittel des Gerechtigkeits-Erwerbs ansieht (ebd�)� Für Paulus enthält das Gesetz autoritatives Wissen, aber meint er auch, dass dies für seine Leser gelten sollte? Generell ist dies wohl anzunehmen� Den Hinweis in Gal 4,21, die Galater sollten doch vielleicht einmal im Gesetz lesen, anstatt sich ihm fälschlicherweise unterzuordnen, kann man noch als Ironie sehen, aber eine Aufforderung zur Lektüre ist er eben doch, und nach all den vorhergehenden Schriftbeweisen kann eine solche Aufforderung kaum anders verstanden werden als der Hinweis auf ein autoritatives Buch, dem zu entnehmen ist, wie die Wirklichkeit ist� Passend dazu spricht Paulus in Röm 7,1 die römischen Christen, die er nicht so dumm findet wie die Galater, als Kenner des Gesetzes an. Er sieht seine römischen Adressaten als Heiden an (Röm 1,5-6; ungeachtet jüdischer Gemeindeglieder, vgl� Röm 16,3� 7� 11), also konstatiert er in Röm 7,1 wohl heidnische Gesetzeskenntnis� Es handelt sich dann um Kenntnis eines autoritativen Buches, aus dem Paulus im Römerbrief genauso wie im Galaterbrief beweist, wie Sachverhalte beschaffen sind� Freilich: Autoritativ ist das Gesetz nicht insofern, als man sich ihm unterordnen muss, denn genau das will es Paulus zufolge ja gar nicht, da es auf Christus hinweist (s� o�)� Erkennbar haben Christen also etwas mit dem Gesetz zu tun, aber eben als Christen und eben gerade nicht nach der Formel „Gottes Wort und basta“� Man muss schon damit umgehen können� Und das kann man auch, wenn man das Christusereignis richtig rezipiert und von ihm her das Gesetz in die Hand nimmt, so dass es Gesetz Christi wird (Gal 6,2)� Im tätigen Leben bedeutet dies für Christen, dass sie im Geist „die Rechts- Die Kirche und das Alte Testament 71 forderung des Gesetzes“ erfüllen (Röm 8,4), was wohl dahingehend zu verstehen ist, dass sie der „Sache“ des Gesetzes nachkommen, welche die Liebe ist (Röm 13,8; vgl� Röm 2,14�15)� Damit ist Freiheit von seinen Einzelanweisungen impliziert - inklusive Beschneidung (Gal 5,1-12). Folge ist eine Gesetzesauslegung in christlicher Freiheit, durch welche die lex mosaica faktisch mit der lex naturae identisch wird� 7 d� 2 Tim Gönnen wir uns einen Epilog zum exegetischen Teil - mit einem Ausblick auf ein Stück deuteropaulinischer Literatur, dessen Potential für den Entwurf einer christlichen Israelologie wohl noch nicht ausgeschöpft ist� Der späte Paulus hatte, was seine Haltung zum Mehrheitsjudentum betrifft, einen Hang zur Differenzierung, zur versöhnlichen Synthese erkennen lassen� Noch etwas deutlicher kommt diese Tendenz zum Ausdruck im - wohl pseudepigraphen - zweiten Timotheusbrief� Anders als die beiden anderen Pastoralbriefe fällt dieser Brief durch eine auffällig bejahende Haltung jüdischer Tradition gegenüber auf, die nicht zuletzt in einem Wort zum Schriftgebrauch zum Ausdruck kommt: Ausdrücklich wird hervorgehoben, dass „jegliche Schrift“ von Gott inspiriert sei und der Unterweisung diene (2Tim 3,16)� Was mit „Schrift“ gemeint ist, geht aus dem Kontext hervor: Es handelt sich um etwas, mit dem Timotheus von Kindesbeinen an vertraut ist - und damit wohl seit seiner vorchristlichen Zeit (3,15). Von Timotheus wissen wir aus Apg 16,1-3, dass er eine jüdische Mutter hatte und dass Paulus ihn als Juden ansah und darum auch beschnitt� Es dürfte also um Kenntnis von Schrift gehen, die Timotheus in dieser Lebensphase kannte, und damit ist christliche Schrift ausgeschlossen (wenn es dergleichen denn schon gegeben haben sollte); gemeint dürfte alttestamentliches Schrifttum sein (mit unklarer Abgrenzung zu parabiblischer Überlieferung, vielleicht auch Literatur, vgl� die Referenz auf Jannes und Mambres in 2Tim 3,8)� Dieses alttestamentliche Schrifttum aber ist göttlich inspiriert und dient der Unterweisung - und damit dem christlichen Gebrauch� Eine Differenzierung zwischen einem vorchristlichen und christlichen Verhältnis zu diesem Schrifttum unterbleibt� Passend dazu wird eine Kontinuität zwischen Judentum und Christentum auch in Personalangelegenheiten hervorgehoben: Paulus selbst dient Gott von seinen Vorfahren her (2Tim 1,3); diese können nur jüdisch sein� Und was Timotheus betrifft, wird neben seinem Glauben der seiner Mutter und Großmutter erwähnt (1,5)� Beide könnten Christen sein, aber nach dem, was über die Vorfahren des Paulus verlautete, ist etwas anderes wahrscheinlicher: Es geht um die 7 Zur Terminologie vgl� J� Dochhorn, Von Jesus zu Paulus (wie Anm� 6), dort Anm� 38� 72 Jan Dochhorn beiden als Juden� Wohl nicht zufällig wird bei Timotheus gerade die weibliche Linie hervorgehoben, die laut Acta 16,1 ja auch der Grund war, weswegen er als Jude zu gelten hatte� Es sieht so aus, als sei das Christentum des Paulus und des Timotheus einfach eine Fortsetzung des Judentums ihrer Vorfahren� Und diese Kontinuität betrifft erkennbar nicht nur den noetischen Bereich, etwa dahingehend, dass zuvor das Gute nur gewusst, aber nicht realisiert wurde (wie Paulus es in Röm 7,7-25 für das jüdische Ich konstatiert)� Nein, Paulus dient Gott von seinen Vorfahren her (2Tim 1,3), also haben schon die Vorfahren Gott gedient! Wir haben es mit einer Konstellation zu tun, die christlichen Maximalaussagen im Kontext des christlich-jüdischen Dialogs ähneln mag, doch sollte nicht unbeachtet bleiben, dass derselbe Verfasser in 2Tim 1,9-10 dann das christozentrische Revelationsschema aufnimmt, demzufolge das Heil von Anfang an vorausbestimmt war, nun aber in Christus erschienen ist� Über eine Relativierung des Christusereignisses um der Zuschreibung der Heilsteilhabe an das nichtchristliche Mehrheitsjudentum willen hätte unser Verfasser sich also bestimmt gewundert� Aber: Er weiß, dass vorchristliche Gottesvolkgeschichte positive Erfahrung mit Gott gewesen sein kann, in deren Kontinuität Christen sich sehen können, und er geht mit diesem Wissen deutlich über den echten Paulus hinaus� Über das zeitgenössische Mehrheitsjudentum (es ist wohl immer noch in der Mehrheit) äußert er sich nicht explizit, aber vermutlich hat er es im Blick gehabt, denn eine entscheidende Rolle spielt in seinem System die jüdische Matrilinearität, die weniger von der heiligen Schrift als vielmehr von der halakhischen Praxis des Mehrheitsjudentums her bekannt gewesen sein wird (vgl� Testament Hiobs 1)� 4. Systematisch-theologische Konsequenzen Anhand des exegetischen Befundes, wie er sich mir darbietet, sind nun Eckpunkte einer kirchlichen Israelologie zu formulieren� Zunächst wird der Tatsache Rechnung zu tragen sein, dass bei Paulus Israel und Kirche identisch sein können (These 1), sodann wird daraus eine kanonische Geltung des Alten Testaments abzuleiten sein (These 2)� Es folgt eine Modifikation, die heute besonders wichtig erscheint, ihre Sachgründe aber ebenfalls bei Paulus hat: Israel ist nicht nur die Kirche (These 3)� Religiösem Hochmut von Christen ist damit widerraten, was man ebenfalls schon von Paulus wissen könnte, speziell aus seinem Ölbaumgleichnis in Röm 11, aber es bleibt die Frage zu stellen, warum dies nur das Judentum, nicht auch andere Religiosität betreffen sollte� Zugleich wird zu fragen sein, wie es dann eigentlich mit der Loyalität von Christen Die Kirche und das Alte Testament 73 gegenüber dem ihnen (auf-)gegebenen Glauben beschaffen sein soll: Respekt gegenüber fremdreligiöser Erfahrung darf nicht Leugnung Christi sein� These 4 wird diesen Komplex unter dem Titel „Christlicher Partikularismus“ in den Blick nehmen, nicht zuletzt mit dem Ziel, eine fragwürdige Kategorie (Universalismus) zu relativieren und umgekehrt produktives Potential auszuloten von bisher negativ Konnotiertem (Identität in Abgrenzung)� Es folgen jetzt die Thesen, die eher Anstoß zu einer - hoffentlich angeregt wohlwollenden - Diskussion sein sollen als Abschluss eines längeren Erkenntnisprozesses (der bei mir schon rein biographisch ausgeschlossen ist)� 1. Die Kirche ist Israel : Was auch immer über das nicht-christusgläubige Israel gesagt werden soll (dazu s� u�), zunächst ist zu bekennen: Die Kirche darf sich als Volk Gottes, als Israel sehen� Sie hat eine Geschichte, die älter ist als das Christusgeschehen; so sehr diese Geschichte im Christusgeschehen kulminiert, so begann doch diese Geschichte lange vorher - in der Wüste, in einer semitischen Sprache (deren Phonetik wohl nur Wolfgang Beyer bekannt war), in einer fernen und fremden Zeit� Sie ist eine Geschichte von Liebe und Traurigkeit von Anfang an, und sie ist auch unsere eigene� Der Zuspruch: „Ich bin dein Gott, der dich aus Ägyptenland befreit hat“, gilt mir als jemandem, den Gott aus Gnade in seine Kirche berufen hat� Wir sind, ich bin nicht Zaungast bei diesem Satz, Zuhörer bei einer Rede an ein anderes Volk, demgegenüber ich als Christ ein schlechtes Gewissen habe� Welcher noch so sakrosankte Synodalbeschluss in Stellung gebracht wird, ja, sei es ein Engel vom Himmel, der so redet: Jeder Satz, der diesen Zuspruch von mir und von uns entfernt, ist ein Dysangelion� 2. Das Alte Testament ist Heilige Schrift : Weil die Kirche Israel ist, ist für sie das Alte Testament Schrift� Mit dem ekklesiologischen Faktum ist auch das kanontheoretische gesetzt� Zu lesen ist das Alte Testament im Lichte dessen, was typisch ist für das Neue: des Christusereignisses� Schon Paulus referiert ja vom Christusereignis aus auf das Alte Testament, um zu erklären, was ihm eine von Gott gesetzte Tatsache ist: Christi Kreuz und Herr-Sein� Man kann es auch mit dem Hebräerbrief formulieren: In der neutestamentlich dokumentierten Christuserfahrung hat sich Gott dem kirchlichen Verständnis nach abschließend einmalig kundgetan, nachdem er zuvor mehrfach in den Vätern und Propheten geredet hat (Hebr 1,1)� Das Endgültige der Gotteserkenntnis in Christus ist kanontheoretisch eine entscheidende Lektüreanweisung; das Übergewicht neutestamentlicher Perikopen in kirchlichen Leseordnungen ergibt vor diesem Hintergrund Sinn� Aber es ist eben zu beachten, dass Gott auch zuvor geredet hat in den Vätern und Propheten� Christentum hat Vorgeschichte und darauf bezogene Texte� Es hat damit umzugehen in der Souveränität christlicher Freiheit: So wie für Paulus 74 Jan Dochhorn das Lesen in der Thorah kein Untergeordnetsein impliziert, sondern Erkenntnis mit sich führt und Realisierung ihres Kerngehalts im geistgewirkten Handeln, so gilt auch für Christen, dass sie souveräne Leser sind, die sich im Handeln bewähren� Vom Geist geleitet werden sie, denen ihr Herr etwas von Feindesliebe gesagt hat (jedenfalls in der Q-Überlieferung), auch mit Feindpsalmen umgehen können� Solches kann hier mit Blick auf das Alte Testament konstatiert werden, doch es muss dabei klar sein, dass Gesetz nicht nur eine Angelegenheit des Alten Testaments ist� Auch die Bergpredigt ist Gesetz und fordert den souveränen Leser� Wer sich etwa (wie ich) aus moralischen Gründen für den Wehrdienst entschieden hat, wird weniger mit den Kultbestimmungen des Alten Testaments gekämpft haben als mit Worten aus der Bergpredigt, was immer von ihrer Inanspruchnahme durch Pazifisten zu halten ist� Frischluftzufuhr aus der Vergangenheit führt nicht zu Kadavergehorsam� Eher werden wir leblos, wenn wir uns abschließen gegen diese Frischluftzufuhr, wenn wir uns immunisieren in einem religiösen Bewusstsein, das alles schon immer besser weiß� 3. Israel ist dabei : Die in unserem Alten Testament erzählten Geschichten stehen in einem Zusammenhang, der im herkömmlichen Sinne ethnisch ist - und zwar nicht mit uns, sondern mit einem Volk, das Paulus in Röm 9,31 Israel nennt, mit einem Namen, den er sonst auf die Kirche anwendet (Gal 6,12; vgl. Gal 3-4). Daraus ergibt sich, dass wir, wenn wir von Israel reden als von uns selbst, ebenso genötigt sind, auch von dem Israel zu reden, das wir nicht sind, mit dem eine Identitätsüberlappung besteht bei gleichzeitigem Getrenntsein: Es gibt das Volk der Juden, das Gott immer noch liebt und für das die Garantie endzeitlicher Erlösung besteht, die Paulus sich nicht anders denn als Zugehörigkeit zu Christus vorstellen kann - und ich auch nicht� Das Angebot, Christus auch schon vorher anzugehören, gilt dabei mit Paulus und erst recht mit Petrus und Johannes für Juden wie für alle Menschen schon jetzt (vgl� Gal 2,7; Röm 11,14), doch Christen haben hoffentlich gelernt, es Gottes höherer Weisheit zu überlassen, wenn dieses Angebot auf ein Desinteresse stößt, das sich einem empathischen Wahrnehmen anderen Glaubens übrigens als verständlich erweisen kann� Es ist hier vom persönlichen Zeugnis die Rede; wie organisierte Mission zu bewerten ist, mit Blick auf Juden und generell, kann hier nicht erörtert werden� 4. Christlicher Partikularismus : Für Paulus ist Gott nicht nur ein Gott der Juden, sondern auch der Heiden (Röm 3,29), und diese Sicht Gottes mag als universalistisch im Unterschied zu einem volksbezogenen Partikularismus genommen werden� Lassen wir dahingestellt, ob Paulus einen solchen Partikularismus dem Die Kirche und das Alte Testament 75 Mehrheitsjudentum unterstellt und ob er es mit Recht täte, wenn er es täte, eines scheint mir klar: Universalistisch ist auch sein System nicht, zumindest nicht seine Ekklesiologie� Die in Röm 3,29 formulierte Entdeckung über Gott hat bei Paulus nicht zur Folge, dass er nun keine Unterschiede zwischen Menschen mehr kennte: Es gibt sie nicht „in Christus“, aber es gibt ein Außerhalb der Christus-Grenze (vgl. etwa 1Kor 1,18; 2Kor 2,15-16). Diese umschreibt Juden wie Heiden gleichermaßen - und lässt ebenso Juden wie Heiden draußen stehen, wenn sie nicht glauben, warum auch immer (etwa aufgrund göttlicher Vorherbestimmung)� Wir haben es mit einem christlichen Partikularismus zu tun, der mit Hinblick auf das Judentum partiell modifiziert erscheint (in Röm 9-11). Was lässt sich mit diesem christlichen Partikularismus theologisch anfangen? Mir erschließt sich keine andere Möglichkeit, als ernstzunehmen, dass sein Ausgangspunkt das Christusereignis ist, aufgrund dessen es das exklusive Sein in Christus ja gibt� Christliche Abgegrenztheit scheint demnach nicht Akzidens des Christlichen zu sein, sondern Wesenseigenschaft� Und so sehe ich mich genötigt, einen Befund zu konstatieren: Die Heilsökonomie Gottes ist so� Wie es den Menschen in statu naturae nur in Identitäten gibt, die sich voneinander scheiden (bei gewissen Überschneidungen, Überblendungen), so gilt offenbar analog in statu gratiae , dass Christen in quasi-ethnischer Abgrenzung existieren, als ein Wir im Gegensatz zu anderen - mindestens solange wir im Glauben leben und nicht im Schauen� Gott wird wohl besser als die Christen wissen, was er damit anzufangen hat (vgl. Röm 11,33-36). Ein christliches Verstehen der Geheimnisse Gottes bleibt immer beschränkt; in der Praxis pietatis sind wir intellektuell schon eher zuhause� Wie habe ich mich in Haltung und Handeln einzurichten auf den Tatbestand des christlichen Partikularismus? Gehöre ich zum Gottesvolk, so werde ich nicht zuletzt die prophetische (Selbst-) Kritik des Gottesvolkes auf mich applizieren müssen: Die Botschaft des Jonahbuchs lehrt mich, religiöse Kompetenz bei Heiden zu entdecken, wieviel diese mit dem Glauben an den Gott Israels auch immer zu tun haben soll (vgl� Lk 11,32 par)� Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter lehrt mich Ähnliches in Bezug auf fremdreligiöse Identität, von der man landläufig nichts Gutes erwartet (ein Mitglied der Scientology Church kann mich durch Tun des Guten jederzeit beschämen)� Ich könnte mich auch an Paulus halten, der mich eingepropften Ölzweig vor Hochmut warnt gegen die ethnischen Juden, die dem Ölbaum von Natur angehören (Röm 11,17-24). Und die Vernunft weist mich - auch ohne Bibelwissen - in eine ähnliche Richtung: Ein Ahnen um Tiefenerfahrung, zunächst bei den Juden, aber auch in anderen Religionen sowie außerhalb von Religion, lässt mich stille werden vor nichtchristlichem Weltverstehen und Leben� Ich bin fest überzeugt, dass nicht gerade wenige Juden, Heiden und Agnostiker wie Atheisten von dem dunklen Grund, auf den ich 76 Jan Dochhorn angewiesen bin, 8 mehr verstehen als ich� Diese Überzeugung in Kategorien der Offenbarungstradition zu formulieren, ist mir ein Anliegen; das wird nicht ohne eine faire Würdigung des biblischen Umgangs mit Fremdreligion geschehen können (der oft sehr polemisch erscheint), muss hier aber unterbleiben� Demut gegenüber Nichtchristen steht einem Christen gut, wird jedoch billige Demut, wenn sie auf Kosten der Loyalität gegenüber dem Christlichen geht, das mir doch gar nicht gehört, sondern mir aufgegeben ist� Und so konstatiere ich abschließend: Den Glauben der Kirche darf ich niemals in Abrede stellen oder in seinem Anspruch relativieren: Das neutestamentliche Zeugnis zum Thema Verleugnung Christi ist eindeutig (vgl� etwa Mk 9,38)� Diese Sätze handeln von Pflicht (gegenüber Christus) und nicht von Selbstüberhebung gegenüber anderen (Nichtchristen)� Bezogensein auf christliche Identität ist nicht narzisstische Eigenliebe; das ist in ihrem Wesen auch Bezogensein auf ethnische Identität nicht, wie wir an Paulus lernen können, der um seiner Volksverwandten willen sich beinahe schon das Unheil an den Hals wünscht (Röm 9,3)� Die Kirche ist Wir, nicht Ich� Sie ist Gegenstand des Glaubensbekenntnisses, ein Gegenüber� 8 Vgl� Gottfried Benns Gedicht „Letzter Frühling“, Strophe 1, Zeile 4 in Gottfried Benn, Gedichte� Gesammelte Werke in vier Bänden, hg� von Dieter Wellershoff, dritter Band, Stuttgart 1978, 325� Zeitschrift für Neues Testament Heft 39 / 40 20. Jahrgang (2017) Vom bedeutungsgenerierenden Grund des reformatorischen Schriftprinzips nicht nur für die neutestamentliche Wissenschaft Kristina Dronsch 1. Die Materialität der Schrift Kaum ein reformatorischer Identitymarker eignet sich besser, das Wohl und Wehe einer neutestamentlichen Wissenschaft zu markieren als das reformatorische sola scriptura � Jene Auffassung also, dass die Schrift in allen Fragen der Lehre als „alleinige Regel und Richtschnur“ zu gelten habe, wirkt� Und besonders in ein Jahrhundert hinein, dass die Frage nach dem angemessenen Umgang mit Pluralität als ihre ureigene Aufgabe auch in den wissenschaftlichen theologischen Diskurs hineingetragen hat� Gerne wird sich auf die Schrift berufen, und zwar in einem durchaus normativen Sinn, aber jeder hat seine eigene� Deshalb scheint es nicht das Schriftprinzip zu sein, das heute zur Debatte steht, sondern die angemessene Form des Schriftgebrauchs� Dass über den angemessenen Schriftgebrauch überhaupt nachgedacht werden kann, liegt in der Materialität der Schrift begründet� Und diese Materialität ist es, der meine ersten Gedanken gewidmet sind� Es handelt sich um ein Plädoyer für eine veränderte Betrachtungsweise auf das reformatorische sola scriptura ausgehend von der Materialität der Schrift� Der hermeneutische Wettstreit um die Interpretationshoheit der Schrift, der sich in der evangelischen Theologie zwischen Systematik und vor allem der historisch-kritischen Exegese beobachten lässt, offenbart meines Erachtens von zwei unterschiedlichen Blickwinkeln aus, was der wissenschaftlichen Theologie im Allgemeinen und der Bibelwissenschaft im Besonderen als Aufgabe 78 Kristina Dronsch gestellt ist: eine Reflexion über die Grundlagen des angemessenen Gebrauchs der Schrift� Diese Aufgabe ist kein Additum, die dem reformatorischen Schriftprinzip beigeordnet wird, sondern vielmehr Grundlagenarbeit, um der Materialität der Schrift in explikativer Weise entsprechen zu können� Die These, mit der ich im Folgenden arbeiten werde und die ich als heuristisch voraussetze, lautet dabei, dass sowohl die systematische Theologie als auch die Bibelwissenschaften von einem Schriftgebrauch ausgehen, der komplementär zu verstehen ist, aber jeweils getragen ist von einer gewissen Familienähnlichkeit� In den Bibelwissenschaften - in der historisch-kritischen Zentrierung - liegt ein transitorischer Schriftgebrauch vor, der die Schrift als mediales Vehikel benutzt, um letztlich zu der ipsissima vox hinter der Schrift zu gelangen� Die Schrift wird damit zu einem zu vernachlässigenden Vehikel der eigentlichen Botschaft� Die systematische Theologie hingegen verfolgt einen Ansatz des instrumentalistischen Schriftgebrauchs, wobei die Schrift als Wort Gottes an der Erzeugung der Botschaft fundamental beteiligt ist� Hier hat die Schrift gerade keine transitorische Neutralität, sondern instrumentelle Prägekraft� Worin jedoch die Familienähnlichkeit besteht ist, dass beiden Ansätzen ein apriorischer Ansatz zugrunde liegt� Beide zehren von einem Schriftgebrauch, der eine gewisse mediale Zuspitzung im Sinne des Aprioris hat: nämlich, dass die Materialität der Schrift als ein Medium zu verstehen ist, das die unhintergehbare Möglichkeit von Wahrnehmung und Erkennen liefert - einmal in transitorischer Weise und einmal in instrumenteller Weise� Doch wenn dieser - ich gebe es zu - sehr holzschnittartigen Zuspitzung des unterschiedlichen Schriftgebrauchs eine andere Sichtweise an die Seite gestellt wird, scheinen sich einige der Machtkämpfe im theologischen Disziplinenbereich in Luft aufzulösen: Ich schlage deshalb vor, eine Reflexion auf die Schrift nicht so zu vollziehen, dass die Schrift die Bedingung der Möglichkeit unseres Weltverständnisses ist, sondern auszuprobieren, was sich zeigt, sobald sich mit der Schrift auseinandergesetzt wird im Horizont der Frage, was hinter der Erscheinung der Schrift liegt� Dies bringt eine mediale Perspektive mit Blick auf die Schrift ein und es scheint - zumindest auf den ersten Blick - wie ein Rückfall in einen längst überwundenen Platonismus� Meine Intention ist jedoch eine andere: Es soll gezeigt werden, wie durch die Aufnahme einer platonischen Denkfigur, wenn diese in medialer Zuspitzung auf den Schriftgebrauch bezogen wird, der Platonismus nicht restituiert, sondern unterminiert wird� Wenn das reformatorische Prinzip sola scriptura in seiner gestaltenden Funktion auf den Punkt zu bringen ist, dann dient es dazu, der Schrift den Raum zu geben, reibungslos zu arbeiten für das Wort Gottes� Die Schrift macht das Wort Gottes lesbar, hörbar und wahrnehmbar, aber all das mit der Tendenz, sich selbst und ihre konstitutive Beteiligung an diesen Sinnlichkeiten unwahrnehmbar zu Vom bedeutungsgenerierenden Grund des reformatorischen Schriftprinzips 79 machen� Es ist gerade diese mediale Qualität der Schrift, die Luther betonte und die Klarheit der Schrift hebt nichts anderes hervor, als dass dieses Medium Schrift unsichtbar bleibt, denn es gibt keine Dysfunktion oder Störung bei dieser Übertragung des Wortes Gottes� In dieser medialen Perspektive auf die Schrift ist dann die neutestamentliche Wissenschaft vor die manifeste Aufgabe gestellt, sich der Mittelbarkeit der Schrift auszusetzen� In einer biblischen Perspektive ist dies nichts Neues, sondern spätestens mit der Vertreibung aus dem Paradies, bei der die Unmittelbarkeit unseres Weltverständnisses verloren ging, gehören Mittelbarkeit und Vermittlung zur menschlichen Spezies dazu� Das reformatorische Prinzip sola scriptura stellt diesen Aspekt der Mittelbarkeit und Vermittlung in den Fokus - exklusiv zentriert auf das Medium Schrift� Vermittlung heisst dabei nicht Transport von A nach B, sondern birgt immer auch eine Transformation des Übertragenen� Und dort, wo es um Transformationen geht, geht es immer auch um Bedeutungsprozesse� Es sind eben diese Bedeutungsprozesse, die in der medialen Perspektive auf die Schrift in den Fokus rücken� Jede Rezeption der Schrift - ob nun in einem wissenschaftlichen Kontext oder anderen Kontexten - ist eine solche Transformation des Übertragenen� Dabei ist es in dieser medialen Perspektive auf die Schrift für die neutestamentliche Wissenschaft vorrangig, sich mit der Frage der Bedeutung auseinanderzusetzen� Denn die stattfindenden Transformationen beruhen auf Bedeutungsprozessen� Die Frage nach der Bedeutung darf als die markanteste und folgenreichste Innovation des 20� Jahrhunderts angesehen werden, die sich manifestiert in der Verlagerung des bis dahin vorherrschenden Interesses an erkenntnistheoretischen Fragen hin zu einem Interesse an Bedeutungsfragen 1 � In den Mittelpunkt 1 Vgl� zu dieser These J� P� Arnarsons, Praxis und Interpretation� Sozialpsychologische Studien, Frankfurt am Main 1988, 204 f� Vgl� auch I� Hacking, Die Bedeutung der Sprache für die Philosophie, Königstein (Ts�) 1984, 51 f�, der darauf hinweist, dass die Frage der Be- Dr. Kristina Dronsch, geboren 1971, Studium der Theologie in Deutschland und der Schweiz, arbeitet als Dozentin für Neues Testament, Exegese und Ethik am Wichernkolleg in Berlin� Forschungsschwerpunkte: Neutestamentliche Hermeneutik, Markusevangelium und Johannesevangelium� 80 Kristina Dronsch gerückt sind damit die bedeutungsgenerierenden Funktionsweisen sprachlicher und nichtsprachlicher Zeichensysteme 2 , wobei gerade die Erforschung kultureller Voraussetzungen sich als äußerst gewinnbringend erwies� Wenn also kulturelle Produktivität in Form von Transformationsprozessen verstanden werden soll, geht dies nicht ohne sich mit der Frage der Bedeutung auseinanderzusetzen� Aber zugleich ist in der medialen Perspektive auf die Schrift zu betonen, dass Bedeutungen nur kraft ihrer Materialisierungen übertragbar und damit die bedeutungsgenerierenden Prozesse überhaupt ausweisbar sind� Transformationsprozesse von einem Zeichenzusammenhang in einen anderen ruhen in der Fähigkeit zu Materialisierung und Konkretisierung dessen, was auch als immateriell und abstrakt zu denken ist� Entscheidend für jede Art kutureller Kreativität ist also nicht die Fähigkeit, Bedeutungen aus der Welt der materiellen Dinge herauszukristaliseren, sondern das Bedeutsame verkörpern zu können� Aus diesem Grund ist die vorrangige Frage, die das reformatorische sola scriptura aufgibt, wie die bedeutungsgenierenden Transformationsprozesse in einer neutestamentlichen Wissenschaft zu verorten sind� 2. Bedeutung als Fundierungskategorie Sinnvoll scheint es, die Frage der Bedeutung ist als Fundierungskategorie einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Exegese zu verstehen 3 � Dafür ist ein weideutung keineswegs als ein rein philosophisches oder linguistisches Problem angesehen werden darf: „Wir vergessen leicht, daß zur Zeit Freges Bedeutungen das theoretische Denken beherrschten� Damals verfügt fast jede Disziplin über eine Untersuchung, die auf Bedeutungen basierte, oder sogar über eine Theorie der Bedeutungen� […] Max Weber, der große Begründer der modernen Soziologie, beginnt seine Analyse mit einer Unterscheidung zwischen objektiven und subjektiven Bedeutungen einer Handlung� Freuds Psychoanalyse ist nichts anderes als eine Theorie der Bedeutung� Und so fort …“� 2 Der Begriff des „Zeichensystems“ soll an dieser Stelle darauf hinweisen, dass der Akt der Bedeutungskonstitution sich nicht auf das Seiende bezieht� Das bloß Seiende hat keine Bedeutung, sondern nur Zeichen haben Bedeutung� Denn nur das Zeichen mit seiner Fähigkeit, auf etwas hinzuweisen, was es selbst nicht ist, kann eine Bedeutung haben� Die Notwendigkeit im Rahmen der Bedeutungskonstitution von Zeichenprozessen zu sprechen, erlaubt die Konstituierung der Bedeutung durch die Transformation eines Zeichenzusammenhangs in einen anderen (beispielsweise die Transformation eines Bibeltextes in eine Interpretation, eine biblische Erzählung in eine Predigt, einen Zustand in eine Photographie oder ein Bild in eine Beschreibung)� 3 Damit schließen wir uns B� J� Malina, Die Welt des Neuen Testaments� Kulturanthropologische Einsichten, Stuttgart [u� a�] 1993,16 an, der darauf hinweist, dass Kulturen gemeinsame Bedeutungen „schaffen“, welche sich zur Gestaltung der sozialen Welt einer gegebenen Gruppe verbinden: „Wenn […] die Bedeutung von Wörtern, Sätzen oder ganzen Texten sich aus einem sozialen System ergibt - denn das gesprochene oder geschriebene Wort enthält nun einmal seine Bedeutung durch ein soziales System -, dann verlangt Vom bedeutungsgenerierenden Grund des reformatorischen Schriftprinzips 81 ter Kulturbegriff zugrunde zu legen, der in der Lage ist, ethnozentrische Anachronismen zu überwinden, da er an einen nicht statischen Bedeutungsbegriff gekoppelt ist� Dieser Kulturbegriff stimmt mit dem Kulturbegriff der Cultural Studies überein, der in den 60er Jahren an der Universität Birmingham im Rahmen eines transdisziplinären Forschungsprojektes entwickelt wurde� Gerade die Koppelung des Kulturbegriffs an einen nicht statischen Bedeutungsbegriff zeigt an, dass eine klare Definition von Kultur im Zusammenhang mit der Kategorie der Bedeutung nicht möglich ist: Denn Kultur definieren zu wollen, ist Ausdruck des Anspruchs, trennen zu können zwischen dem, was Gegenstand von Kultur ist und was nicht� Aber sofern Bedeutung als nicht statisch gedacht wird, ist damit vorausgesetzt, dass sie sowohl veränderlich wie auch perspektivenabhängig ist� D� h� im Zusammenhang mit der Kategorie der Bedeutung widersetzt sich der Kulturbegriff der definitorisch eindeutigen Grenzziehung� Die Darstellung der Kultur als Zeichensystem halte ich mit Posner für angemessen, da so die sozialen, materialen und mentalen Aspekte der Kultur in einem Modell bedacht werden können, die sonst in getrennte Gegenstandsbereiche der Sozialwissenschaften, Geisteswissenschaften und Normwissenschaften aufgeteilt werden 4 � Einer der Vorzüge dieser semiotischen Analyse der sozialen, materialen und mentalen Kultur ist, dass sie diese Gegenstandsbereiche in einen theoretisch fundierten, systematischen Zusammenhang stellt: „Wenn eine Gesellschaft als Menge von Zeichenbenutzern, eine Zivilisation als Menge von Texten und eine Mentalität als Menge von Kodes definiert werden kann, so sind jedes angemessene Verstehen der Bibel ein gewisses Vor-Verständnis jenes sozialen Systems, das in den Wörtern zum Ausdruck kommt, aus denen unsere Heilige Schrift besteht“� 4 Bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Phänomen „Kultur“ sieht Roland Posner drei relativ unverbundene Wissenschaftstraditionen, die sich jeweils mit einem besonderen Aspekt von Kultur beschäftigen� So konzentrieren sich die Sozialwissenschaften vor allem auf die soziale Seite der Kultur - die Gesellschaft� - auf ihre Institutionen, Formen und Rituale� Die Geisteswissenschaften in erster Linie vor allem auf die materiale Seite der Kultur - die Zivilisation - wobei sich beispielsweise die Kunstgeschichte mit Bildern, die Literaturwissenschaften mit literarischen Texten, die Architektur mit Gebäuden beschäftigt� In jeden Fall stehen sogenannte Artefakte mit ihren Herstellungs- und Verwendungsweisen im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses� Die dritte Wissenschaftstradition, die sich mit einem Aspekt von Kultur befasst, wird von Posner Normwissenschaft genannt� Sie untersucht die mentale Seite der Kultur, genannt Mentalität� Zur Mentalität gehören die in einer Kultur entwickelten Ideen und Werte sowie die Konventionen ihrer Darstellung und Verwendung� Als prototypische Normwissenschaft nennt Posner die Linguistik, daneben gelten auch die Logik, die Ästhetik, Mathematik und Informatik als Beispiele für Normwissenschaften (Vgl� R� Posner, Kultur als Zeichensystem� Zur semiotischen Explikation kulturwissenschaftlicher Grundbegriffe, in: A� Assmann / D. Harth (Hgg.), Kultur als Lebenswelt und als Monument, Frankfurt 1991, 37-74, hier: 38)� 82 Kristina Dronsch diese drei Bereiche notwendig miteinander verbunden, denn Zeichenbenutzer sind auf Kodes angewiesen, wenn sie Texte verstehen wollen� Die Semiotik kann somit die Einheit der kulturwissenschaftlichen Untersuchungsgegenstände nachweisen“ 5 � Da die bisherigen Disziplinen sich jeweils vornehmlich mit nur einem Aspekt der Kultur beschäftigten, ist also ein Konzept gefordert, dem es gelingt, alle drei Dimensionen - die soziale, materiale und mentale - in einem einzigen Theorierahmen zu integrieren� Hierfür liefert die Semiotik eine geeignete Ausgangsbasis, denn „Kulturen sind Zeichensysteme“ 6 � Der Begriff der Kultur wird somit zu einem einheitlichen theoretischen Konzept, in welchem die soziale, materiale und mentale Kultur auf Zeichenprozesse zurückgeführt wird� Kultur ist zwar als Kultur nicht denkbar ohne die Kategorie der Bedeutung, so dass gesagt werden kann, dass Bedeutung jeder kulturellen Ausprägung vorgegeben ist, aber vorgegeben nur als Kategorie nicht als bestimmter Inhalt� Dieses angesprochene Apriori der Bedeutung ist somit nicht zu verstehen, als ob eine bestimmte (und damit statische) Bedeutung in einer Kultur vorgegeben sei, die sich dann in verschiedenen Zeichensystemen artikuliert, sondern der Akt der Bedeutungskonstitution ist zu verstehen als die Transformation eines Zeichens in einen anderen Zeichenzusammenhang� In diesen entstandenen Zeichenzusammenhängen konstituiert sich Bedeutung nicht als zeittranszendente Vorgegebenheit, sondern als im Rahmen kultureller Aktivitäten konstituierte, die somit die Zeichensysteme als historisch bedingte ausweist 7 � Verbunden mit dem reformatorischen sola scriptura gilt also festzuhalten, dass sich nicht in der Schrift Bedeutung materialisiert hat, sondern dass diese im Rahmen der Transformationsprozesse durch die Rezeption der Schrift kulturell konstituierte Bedeutung materialisiert� Da diese Transformationen im Rahmen der Geschichte der Kultur stattfinden, wird die Generierung unter dieser Berücksichtigung zu einem per definitionem unendlichen Prozess der Konstitution von Bedeutung, allerdings nicht verstanden als eine Reihe immer anderer Artikulationen einer immer doch gleich bleibenden Bedeutung� 5 Posner, Kultur, 53� 6 Posner, Kultur, 39� Diese Formulierung weist eine große Ähnlichkeit zur Konzeption von Umberto Eco auf, der darauf hinweist, dass Kulturen sich als Zeichensysteme besser verstehen lassen� Vgl� U� Eco, Einführung in die Semiotik, München 9 2002, 36 u� ö� 7 In diesem Sinn lassen sich auch die Erwägungen von J� Assmann, Das kulturelle Gedächtnis� Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 2 1997,17 u� ö� integrieren, der im Kulturbegriff drei Themenkomplexe verbunden sieht: den Komplex der Erinnerung, den Komplex der Identität und den Komplex der kulturellen Kontinuität: „Jede Kultur bildet etwas aus, daß man ihre konnektive Struktur nennen könnte� Sie wirkt verknüpfend und verbindend, und zwar in zwei Dimensionen: der Sozialdimension und der Zeitdimension“� Vom bedeutungsgenerierenden Grund des reformatorischen Schriftprinzips 83 Indem die Kultur als unabschließbarer Prozess der Bedeutungskonstituierung beschrieben wird, wird gleichzeitig die Kategorie der Bedeutung als Fundierungskategorie einer Kulturwissenschaft verstanden: „kulturelle Prozesse lassen sich nicht anders denn als Prozesse der Konstitution von Bedeutung, die als Prozesse der Transformation von Zeichenzusammenhängen in andere Zeichenzusammenhänge vollzogen werden, adäquat bestimmen und beschreiben“ 8 � Eine kulturwissenschaftlich fundierte Exegese negiert somit das Vorhandensein einer „reinen Bedeutung“ der Schrift, der sich universal approximativ angenähert werden kann durch jede Zeit und durch alle Umstände� Somit ist ein statischer Bedeutungsbegriff zu verabschieden und vielmehr Bedeutung als sich dynamisch entwickelnd vorzustellen� Eine kulturwissenschaftliche Exegese negiert keineswegs die geschichtliche Gewordenheit der biblischen Texte, erweitert diese aber um eine multikulturelle Perspektive, die die Objektivierbarkeit von Bedeutung als feststellbare statische Vorgegebenheit zurückweist� Dabei erfüllt eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Exegese auch eine ideologiekritische Funktion in eben dieser multikulturellen Perspektive: „it recognizes that the cultural ideology of the contemporary text reader is as influential as the ideological concerns of the author’s and / or the intended reader’s classical culture“ 9 � Eine kulturwissenschaftlich orientierte Exegese ist nicht allein auf Texte spezialisiert, sondern umfasst, wie Posner dargelegt hat, alle Aspekte der Materialität zu denen neben Texten auch Artefakte und Instrumente zählen, darüber hinaus auch die soziale Kultur wie die mentale 10 � Kultur stellt somit einen kollektiven Mechanismus der Informationsspeicherung dar� Diese Informationsspeicherung geschieht nun aber nicht zentral, sondern ist sowohl durch die Institutionen einer Gesellschaft, durch die Artefakte und Texte der Zivilisation als auch durch die Mentefakte der Kodes gewährleistet� D� h� dass die kollektive Informationsspeicherung auf der Herstellung von Artefakten und Texten sowie deren Rezeption mit Hilfe von kulturellen Kodes beruht� Deshalb muss eine kulturwissenschaftliche Exegese sich besonders an 8 E� Fischer-Lichte, Bedeutung� Probleme einer semiotischen Hermeneutik und Ästhetik, München 1979, S� 13� 9 Blount, Introducing Cultural Exegesis, 85� Allerdings ist Blount in seinen weitergehenden Ausführungen nicht zuzustimmen, wenn er darlegt, dass diese kulturellen Prozesse der Bedeutungskonstitution als „MY meaning“ ihre Ausprägung finden� Denn gerade die kulturelle Sichtweise ist geprägt durch ein dynamisches Kulturverständnis, welches bewusst verzichtet auf einen subjektivistisch übergeordneten Begründungszusammenhang� 10 R� Posner, Kultur als Zeichensystem� Zur semiotischen Explikation kulturwissenschaftlicher Grundbegriffe, in: A� Assmann / D� Harth (Hg�), Kultur als Lebenswelt und als Monument, Frankfurt 1991, 37-74, hier: 42 ff. 84 Kristina Dronsch der Arbeit mit Texten als geeignet erweisen, da Texte zu den grundlegenden Trägern eines kollektiven Gedächtnisses zählen� Deshalb ist es die Aufgabe einer so verstandenen kulturwissenschaftlichen Exegese a�) die Beschreibung und Interpretation der verschiedenen Zeichensysteme, b�) die Beschreibung und Interpretation der verschiedenen Transformationsprozesse, in denen ein Zeichenzusammenhang in einen anderen transformiert wird 11 sowie c�) die Beschreibung und Interpretation der verschiedenen Zeichenzusammenhänge, die Ausgangspunkt bzw� Resultat derartiger Transformationsprozesse sind� Eingebunden im Rahmen einer kulturwissenschaftlich orientierten Exegese ist damit die Angewiesenheit der Zeichen(prozesse) auf Interpretation 12 � Nachdem auf der Grundlage des reformatorischen sola scriptura als Fundierungskategorie einer kulturwissenschaftlich orientierten Exegese die Kategorie der Bedeutung herausgearbeitet wurde, soll in einem nächsten Schritt gezeigt werden, dass in einer medialen Perspektive das so verstandene reformatorische sola scriptura aufgrund der Transformationsprozesse auch eine Relevanz für jede Auslegungsgemeinschaft hat, eben auch eine Auslegungsgemeinschaft in einem universitären Kontext� Hier zeigt sich eine unaufgebbare theologische Qualität reformatorischen Selbstverständnisses� 3. Bedeutungsfragen im Horizont einer Auslegungsgemeinschaft Mit dem reformatorischen sola scriptura einher geht die reformatorische Grundüberzeugung, dass jeder Mensch unmittelbar vor Gott steht� Dieses unmittelbare Verhältnis zu Gott und seinem Wort schließt ein, dass jede und jeder befähigt und gehalten ist, in den lebensbestimmenden Bezügen davon auf der Grundlage der Schrift auch Zeugnis zu geben� Es sind in dieser Perspektive die Rezipientinnen und Rezipienten, die eine Verantwortung dafür tragen, dass die bedeutungsgenerierenden Transformationsprozesse vermittelt durch die Schrift auf fruchtbaren Boden fallen� Dies ist mit Relevanz für die neutestamentliche Wissenschaft in zweierlei Weise zu bedenken: 11 Diese Aufgabenstellung ist im weitesten Sinn als eine rezeptionsorientierte zu verstehen� Es geht also bei dieser Fragestellung im Zusammenhang mit biblischen Texten um den Vorgang der Rezeption als Prozess der Konstitution einer „Text“-Bedeutung� 12 Mit diesem Hinweis auf die Angewiesenheit der Zeichen auf Interpretation haben wir noch nichts über die Art und Weise der Interpretation gesagt� Aber an dieser Stelle kann schon darauf hingewiesen werden, dass im Rahmen dieser vorgestellten Exegese Zeichen offen sind für verschiedene Interpretationen, sowohl in synchroner als auch in diachroner Perspektive, dennoch gibt es Grenzen der Interpretation, die durch die speziellen kulturellen Signifikationssysteme gesetzt sind� Vom bedeutungsgenerierenden Grund des reformatorischen Schriftprinzips 85 Zum einen: Wenn die Schrift als der mediale Kreuzungspunkt, von dem aus die bedeutungsrelevanten Transformationsprozesse in den Blick kommen, aufgefasst wird, impliziert dies eine Aufwertung eines Wissenskonzeptes, das in den Wissenschaften bzw� in einer wissenschaftlichen Gemeinschaft - man kann sagen - auf seine Entdeckung wartet� Wissenschaft - und gerade auch die theologische Wissenschaft - tendiert dazu, als Erkenntnisquelle nur die Wahrnehmung und Erfahrung sowie das eigene Schlussfolgern als vertrauenswürdig anzusehen� Doch kommt in der medialen Perspektive auf das sola scriptura noch eine andere Erkenntnisquelle in den Blick: Wenn wir beispielsweise eine Sprache lernen, wenn wir Kenntnis davon haben, wann und wo wir geboren wurden, wenn wir uns durch die Nachrichten von Tagesereignissen informieren lassen, wenn wir ein Lexikon aufschlagen, um zu verstehen, was „Reformation“ heißt, wenn wir überhaupt irgendetwas erfahren oder erlernen durch mündliche oder schriftliche Unterrichtung, dann erwerben wir immer ein Wissen durch die Worte anderer� Ja, die Frage ist mehr als berechtigt: Können wir uns überhaupt Kenntnisse vorstellen, die auskommen ohne die Mitteilungen anderer? Was wüssten wir über die „Reformation“ ohne die Mitteilungen anderer? Wieviel von dem, was wir für Erfahrungstatsachen halten, haben wir tatsächlich erfahren - und nicht etwa „nur“ gehört oder gelesen ? Deshalb kann gesagt werden: Sich auf Informationen, Wissen und Annahmen zu verlassen, die nicht von uns ermittelt, sondern uns übermittelt wurden, bildet die Grundlage unserer Weltorientierung: das gilt für unseren Alltag nicht weniger als für unsere Glaubensüberzeugungen� Es handelt sich dabei um ein Wissen, welches wir durch das Zeugnisgeben durch andere erhalten� Das Wissen durch Zeugnis anderer ist ein ubiquitäres Phänomen� Doch merkwürdiger Weise: Dieses Wissen gilt gar nicht als Wissen - vor allem nicht in einem universitären Kontext und so gibt gerade das sola scriptura Prinzip auf, über diese Wissensform nachzudenken� Statt Wissen auf Erfahrungstatsachen oder eigenes schlussfolgerndes Denken einzugrenzen, hat eine neutestamentliche Wissenschaft viel mehr sich als eine Auslegungsgemeinschaft zu verstehen, die von einer Wissensform lebt, bei der Wissen vermittelt wird� Und so gibt das sola scriptura Prinzip auch die Wiederentdeckung dieser Wissensform auf� Zum anderen ist in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, dass der Erfolg der Reformation sich daran entschied, dass Menschen in den unterschiedlichen Kontexten, in denen sie lebten, etwas mit der von Luther und seinen Kollegen formulierten Botschaft des sola scriptura ‚anfangen’ konnten� Die theologische Ermöglichungs- und Ermächtigungsgrundlage, die religiöse Lizenz dieses ‚Anfangs’, bestand in dem Theologumenon des Priestertums aller Getauften, das allerdings schon in seinem Wittenberger Entstehungskontext, bei Luther und Karlstadt, sehr unterschiedlich ausgebildet wurde� Gleichwohl stellt das 86 Kristina Dronsch Priestertum aller Getauften die Basis durchaus unterschiedlicher, der jeweiligen sozialen Lebenswelt der entsprechenden Akteurinnen und Akteure gemäße kommunikationsrelevante Pointe aller bedeutungsgenerierender Transformationsprozesse vermittelt durch die Schrift dar� Wer Zeugnis gibt, unterrichtet, bekräftigt oder widerlegt nicht nur, sondern bildet mit dem Wissen, das durch das Zeugnisgeben ermöglicht wird, zugleich auch eine Grundlage von Gemeinschaft� Dieser Gemeinschaftsgedanke findet sich in der reformatorischen Grundüberzeugung vom Priestertum aller Getauften ausgedrückt� Der Gedanke vom Priestertum aller Getauften begründet eine spezifische Grammatik der Zeugenschaft� Gerade weil es nicht der priesterlichen Weihe bedarf, um die Welt im Lichte des Glaubens zu deuten und zu verstehen, sind alle Christinnen und Christen geradezu aufgefordert vom Wort Gottes Zeugnis zu geben� Die zentrale reformatorische Grundüberzeugung des durch die Taufe begründeten Priestertums aller Glaubenden ist der Ermöglichungsgrund und auch der Auftrag durch Akte des Bezeugens an den theologischen und kirchenpolitischen Auseinandersetzungen der Reformationszeit zu partizipieren� Was sich hier zeigt ist vor allem eine soziale Dimension die im Zusammenhang von sola scriptura mit der Rede vom Priestertum aller Getauften aufscheint� Darin steckt ein für die neutestamentliche Wissenschaft, wenn sie die bedeutungsgenerierenden Transformationsprozesse der Schrift in den Fokus ihres Selbstverständnisses stellt, unaufgebbarer gemeinschaftskonstitutiver Gedanke: wir sind in unserem Wissen unentrinnbar auf andere angewiesen� Nur indem wir das Wissen, über das wir verfügen, dem anderen dienst- und nutzbar machen, ist Gemeinschaft möglich� Neutestamentliche Wissenschaft hat somit das Wissen zu den bedeutungsgenerierenden Prozessen vermittelt durch die Schrift immer in einen Raum von Gemeinschaft zu stellen� Daher gilt, wer sola scriptura in einem wissenschaftlichen Kontext ernst nimmt, nimmt den Gedanken einer Auslegungsgemeinschaft ebenso ernst und wird sich immer daran messen lassen, ob es ihr gelingt, ein Raum zu sein, wo nicht einer vordenkt, sondern alle mitdenken� Zeitschrift für Neues Testament Heft 39 / 40 20. Jahrgang (2017) Die Schrift und die hellen Gründe der textkritischen Vernunft Zur Textgeschichte der neutestamentlichen Handschriftenüberlieferung Matthias Klinghardt Als Luther 1521 vor Kaiser und Reich stand, da machte er den von ihm geforderten Widerruf davon abhängig, dass er „durch gezeugnuss der schrift oder aber durch scheinlich ursachen“ widerlegt würde� 1 Mit dieser Formel hatte er nicht nur seine Gewissensbindung plausibilisiert, 2 sondern auch ein zentrales wissenschaftstheoretisches Paradigma von bleibender Bedeutung auf den hermeneutischen Begriff gebracht: Dass neben der Schrift auch die hellen Gründe der Vernunft bestimmend sind, 3 hat das lutherische Schriftprinzip wissenschaftstauglich und zukunftsfähig gemacht, zugleich die Disziplin(en) der biblischen 1 DRTA�JR (= A� Wrede, Deutsche Reichstagsakten Jüngere Reihe: Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V�) II, Gotha 1896, Nr� 80, 581,23 f� Zum Hintergrund der Verhandlung vgl� R� Wohlfeil, Der Wormser Reichstag von 1521, in: F� Reuter (Hg�), Der Reichstag zu Worms von 1521� Reichspolitik und Luthersache, Köln/ Wien 2 1981, 59-154, bes. 112 ff. Die lateinische Fassung lautet: … nisi convictus fuero testimoniis scripturarum aut ratione evidenti (ebd. Nr. 79, 555,17f = WA 7, 838,3f). Seit dem 19. Jh. wird ratio evidens immer wieder durch „helle Gründe“ bzw� durch „helle Gründe der Vernunft“ wiedergegeben� 2 Zu Luthers gut vorbereiteter Erklärung vgl� K�-V� Selge, Capta conscientia in verbis Dei, Luthers Widerrufsverweigerung in Worms, in: F� Reuter (Hg�), Der Reichstag zu Worms von 1521, Köln/ Wien 2 1981, 180-207. 3 Als der Brandenburger Kurfürst Joachim I� sich in einer Nachverhandlung vergewisserte, ob Luther wirklich nur widerrufen würde, wenn er aus der Schrift widerlegt würde, da ergänzte dieser: „Gnedigister Herr, ja, oder durch helle Ursach“ (DRTA�JR 2, 606; WA 7, 849): Die Formel war wohl durchdacht� 88 Matthias Klinghardt Exegese dauerhaft in der Theologie etabliert� Von Anfang an steht die ratio evidens neben der scriptura - und definiert diese� Denn dass die Schrift nur in Abhängigkeit von (theologischen oder wissenschaftlichen) Einsichten zu haben ist, so dass eine Veränderung der Rationalität auch eine Veränderung der Schrift nach sich zieht, war Luther vollständig bewusst� Er hat seine Eingriffe in den Textbestand offensiv vertreten und die scheinlich ursachen dafür auch klar benannt: Im „Sendbrief vom Dolmetschen“ lieferte er eine bemerkenswerte übersetzungswissenschaftliche Rechtfertigung für seine (präzisierenden) Zusätze zum Bibeltext, 4 in den Vorreden zur Bibel begründete er die veränderte Anordnung der neutestamentlichen Schriften im Septembertestament� 5 Konsequent hat Luther das gezeugnuss der schrift der scheinlich ursachen seiner theologischen Erkenntnis unterworfen� Genau gegen diese dynamische Verhältnisbestimmung von Schrift und Vernunft richten sich die auf dem Tridentinum beschlossenen Sicherungsmaßnahmen, die (zum ersten Mal in der Geschichte des Christentums! ) Umfang und Textgestalt der Schrift verbindlich festschreiben� 6 I. Textkritik: Woher kommen die Varianten? Seit dem 18� Jh� sind die theologischen Einsichten zur Bibel historisch grundiert� Die hellen Gründe der historischen Kritik haben jedoch nicht nur das Verständnis der Schrift und ihre Interpretation verändert, sondern auch ihre textliche Gestalt: Was genau der Text der Schrift ist, ist fraglich� Von den rund 5800 griechischen Handschriften des Neuen Testaments bieten vermutlich nicht zwei denselben Text, und die Schätzungen über die Anzahl der Varianten gehen in die Hunderttausende - auch wenn niemand sie gezählt hat und noch nicht einmal Einigkeit darüber besteht, welche Abweichungen denn sinnvollerweise 4 M� Luther, Sendbrief vom Dolmetschen (1530), WA 30, 635f (zu Rm 3,28): „Also habe ich hie Roma� 3� fast wol gewist, das ym Lateinischen und krigischen text das wort solum nicht stehet, und hetten mich solchs die papisten nicht dürffen leren� War ists� Dise vier buchstaben s o l a stehen nicht drinnen, welche buchstaben die Eselsköpff ansehen, wie die kue ein new thor, Sehen aber nicht, das gleichwol die meinung des text ynn sich hat, und wo mans wil klar und gewaltiglich verteutschen, so gehoret es hinein, denn ich habe deutsch, nicht lateinisch noch kriegisch reden wöllen�“ 5 H� Bornkamm (Hg�), Luthers Vorreden zur Bibel, Göttingen 3 1989, 214 f� Luther nennt den „harten Knoten“ der Ablehnung der zweiten Buße im Hebr und moniert, dass Jak „stracks wider S� Paulum und alle andre Schrift den Werken die Rechtfertigung“ gebe� 6 Vgl� Sessio IV, Decretum de libris sacris et de traditionibus recipiendis (8� April 1546, DH 1501ff). Charakteristisch ist der Beschluss, es solle niemand wagen, „gestützt auf die eigene Einsicht ( suae prudentiae innixus ) … die Heilige Schrift auf die eigenen Ansichten hin zu verdrehen ( sacram Scripturam ad suos sensus contorquens )“, um sie dann entsprechend auszulegen (DH 1507)� Die Schrift und die hellen Gründe der textkritischen Vernunft 89 als Varianten gelten können� 7 Seit dem Anfang des 18� Jh� versucht die Textkritik, Struktur in diesen Wust zu bringen� Von bleibendem Wert sind die Pionierleistungen des 19� und 20� Jh�, teils wegen der Berücksichtigung wichtiger Handschriftenfunde (Tischendorf; Nestle-Aland), teils wegen der methodischen Weiterentwicklungen (Lachmann; Westcott / Hort; von Soden usw�)� Allerdings ist schon lange erkannt, daß die grundlegenden Ziele aller Textkritik, nämlich die Stemmatisierung der Handschriften und die Identifizierung eines Archetyps, wegen der übermäßigen Komplexität der Bezeugung gar nicht erreichbar sind� Möglich ist nur die Annäherung an einen Ursprungstext, aus dem dann die Varianten entstanden sind� Aber im Unterschied zu der Zuversicht, mit der die ältere textkritische Forschung den „Originaltext“ oder den sogenannten „Urtext“ anstrebte, 8 ist die gegenwärtige textkritische Forschung deutlich vorsichtiger geworden� Sie versucht nicht mehr, den „Urtext“ zu rekonstruieren (um etwa den dokumentarischen Fassungen der Paulusbriefe oder den Autographen der Evangelien zumindest möglichst nahe zu kommen), sondern bemüht sich um eine Textgestalt, die als „Ausgangstext“ ( initial text ) bezeichnet wird� 9 Da- 7 Vgl� P� J� Gurry, The Number of Variants in the Greek New Testament: A Proposed Estimate, NTS 62 (2016), 97-121, der selbst 500 000 Varianten schätzt. 8 B� F� Westcott / F� J� A� Hort, The New Testament in the Original Greek I / II, New York 1881, vertraten diesen Anspruch schon im Titel ihrer Ausgabe� Vgl� weiter K� Lake, The Text of the New Testament, New York 5 1916, 1� Siehe auch B� M� Metzger, A Textual Commentary on the Greek New Testament, Stuttgart 2 1994, insb� xiii; K� Aland / B� Aland, Der Text des Neuen Testaments� Einführung in die wissenschaftlichen Ausgaben sowie in Theorie und Praxis der modernen Textkritik, Stuttgart 2 1989, v� a� 284� Zum Problem des heterogenen Begriffsgebrauchs in der textkritischen Forschung: E� J� Epp, The Multivalence of the Term „Original Text“ in the New Testament Textual Criticism, in: ders�, Perspectives on New Testament Textual Criticism. Collected Essays, 1962-2004 (NT�S 116), Leiden / Boston 2005, 551-593. 9 Diese Einsicht hat sich allerdings noch kaum in der einführenden Studienliteratur niedergeschlagen, die in der Regel die Annäherung an den „ursprünglichen Text“/ „Urtext“ als Prof. Dr. Matthias Klinghardt ist Professor für Biblische Theologie an der TU Dresden� Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören u� a� die Entstehung des Neuen Testaments als Sammlung, die Überlieferungsgeschichte der Evangelien und die frühe Geschichte der neutestamentlichen Textüberlieferung� 90 Matthias Klinghardt mit ist der älteste erreichbare Text gemeint, der am Anfang der Handschriftenüberlieferung steht� Der eklektisch rekonstruierte Text der kritischen Ausgaben zielt also auf die größtmögliche Annäherung an diesen Archetyp der Überlieferung� 10 Daher sehen alle gängigen textkritischen Modelle prinzipiell nur eine duale Leitunterscheidung „primär / sekundär“ vor� 11 Es spielt dabei keine Rolle, ob diese Unterscheidung im methodischen Rahmen der „Lokal-genealogischen Methode“ 12 getroffen wird, oder ob die älteste Fassung durch die elaboriertere „Kohärenz-basierte genealogische Methode“ ( CBGM ) 13 ermittelt wird: Das Ziel ist für jede einzelne Variante die Feststellung des ältesten erreichbaren Texts, dem gegenüber alle „Varianten“ sekundär sind� Die Hauptfrage, die sich daraus ergibt, lautet: Lässt sich zeigen, wie die Varianten aus diesem Ausgangstext entstanden sind? Diese Frage ist unerheblich für orthographische Anpassungen sowie für die große Zahl der Varianten, die auf offensichtliche oder auch nur denkbare Kopistenversehen zurückgehen ( aberratio oculi , Haplographie, Dittographie usw�)� Lässt man außerdem die geringfügigen und semantisch sich kaum oder gar nicht auswirkenden Varianten außer Betracht, die sich bei großzügiger Handhabung als „stilistische Veränderungen“ verstehen lassen, dann bleibt eine immer noch erhebliche Gruppe Ziel der Textkritik angibt, vgl� beispielsweise M� Ebner / B� Heininger, Exegese des Neuen Testaments� Ein Arbeitsbuch für Lehre und Praxis, Wien 2 2007, 25-29; U. Schnelle, Einführung in die neutestamentliche Exegese, Göttingen 7 2008, 34 f�; W� Egger / P� Wick, Methodenlehre zum Neuen Testament� Biblische Texte selbständig auslegen, Freiburg 6 2011, 68-70. 10 Vgl� mit den entsprechenden Verweisen auf das Projekt der Editio Critica Maior M� W� Holmes, From „Original Text“ to „Initial Text“� The Traditional Goal of New Testament Textual Criticism in Contemporary Discussion, in: B� D� Ehrman / M� W� Holmes (ed�), The Text of the New Testament in Contemporary Research� Essays on the Status Quaestionis (NTTSD 42), Leiden 2 2013, 619-666 (bes. 652 f.; 660). 11 Auf den prinzipiell binären Charakter der bisherigen textkritischen Paradigmen weist auch E� J� Epp, It’s All about Variants: A Variant-Conscious Approach to New Testament Textual Criticism, HThR 100 (2007), 275-308, hin. Sein eigenes Modell einer Erklärung der Varianten vor dem Hintergrund eines „earliest attainable text“ löst diese Binarität allerdings nicht prinzipiell auf� 12 Zur Bezeichnung vgl� K� Aland, The Twentieth-Century Interlude in New Testament Textual Criticism, in: R� McL� Wilson (ed�), Text and Interpretation: Studies in the New Testament Presented to Matthew Black, Cambridge 1979, 1-15, zum Verfahren außerdem die Nummern sechs und acht der „Zwölf Grundregeln für die textkritische Arbeit“, K� Aland / B� Aland, a� a� O� (o� Anm� 8), 284 f� 13 Zur CBGM vgl� K� Wachtel, The Coherence-Based Genealogical Method: A New Way to Reconstruct the Text of the Greek New Testament, in: J� S� Kloppenborg / J� H� Newman (ed.), Editing the Bible. Assessing the Task Past and Present, Atlanta 2012, 123-138, sowie die knappe Einführung von Gerd Mink unter https: / / www�uni-muenster�de/ INTF/ Genea logical_method�html (Zugriff: 1� März 2017)� Die Schrift und die hellen Gründe der textkritischen Vernunft 91 von Varianten übrig, die sich nur als intentionale, redaktionelle Veränderungen begreifen lassen� Wie sind diese redaktionellen Varianten entstanden? Erstaunlicherweise hat die neutestamentliche Textkritik auf diese Frage keine systematische Antwort entwickelt� Genau genommen lassen sich nur zwei verschiedene Antworttypen unterscheiden� Der erste versteht die Variantenbildung als ungeordneten und unkontrollierten Prozess, der nicht zufällig mit der Wachstumsmetaphorik eines emergenten Organismus bezeichnet wird: Die Varianten sind „Wucherung“ und Verwilderung� Allerdings muss die Devianz gegenüber dem Ausgangstext nicht notwendigerweise negativ konnotiert sein� David Parker beispielsweise versteht die ungezählten Varianten in der reichen und verzweigten Handschriftenüberlieferung als unterschiedliche Ausdrucksformen eines andauernden Überlieferungsstromes eigenen Wertes� So tritt das permanent sich verändernde Traditions-Flow an die Stelle der fixierten Textgestalt des einen, legitimen Ausgangstextes: Gerade in der Unabgeschlossenheit der Veränderungen zeige sich der „lebendige Text“� 14 Aber unabhängig davon, ob man die Varianten eher als Wucherung eines Geschwürs oder als gesunde Lebendigkeit versteht: gemeinsam ist diesem Wachstumsmodell, dass sich Zeiten, Orte, Umstände und Verantwortliche für die Variantenbildung gerade nicht ausmachen lassen� Die Annahme von Wachstum jeder Art verzichtet auf ein kritisch überprüfbares Modell der Textgeschichte� Eine zweite Antwort hat Bart Ehrman gegeben: Im Unterschied zur Emergenz des ersten Modells versteht er die (besser: einen Teil der) redaktionellen Varianten als Ergebnis einer sekundären Anpassung der Schriftgrundlage an veränderte theologische Erfordernisse� 15 An manchen Stellen ist das leicht nachvollziehbar und überzeugend� So fehlen etwa die beiden Verse, die in der Passionsgeschichte von der Agonie Jesu am Ölberg berichten (Lk 22,43 f�), in einem Dutzend alter Handschriften, sind aber in der übergroßen Mehrheit der Überlieferung enthalten� 16 Diese Verse lassen sich ohne weiteres als eine sekundäre, antidoketische Einfügung in den Text verstehen, die belegen soll, dass Jesus tatsächlich und nicht nur scheinbar gelitten hat� Auch wenn nicht alle von Ehrman angeführten Beispiele gleichermaßen überzeugend sind, gibt es doch 14 D� C� Parker, The Living Text of the Gospels, Cambridge (UK)/ New York 1997; ders�: Scripture is Tradition, in: Manuscripts, Texts, Theology. Collected Papers 1977-2007 (ANTF 40), Berlin/ New York 2009, 265-273; ebd., 267 das charakteristische Zitat von Günther Zuntz: „The tradition flows on�“ 15 B� D� Ehrman, The Orthodox Corruption of Scripture� The Effect of Early Christological Controversies on the Text of the New Testament, New York [u� a�] 1993� 16 Lk 22,43 f� fehlen in: P 75 א 1 A B N T W 579 1071* l 844 pc f sy s sa bo pt (und wenigen patristischen Handschriften). Enthalten sind die Verse dagegen in א* �2 D L Θ Ψ 0171 f 1 lat sy c�p�h bo pt sowie dem ganzen Rest der Überlieferung einschließlich einer Reihe patristischer Zeugen� Zum Problem vgl� Ehrman, a�a�O�, 220 ff� 92 Matthias Klinghardt eine ganze Reihe von Varianten, die sich auf diese Weise erklären lassen� Wenn Ehrman diese Varianten unter den Titel „Orthodoxe Korruption“ fasst, insistiert er auf der Integrität und Überlegenheit des Ausgangstextes gegenüber diesen Veränderungen� Aber auch das Modell der „orthodoxen Korruption“ lässt die wichtigsten Fragen der Textgeschichte offen� Es kann zwar allgemeine (theologische) Gründe für die Veränderungen angeben, nicht aber, wer sie wann und wo vorgenommen haben könnte: Da sich keine einzige dieser Korrekturen auf Synodalbeschlüsse oder wenigstens bischöfliche Entscheidungen zurückführen lässt, bleibt auch hier nur die Annahme einer langen Kette einzelner, eigenmächtiger Eingriffe in den überlieferten Text, die sich in keinem Fall konkretisieren lassen und deshalb beliebig bleiben� Diese Situation macht ein Problem von großer methodischer Tragweite sichtbar� Denn wenn sich die Entstehung der redaktionellen Varianten historisch nicht befriedigend erklären lässt, dann kann auch der aus der Vielzahl der Varianten rekonstruierte Ausgangstext keinen Anspruch auf historische Plausibilität erheben: Ohne ein nachvollziehbares textgeschichtliches Modell bleibt auch ein mit großem wissenschaftlichem Aufwand rekonstruierter Text unkritisch, weil er die Kriterien für die Leitunterscheidung nicht benennen kann� II. Sekundäre Entstehung der Varianten? Die „Western Non-Interpolations“ als Testfall Die Behauptung, dass man die Entstehung der Varianten verstehen muss, um den Ausgangstext belastbar rekonstruieren zu können, lässt sich leicht überprüfen� Dafür empfiehlt es sich, bei den deutlichsten Phänomenen einzusetzen, und das sind die berüchtigten „Western Non-Interpolations“� Mit diesem Begriff hatten Westcott und Hort eine Gruppe von Varianten bezeichnet, die sie für ursprünglich hielten, obwohl sie nur in Handschriften des sog� „Westlichen Texts“ auftauchten� 17 Im Vergleich mit allen anderen Zeugen zeigen diese Varianten „Lücken“ im Text; da der „Westliche“ Text nach ihrer Ansicht besonders zu „Interpolationen“, also zu Ergänzungen, neigte, hielten Westcott und Hort diese Varianten für besonders auffällig und nannten sie „Non-Interpolations“� Sie markierten diese Passagen, indem sie den von der restlichen Überlieferung gebotenen Text in doppelte eckige Klammern setzten, um anzuzeigen, dass 17 Westcott / Hort (o� Anm� 8), I 175: Bei einigen Lesarten „können wir keinen Zweifel haben, dass sie trotz des ausschließlich ‚Westlichen’ Charakters ihrer Bezeugung ursprünglich sind� Es sind alles Auslassungen, oder, um genauer zu sein, Nicht-Interpolationen von unterschiedlicher Länge: Das heißt, der ursprüngliche Text hat hier, nach unserem besten Wissen, in allen erhaltenen Nicht-Westlichen Zeugen Interpolationen erlitten�“ Die Schrift und die hellen Gründe der textkritischen Vernunft 93 er nach ihrer Ansicht nicht ursprünglich sei� Die Gruppe dieser „Non-Interpolations“ ist klein, und sie begegnen fast nur im Lk� 18 Das bekannteste Beispiel ist der sog� „Kurztext“ im lk Mahlbericht, der in den „Westlichen“ Handschriften mitten im sog� Brotwort nach „Dies ist mein Leib“ abbricht� Es fehlt die gesamte Weiterführung: „… der für euch gegeben wird� Das tut zu meinem Gedächtnis� Desgleichen auch den Kelch nach dem Mahl und sprach: Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut, das für euch vergossen wird! “ 19 Man versteht, dass und warum Westcott / Hort der Ansicht waren, dass die kurze Lesart ursprünglich sein müsse: Dass sie um Lk 22,19b�20 ergänzt wurde, ist - im Licht der Parallelen in den anderen Synoptikern und vor allem in 1Kor 11,24f - ohne weiteres nachvollziehbar� Umgekehrt führt schlechterdings kein Weg von der Langzur Kurzfassung: Dem steht alles, was wir über die Theologie- und Ritualgeschichte wissen, diametral entgegen� 20 Es war daher konsequent, dass die nur im „Langtext“ enthaltenen Vv� 22,19b�20 bis zur 25� Auflage des „Nestle“ - genau wie bei Westcott / Hort - nur in eckigen Klammern erschienen und nicht als Teil des ursprünglichen Textes gewertet wurden� Dies konnte allerdings nur den Nutzern der kritischen Ausgaben auffallen� Denn erst seit 1968 gibt es eine Selbstverpflichtung der nationalen Bibelgesellschaften, ihren landessprachlichen Übersetzungen den Text der kritischen Ausgaben zugrunde zu legen� 21 Bis dahin boten die Übersetzungen (auch die deutschen) ihren eigenen traditionellen Text, und der enthielt immer den Langtext� Aber als 1980 die Einheitsübersetzung und 1984 die vorletzte Revision der Lutherbibel veröffentlicht wurden, orientierten sie sich vereinbarungsgemäß an dem gemeinsamen Text der kritischen Aus- 18 Es handelt sich um lediglich neun Varianten (zu Mt 27,49; Lk 22,19b-20; 24,3; 24,6; 24,12; 24,36; 24,40; 24,51; 24,52), die sich dadurch auszeichnen, dass alle „Westlichen“ Handschriften dasselbe Textphänomen zeigen, also der Codex Bezae (D 05), die Altlateiner (it; in NA durch Kleinbuchstaben bezeichnet) und die altsyrischen Handschriften (sy s�c )� 19 Diese Übersetzung folgt - dem Jubiläumsanlass dieses Bandes entsprechend - der Lutherbibel 2017� Dass diese revidierte Übersetzung eindeutig falsch und in hohem Maß sinnentstellend ist, sei hier nur deshalb angemerkt, weil diese Revision ausdrücklich als ihr zentrales Kriterium die „Treue gegenüber dem Ausgangstext“ angibt und darauf verweist, die „gesamte Bibel anhand der hebräischen und griechischen Urtexte überprüft“ zu haben� In diesem Fall müssen wohl andere Kriterien leitend gewesen sein� Zur richtigen Übersetzung vgl� M� Klinghardt, Der vergossene Becher: Ritual und Gemeinschaft im lukanischen Mahlbericht, Early Christianity 3 (2012), 33-58. 20 Zu diesem Urteil kommt auch M� Rese, Zur Problematik von Kurz- und Langtext in Luk� XXII 17 ff�, NTS 22 (1975), 15-31. 21 Guiding Principles for Interconfessional Cooperation in Translating the Bible, Bible Translator 19 (1968), 101-110; diese Fassung wurde erneuert: Guidelines for Interconfessional Cooperation in Translating the Bible� The New Revised Edition (1987), African Ecclesiastical Review 30 (1988), 331-344. 94 Matthias Klinghardt gaben, die kurz zuvor in neuen Auflagen erschienen waren� 22 Jetzt allerdings hatten sie - zum ersten Mal in der Geschichte der kritischen Ausgaben! - die kürzeren Fassungen der „Western Non-Interpolations“ für sekundär erklärt und sie aus dem Text verbannnt� Seither bieten sie im lk Mahlbericht den Langtext, dem konsequenterweise dann auch die Übersetzungen folgen� Es ist nicht ganz leicht, die Gründe für diese gravierende Veränderung der textkritischen Einschätzung zu eruieren� Sie wurde auch nicht von allen Herausgebern geteilt: Die Widersprüchlichkeit spiegelt sich noch in den gespaltenen Voten der Herausgeber, die sich offensichtlich nicht annähern ließen� 23 Das Minderheitsvotum zugunsten des Kurztextes argumentierte mit den anerkannten Gesetzmäßigkeiten der Textproduktion (eine sekundäre Ergänzung ist leichter erklärbar als eine Kürzung) sowie der nicht-lk Sprache von 22,19b�20 (ein schwaches Argument, das immer der Zirkularität verdächtig ist) und erklärte den Langtext als Ergänzung unter Einfluss von 1Kor 11,24f (dies ist wegen der identischen Struktur des Becherwortes ohne weiteres nachvollziehbar)� Die Befürworter des Langtextes konnten die Entstehung des Kurztextes nicht erklären� Dem Bericht zufolge führten sie „Kopistenversehen“ und „Missverständnisse“ an, also Kontingenzphänomene, die sich prinzipiell der historischen Rekonstruktion entziehen: Offensichtlich nahm man diese Nicht-Erklärung wegen der „überwältigenden äußeren Bezeugung“ für den Langtext in Kauf� 24 Damit ist nicht nur die große Masse der Handschriften gemeint, sondern vor allem das Gewicht des P 75 � Diese Handschrift, die seit den 1950er Jahren bekannt wurde, stimmt mit vielen als „zuverlässig“ geltenden Zeugen aus dem 4� und 5� Jh� überein, geht aber bereits auf das 3� Jh� zurück - und enthält den Langtext� Die Argumentation besagt also: P 75 ist ein „zuverlässiger“ Zeuge, weil er an vielen Stellen mit dem Sinaiticus und dem Vaticanus zusammengeht� Aber weil er deutlich älter ist als diese, lässt sich deren „zuverlässige“ Textgestalt schon bis an den Anfang des 3� Jh� zurückverfolgen; sie ist deshalb - mit dem Langtext, natürlich - ursprünglich� 25 Die Abwä- 22 Die 26� Auflage des Nestle-Aland (NA 26 ) erschien 1979� Bereits 1975 war die dritte Auflage des Greek New Testament (GNT 3 ) erschienen (das zuvor den Text der Ausgabe von Westcott / Hort enthalten hatte); sie nahm eine grundlegende Revision des Textes vor und berücksichtigte dabei die für NA 26 geplanten Änderungen des Textes� 23 Vgl� B� M� Metzger, A Textual Commentary on the Greek New Testament, London/ New York 4 1994, 164: Die Beurteilung der Western Non-Interplations hatte „a sharp difference of opinion“ zu Tage treten lassen� 24 Metzger, a� a� O�, 149: „The majority, on the other hand, impressed by the overwhelming preponderance of external evidence supporting the longer form, explained the origin of the shorter form as due to some scribal accident or misunderstanding�“ 25 Ausführlich dargelegt von K� Aland, Die Bedeutung des P 75 für den Text des Neuen Testaments� Ein Beitrag zur Frage der „Western non-interpolations“, in: ders�, Studien zur Überlieferung des Neuen Testaments und seines Textes (ANTF 2), Berlin 1967, 155-172. Die Schrift und die hellen Gründe der textkritischen Vernunft 95 gung der inneren Gründe, also die historische Plausibilisierung der Entstehung der einen aus der anderen Lesart, ist dabei völlig vernachlässigt worden und hinter ein formales Verfahren zurückgetreten, in dem sich die „Zuverlässigkeit“ bestimmter Zeugen schon längst verselbständigt hatte� Dass diese Begründungsstruktur völlig unhaltbar ist, hätte man an den Stellen sehen können, an denen der P 75 mit den „Westlichen“ Handschriften gegen die überwiegende Mehrheit der Überlieferung steht und einen kürzeren Text bietet� 26 Die textkritische Entscheidung für die Priorität des Langtextes basiert auf einer gewaltsamen Argumentation und ist unhaltbar� Aber aus theologischer Sicht ist das Ergebnis akzeptabel� Denn ein Abendmahlsbericht ohne Becherwort, ohne Blut und ohne neuen Bund, dafür aber mit einer gänzlich anderen Ritualstruktur wäre für den kirchlichen Gebrauch schwer vorstellbar� Nachdem sich die Bibelgesellschaften auf die eine, gemeinsame Textgrundlage verpflichtet hatten, ahnt man ihre Erleichterung, als die Herausgeber es geschafft hatten, die „Western Non-Interpolations“ (und mit ihnen: den Kurztext) nach über 100 Jahren kurzerhand wegzuerklären� Nur im Stillen bleibt die Frage: Was hätte Luther wohl zu dieser Geringschätzung der hellen Gründe der historischen Vernunft zugunsten der kirchlichen Tradition gesagt? III. Analogie von Text- und Überlieferungsgeschichte: Eine vereinheitlichende Redaktion Diese Situation resultiert aus der textkritischen Prämisse, jeweils den ältesten erreichbaren Text zu rekonstruieren� Sie ist der protestantischen Schrifttheologie seit ihren Anfängen unter dem Einfluss des Humanismus inhärent, der sich ja auch in der Orientierung an dem hebräischen und griechischen Bibeltext zeigt� Diese Prämisse ist noch nie ernsthaft angezweifelt worden; aber ist sie korrekt? Erste Zweifel sind angebracht, wenn man sich vor Augen führt, wie unscharf die Kategorie des Augangstexts ( initial text ) ist, um den sich die neuere Textkritik bemüht� In formaler Hinsicht ist der Ausgangstext ein hypothetischer Archetyp, auf den alle Textformen zurückgehen� Das Problem wird sichtbar, wenn man den Ausgangstext als den „frühesten überlieferten Text“ definiert, „das heißt diejenige Textform, in der eine frühchristliche Schrift zuerst zu zirkulieren begann und kopiert wurde�“ 27 Denn wo genau setzen „Zirkulation“ und „Kopieren“ ein? Holmes selbst nennt als Beispiel den dokumentarischen Römerbrief, also das von Paulus als materiales Objekt nach Rom verschickte Schreiben, 26 Z� B� in Lk 11,2d; 12,39; 22,43 f�; 23,34a usw� 27 Holmes, a� a� O� (o� Anm� 10), 638: „… ’the earliest transmitted text’, that is, the form(s) of text in which an early Christian writing first began to circulate and be copied�“ 96 Matthias Klinghardt setzt also den Ursprung der handschriftlichen Überlieferung wieder mit dem Entstehen des Autographes gleich� 28 Wenn aber die textkritisch relevante Handschriftenüberlieferung bereits bei der ersten Kopie des Autographen einsetzt, dann impliziert dies die grundsätzliche Gleichartigkeit aller Veränderungen, die später an diesem Text vorgenommen wurden (also die lange Kette individueller und nicht-identifizierbarer Eingriffe)� Unter diesen Voraussetzungen ist es nur konsequent, den kritisch zu erstellenden Ausgangstext mit dem „originalen“ Autographen zu identifizieren� Die Annahme einer prinzipiellen Gleichförmigkeit der Textgeschichte setzt allerdings eine entsprechend gleichförmig verlaufende Überlieferungsgeschichte voraus: Das textgeschichtliche Modell der Textwucherungen (also einer langen Reihe von einzelnen, zufälligen und nicht identifizierbaren Veränderungen) impliziert die Vorstellung eines Sammlungsprozesses der nt�lichen Schriften, der anonym, ungesteuert, quasi von allein und ohne identifizierbare Eingriffe von den Autographen direkt zur fertigen Sammlung führt� Aber diese Vorstellung ist romantisch-naiv und (zumal für die dokumentarischen Briefe! ) unhaltbar� Denn alle (! ) verfügbaren handschriftlichen Zeugen der nt�lichen Schriften zeigen die Spuren vereinheitlichender Eingriffe: Die nomina sacra , die einheitliche Gestaltung der Titel der Schriften und die Einheitlichkeit des Umfangs der Teilsammlungen sowie der Reihenfolge der in ihnen enthaltenen Schriften belegen über jeden vernünftigen historischen Zweifel hinaus die Tätigkeit einer vereinheitlichenden Redaktion� 29 Die Entsprechung von Text- und Überlieferungsgeschichte eröffnet daher die Möglichkeit, dass diese vereinheitlichende Redaktion auch in den überlieferten Textbestand eingegriffen haben könnte und auf diese Weise für die Entstehung von Varianten verantwortlich ist; das ist die These� „Redaktion“ heißt: Die Eingriffe in den Text sind nicht fehlerhaft und beliebig, sondern reflektiert und intentional� Dass diese Redaktion „vereinheitlichend“ ist, besagt: Es geht nicht um zufällige textliche Änderungen in der einen oder der anderen Schrift, sondern um eine systematische Redaktion, die sich über mehrere Einzeltexte erstreckt, deswegen eine Sammlung bearbeitet und eine gewisse Kohärenz erwarten lässt� Ein Beispiel, an dem sich diese integrierende Bearbeitung sehr gut zeigen lässt, ist die Datierung der Auferstehungsweissagungen in den Leidensankündigungen der synoptischen Evangelien� Bekanntlich weichen die Formulierungen, mit denen die Auferstehung datiert wird, voneinander ab: Bei Mk verheißt Jesus die Auferstehung des Menschensohns nach drei Tagen , bei Mt und Lk dagegen 28 Vgl� Holmes, a� a� O�, 659; es ist deswegen konsequent, dass er auch wieder vom „original text“ spricht (ebd�, 659 Anm� 87)� 29 Vgl� D� Trobisch, Die Endredaktion des Neuen Testaments� Eine Untersuchung zur Entstehung der christlichen Bibel (NTOA 31), Freiburg, Schweiz 1996� Die Schrift und die hellen Gründe der textkritischen Vernunft 97 am dritten Tag � 30 Auf den ersten Blick scheint diese Varianz verständlich: Die mk Datierung passt nicht zu dem Gang der Erzählung, denn zwischen der Sterbestunde Jesu am Karfreitag und Ostermorgen liegen gerade mal 39 Stunden: nach drei Tagen ist das nicht� Deswegen haben Mt und Lk, so die gängige Erklärung, diese Diskrepanz dadurch beseitigt oder wenigstens verringert, dass sie die Auferstehung am dritten Tag erwarten: Sie haben die besprochene an die erzählte Zeit angepasst� 31 Dass die (mt-lk) Formulierung am dritten Tag gegenüber dem mk nach drei Tagen sekundär und daraus entstanden ist, ist plausibel: Der umgekehrte Weg wäre kaum nachvollziehbar� Allerdings ist diese Erklärung in doppelter Hinsicht ergänzungsbedürftig� Zum einen muss man natürlich auch die mk Datierung nach drei Tagen verstehen: Warum schafft Mk mit dieser Formulierung eine solche Spannung zu seiner eigenen Erzählung? Die Antwort liefert der traditionsgeschichtliche Hintergrund des auf Daniel zurückgehenden Wochenschemas, dem zufolge es „eine Zeit und zwei Zeiten und eine halbe Zeit“ dauert, bis die Herrschaft des Widersachers beendet ist bzw� die endzeitlichen Propheten auferstehen werden� 32 Diese komplizierte Wendung ist in der verzweigten Tradition häufig vereinfacht worden, unter anderem durch nach dem dritten Tag oder auch nach drei Tagen � 33 Die mk Datierung nach drei Tagen ist also eine gängige und traditionskonforme Vereinfachung� Aber auch damit ist die Erklärung noch nicht vollständig� Denn ein Blick in die Handschriften zeigt, dass in fünf der insgesamt acht datierten Auferstehungsweissagungen beide Formulierungen bezeugt sind� 34 Das heißt: In den Handschriften aller Evangelien finden sich beide Formulierungen nebeneinander, also in Mk auch die jüngere, an den Gang der Erzählung angepasste Wendung am dritten Tag , in Mt und Lk auch die ältere, traditionsnahe Formulierung nach drei Tagen � In allen fünf Fällen liest die übergroße Mehrheit der Handschriften die jüngere Formulierung 30 Mk 8,31; 9,31; 10,34 : meta treis hēmeras � - Mt 16,21; 17,23; 20,19; Lk 9,22; 18,33: tē tritē hēmera (die Leidensankündigung in Lk 9,44 enthält keinen Hinweis auf die Auferstehung)� 31 Diese Veränderung zwischen den Evangelien belegt im Übrigen, dass (1) die Differenz beider Formulierungen durchaus als Problem wahrgenomnen wurde (was gelegentlich bestritten wird, vgl� z� B� H� K� McArthur, „On the Third Day“, NTS 18 [1971 / 72], 81-86) und dass (2) nach drei Tagen auch bei „inklusiver Zeitrechnung“ (so eine häufige Erklärung) nicht für den erzählten Zeitraum zwischen Freitagnachmittag und Sonntagmorgen passt� 32 Vgl� K� Berger, Die Auferstehung des Propheten und die Erhöhung des Menschensohns (StUNT 13), Göttingen 1976, 107 ff� 33 Z� B�: Lactantius, Div� Inst� VII 14,3 (ed� Brandt 638: post diem tertium reviviscet ); Lat� Tiburtina (ed� Sackur 186 : post tres dies a Domino suscitabuntur ); Adso, De Antichr� (PL 101, 1297a: post tres dies a Domino suscitabuntur )� 34 In Mk 8,31 bieten alle Handschriften ohne Ausnahme nach drei Tagen , in Mt 20,19 und Lk 19,22 dagegen, ebenso ausnahmslos, am dritten Tag � 98 Matthias Klinghardt ( am dritten Tag ), während die ältere ( nach drei Tagen ) nur von einer Minderheit der Zeugen geboten wird� 35 Die korrigierende Anpassung der besprochenen an die erzählte Zeit lässt sich folglich nicht überlieferungsgeschichtlich zwischen Mk auf der einen und Mt und Lk auf der anderen Seite verorten: Diese Korrektur kann erst auf einer Überlieferungsstufe durchgeführt worden sein, auf der alle drei synoptischen Evangelien bereits vorlagen� Da der Bedarf für diese Korrektur offenkundig ist, könnte sie theoretisch in den einzelnen Evangelien von verschiedenen Bearbeitern zu verschiedenen Zeiten durchgeführt worden sein� Aber dagegen spricht ihre Einheitlichkeit, die keineswegs auf der Hand liegt� Denn zur Bezeichnung eines Zeitraums von weniger als 48 Stunden bieten sich ja auch andere Formulierungen an: So wäre beispielsweise nach zwei Tagen nicht nur präziser als am dritten Tag , sondern würde auch einen geringeren Eingriff in den Textbestand erfordern� Die Einheitlichkeit der Korrekturen verrät daher nur eine einzige Hand, die demzufolge keine Einzeltexte bearbeitet hat, sondern eine Sammlung� Alle drei Evangelien wurden also einer einheitlichen, intentionalen und reflektierten Bearbeitung unterzogen: Hier sind nicht irgendwelche beliebige Kopisten am Werk, sondern ein Bearbeiter� Dieser Bearbeiter hat nicht Einzeltexte bearbeitet, sondern eine Sammlung der Evangelien vor sich gehabt und deren Text systematisch aneinander angeglichen� Und schließlich hat diese Bearbeitung ihre Spuren in den Handschriften hinterlassen: Die Varianten sind die Folge der Redaktion� Dabei lässt sich recht genau zwischen ursprünglichen und sekundären Lesarten unterscheiden, wobei in allen Fällen die übergroße Mehrheit der Zeugen die sekundäre Lesart bietet� Es ist nicht wirklich überraschend, dass die kritischen Ausgaben in der Rekonstruktion ihres Textes alles andere als konsequent verfahren: Denn würden sie tatsächlich jeweils den ältesten Text rekonstruieren, dann müssten sie ganz eindeutig an allen Stellen - also auch in Mt und Lk - die Lesart nach drei Tagen bieten� Wie im Fall des lk Mahlberichtes müssen auch hier irgendwelche anderen Kriterien leitend gewesen sein� IV. Der älteste Text oder der Text des Neuen Testaments? Mit dem Nachweis, dass nicht ältere Einzeltexte, sondern eine (Evangelien-) Sammlung planmäßig und systematisch bearbeitet wurde, stellt sich die weitergehende Frage, ob diese Redaktion mit der „Endredaktion des Neuen Testaments“ gleichgesetzt werden kann, die auch für die Zusammenstellung der einzelnen Schriften in Teilsammlungen und für die Titelgebung verantwortlich 35 Die handschriftliche Bezeugung ist aufgeschlüsselt bei M� Klinghardt, Das älteste Evangelium und die Entstehung der Evangelien (TANZ 60), Tübingen 2015, 322 f� Die Schrift und die hellen Gründe der textkritischen Vernunft 99 war� Tatsächlich gibt es Gesichtspunkte, die es erlauben, Umfang, Zeit und Profil dieser Bearbeitung wahrscheinlich zu machen und auf diese Weise die Entstehung eines wichtigen Teils der Varianten historisch einzuordnen� Am Anfang ist es sinnvoll, noch einmal einen Blick auf die „Western Non- Interpolations“ zu werfen� Auch wenn die von Westcott und Hort getroffene Stellenauswahl wenig verlässlich ist, ist es vermutlich kein Zufall, dass diese eindeutig redaktionellen Varianten gerade im Lk-Evangelium so gehäuft auftreten� Wenn man fragt, was die Textüberlieferung des Lk von der der anderen Evangelien unterscheidet, dann wird sehr schnell eine Besonderheit deutlich� Denn im 2� und 3� Jh� ist von allen Evangelien gerade das Lk-Evangelium in der Hand von „Häretikern“ bezeugt� Origenes behauptet beispielsweise, dass „zahllose Häresien“ das Evangelium nach Lukas rezipieren, 36 und fügt an anderer Stelle hinzu, dass „alle Häretiker, die das Evangelium nach Lukas benutzen, verachten, was in ihm geschrieben ist“� 37 Damit ist gemeint: sie bearbeiten es und lassen weg, was ihnen daran nicht passt� Diese Behauptung entspricht dem, was seit Irenäus, Tertullian und anderen über Marcion von Sinope berichtet wird: Er habe sich das kanonische Lk-Evangelium nach seinen eigenen theologischen Vorstellungen zurechtgeschnitzt und „verstümmelt“� Diese Ansicht hat ihren klassischen Ausdruck bekanntlich in Harnacks großem Marcion-Buch gefunden� 38 Allerdings hat sich Harnack nie die Mühe gemacht, diese zentrale These auch nur ansatzweise zu begründen� 39 Tatsächlich ist die Ansicht, dass Marcion das kanonische Lk bearbeitet habe, nach allen literar- und überlieferungskritischen Gesichtspunkten unhaltbar� Man versteht zwar, dass und warum die häresiologischen Stimmen in der Auseinandersetzung mit den Marcioniten auf 36 Origenes, Hom� in Lc 16,5: innumerabiles quippe haereses sunt, quae evangelium secundum Lucam recipiunt (GCS 49, 97,12f = FC 4 / 1, 188,6f). Auch Irenäus kennt Häretiker (in diesem Fall die Valentinianer), die das Lk (und zwar nur Lk, nicht auch Act) rezipieren (Iren� 3,15,1 f�)� 37 Origenes, Hom� in Lc 20,2: erubescant omnes haeretici qui evangelium recipiunt secundum Lucam et, quae in eo sunt scripta, contemnunt (GCS 49, 120,7ff = FC 4 / 1, 224,24 ff�)� Origenes verweist als Beispiel auf Lk 20,38 und führt aus, dass dieser Vers bei den Marcioniten und bei den Valentinianern gefehlt habe� 38 A� von Harnack, Marcion� Das Evangelium vom fremden Gott (TU 45), Leipzig 2 1924 (= repr� Darmstadt 1996)� 39 A�a�O�, 240*: „Daß das Evangelium Marcions nichts anderes ist [,] als was das altkirchliche Urteil von ihm behauptet hat, nämlich ein verfälschter Lukas, darüber braucht kein Wort mehr verloren zu werden“ - das hat Harnack dann auf den restlichen über 750 Seiten auch gar nicht getan� Stattdessen hat er nur einfach die Lösung wiederholt, die er sich 50 Jahre zuvor in seiner Preisarbeit aus dem 2� Studienjahr (seinem eigenen Zeugnis zufolge: lediglich kursorisch) angelesen hatte, vgl� A� von Harnack, Marcion� Der moderne Gläubige des 2� Jahrhunderts, der erste Reformator; die Dorpater Preisschrift (1870) ed� Fr� Steck (TU 149), Berlin 2003, 122-125. 100 Matthias Klinghardt dem höheren Alter des Lk insistieren, aber Marcions Behauptung, das in seiner Sammlung enthaltene Evangelium sei von seinen theologischen Gegnern so interpoliert worden, dass es jetzt mit „Gesetz und Propheten“ eine Einheit bilde, 40 ist historisch mit großem Abstand wahrscheinlicher� Das Abhängigkeitsverhältnis zwischen beiden Texten ist daher umzukehren: Nicht Marcion hat das Lk-Evangelium bearbeitet, sondern unser kanonisches Lk-Evangelium ist eine redaktionelle Bearbeitung des Evangeliums, das (neben zehn Paulusbriefen) Teil von Marcions Schriftensammlung war� 41 Unter dieser Voraussetzung gewinnen die meisten textkritischen Auffälligkeiten der Lk-Handschriften ein neues Gewicht� Denn für das (ältere) marcionitische Evangelium sind in großer Zahl Formulierungen bezeugt, die wir aus den Varianten der Handschriften des (jüngeren) kanonischen Lk kennen und die dort jeweils die älteren Lesarten darstellen� Zu diesen Entsprechungen gehören zunächst einmal die hier erwähnten Beispiele für die Varianten des Lk-Textes: So enthielt das marcionitische Evangelium den Kurztext des Mahlberichts bzw� die ältere Fassung der Datierung der Auferstehungsweissagung ( nach drei Tagen ), auch die beiden Verse über Jesu Agonie am Ölberg (Lk 22,43 f�) haben gefehlt� Aber das ist noch nicht einmal die Spitze des Eisbergs� Denn auch die „Lücken“ anderer „Western Non-Interpolations“ sind für das marcionitische Evangelium bezeugt� Darüber hinaus gibt es eine große Zahl ganz ähnlicher Lücken, die Westcott und Hort gar nicht zu den „Western Non-Interplations“ gerechnet hatten, weil sie nicht in allen der zum „Westlichen Text“ gerechneten Handschriften geboten wurden� Das heißt: Das textkritische Phänomen sekundärer, redaktioneller Ergänzungen (die in den Handschriften als „Lücken“ erkennbar sind), ist sehr viel weiter verbreitet, als es die neun Beispiele nahelegen, die Westcott und Hort zusammengestellt haben, und es taucht keineswegs nur in „Westlichen“ Handschriften auf, sondern ist über alle Bereiche der Überlieferung verteilt� Tatsächlich erschließt sich hier eine ganz neue Dimension für die Textkritik� Denn wenn die Differenzen zwischen dem marcionitischen Evangelium und Lk sich derselben Redaktion verdanken, die auch für die Angleichung der Auferstehungsweissagungen verantwortlich ist, dann bietet der Text dieses Evangeliums eine einzigartige Möglichkeit zur Überprüfung und Bewertung der Lesarten in den Lk-Handschriften� Und zwar im großen Stil: Der Text des marcionitischen Evangeliums stimmt mit den Varianten der Lk-Hand- 40 Tertullian belegt die wechselseitigen Ansprüche auf das „unverfälschte“ Evangelium „Ich behaupte, dass mein Evangelium wahr ist, Marcion, dass seines wahr ist; ich versichere, dass Marcions gefälscht ist, er dagegen, dass meines gefälscht ist“ (Adv� Marc� 4,4,1); zu dem aus Marcions Antithesen stammenden Interpolationsvorwurf vgl� Adv� Marc� 4,4,4� 41 Zuletzt ausführlich M� Klinghardt, a� a� O� (o� Anm� 35), passim � Die Schrift und die hellen Gründe der textkritischen Vernunft 101 schriften in mehreren hundert Fällen überein� 42 Noch wichtiger: In allen Fällen ist das textkritische Urteil (nach der binären Unterscheidung primär / sekundär) eindeutig, weil sich die Lesarten auf die beiden Rezensionen desselben Textes verteilen lassen: Die „primären“ Lesarten finden sich im marcionitischen Evangelium, die „sekundären“ in Lk� Das hat zunächst Konsequenzen für die hier kurz angesprochenen Beispiele� Denn das marcionitische Evangelium enthielt den Mahlbericht in seiner Kurzform� Das ist also die Vorstufe, die dann durch die Redaktion zum „Langtext“ ergänzt wurde, und zwar in einer Gestalt, die bekanntlich stark von 1Kor 11,24 f� beeinflusst ist� Dieser Einfluss bestätigt die Vermutung, dass die redaktionelle Bearbeitung des älteren Evangeliums mit der „Endredaktion“ des Neuen Testaments identisch ist: Sie hatte nicht nur eine Evangeliensammlung vorliegen, sondern (mindestens) auch die Paulusbriefe� Vor allem aber wird deutlich, dass die kritischen Ausgaben, die ja seit dem Nestle-Aland 26 (bzw� dem GNT 3 ) den „Langtext“ bieten, im Ergebnis korrekt sind: Das ist die Textfassung, die zu Recht in das Lk-Evangelium als Teil des Neuen Testaments gehört� Diese textkritische Entscheidung ist jedoch nur zufällig richtig: Gemessen an den eigenen methodischen Voraussetzungen ist sie inkonsequent� „Zufällig richtig“ ist für eine wissenschaftliche Ausgabe natürlich zu wenig, wie das nächste Beispiel zeigt� Denn während hier die inkonsequente (und insofern „falsche“) Entscheidung zum richtigen Ergebnis führt, hat im Fall der Auferstehungsweissagungen die konsequente (und insofern „richtige“) Entscheidung für den „ältesten“ Text zu einem falschen Ergebnis geführt: In Mk 9,31 und 10,34 haben die kritischen Ausgaben die älteren, aber „vorkanonischen“ Formulierungen nach drei Tagen anstelle der korrigierten Wendung am dritten Tag in den Text gestellt - konsequent, aber falsch� Derlei Inkonsequenzen (z� B� bei allen „Western Non-Interpolations“) und Fehlurteile (in ungezählten Kleinigkeiten) finden sich in den kritischen Ausgaben auf Schritt und Tritt� Sie sind die Folge eines unzureichenden Modells der Textgeschichte� Deswegen besagt die entscheidende Konsequenz: Wenn Lk eine redaktionelle Bearbeitung des marcionitischen Evangeliums ist, und wenn außerdem die Lesarten aus diesem Evangelium in den Lk-Handschriften als Varianten auftauchen, dann bezeugen diese älteren Varianten nicht den kanonischen Lk- Text, sondern den des älteren marcionitischen Evangeliums� Die Suche nach den ältesten Varianten in den Lk-Handschriften führt also nicht zum Neuen Testament, sondern zu seiner Vorstufe� Und damit stellt sich die Grundfrage nach 42 Zur Einschätzung der Größenordnung: Von allen (rund 530) Differenzen zwischen dem Text des marcionitischen Evangeliums und dem kanonischen Lk (in der Textform der kritischen Ausgaben) haben knapp 400 (also drei Viertel! ) Entsprechungen in den Varianten der Lk-Handschriften; zu den Zahlen vgl� Klinghardt, a� a� O�, 1211 ff� 102 Matthias Klinghardt der Aufgabe der Textkritik: Soll sie tatsächlich die älteste erreichbare Textform rekonstruieren und dazu noch hinter die Form der Texte zurückgehen, in der sie erstmals Teil des Neuen Testaments waren? Sollte sie - eine extreme Überzeichnung zur Verdeutlichung - das Autograph etwa des dokumentarischen Römerbriefs rekonstruieren, ein kontextloses, isoliertes Schriftstück, das noch keine Evangelien kannte, das Brief war, aber nicht „Schrift“? Oder sollte die Textkritik des Neuen Testaments genau dieses rekonstruieren: Das Neue Testament ? Das ist die Ausgabe mit 27 Schriften, die (vermutlich) von einer Hand zusammmengestellt, auf jeden Fall aber von einer Hand in einer Endredaktion bearbeitet wurden, eine Ausgabe, die ihre Überlegenheit über die ältere Konkurrenzausgabe der marcionitischen „Bibel“ schon bald unter Beweis gestellt und kanonische Geltung erlangt hatte� V. Auf dem Weg zu einer textgeschichtlichen Theorie Die wichtigste Einsicht besteht letztlich darin, dass es tatsächlich einen historisch identifizierbaren Ursprung für das Neue Testament gibt, und dass dieser Ursprung von der Entstehung der einzelnen Autographen verschieden ist� Aus diesem Grund reicht es nicht, für jede einzelne Variante eine („lokale“ oder „kohärenz-basierte“) Genealogie bis an den Anfang zurückzuverfolgen� Stattdessen muss ein Text gefunden werden, der notwendigerweise Bearbeitungsspuren - also Sekundärphänomene - enthält� In der Terminologie von Ehrmans „orthodox corruption of scripture“ müsste man sagen: Nicht die „Schrift“, verstanden als fertig vorliegender Text, wurde einer „orthodoxen“ Bearbeitung unterzogen und dadurch „korrumpiert“, sondern diese „orthodoxe“ Bearbeitung hat die scriptura überhaupt erst hervorgebracht� „Korrumpiert“ wurden dagegen Vorstufen der „Schrift“, also z� B� das marcionitische Evangelium� (Dass die Häresiologen den Korruptionsvorwurf kurzerhand umdrehten und gegen Marcion richteten, ist Ausdruck der Konkurrenz zwischen den beiden Ausgaben und ihren Trägerkreisen�) Dieses Phänomen der Bearbeitung beschränkt sich nicht auf Lk� Wenn die Endredaktion auf ältere Fassungen einzelner Schriften zurückgegriffen und diese redigiert hat, dann müssten sich entsprechende Spuren auch in den anderen neutestamentlichen Texten finden und identifizieren lassen� Das ist auch der Fall� Denn die marcionitische Sammlung enthielt neben dem Evangelium ja noch zehn Paulusbriefe� Auch deren Text unterscheidet sich - teilweise gravierend! - von dem „kanonischen“ Text der Paulusbriefe, wie wir sie als Teil des Neuen Testaments kennen� Wie beim Evangelium geben die meisten dieser Differenzen Aufschluss über die Vorgeschichte der „kanonischen“ Paulusbriefe Die Schrift und die hellen Gründe der textkritischen Vernunft 103 sowie über Ausmaß und theologisches Profil ihrer redaktionellen Bearbeitung� Mit Blick auf die „kanonischen“ Paulusbriefe und ihre früheren Fassungen in der marcionitischen Apostolossammlung muss man sagen, dass die kritischen Ausgaben in den allermeisten Fällen tatsächlich den bearbeiteten Text der „Endredaktion“ bieten - aber gilt dies ausnahmslos und zuverlässig? Da auch die meisten der restlichen 16 Schriften des Neuen Testaments schon vor der Endredaktion vorgelegen haben werden, kann man davon ausgehen, dass auch sie bearbeitet worden sind� Allerdings haben wir hier keine Kontrollinstanz wie die Schriften der marcionitischen Sammlung, die es erlauben würde, die „vorkanonischen“ Varianten mit einiger Sicherheit zu identifizieren� Gleichwohl gibt es Beispiele, für die sich diese Einschätzung mit großer Wahrscheinlichkeit treffen lässt� Der prominenteste Fall ist der sog� „lange Markusschluss“ (Mk 16,9-20). Er ist bekanntlich „sekundär“ gegenüber dem kurzen Schlusss in Mk 16,8, weswegen ihn die kritischen Ausgaben in eckige Klammern setzen: Sie rechnen ihn nicht zum Neuen Testament� Die Kommentare 43 und die gängigen Übersetzungen (in konsequenter Anwendung der Vereinbarung von 1968 / 1987) sind ihnen darin gefolgt� Diese Entscheidung ist nachvollziehbar, weil der lange Schluss tatsächlich gegenüber dem kurzen Schluss sekundär ist� Aber die zahlreichen Querverweise, die der lange Schluss auf andere Sammlungseinheiten des NT enthält, machen es sehr wahrscheinlich, dass er von der Endredaktion stammt: Er ist auf dieser Überlieferungsstufe „ursprünglich“ und gehört mit vollem Recht in das Neue Testament� Das Beispiel des Mk-Schlusses macht deutlich, wie schwer es im Einzelfall sein kann, genau diejenigen Varianten zu identifizieren, die zu dem legitimen Ausgangstext auf der Überlieferungsebene der Endredaktion gehören: Wie lasssen sich diese Bearbeitungsspuren von noch späteren Eingriffen unterscheiden? Denn dass es solche späteren Eingriffe in den Text des NT gegeben hat, steht ja außer Frage; die Veränderung der Anordnung der Schriften durch Luther ist nur ein Beispiel von vielen - und dazu noch eines, das wir sehr genau identifizieren können� In vielen weiteren Fällen ist das anders: Hier ist es erforderlich, eine neue Methodologie zu entwickeln� Wie immer in solchen Fällen ist es leichter zu sagen, wie es nicht gehen kann� Z� B� wird man auf die in vielen Jahrzehnten eingeübte Einschätzung der Verlässlichkeit bestimmter Handschriften in den bequem aufbereiteten „Kategorien“ 44 verzichten müssen, weil sich der „Wert“ der Handschriften in diesem System nach dem Anteil an „ursprünglichen“ Lesarten im Sinn des jeweils höchsten Alters richtet� 43 Z� B� D� Lührmann, Das Markusevangelium (HNT 3), Tübingen 1987, 268: die Auslegung habe „sich also auf Grund der Textüberlieferung auf 16,1-8 zu beschränken.“ 44 Vgl� Aland / Aland (o� Anm� 8), 116 f�; 167 ff� 104 Matthias Klinghardt Die Ursprünglichkeit der Lesarten auf der Ebene der Endredaktion lässt sich aber nicht durch ihr relatives Alter bestimmen� Stattdessen werden die inhaltlichen Aspekte dieser Redaktion eine größere Rolle spielen müssen� Methodisch erfordert dies vor allem, den Zusammenhang von Text-, Überlieferungs- und Sammlungsgeschichte sehr viel stärker zu berücksichtigen, als dies in den letzten Jahrzehnten der Fall war� In der Folge werden die veränderten Kriterien für die richtige „Ursprünglichkeit“ von Varianten dazu führen, dass sich auch die Bewertungsmaßstäbe für „gute“ oder „zuverlässige“ Handschriften ändern� Es ist ohne weiteres denkbar, dass der Textus Receptus diesem Ideal näher kommt, als man sich dies nach den Handschriftenfunden der letzten 150 Jahre vorstellen konnte� Dies alles lässt sich nur bewerkstelligen, wenn sich die neutestamentliche Wissenschaft und die Textkritik um ein plausibles Modell der Textgeschichte bemühen� Dass hierfür eine ganze Menge an Um- und Neudenken erforderlich ist, sollte gerade im Jahr des Reformationsjubiläums nicht schrecken� Dass die hellen Gründe der Vernunft bestimmen, was als Schrift gelten soll, ist der bleibende Auftrag der Reformation� Dass sie sich auch gegen die Beharrungskräfte der Tradition oder der liebgewordenen Denkgewohnheiten durchsetzen, könnte ihre Verheißung sein� Zeitschrift für Neues Testament Heft 39 / 40 20. Jahrgang (2017) Die historisch-kritische Exegese und das reformatorische Schriftprinzip Eine Reflexion über die Bedeutung der Exegese des Neuen Testaments in der Theologie Matthias Konradt 1. Hinführung: Die Dimensionen der „Kritik“ in der wissenschaftlichen Exegese und das Spannungsfeld von Schriftprinzip und historisch-kritischer Exegese Ziel der folgenden Ausführungen ist nicht, einen historischen Abriss der Entwicklung der historisch-kritischen Exegese 1 in ihrer Bedeutung für das im sola scriptura zusammengefasste reformatorische Schriftprinzip zu versuchen� 2 Es geht vielmehr um eine Reflexion der Konsequenzen, die sich für das reformatorische Schriftprinzip aus dem wissenschaftlichen Geltungsanspruch der historisch-kritischen Exegese und umgekehrt für die historisch-kritische Exegese aus dem Aspekt ergeben, dass sie es mit Texten zu tun hat, die nach dem reformatorischen Schriftprinzip Grundlage und Maßstab christlicher Theologie sein sollen� 1 Siehe dazu zuletzt U� Wilckens, Theologie des Neuen Testaments, Bd� III: Historische Kritik der historisch-kritischen Exegese� Von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Göttingen 2017� Vgl� zuvor vom selben Autor: Kritik der Bibelkritik� Wie die Bibel wieder zur Heiligen Schrift werden kann, Neukirchen-Vluyn 2 2014� 2 Verwiesen sei dazu auf die ausführliche Studie von J� Lauster, Prinzip und Methode� Die Transformation des protestantischen Schriftprinzips durch die historische Kritik von Schleiermacher bis zur Gegenwart (HUTh 46), Tübingen 2004� 106 Matthias Konradt Das zu vermessende Problemfeld wird grundlegend durch die drei Hauptdimensionen bestimmt, in die sich die kritische Stoßrichtung der wissenschaftlichen historischen Exegese auffalten lässt: Von ihren Anfängen an geht es bei der historisch-kritischen Exegese neutestamentlicher Texte erstens um deren kritische Beurteilung zum einen im Blick auf das Verhältnis ihres Inhalts zur historischen Realität, zum anderen hinsichtlich der Abfassungsverhältnisse der Schriften� Voraussetzung dafür ist die sich konsequent von Inspirationstheorien distanzierende Auffassung der Texte als Erzeugnisse menschlichen Geistes� Das kritische Potenzial der wissenschaftlichen historischen Exegese entfaltet sich zweitens in der Emanzipation von dogmatischen Vorgaben� 3 Die Notwendigkeit historisch-kritischer Exegese folgt konsequent aus der Einsicht, dass Texte auf der Basis ihrer eigenen Denkvoraussetzungen und im Rahmen ihrer spezifischen kommunikativen Kontexte zu lesen und zu verstehen sind� Darin ist eingeschlossen, dass die sorgfältige Analyse der Genese der Texte und ihrer Einbettung in die zeitgenössische Gedankenwelt hilft, spätere Bedeutungsanlagerungen, die durch ihr Gewicht in der Rezeptionsgeschichte die unkritische Lektüre ganz wesentlich steuern, abzutragen� Die dritte Dimension, in der wissenschaftliche Exegese einen kritischen Anspruch entfaltet, ist ihr nicht in ihre von der Aufklärung bestimmte Wiege gelegt worden, sondern hat sich erst später entfaltet; sie betrifft das erkennende Subjekt: Wissenschaftliche Exegese zeichnet sich dadurch aus, dass der Ausleger sich nicht nur gegenüber kirchlich-dogmatischen Traditionen kritisch verhält, sondern auch gegenüber den eigenen Auslegungsperspektiven und Voreinstellungen� Es bedarf heute wohl keiner Diskussion mehr, dass „Auslegung … nie ein voraussetzungsloses Erfassen eines Vorgegeben [ist]“ 4 , es ein vorurteilsfreies, rein „objektives“ Verstehen von Texten nicht gibt, dass vielmehr das erkennende Subjekt an der Konstituierung von Sinn immer beteiligt ist, dass jede Erkenntnis allein schon durch die Sprache, in der sie gedacht wird und sich mitteilt, historisch kontingent und relativ ist� Der frühere po- 3 Bereits Johann Philipp Gabler, dessen Altdorfer Antrittsvorlesung De iusto discrimine theologiae biblicae et dogmaticae regundisque utriusque finibus vom 30� März 1787 (in: ders., Opuscula academica, hg. v. Th. A. Gabler/ J. G. Gabler, Bd. 2, Ulm 1831, 179-198, für eine deutsche Übersetzung siehe O� Merk, Biblische Theologie des Neuen Testaments in ihrer Anfangszeit� Ihre methodischen Probleme bei Johann Philipp Gabler und Georg Lorenz Bauer und deren Nachwirkungen [MThSt 9], Marburg 1972, 273-284) einen Meilenstein für die Emanzipation der Exegese von der Dogmatik bedeutete, hielt pointiert fest: „Dogmatik muß von Exegese, und nicht umgekehrt Exegese von Dogmatik abhängen“ ( J�Ph� Gabler, Vorrede, in: J� G� Eichhorn, Urgeschichte, hg� mit Einleitung und Anmerkungen von J� Ph� Gabler, Bd� 1, Altdorf/ Nürnberg 1790, III-XXVIII, hier: XV� 4 M� Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 16 1986, 150� Die historisch-kritische Exegese und das reformatorische Schriftprinzip 107 sitivistische Anspruch, die objektive Textinterpretation vortragen zu können, ist wissenschaftstheoretisch überholt� Dies entbindet den Exegeten aber nicht von der elementar bleibenden Aufgabe, Schritte in Richtung einer Objektivierung der Textinterpretation zu gehen: durch kritische Reflexion des eigenen theologischen Standpunkts; durch die Verwendung einer Vielzahl von bewährten konventionalisierten Fragestellungen, d� h� von in der wissenschaftlichen Gemeinschaft akzeptierten Methoden als „bewährte(n) Dialogregeln“ 5 über Texte; ferner durch die prüfende Auseinandersetzung mit den Deutungen anderer, also durch die Teilnahme an einem nach den „Dialogregeln“ geführten wissenschaftlichen Diskurs� Anders gesagt: Das Ziel kritischer Exegese muss sein, die eigene Voreinstellungsstruktur soweit wie möglich auszuschalten� Zugleich muss sich jeder Ausleger eingestehen, dass die eigenen Verstehensvoraussetzungen und Plausibilitätsmuster nie vollständig überwunden werden können� Daraus folgt, dass Exegese immer ein unabgeschlossener Prozess ist: Ihre Handhabung kann „nur in einem durch Sorgfalt , Sachverstand und Lernbereitschaft qualifizierten Prozeß der Schriftauslegung erfolgen“� 6 Die zweite und die dritte Dimension des kritischen Potenzials der historischkritischen Exegese dienen beide dazu, den Text als echtes dialogisches Gegenüber zu gewinnen, um die eigene „Stimme“ des Textes zu Gehör zu bringen� 7 Es geht „um Befreiung des Textes in dem Sinne, daß er dem Zugriff des Lesenden 5 Die Wendung stammt von G� Theißen, Polyphones Verstehen� Entwürfe zur Bibelhermeneutik (Beiträge zum Verstehen der Bibel 23), Münster 2014, 200� 6 W� Härle, Dogmatik, Berlin/ New York 1995, 133 (Hervorhebungen im Original)� 7 Treffend U� Luz, Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments, Neukirchen-Vluyn 2014, 117 im Rahmen einer kritischen Diskussion der Entwicklung zur Auflösung des Autors: „Jede Interpretation eines Textes ist ein Dialog mit der Stimme eines anderen Menschen und dadurch mehr als ein Monolog� … Wenn wir uns nicht ernsthaft um die Alterität eines Textes bemühen, werden wir in ihm nur unsere eigene Stimme hören�“ Prof. Dr. Matthias Konradt, Jahrgang 1967, studierte Evangelische Theologie in Bochum sowie Heidelberg und wurde 1996 in Heidelberg promoviert� Nach seinem Vikariat war er von 1999 bis 2003 am Sonderforschungsbereich „Judentum - Christentum“ an der Universität Bonn tätig, wo er sich Ende 2002 habilitierte� Von 2003 bis 2009 war er Ordinarius für Neues Testament an der Universität Bern� Seit dem Wintersemester 2009 / 10 lehrt er an der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg� Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind die Neutestamentliche Ethik, das Matthäusevangelium, Paulus� 108 Matthias Konradt entzogen wird“ 8 ; es geht um Achtung vor dem, was andere durch ihre Texte sagen wollten� Vorausgesetzt ist dabei, sosehr leserorientierte bzw� rezeptionsästhetische Zugänge 9 als Bereicherung des exegetischen Diskurses zu würdigen sind, das entschiedene Festhalten an der intentio auctoris � 10 Streben nach Objektivität im Auslegungsprozess, das versucht, die tatsächliche „Stimme“ eines Autors oder einer Autorin zu vernehmen, ist im Übrigen nicht zuletzt auch aus ethischen Gründen angezeigt, weil es bei diesem „Zu-Wort-Kommen-Lassen“ um ein Gebot der Liebe geht� 11 Aus diesen unterschiedlichen Dimensionen des kritischen Potenzials wissenschaftlicher Exegese ergibt sich, dass das Problemfeld des Verhältnisses von reformatorischem Schriftprinzip und historisch-kritischer Exegese durch eine grundlegende Ambivalenz oder gar Paradoxie bestimmt ist: Auf der einen Seite untergräbt die historisch-kritische Bibelwissenschaft die Annahme einer göttlichen Autorität der Schriften, da sie diese konsequent als Menschenwort in ihre Zeit einordnet� Gegenüber dem Schriftverständnis der Reformatoren bedeutet dies eine signifikante Achsenverschiebung� Auf der anderen Seite verhilft sie aber überhaupt erst dazu, die Texte in adäquater Weise als ein Gegenüber zu gewinnen, d� h� sie nicht fraglos von den eigenen Denkvoraussetzungen oder 8 D� Marguerat, Der Reichtum des fremden Textes� Ein historisch-kritischer Zugang zur Bibel, in: U. Luz (Hg.), Zankapfel Bibel. Eine Bibel - viele Zugänge, Zürich 1992, 18-36, hier: 23 (Hervorhebung im Original)� 9 Ich verweise exemplarisch auf die Studie von M� Mayordomo-Marín, Den Anfang hören� Leserorientierte Evangelienexegese am Beispiel von Matthäus 1-2 (FRLANT 180), Göttingen 1998 mit ihrer ausführlichen methodischen Grundlegung� 10 Vgl� exemplarisch Th� Söding, Wege der Schriftauslegung� Methodenbuch zum Neuen Testament, Freiburg/ Basel/ Wien 1998, 74 f� - M� Oeming, Biblische Hermeneutik� Eine Einführung, Darmstadt 1998 plädiert zwar für eine Pluralität der methodischen Zugänge, insistiert aber zugleich mit Recht darauf, dass „[d]ie historisch-kritische Exegese … ein sehr leistungsfähiges Instrument zur Erfassung der ursprünglichen Bedeutung(en) [ist], dem im komplexen Geschehen des Verstehens eine unaufgebbare kritische Kontrollfunktion zukommt“ (181, zur Zuordnung der historisch-kritischen Exegese auf die Seite des Autors im von Oeming zugrunde gelegten hermeneutischen Viereck s� a� a� O�, 176)� 11 Pointiert Theißen, Polyphones Verstehen, 209: „Jede menschliche Äußerung verdient es, um ihrer selbst willen verstanden zu werden� Denn jeder Mensch ist nie ausschließlich Mittel, sondern immer auch Selbstzweck�“ Zur Interpretationsethik s� auch a� a� O�, 225 f�, wo Theißen eine Orientierung der Interpretationsethik an den vier klassischen Kardinaltugenden Gerechtigkeit, Klugheit, Besonnenheit und Tapferkeit entwirft und treffend festhält: „Eine solche Interpretationsethik muss gegen die immer wiederkehrende Polemik gegen das Bemühen um ‚objektive Erkenntnis’ protestieren, sofern dahinter die Ansicht steht, es sei in Wissenschaft und Exegese jede Interpretation möglich, wenn sie nur mit Intelligenz und Charme vertreten wird, und es sei alles gerechtfertigt, wenn es bestimmten außerwissenschaftlichen Interessen und Werten dient“ (226)� Die historisch-kritische Exegese und das reformatorische Schriftprinzip 109 auch dogmatischen Traditionen her zu verstehen� 12 Dies schließt ein, dass sich wissenschaftliche Exegese ihrem eigenen Anspruch nach unabhängig von kirchlichen Vorgaben vollzieht� Sie weiß sich damit frei von Direktiven eines kirchlichen Lehramts� In dieser Hinsicht werden durch die historisch-kritische Exegese zentrale Anliegen der Reformation aufgenommen: Wissenschaftliche Exegese lässt sich nicht durch bischöfliche, päpstliche oder überhaupt kirchliche Intervention domestizieren� 13 Allerdings gewinnt diese Freiheit im Blick auf ihre Begründung insofern eine neue Dimension, als sich wissenschaftliche Exegese darauf beruft, zuvorderst der historischen Vernunft verpflichtet zu sein, also der Vernunft, wie sie sich auf dem Feld von Philologie und Geschichtswissenschaft betätigt� 14 Mit Letzterem verbindet sich eine grundlegende Problemanzeige: Ist es das Ziel der Exegese, die „Stimme“ des Textes als ein dialogisches Gegenüber zu Gehör zu bringen, so wird das sich darin im Sinne des reformatorischen Schriftprinzips bergende Potenzial für die theologische Reflexion in der exegetischen Praxis nicht selten höchstens partiell freigelegt, weil sich historisch-kritische Exegese gegenüber der Aufgabe, die Anliegen der untersuchten Texte theologisch zu bedenken und die theologischen Richtungsimpulse der Texte herauszuarbeiten, (zu) häufig spröde verhält� Die berühmte Kritik von Karl Barth: „ Kritischer müßten mir die Historisch-Kritischen sein! “ 15 setzte an diesem 12 Vgl� F� Nüssel, Schriftauslegung als Projekt der Theologie, in: dies� (Hg�), Schriftauslegung (Themen der Theologie 8), Tübingen 2014, 239-254, hier: 247, die treffend anmerkt, dass „erst in einer … historischen Analyse der geschichtliche Abstand zwischen der Aussageintention der Autoren, der von den Texten selbst ausgehenden Auslegungsdynamik und den Verstehenshorizonten und Auslegungsfragen vermessen werden [kann], die für eine gegenwärtige Rezeption der Texte bestimmend sind�“ 13 Berühmt sind die abschließenden Worte Luthers bei seiner Verteidigung auf dem Wormser Reichstag 1521: „es sei dann das ich durch gezeugnufs der schrift oder aber durch scheinlich ursachen (dann ich glaub wider dem babst noch den concilien allein, weil es am tag ist, das dieselben zu mermaln geirrt und wider sich selbs geredt haben) uberwunden werd, ich bin uberwunden durch die schriften, so von mir gefurt, und gefangen im gewissen an dem wort gottes, derhalben ich nichts mag noch will widerruffen, weil wider das gewissen zu handeln beschwerlich, unheilsam und ferlich ist� Gott helf mir! Amen“ (Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V�, Jüngere Reihe Zweiter Band, bearbeitet von A. Wrede, Gotha 1896, 581f, lateinischer Text in WA 7, 838,2-8). Vgl. dazu M. Brecht, Martin Luther. Sein Weg zur Reformation 1483-1521, Stuttgart 2 1983, 431-442 (dort auch 438 f� eine Wiedergabe des zitierten deutschen Textes in modernisierter Form)� 14 Eine direkte Ableitung historisch-kritischer Bibelwissenschaft aus dem reformatorischen Erbe ist, so sehr von den Reformatoren in Gestalt der Konzentration auf den Literalsinn und des kritischen Rekurses auf die Schrift gegenüber dem Lehramt grundlegende Impulse ausgegangen sind, nicht möglich� Siehe dazu H� Graf Reventlow, Wurzeln der modernen Bibelkritik, in: ders / W� Sparn / J� Woodbridge (Hg�), Historische Kritik und biblischer Kanon in der deutschen Aufklärung, Wiesbaden 1988, 47-63. 15 K� Barth, Der Römerbrief 1922, Zürich 13 1984, XII (Hervorhebung im Original)� 110 Matthias Konradt Punkt an: Historisch orientiertes Erklären und Einordnen eines Textes bedeutet noch nicht, ihn in seinem theologischen Anliegen verstehend durchdrungen zu haben� Eine historisch-kritische Exegese, die sich dieser Aufgabe nicht stellt, geht aber insofern an dem Charakter der Texte vorbei, als diese dezidiert eben einen theologischen Anspruch erheben� 16 Die von Exegeten häufig beklagte unterentwickelte biblische Orientierung gegenwärtiger Dogmatiken und (insbesondere) theologischer Ethiken ist daher nicht nur der Systematischen Theologie anzulasten 17 , sondern fordert die Exegeten selbst zu einer kritischen Bestimmung ihres Aufgabenspektrums heraus: Sieht sich die neutestamentliche Wissenschaft allein der religionsgeschichtlichen Aufgabe verpflichtet, die Entstehung und frühe Entwicklung des Christentums zu erhellen, oder geht es ihr im Verbund damit auch darum, die theologischen Gehalte der Texte zu analysieren und zu bedenken? Das mit dem Voranstehenden umrissene Problemfeld möchte ich in zwei Thesen entfalten: a� Die in der jüngeren Diskussion den Diskurs beherrschende Rede von der Krise des reformatorischen Schriftprinzips 18 ist eine notwendige und nicht 16 K� Schmid, Sind die Historisch-Kritischen kritischer geworden? Überlegungen zu Stellung und Potential der Bibelwissenschaften in der Theologie, JBTh 25 (2010), 63-83, hier: 74 macht in diesem Zusammenhang zu Recht darauf aufmerksam, dass auch die historische Exegese der biblischen Texte selbst theologische Kompetenz auf Seiten des Exegeten voraussetzt: „Gerade das Geschäft der historischen Kritik der Bibel bedarf eines theologischen Problembewusstseins, wenn man historisch adäquat urteilen will� Es führt zu Fehlurteilen, wenn die historisch-kritische Methode nicht der sachlichen Eigenart der Texte, auf die sie angewendet wird, Rechnung trägt“ (Hervorhebungen im Original)� Dem kann man nur emphatisch zustimmen� 17 Zu dieser Seite des Problems vgl� die selbstkritische Feststellung von J� Lauster, Schriftauslegung als Erfahrungserhellung, in: F� Nüssel (Hg�), Schriftauslegung (Themen der Theologie 8), Tübingen 2014, 179-206, hier: 204: „Gegenwärtige Probleme der Schriftauslegung können nicht einseitig der Exegese angelastet werden� Es gilt auch, massive enzyklopädische Versäumnisse im Umgang mit der Schriftauslegung von Seiten der Systematischen und der Praktischen Theologie aufzuholen, da beide Disziplinen oftmals achtlos an den Einsichten der Exegese vorübergehen�“ Ähnlich Fr� van Oorschot, Die Krise des Schriftprinzips als Krise der theologischen Enzyklopädie, EvTh 76 (2016), 386-400, hier: 394: „Auf der Seite der Systematischen Theologie werden trotz ihrer Verwiesenheit auf die biblischen Texte die exegetischen Bemühungen um deren Auslegung selten berücksichtigt�“ Van Oorschot markiert allerdings auch das Defizit auf der Seite der Exegese: „Auf der Seite der Exegese folgt aus der Fokussierung auf historische und literarische Fragen oft eine mangelnde theologische Kontextualisierung der in den Texten rekonstruierten Inhalte“ (395)� 18 Siehe z� B� R� Leonhardt, Lutherisches Schriftprinzip und biblischer Kanon� Überlegungen zum Verhältnis von Bibel und Kirche, in: M� Petzoldt (Hg�), Autorität der Schrift und Lehrvollmacht der Kirche, Leipzig 2003, 59-90, hier: 71-79; E. Hartlieb, „Die einige Regel und Richtschnur …“� Ist das protestantische Schriftprinzip an sein Ende gekommen? , in: Die historisch-kritische Exegese und das reformatorische Schriftprinzip 111 revidierbare Konsequenz des historischen Paradigmas der Bibelwissenschaft, das seinerseits um der intellektuellen Redlichkeit und der Wissenschaftlichkeit der Theologie willen unhintergehbar ist� Allerdings folgt daraus in keiner Weise eine Aufgabe der - im wahrsten Sinne des Wortes - fundamentalen Bedeutung des Schriftbezugs in der Theologie, sondern allein eine Transformation der Vorstellung, auf welche Weise die Schrift die Autorität im theologischen Diskurs bildet� b� Die Massivität der Folgen der Krise des Schriftprinzips ist eine Konsequenz aus dem aktuell unterentwickelten Zusammenspiel zwischen der Systematischen Theologie und der historisch-kritischen Exegese im Verbund der theologischen Disziplinen, deutlicher gesprochen: aus ihrer - unnötigen - Entfremdung voneinander� These 1 entfalte ich in einer kritischen Sichtung der Folgen der historischkritischen Exegese für das Schriftverständnis und den Stellenwert der Schrift(en) im theologischen Diskurs (Abschnitt 2)� These 2 fordert heraus, die theologische Dimension der Aufgabe historisch-kritischer Exegese zu reflektieren (Abschnitt 3)� 2. Die Folgen der historisch-kritischen Exegese für Schriftverständnis und Schriftautorität Wer anlässlich des Reformationsjubiläums über das Schriftprinzip als wesentliches Element der reformatorischen particula exklusiva reflektiert, muss sich vorab bewusstmachen, dass sola scriptura mehr meint als allein die Überzeugung, dass alle theologische Urteilsbildung von der Schrift auszugehen hat und an dieser zu messen ist� Denn sein reformatorisches Profil gewinnt das Schriftprinzip erst durch die Überzeugung von der Klarheit der Schrift und der ihr innewohnenden Potenz, sich selbst auszulegen, wie Martin Luther dies 1520 / 21 in seiner Assertio omnium articulorum (WA 7, 94-151) in der berühmten Wendung vorgebracht hat, die Schrift sei „per sese certissima, facillima, apertissima, sui ipsius interpres“ ( WA 7, 97,23)� 19 Das Schriftverständnis, das sich G� Baumann/ Elisabeth Hartlieb (Hg�), Fundament des Glaubens oder Kulturdenkmal? Vom Umgang mit der Bibel heute, Leipzig 2007, 59-88, zuletzt van Oorschot, Krise mit zahlreichen Literaturverweisen� 19 Zum Schriftverständnis Luthers� s� B� Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, 204-213. Vgl. ferner N� Slenczka, Die Schrift als „einige Norm und Richtschnur“, in: O� Bayer u� a�, Die Autorität der Heiligen Schrift für Lehre und Verkündigung der Kirche, hg� v� K�-H� Kandler, Neuendettelsau 2000, 53-78. 112 Matthias Konradt durch die historisch-kritische Exegese entwickelt hat, ist deutlich anders ausgerichtet� Theologiestudierende lernen schon im Proseminar, dass man eine Passage aus dem Matthäusevangelium nicht ohne Weiteres durch Äußerungen von Paulus erhellen kann; und ein adäquates, stichhaltiges Verständnis von biblischen Texten ist nach der Überzeugung ausgebildeter Exegeten durchaus nicht immer einfach zu erlangen, sondern bedarf umfassender philologischer und historischer Kenntnisse, da, wie eingangs ausgeführt wurde, der Grundsatz gilt, dass ein Text nur dann adäquat erschlossen werden kann, wenn er aus seiner eigenen Zeit heraus verstanden wird� Damit sind zwei Hauptaspekte aufgeworfen: Historisch-kritische Exegese arbeitet zum einen die Polyphonie der biblischen Texte heraus, in der nicht wenige Dissonanzen zu vernehmen sind, und sie lässt zum anderen die Fremdheit der Texte deutlich werden� Die Erkenntnis der Polyphonie der biblischen Texte stellt das Prinzip des Kanons im Kanon bzw� die Suche nach einer Mitte der Schrift in Frage� Die Einsicht in die Fremdheit der Texte, die Dokumente einer weit zurückliegenden geistesgeschichtlichen Epoche sind, wirkt kritisch auf das Postulat ihrer dogmatischen Verbindlichkeit und wird in dieser Hinsicht noch durch einen dritten, fundamentalen Aspekt unterbaut: Historisch-kritische Exegese weist auf, dass den biblischen Erzählungen in erheblichem Umfang ein fiktionaler Charakter eignet� 2.1. Die Polyphonie der Schrift Der Siegeszug der historisch-kritischen Exegese bedeutet einen grandiosen Differenzierungsgewinn� Wir lesen im Neuen Testament nicht eine Jesusgeschichte in vier Ausprägungen, sondern vier unterschiedliche Jesusgeschichten mit je eigenen theologischen Konzeptionen� Die Briefe des Corpus Paulinum entstammen nicht alle dem Diktat (oder der Feder) des Apostels; vielmehr bezeugen einige von ihnen in in sich differenzierter Weise Weiterführungen des paulinischen Erbes in den folgenden Jahrzehnten� Aber auch innerhalb der Paulusbriefe kann man nicht in jedem Fall eine schwierig zu interpretierende Stelle durch eine andere erhellen, weil auch innerhalb der echten Briefe mit Entwicklungen und Positionsverschiebungen zu rechnen ist� Wie bei jedem anderen Menschen hat sich auch das Denken des Apostels durch die Herausforderungen, mit denen er sich konfrontiert sah, entwickelt� Nicht zuletzt stehen dem Corpus Paulinum die Katholischen Briefe zur Seite, die wiederum ihre eigenen theologischen Positionen entfalten� Ulrich Luz spricht treffend davon, dass „[h]istorische Kritik … die Bibel atomisiert [hat]� An die Stelle der Einheit der Bibel als vom Logos durchwirktes Wort Gottes trat eine Vielzahl von Texten sehr verschiedener Verfasser aus sehr verschiedenen Situationen� An die Stelle des lebendigen Wortes Die historisch-kritische Exegese und das reformatorische Schriftprinzip 113 des inkarnierten Christus trat eine Vielzahl von menschlichen Zeugnissen, die z�T� sehr Verschiedenes bezeugten�“ 20 Natürlich kann man darauf verweisen, dass schon Luther für Differenzen nicht blind war� Über den Jakobusbrief urteilte er bekanntlich, dass er „stracks widder Sanct Paulon vnnd alle ander schrifft, den wercken die rechtfertigung gibt“ ( WA , DB 7, 384,9f). Aber hier ist dieses Urteil eingebettet in die theologische Gewissheit, die der Gedanke eines Kanons im Kanon spendet, der in diesem Fall impliziert, dass der Jakobusbrief keinen Anspruch genießen kann, als eine rechte apostolische Schrift zu gelten� 21 Für Luther bedeutet sola scriptura also in keiner Weise tota scriptura � 22 Einem streng historisch arbeitenden Exegeten sind solche Urteile wie die Luthers über die mangelnde Apostolizität des Jakobusbriefes hingegen wesensmäßig fremd� Er waltet dann recht seines Amtes, wenn er das Nebeneinander der unterschiedlichen Konzeptionen differenziert herausarbeitet und nüchtern konstatiert; und er vermag auch nicht zum Gedanken einer Mitte der Schrift Zuflucht zu nehmen 23 , weil sich eine solche Mitte der Schrift aus den Texten selbst nicht ableiten lässt� 24 Der Sachverhalt ist zudem noch schärfer zu fokussieren: Gegenstand historisch-kritischer Exegese ist nicht, was theologisch als „Schrift“ bezeichnet wird� Ihr Gegenstand sind Texte, die später zu einer Schriftensammlung verbunden wurden, von denen aber keine als Teil dieser Schriftensammlung verfasst wurde� Wenn historisch-kritische Exegese dennoch den später kanonisch gewordenen Schriften im Regelfall ihr besonderes Augenmerk zukommen lässt, hat dies zunächst einmal pragmatische Gründe, die daraus resultieren, dass Exegese institutionell zumeist im Kontext von Theologie getrieben wird� Allerdings ist damit noch keine tragfähige Begründung verbunden, warum diesen Texten ein - wie auch immer genau zu definierender - autoritativer Status 20 U� Luz, Kann die Bibel heute noch Grundlage für die Kirche sein? Über die Aufgabe der Exegese in einer religiös-pluralistischen Gesellschaft, NTS 44 (1998), 317-339, hier: 324. 21 So explizit Luthers Urteil in seiner Vorrede zu den Briefen des Jakobus und des Judas im Septembertestament von 1522 (WA, DB 7, 384,29-32). 22 Vgl� dazu Leonhardt, Schriftprinzip, 64 f�78� 23 Für die gegenteilige Sicht sei exemplarisch verwiesen auf: O� Hofius, Neutestamentliche Exegese in systematisch-theologischer Verantwortung� Erwägungen zu den Aufgaben einer theologischen Disziplin, in: ders�, Exegetische Studien (WUNT 223), Tübingen 2008, 267-281, bes. 270 f. 24 Treffend J� Lauster, Schriftauslegung, 204: „[D]ie viel gesuchte Mitte der Schrift … ist nichts anderes als eine von konfessionellen Interessen geleitete Komplexitätsreduktion, die letztlich die Erfahrungsvielfalt immer nur einseitig verkürzen kann�“ Siehe zur Problematik der Denkfiguren einer „Mitte der Schrift“ bzw� eines „Kanons im Kanon“ auch M� Wolter, Die Vielfalt der Schrift und die Einheit des Kanons, in: J� Barton / M� Wolter (Hg�), Die Einheit der Schrift und die Vielfalt des Kanons� The Unity of Scripture and the Diversity of the Canon (BZNW 118), Berlin/ New York 2003, 45-68, hier: 47-49. 114 Matthias Konradt zuerkannt werden soll, wenn man diesen weder aus der dogmatischen Setzung zu beziehen vermag, dass der Kanon sich selbst imponiert habe, 25 noch sich hinter die Autorität kirchlicher Entscheidungen zurückzuziehen vermag� Überdies nimmt der historisch arbeitende Exeget auch die Diskurse in den Blick, die hinter den neutestamentlichen Texten (wie z� B� dem Galaterbrief) stehen, und damit auch die Position derer, die - jedenfalls auf der Wegstrecke des kanonischen Prozesses - unterlegen waren oder deshalb keine nachhaltige Wirkung entfalten konnten, weil sie, wie sie z� B� der Herrenbruder Jakobus, Petrus oder Barnabas, selbst nichts Schriftliches hinterlassen haben� 26 Selbst dann aber, wenn sich die exegetischen Disziplinen auf die Darstellung der Positionen der biblischen Autoren beschränken, sieht sich der theologisch interessierte Rezipient exegetischer Fachliteratur mit dem Faktum konfrontiert, dass die Bibel im Ganzen, aber auch schon das Neue Testament für sich genommen, eine polyphone Bibliothek darstellt, so dass unausweichlich die Frage nach dem Wahrheitsanspruch „der“ Bibel aufgeworfen ist� Wer im strengen Sinne verbindliche Vorgaben in „der“ Schrift sucht, kann insofern nur enttäuscht werden� Mir scheint freilich, dass die Frage nach dem Wahrheitsanspruch „der“ Bibel zu modifizieren ist� Oder anders: Enttäuschung kann durch die von der historischen Exegese herausgestellte Polyphonie der biblischen Zeugnisse nur der erfahren, der sich von der Theologie den Zugang zu einer universal gültigen Welterklärungsformel verspricht� Für den hingegen, der sich von dieser Illusion gelöst hat, erweist sich die Polyphonie der Schrift als Reichtum ihrer Deutungsangebote, die dem Rezipienten nicht als papierner Papst mit direktiver Autorität entgegentreten, sondern ihn in einen Dialog verwickeln� Die Bibel birgt gerade durch die Vielfalt der theologischen Reflexion in ihr die Chance, hilfreiche Impulse für den je eigenen theologischen Erkenntnis weg zu geben� Und dem Praktischen Theologen, der es mit der Vielfalt von Lebensäußerungen zu tun hat, bietet gerade diese innere Vielfalt der Schrift das Arsenal von Anknüpfungspunkten, das es ihm ermöglicht, die in der Disziplin reflektierten Anwendungsfelder im Lichte biblischer Texte zu bedenken� Das schließt nicht aus, dass historisch-kritische Exegese, die sich als theologische Disziplin versteht und also die in den Schriften begegnenden Überzeugungswelten als Zeugnisse vom Reden und Handeln Gottes begreift, es als eine Aufgabe entdecken kann, das Verbindende zwischen den Zeugnissen herauszuarbeiten, und Dissonanzreduktion zu betreiben sucht� Man kann in diesem Sinne steuernde Basisüberzeugungen herausarbeiten, die sich zwar im 25 Siehe dazu K� Barth, Kirchliche Dogmatik I / 1, Zollikon/ Zürich 6 1952, 110, vgl� auch I / 2, Zollikon/ Zürich 4 1948, 524-532.666-673. 26 Vgl� zu Letzterem Wolter, Vielfalt, 52 f� Die historisch-kritische Exegese und das reformatorische Schriftprinzip 115 Einzelnen unterschiedlich manifestieren können, aber mehrere Schriften auf einer Tiefenebene miteinander verbinden, und man kann solche Phänomene kanonhermeneutisch 27 fruchtbar zu machen suchen� Doch ist dies m� E� nicht der Königsweg, und es kann zumal nicht, in der Tradition der regula fidei , um die Etablierung eines neuen regulativen Kanons von Kernüberzeugungen gehen� Verheißungsvoller scheint mir vielmehr eben zu sein, unter Aufgabe des Zwangs zur systematischen Kohärenz die Vielstimmigkeit der biblischen Texte als solche in dem ihr eigenen Reichtum zu würdigen, weil sie der Polyphonie der Lebenswelt und der je eigenen Lebenslinien korrespondiert� Ich halte fest: Die Orientierung an der Schrift führt nicht von sich aus zu einem theologischen System� Wer ein solches sucht, kann sich vielmehr nur in eklektischer Weise auf die „Schrift“ berufen, ohne dass er die Kriterien der Auswahl aus der Schrift zwingend abzuleiten vermag� Es gibt entsprechend nicht die eine schriftgemäße Theologie� Die Frage ist allerdings, ob wirklich dies das Problem ist oder ob die grundlegende Einsicht in die Polyphonie der Schrift nicht zwingend eine Neujustierung des Problemfeldes aus sich heraussetzt, zu der im Blick auf den theologischen Habitus ganz wesentlich eben die Anerkenntnis gehört, dass keine Theologie mit dem Anspruch auftreten kann, die eine adäquate Entfaltung des biblischen Zeugnisses zu bieten� Für den ökumenischen Diskurs ist mit dieser Einsicht viel gewonnen: Unterschiedliche Theologien können je auf ihre Weise schriftgemäß sein� Die reformatorische Befreiung der Bibellektüre von den Vorgaben eines kirchlichen Lehramtes mündet durch die Errungenschaften der der historischen Vernunft verpflichteten wissenschaftlichen Exegese ein in die Befreiung zur ökumenischen Vielfalt� Ebenso ist allerdings zu betonen: Das Neue Testament eröffnet zwar mehrere Optionen der Anknüpfung an eine Reflexion des Christusgeschehens, aber nicht beliebige� Unterschiedliche theologische Positionen können schriftgemäß sein, aber das Kriterium der Schriftgemäßheit wird damit nicht zu einem „zahnlosen Tiger“, sondern dient nach wie vor als Prüfungsinstanz� Die Abkehr von exklusiven Geltungsansprüchen führt nicht in einen Beliebigkeitsrelativismus� Hier wiederholt sich mutatis mutandis , was innerhalb der Exegese selbst gilt: Es gibt im Regelfall mehr als eine vertretbare Textinterpretation, aber es gibt auch Deutungen, die philologisch und / oder historisch in hohem Maße unwahrscheinlich oder gar unmöglich sind� 28 Dass die biblischen Texte in einer wissen- 27 Zur neueren kanonhermeneutischen Debatte s� exemplarisch die Beiträge in B� Janowski (Hg�), Kanonhermeneutik� Vom Lesen und Verstehen der christlichen Bibel (ThID 1), Neukirchen-Vluyn 2007� 28 Ähnlich Theißen, Polyphones Verstehen, 201: „Nicht alle, nur einige Auslegungen sind möglich� Wissenschaft kann klären, welche wahrscheinlicher und welche unwahrscheinlicher und welche gleich wahrscheinlich sind�“ Vgl� auch a� a� O�, 226� 116 Matthias Konradt schaftlich verantworteten Lektüre nicht beliebigen Deutungen offenstehen, ist zugleich die Voraussetzung dafür, dass die Bibel nach wie vor als „autoritative“ Prüfinstanz christlicher Theologie zu dienen vermag und als solche unverzichtbar ist� 29 Kurzum: Sosehr historisch-kritische Exegese in Opposition zu fundamentalistischen Positionen steht, die in Anspruch nehmen, die eine biblisch begründete Heilswahrheit zu vertreten, so sehr opponiert sie auch gegen postmoderne Beliebigkeit� Freilich ist, wie eingangs angedeutet, noch ein anderer Aspekt aufzunehmen: Die biblischen bzw�, enger gefasst, die neutestamentlichen Texte sind Dokumente einer vergangenen und in vielem fremd gewordenen Zeit mit ihren eigenen (vorwissenschaftlichen) Denkvoraussetzungen, und zudem stellt sich bei den Geschichten, die sie erzählen, das Problem ihres fiktionalen Charakters� 2.2. Fremdheit und fiktionaler Charakter der Texte Wer im Neuen Testament zu lesen beginnt, stößt gleich zu Beginn auf einen Stammbaum Jesu (Mt 1,2-17), dem man zwar zuerkennen mag, ein theologisch durchaus gehaltvolles schriftgelehrtes Meisterstück zu sein 30 , der sich aber dem historisch prüfenden Blick als historisch wertloses, fiktionales Konstrukt zeigt� Fährt der Leser fort, begegnet ihm der Mythos der Jungfrauengeburt� Diesen Mythos kann man im Lichte anderer antiker Texte, in denen die Vorstellung von gottgewirkten Geburten begegnet, religionsgeschichtlich kontextualisie- 29 Härle, Dogmatik, 133-139 verteidigt die Idee der „Mitte der Schrift“ als Auslegungsprinzip unter anderem durch das Postulat, dass ohne sie „die Schrift ihre - aus der in ihr bezeugten Sache resultierende - auctoritas normativa verlöre und damit die theologische Urteilsbildung (in) der Kirche dem Belieben preisgegeben würde“ (136, Hervorhebung von mir)� Die obigen Ausführungen haben versucht zu zeigen, dass dies mitnichten so ist� Die Aufgabe der Idee einer Mitte der Schrift pluralisiert die Möglichkeiten schriftgemäßer Theologien, ohne sie in einen schrankenlosen Relativismus zu überführen� Umgekehrt ist ferner zu beachten, dass die Idee einer Mitte der Schrift an regulativer Orientierungspotenz verliert, je abstrakter die Mitte formuliert wird� Ein nicht näher explizierter Verweis auf das Christusgeschehen - oder lutherisch formuliert: auf das Prinzip „was Christum treibet“ - ist insofern für sich genommen, ohne inhaltliche Konkretion, wenig zielführend� So hat etwa der katholische Neutestamentler Franz Mußner - nicht ohne Recht - postuliert, dass auch der Jakobusbrief „Christum treibet“, weil seine Unterweisung in reichem Maße von Jesuslogien geprägt sei (Der Jakobusbrief [HThK 13�1], Freiburg/ Basel/ Wien 5 1987, 42-47). Im Sinne Luthers ist diese Applikation des Prinzips „was Christum treibet“ nicht (s� vielmehr WA DB 7, 384,19-32), denn für Luther wird dieses Prinzip bekanntlich zentral durch die paulinische Rechtfertigungslehre (wie Luther sie verstanden hat) bestimmt, während er den Jakobusbrief auf dieser Basis scharf kritisiert (ganz auf der Linie Luthers bewegt sich z� B� Hofius, Exegese, 274 f�)� 30 Vgl� für viele K�-H� Ostmeyer, Der Stammbaum des Verheißenen: Theologische Implikationen der Namen und Zahlen in Mt 1.1-17, NTS 46 (2000), 175-192. Die historisch-kritische Exegese und das reformatorische Schriftprinzip 117 ren 31 , und man kann vor diesem Hintergrund seine christologische Aussagekraft hinsichtlich des Bekenntnisses zu Jesus als Sohn Gottes explizieren� Das matthäische Christologoumenon der Gottessohnschaft Jesu bedarf seinerseits der exegetischen Erörterung, welche Motive der Evangelist damit verbindet 32 und wie diese in seinem religionsgeschichtlichen Umfeld klingen� Damit ist allerdings noch nicht mit Inhalt gefüllt, was es heute - in ganz anderen Kontexten, unter den Verstehensbedingungen der Moderne - bedeuten könnte, von Jesus als Sohn Gottes zu sprechen� Matthäus geht davon aus, dass Jesus als Sohn Gottes an göttlicher Vollmacht partizipiert, so dass er Wind und Meer zu beruhigen vermag (Mt 8,23-27), über das Wasser wandeln und den sinkenden Petrus aus diesem erretten kann (14,22-33). 33 Der Gottessohn Jesus hätte es Matthäus zufolge auch vermocht, Steine in Brot zu verwandeln (4,3 f�), er hätte sich seiner Gefangennahme durch das Herbeirufen von zwölf Legionen Engel entziehen können (26,53), und es wäre ihm als Sohn Gottes auch möglich gewesen, vom Kreuz herabzusteigen (27,39-43). Dass er all dieses nicht tut, ist für den ersten Evangelisten Ausdruck seines Gehorsams gegen den Willen Gottes (vgl� 26,39�42)� Matthäus vermag auf diese Weise seine hohe Christologie mit dem Todesgeschick Jesu zu vermitteln� 34 Sehr vielen heutigen Christen, jedenfalls in den westlichen Gesellschaften, ist der Problemhorizont, in dem sich Matthäus mit seiner Christologie bewegt, fremd, und zumal der Mythos von der Jungfrauengeburt ist für sie auch befremdlich� Historisch orientierte Exegese stellt die Fremdheit vieler biblischer Texte pointiert heraus� Liest man im Matthäusevangelium weiter, folgt die Erzählung vom Kommen einer Gruppe von Magiern zum Jesuskind nach Bethlehem und vom Kindermord des Herodes� Dem historisch aufgeklärten Exegeten, der unter anderem die auffälligen Berührungen mit der Erzählung von der Gefährdung und Rettung des Mosekindes (Ex 2) und ihrer frühjüdischen Ausgestaltung (s� bes� Josephus, Ant 2,205-237) registriert 35 , ist der durch und durch legendarische Charakter des 31 Eine knappe, aber informative Übersicht über das relevante Material bietet Mayordomo- Marín, Anfang, 253-255, ferner z. B. J. Gnilka, Das Matthäusevangelium, Bd. 1 (HThK 1�1), Freiburg/ Basel/ Wien 2 1988, 23-28. 32 Für eine grundlegende Übersicht siehe U� Luz, Eine thetische Skizze der matthäischen Christologie, in: C� Breytenbach/ H� Paulsen (Hg�), Anfänge der Christologie (FS F� Hahn), Göttingen 1991, 221-235. 33 In Mt 14,33 bekennen die Jünger Jesus aufgrund dieser Machterweise als Sohn Gottes! 34 Vgl� zu diesem Grundzug matthäischer Christologie M� Konradt, Die Taufe des Gottessohnes. Erwägungen zur Taufe Jesu im Matthäusevangelium (Mt 3,13-17), in: ders., Studien zum Matthäusevangelium, hg� v� A� Euler (WUNT 358), Tübingen 2016, 201-218, bes. 212-217. 35 Siehe dazu z� B� D� C� Allison, The New Moses� A Matthean Typology, Minneapolis 1993, 140-165. 118 Matthias Konradt Textes evident� Man kann zwar darauf verweisen, dass die Frage nach dem Verhältnis von erzählter Welt und historischem Geschehen an anderen Stellen eine differenziertere Beurteilung verlangt als in Mt 2, dass die Texte in den Evangelien in historischer Hinsicht zwischen einer freien narrativen Explikation des Glaubens (wie in Mt 2) und einer durch den nachösterlichen Glauben bloß ausgestalteten Repräsentation des historischen Geschehens oszillieren� Dies ändert aber nichts an dem grundlegenden Sachverhalt: Die Jesusgeschichte liegt im neutestamentlichen Kanon nicht nur in vier verschiedenen Fassungen vor, es kann vielmehr auch keine von ihnen den Anspruch erheben, Botschaft und Wirken Jesu von Nazareth in historischer Hinsicht im Ganzen authentisch abzubilden� Es gehört zur Rationalitätsverpflichtung akademischer Theologie, diesem Sachverhalt nicht auszuweichen� Für die Exegese der Evangelien schließt dies ein, dass ihr der Weg, sich - von narratologischen Theorien inspiriert - in die bloße Entfaltung der narrativen Theologien der Texte aufzulösen, verwehrt ist, denn „zum modernen Wahrheitsbewusstsein gehört es unausweichlich, den Texten einen historischen Bezugs- und Haftpunkt zuweisen zu können�“ 36 In der Geschichte der historisch-kritischen Exegese ist die von ihr erbrachte Erkenntnis des fiktionalen Charakters biblischer Texte vielfach als Erschütterung ihres Geltungsanspruchs wahrgenommen worden� 37 In der Tat wird durch diese Einsicht dezidiert unterstrichen, dass die biblischen Texte nicht anders denn als Glaubenszeugnisse von Menschen gelesen werden können� Sie können entsprechend nicht in diesem Sinne als ein autoritatives Gegenüber fungieren, dass der geneigte Leser, um christlichen Glauben zu explizieren, aus ihnen nur noch bekenntnishafte Sätze abzuleiten bräuchte, deren Geltungsanspruch mit dem Wahrheitsanspruch der biblischen Texte gesetzt wäre� Es hieße allerdings, das Kind mit dem Bade auszuschütten, wenn aus der dargelegten Einsicht abgeleitet würde, dass die fundamentale Rolle, die der Schrift in der evangelischen Theologie traditionell zugeschrieben wurde, überhaupt aufzugeben sei� Dem ist mitnichten so! Theologie, wenn sie erstens im christlichen Kontext betrieben und zweitens nicht bloß als Religionsphilosophie verstanden wird, orientiert sich grundlegend an dem, was, um einen möglichst weiten Begriff zu verwenden, als das Christusgeschehen bezeichnet werden kann� Sie ist die Reflexion der Bedeutung dieses Geschehens� Sie ist damit bleibend darauf angewiesen, die frühen Zeugnisse über dieses Geschehen zu beden- 36 Lauster, Schriftauslegung, 194� - F� Avemarie, Historisches Arbeiten in der Exegese, ThBeitr 40 (2009), 325-337, hier: 333-335 weist in diesem Zusammenhang mit Recht darauf hin, dass christlicher Glaube auf geschichtliche Ereignisse bezogen ist und schon deshalb historisches Arbeiten in der Theologie unverzichtbar ist� 37 Zum Problem vgl. Lauster, Schriftauslegung, 191-194. Die historisch-kritische Exegese und das reformatorische Schriftprinzip 119 ken� 38 Die Schriften des Neuen Testaments sind gewissermaßen durch ihre „Ursprungsnähe“ 39 geadelt� In diesem Charakter der Schriften ist - unabhängig von und ohne Theorien über Verbal-, Real- oder Personalinspiration - hinreichend begründet, dass das Neue Testament das Basisdokument christlichen Glaubens und damit der grundlegende Bezugspunkt aller christlichen theologischen Reflexion ist und bleibt� 3. Historisch-kritische Exegese als theologische Aufgabe (am Beispiel von Röm 9 - 11) In der voranstehenden Skizze habe ich aufzuweisen versucht, dass sich auf der einen Seite die Autorität der Schrift im Lichte historisch-kritischer Exegese zwar in einem grundlegend anderen Gewand zeigt, auf der anderen Seite aber gerade die historisch-kritische Exegese dazu verhilft, unter den Verstehensbedingungen einer aufgeklärten Moderne die Bibel als das Grundlagendokument christlichen Glaubens zur Geltung zu bringen� Ihre grundlegende Leistung, denen, die ihre Ergebnisse - und sei es in popularisierter Form - rezipieren, zu einem reflektierten, von der Vernunft geleiteten Verständnis von heute als schwierig empfundenen Texten zu verhelfen, ist angesichts gegenwärtiger Tendenzen zu Fundamentalismus und einfachen Antworten kaum hoch genug zu schätzen� Der Claudius Verlag hat 2015 - im Zuge der Jubiläumsdekade zur Vorbereitung des Reformationsjubiläums 2017 - (im Wesentlichen) Lutherzitate als Medikament stilisiert unter dem Namen „Lutherol� Breitband-Theologicum für Geist & Seele“ auf den Markt gebracht; in der „Gebrauchsinformation“ werden unter anderem „Fegefeuerfurcht“ und „Ablassprävention“ als Anwendungsgebiete genannt� In freier Anspielung daran kann man der historisch-kritischen Exegese - im Verbund mit einer ordentlich betriebenen Kirchengeschichte - im Gesamtorganismus der Theologie die Rolle eines „Breitband-Antiidiotikums“ zuweisen, denn sie schützt den Organismus der Theologie vor Gefahren wie z� B� naiver Repristination� Entscheidend ist aber, dass sie ihr kritisches historisches Potenzial in eine ihr eigene theologische Kompetenz überführt� Voraussetzung dafür ist, dass der Exeget sich nicht nur als Philologe und Historiker, sondern auch als Theologe versteht und entsprechend bei der philologisch-historischen 38 Vgl� J� Schröter, Wie theologisch ist die Bibelwissenschaft? Reflexionen über den Beitrag der Exegese zur Theologie, JBTh 25 (2010), 85-104, 97, der zu Recht anmerkt, dass es „bereits aus der geschichtlichen Begründung des Christentums im Wirken und Geschick Jesu von Nazareth“ folgt, „dass christliche Theologie ihre zentralen Themen und Inhalte aus den biblischen Texten gewinnt und immer wieder neu vor diesen verantworten muss�“ 39 Vgl� Lauster, Schriftauslegung, 195, der festhält, dass „das gute alte Argument der Ursprungsnähe seine Bedeutung [behält]“ (Hervorhebung im Original)� 120 Matthias Konradt Erschließung des Textes und seines kommunikativen Umfelds nicht stehen bleibt, sondern - ganz im Sinne des Textes, der mit seinem konstitutiven Bezug auf Gott einen Wirklichkeit erschließenden Anspruch erhebt - die theologische „Sache“ des Textes selbst zu bedenken sucht� Auch dies ist zunächst insofern eine historisch orientierte Aufgabe, als sie die vorangehende historische Arbeit nicht überspringt, sondern auf diese angewiesen bleibt� Dies schließt ein, dass es nicht um eine Art „Verschmelzung“ des Auslegers mit der „Stimme“ des biblischen Autors geht, wie Karl Barth dies im Vorwort zur zweiten Auflage seines berühmten Römerbriefkommentars anvisiert hat� 40 Die mittels der Exegese des Textes zum Klingen gebrachte „Stimme“ des Autors bleibt ein Gegenüber� Es geht nicht an erster Stelle um ein Mit- und Nachsprechen der theologischen „Stimme“ des Textes, sondern um ein sorgfältiges Hören und Bedenken, das schon wegen der grundsätzlich überholten Denkwelt der Autoren als Kinder der antiken Welt auch Raum für Widerspruch einschließt 41 - hinter Bultmanns Entmythologisierungsprogramm 42 , um nur ein Stichwort zu nennen, gibt es kein Zurück� Aber ebenso ist darauf zu insistieren, dass es zur genuinen Aufgabe der Exegese gehört, die theologische Dimension der Texte und ihren theologischen Geltungsanspruch zu reflektieren� Die Aufgabe, die theologisch leitenden Gedanken herauszuarbeiten, mag - je nach Charakter des Textes - im Einzelfall durch eine sorgfältige Analyse des Argumentationsgangs oder der narrativen Linienführung in im Grundsatz suffizienter Weise zu erledigen sein� In anderen Fällen aber wird man für eine theologisch-hermeneutisch adäquate Reflexion des Textes die Oberflächenstruktur der Argumentation durchstoßen müssen, um gewissermaßen dessen 40 Barth, Römerbrief 1922, XII: „Bis zu dem Punkt muß ich als Verstehender vorstoßen, wo ich nahezu nur noch vor dem Rätsel der Sache , nahezu nicht mehr vor dem Rätsel der Urkunde als solcher stehe, wo ich es also nahezu vergesse, daß ich nicht der Autor bin, wo ich ihn nahezu so gut verstanden habe, daß ich ihn in meinem Namen reden lassen und selber in seinem Namen reden kann“ (Hervorhebungen im Original)� 41 Treffend M� Theobald, Exegese als theologische Basiswissenschaft� Erwägungen zum interdisziplinären Selbstverständnis neutestamentlicher Exegese, JBTh 25 (2010), 105-139, 126 f�: „Nicht ‚Horizontverschmelzung’ ist das Ideal des Verstehens, sondern eine dialogische und darin auch kritische Begegnung mit dem Text und seiner ‚Sache’, die ihm, aber auch dem ‚Leser’ sein je spezifisches Recht einräumt� Einerseits soll der Text sagen können, was er in seiner Fremdheit und Andersartigkeit zu sagen hat … Andererseits besitzt der ‚Leser’ als Rezipient des Textes auch sein Recht und muss gegen die Zumutung geschützt werden, die Darstellung der ‚Sache’ durch die Texte einfach nur nachsprechen zu sollen�“ 42 Siehe R� Bultmann, Neues Testament und Mythologie� Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung (1941) (BEvTh 96), München 1985; ders�, Jesus Christus und die Mythologie� Das Neue Testament im Licht der Bibelkritik, Gütersloh 6 1984� Die historisch-kritische Exegese und das reformatorische Schriftprinzip 121 theologische Tiefengrammatik zu heben� Ich versuche dies knapp anhand von Paulus’ Reflexion der Israelfrage in Röm 9-11 zu illustrieren. Der Argumentationsgang ist zweifelsohne in sich komplex und anspruchsvoll und stellt zudem an manchen Stellen vor exegetisch schwierige Probleme; überdies müsste die Exegese der drei Kapitel die Ausführungen des Apostels in die Pragmatik des Römerbriefes einordnen und damit auch von seiner biographischen Situation zur Zeit der Briefabfassung her beleuchten, doch ist hier nicht der Ort, das eine oder das andere im Einzelnen zu diskutieren� Ich beschränke mich auf grundlegende theologisch-hermeneutische Aspekte� Im Blick auf diese ist die These, dass man die Argumentation von hinten, d. h. von der in 11,11-24 vorbereiteten und in 11,25-32 dargebotenen Lösung her lesen muss, im Ansatz sicher richtig, aber auch simplifizierend; jedenfalls gewährleistet sie für sich noch nicht, dass die den Text bestimmende theologische Problematik adäquat in den Blick kommt� Sich für die theologische Aktualisierung allein einzelne Spitzensätze aus der Argumentation herauszugreifen - wie „Gott hat sein Volk nicht verstoßen, welches er zuvor erwählt hat“ (11,2) oder „so wird ganz Israel gerettet werden“ (11,26) -, ohne diese in ihrem Kontext zu betrachten und ihre Bedeutung in diesem zu beachten, wäre hermeneutisch mehr als fragwürdig und würde das theologische Problem, vor das Paulus sich in diesen Kapiteln gestellt sieht, gänzlich ignorieren� Entsprechend kann man auch nicht ohne Kautelen auf die Denkfigur in 11,16 („Ist die Erstlingsgabe vom Teig heilig, so ist es auch der ganze Teig; ist die Wurzel heilig, so sind es auch die Zweige“) rekurrieren, ohne zu beachten, dass in der nachfolgenden Explikation des zweiten Bildes die nicht-christusgläubigen Israeliten zunächst als ausgerissene Ölzweige außerhalb der Heilsgemeinde verortet werden - eine solche Rezeption des Textes wäre eklektisch und damit anfechtbar� Entscheidend ist es m� E� zu beachten, dass die gesamte Argumentation von zwei theologischen Grundüberzeugungen des Apostels gesteuert ist, die im Blick auf Israel in aporetischer Weise miteinander konfligieren� Auf der einen Seite geht es um den im engeren Sinne theo-logischen Grundsatz von der Treue Gottes, der in der Komposition des Röm bereits in der Problemexposition (3,1-4) in 3,3 eingeführt („Wenn einige untreu waren, wird etwa ihre Untreue die Treue Gottes aufheben? “), der Argumentation in 9,6a in variierter Gestalt programmatisch vorangestellt („Es ist aber nicht so, dass das Wort Gottes hinfällig geworden wäre! “) und schließlich am Ende durch 11,29 als Begründung der vorangehenden Heilsaussage abgesichert wird: „Denn die Gnadengaben und die Berufung Gottes sind unbereubar�“ Auf der anderen Seite ist für Paulus der christologisch-soteriologische Grundsatz maßgeblich, dass Gott allen Menschen in Christus Heil erschlossen hat und dieses Heil allen allein durch Glauben an Christus zugänglich wird� Aus diesem zweiten Grundsatz ergibt sich 122 Matthias Konradt folgerichtig, dass die nicht-christusgläubigen Juden gegenwärtig in der Rolle der ausgerissenen Ölzweige begegnen (11,17)� Man kann zwar textpragmatisch darauf hinweisen, dass das Ölbaumgleichnis gegen heidenchristliche Hybris gerichtet ist 43 , doch kann dieser Hinweis die sachliche Problematik, die für die Rezeption dieses Textes im Rahmen der Neubestimmung des Verhältnisses des Christentums zum Judentum gravierend ist, nicht entschärfen� Paulus’ Lösung der dargestellten Aporie ist eschatologisch ausgerichtet: Er thematisiert die Israelfrage in Röm 9-11 unter dem Leitaspekt der Teilhabe am endzeitlichen Heil - mit dem eschatologischen Ergebnis, dass auch die nicht-christusgläubigen Juden gerettet werden (11,26)� Paulus’ unter diesem Leitaspekt gefundenes Lösungsmodell ist des Näheren in Erwartung der nahen Parusie formuliert (s. Röm 13,11f! ). In diesem Horizont steht nicht die Frage einer präzisen Definition der gegenwärtigen soteriologischen Differenz zwischen dem „nicht-christusgläubigen Israel“ und der „Heilsgemeinde“ im Vordergrund, sondern die baldige Einebnung des Unterschieds: Gott wird die gegenwärtig ausgerissenen Ölzweige wieder einpropfen (11,24), und zwar in allernächster Zukunft� Unabhängig davon, ob man das paulinische Lösungsmodell in seiner Zeit für überzeugend erachtet oder nicht, ist im Blick auf heutige theologische Reflexion grundlegend zu bedenken, dass sich unsere Situation - selbst dann, wenn man ausklammert, dass auch die Verselbständigung der heidenchristlich gewordenen Kirche gegenüber dem Judentum eine gegenüber Paulus völlig neue Situation darstellt - ganz offenkundig von der paulinischen grundlegend unterscheidet� Denn mit dem Faktum der inzwischen über knapp 2000 Jahre weitergegangenen Geschichte stellt sich massiv die Frage, ob dem theo-logischen Grundsatz der Verheißungs- und Bundestreue Gottes gegenüber Israel Genüge getan wird, wenn man das sich im Ölbaumgleichnis darstellende Lösungsmodell über die Zeiten hinweg für unsere Gegenwart einfach „kopieren“ wollte - mit der Folge, dass Generationen von Juden im Bild der ausgerissenen Ölzweige begegneten� Diese Frage ist offenkundig zu verneinen� Die Spannung in der Argumentation von Röm 9-11, dass (nicht-christusgläubige) Juden weiterhin als Israeliten (9,4) Geliebte Gottes sind (11,28), aber gegenwärtig nicht zur „Heilsgemeinde“ Israel gehören (11,17-23), stellt sich heute ganz anders dar als im Rahmen paulinischer Naherwartung� Dies heißt zugleich: Eine bloße Repristination des Textes würde der paulinischen Intention, die Treue Gottes gegenüber seinem ersterwählten Volk zur Geltung zu bringen, gerade nicht zu entsprechen vermögen� Ein Zweites kommt hinzu: Wer als Christ ökumenisch denkt und die Perspektivität des eigenen Wahrheitsbewusstseins vor Augen hat, 43 Vgl� exemplarisch K� Wengst, „Freut euch, ihr Völker, mit Gottes Volk! “� Israel und die Völker als Thema des Paulus - ein Gang durch den Römerbrief, Stuttgart 2008, 365-367. Die historisch-kritische Exegese und das reformatorische Schriftprinzip 123 wird auch Paulus’ Urteil, dass die nicht-christusgläubigen Juden zwar „Eifer“, aber keine „Erkenntnis“ haben (Röm 10,2) und ihr Nein zu Jesus Ausdruck von Untreue ist (3,3, vgl� die Rede von „Gottlosigkeiten“ in 11,26), nicht einfach repetieren können� Eine der wesentlichen Erkenntnisse der historischen Exegese besteht darin, dass sich die Semantik eines Textes gravierend verändern kann, wenn er aus seiner eigenen in eine andere Kommunikationssituation transferiert wird� Die Aufgabe historischer Exegese lässt sich in diesem Zusammenhang so beschreiben, dass sie durch Einbettung eines Textes in seinen situativen Zusammenhang den Weg bereitet, angesichts einer veränderten Kommunikationssituation zu einer zum Text analogen Aussage zu kommen. Im Falle von Röm 9-11 konkretisiert sich diese Aufgabe in der Weise, dass eine hermeneutisch reflektierte Rezeption von Röm 9-11 für eine Bestimmung des Verhältnisses von Christen und Juden heute sich nicht darin erschöpfen kann, die paulinischen Gedankengänge exegetisch nachzuzeichnen� Es ist vielmehr zwischen den theologischen Grundsätzen, die die Argumentation in Röm 9-11 steuern, und dem von Paulus in seiner Situation entworfenen Lösungsmodell zu unterscheiden� Erstere müssen für eine biblisch-theologisch fundierte Bestimmung des Verhältnisses von Christen und Juden heute, die Röm 9-11 als Ausgangspunkt oder zumindest als einen wichtigen biblischen Referenzpunkt nimmt, als leitende Kriterien fungieren� Eine historisch-kritische Exegese, die auf diese Weise theologisch engagiert ist, schafft Voraussetzungen für einen fruchtbaren Dialog mit der Systematischen Theologie� Wichtig scheint mir dabei zu sein, dass Exegeten sich in ihrer Rolle auch bescheiden und ihre biblisch-theologische Kompetenz nicht schon für das Ganze der Theologie erachten� Michael Theobald hat in einer Reflexion über die Exegese als theologische Basiswissenschaft ihre Rolle mit Recht gegen zwei Extreme abgegrenzt und ihre Aufgabe in der Mitte lokalisiert: „Das eine Extrem ist ihre Unterforderung im Sinne einer philologisch-historischen Disziplin, die lediglich Befunde klärt und bereitstellt, welche dann vor allem die Dogmatik als Entfaltung kirchlicher Lehre zu verarbeiten habe … Das andere Extrem läuft auf ihre Selbstüberforderung im Sinne einer theologisch-hermeneutischen Disziplin hinaus, welche die Übersetzungsvorgänge ins heutige Denken hinein (in welches? ) in eigener Kompetenz selbst bewältigen zu können meint“ 44 � Ersteres würde wohl darauf hinauslaufen, dass der eingangs beklagte Zustand eines aktuell unterentwickelten Dialogs zwischen den Disziplinen im Hause der Theologie fortgeschrieben wird� Letzteres wäre Hybris� Im Bild gesprochen: Dass die Exegese der biblischen Texte als theologische Basiswissenschaft im 44 Theobald, Exegese, 107 (Hervorhebungen im Original)� 124 Matthias Konradt Verbund der theologischen Disziplinen die Eckdaten für das Fundament vorgibt und Bausteine für die Geschosse im Haus der Theologie liefert, ist eine große Verantwortung und Herausforderung; sie sollte aber anderen Disziplinen nicht auch noch bis ins Detail vorschreiben wollen, wo jedes einzelne Fenster zu setzen ist� Die im Voranstehenden skizzierte Rolle der Exegese im Verbund der theologischen Disziplinen gilt, dies sei abschließend angefügt, auch in umgekehrter Richtung, also bei der Beurteilung von theologischen Entwürfen aus exegetischer Perspektive� Aus dem im Voranstehenden vorgetragenen Einspruch gegen „naive Repristination“ folgt zwingend, dass dem Exegeten die Robe eines beckmesserischen Richters nicht steht� Ich illustriere dies anhand der reformatorischen Rechtfertigungslehre� Dieser bzw� in Sonderheit Luther ist in der neueren Paulusforschung - mit unterschiedlicher Emphase - häufig der Vorwurf gemacht worden, dass die paulinische Rechtfertigungslehre hier (grundlegend) missverstanden sei� 45 Es ist völlig richtig, dass die Rechtfertigungslehre bei Paulus, anders als bei Luther, Antwort auf eine ekklesiologische Problematik zu geben sucht 46 und Luther die Rede von der Rechtfertigung durch Glauben ohne Werke des Gesetzes auf einen anderen Problemhorizont bezogen hat, womit eine ganze Reihe von unterschiedlichen Akzentsetzungen verbunden ist� 47 Mit dieser Feststellung ist aber keineswegs bereits ein theologisches Verdikt gegen Luthers Rechtfertigungslehre gesprochen� Es ist schon aus intellektueller Redlichkeit geboten, die Differenzen zwischen Paulus und Luther nicht zu verschleiern, sondern als solche zu benennen� Aber theologisch ist die entscheidende Frage, ob die lutherische Rechtfertigungslehre als eine in ihrem christentumsgeschichtlichen Kontext legitime Transformation der paulinischen Theologie gewürdigt werden kann� Diese Frage ist m� E� dezidiert zu bejahen� Diese Bejahung bedeutet, wenn man das reformatorische Schriftprinzip ernst nimmt, nicht, dass nun umgekehrt die lutherische Rechtfertigungslehre die Rolle einer normativen Auslegungsgestalt der paulinischen Theologie gewinnt� 45 Dezidiert z� B� E� P� Sanders, Paulus� Eine Einführung (Reclam Universal-Bibliothek 9365), Stuttgart 1995, nach dem Luther Paulus’ Aussagen zur Gerechtigkeit aus dem Glauben „in den Mittelpunkt seiner eigenen gänzlich anderen Theologie“ gestellt habe (63), und F� Watson, Paul, Judaism and the Gentiles� A Sociological Approach (MSSNTS 56), Cambridge [u� a�] 1986, 1: „the Reformation tradition’s approach to Paul is fundamentally wrong�“ 46 Siehe dazu exemplarisch M� Wolter, Paulus� Ein Grundriss seiner Theologie, Neukirchen- Vluyn 2011, 339-411. 47 Ich habe meine Sicht anderorts ausführlicher dargelegt und wiederhole dies hier nicht� Siehe M� Konradt, Luthers reformatorische Entdeckung - eine Relektüre aus exegetischer Sicht, in: M� Heimbucher (Hg�), Reformation erinnern� Eine theologische Vertiefung im Horizont der Ökumene (Evangelische Impulse 4), Neukirchen-Vluyn 2013, 13-41. Die historisch-kritische Exegese und das reformatorische Schriftprinzip 125 Vielmehr gilt es, heute neu zu fragen, wie Paulus’ theologisches Anliegen in heutige Problemzusammenhänge hinein buchstabiert werden kann� Dass dazu Luthers Paulusdeutung auch gegenwärtig noch einen wertvollen Beitrag leisten kann, ist davon unbenommen� Zeitschrift für Neues Testament Heft 39 / 40 20. Jahrgang (2017) Sola Scriptura und Communio Sanctorum Zum Verhältnis von Schriftgemäßheit und Kirchengemeinschaft Karl-Wilhelm Niebuhr Die meisten Fragen der Gestaltung kirchlichen Lebens, die uns heute beschäftigen, lassen sich nicht durch Verweise auf die Bibel beantworten� Das liegt zunächst einmal daran, dass die Bibel zu vielen dieser Fragen schlicht nichts sagt, weil sie sich ihren Autoren und Adressaten nicht stellten� Auch zu aktuellen Fragen der Ökumene kann die Bibel unmittelbar nichts sagen, weil es ‚Kirchen’ im Sinne heutiger, überregional verbreiteter Konfessionskirchen in biblischer Zeit noch nicht gab� Gleichwohl berufen sich alle christlichen Kirchen bei der Gestaltung ihres Lebens und Glaubens auf das Zeugnis der Heiligen Schrift, und die drei großen Konfessionsfamilien, die orthodoxen Kirchen, die römischkatholische Kirche und die Kirchen der Reformation, haben sich im Zuge der ökumenischen Bewegung immerhin soweit angenähert, dass sie der Schrift gegenüber allen sonstige „Bezeugungsinstanzen der Wahrheit“ eine maßgebliche Rolle zuweisen� 1 Trotz solcher Annäherung im Grundsätzlichen bleiben beim konkreten Umgang mit der Bibel im Zusammenhang kirchlicher Lehrbildung 1 Zum Begriff „Bezeugungsinstanzen der Wahrheit“, der im ökumenischen Dokument „Communio Sanctorum“ Verwendung findet, vgl� K�-W� Niebuhr, Biblisch-theologische Grundlagen des Communio-Begriffs im Zusammenhang der Ekklesiologie mit besonderem Bezug auf „Communio Sanctorum“, KuD 50 (2004), 90-125. - Da der folgende Beitrag als programmatischer Essay gedacht ist, erlaube ich mir, in den Fußnoten vorwiegend auf eigene Arbeiten zum Thema zu verweisen und auf die Fülle einschlägiger Sekundärliteratur aus Bibelwissenschaft, Kirchengeschichte und Systematischer Theologie nicht näher einzugehen� 128 Karl-Wilhelm Niebuhr offene Fragen, und die reformatorischen Kirchen haben aktuell wenig Grund, sich dabei den anderen Konfessionsfamilien als vorbildlich zu präsentieren� Mir scheint die Suche nach der Einheit der Kirche Jesu Christi im ökumenischen Kontext auch heute unaufgebbar� Freilich kann solche Einheit nicht mit dem „Text“ der Schrift identifiziert oder unmittelbar aus ihrem Wortlaut herausgelesen werden� Ein naiver Gebrauch des reformatorischen Grundsatzes sola scriptura ohne Reflexion der geschichtlichen Ursprungszusammenhänge der biblischen Zeugnisse und ihrer Auslegungsgeschichte bis in die spezifischen Konstellationen des frühen 16� Jahrhunderts hinein 2 und darüber hinaus wäre hermeneutisch genauso defizitär wie ein fundamentalistischer Biblizismus! Maßstab für die theologische Beurteilung von Lehrentscheidungen und Gestaltungsfragen kirchlichen Lebens ist vielmehr das gesamtbiblische Zeugnis, das durch Einordnung biblischer Einzeltexte in ihren kanonischen Zusammenhang und ihren biblisch-theologischen Horizont zu ermitteln und in hermeneutischer Reflexion mit Blick auf seine gegenwärtige Geltung zu entfalten ist� Um solche Einordnungen von Einzelaussagen der Schrift in ihren biblischtheologischen Zusammenhang nachvollziehbar vornehmen zu können, gebrauche ich im Folgenden das Denkmodell der Spannungseinheit� Nach diesem Modell kann eine komplexe Wirklichkeit als Einheit erfasst werden, ohne dass dabei einander widerstreitende Elemente ignoriert oder miteinander ausgeglichen werden müssen� Solche Spannungseinheit lässt sich m� E� im Zeugnis der Schrift auf drei verschiedenen Ebenen erkennen, im Zeugnis beider Testamente der Schrift vom Heil schaffenden Handeln des einen Gottes (1�), 3 im Zusammenhang zwischen dem Wirken, Weg und Geschick Jesu und dem Bekenntnis zu seiner Auferweckung von den Toten (2�) 4 und im Verhältnis zwischen dem einen Christusgeschehen und den vielfältigen Zeugnissen der Schrift, die auf dieses Geschehen verweisen (3�)� 5 2 Zur Kontextualität von Luthers Schriftverständnis und der sich darauf beziehenden Formel sola scriptura vgl� K�-W� Niebuhr, Gerechtigkeit und Rechtfertigung bei Matthäus und Jakobus� Eine Herausforderung für gegenwärtige lutherische Hermeneutik in globalen Kontexten, ThLZ 140 (2015), 1329-1348 (1331-1336). Zum reformatorischen Schriftprinzip und seinen Ursprüngen im Ablassstreit vgl� zuletzt F� Stengel, Sola Scriptura im Kontext� Behauptung und Bestreitung des reformatorischen Schriftprinzips (ThLZ�F 32), Leipzig 2016� 3 Vgl� dazu K�-W� Niebuhr, Schriftauslegung in der Begegnung mit dem Evangelium, in: F. Nüssel (Hg.), Schriftauslegung, Themen der Theologie 8, Tübingen 2014, 43-103 (54-69). 4 Vgl� dazu K�-W� Niebuhr, Jesu Wirken, Weg und Geschick� Zum Ansatz einer Theologie des Neuen Testaments in ökumenischer Perspektive, ThLZ 127 (2002), 3-22 (zum ökumenischen Aspekt bes. 6-12). 5 Vgl� dazu K�-W� Niebuhr, Welchen Jesus predigen wir? Überlegungen im Anschluss an Martin Kähler, Sacra Scripta 9 (2011 / 12), 123-142. Sola Scriptura und Communio Sanctorum 129 1. Die Spannungseinheit zwischen Altem und Neuem Testament Wenn sich die Kirche auch ursprünglich dem Christusgeschehen verdankt, von dem das Neue Testament Zeugnis gibt, so hat sie doch von Anfang an die Schriften Israels zu ihren theologischen Grundurkunden gerechnet und sie bald schon als „Altes Testament“ ihrer Heiligen Schrift eingeordnet� 6 Ebenso wie das Christuszeugnis der Gemeinden der Jesus-Anhänger 7 im Neuen Testament nicht losgelöst vom Israelzeugnis des Alten Testaments begründet und entfaltet werden kann, kann auch das Selbstverständnis der Christusgemeinden als von Gott erwähltes Volk der Heilszeit nicht ohne Bezug auf Israel zur Sprache gebracht und entfaltet werden� Bei der Beurteilung theologischer Aussagen im ökumenischen Gespräch über die Kirche heute muss daher das gesamtbiblische Zeugnis beider Testamente gehört werden� Im Rahmen einer biblischen Hermeneutik sind dabei beide grundlegenden Aussagezusammenhänge zur Geltung zu bringen: das Offenbarungszeugnis beider Testamente vom Heil schaffenden Handeln Gottes an Israel und seiner Schöpfung und das Offenbarungszeugnis des Neuen Testaments vom Christusgeschehen als endzeitlicher Vollendung dieses göttlichen Heilshandelns� Mit dieser Formulierung ist die Asymmetrie im 6 Die Sekundärliteratur ist uferlos; vgl� zuletzt den Überblick zur Kanongeschichte bei C� Markschies, Haupteinleitung, in: ders�/ J� Schröter (Hg�), Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung� I� Band: Evangelien und Verwandtes, Teilbd� 1, Tübingen 2012, 1-180 (25-74). Zur Kanonbildung als einem theologisch relevanten Prozess vgl. T. Söding, Der Kanon des Alten und Neuen Testaments� Zur Frage nach seinem theologischen Anspruch, in: J�-M� Auwers / H� J� de Jonge (Hg�), The Biblical Canons (BEThL 163), Leuven 2003, XLVII-LXXXVIII� 7 Der Begriff „Jesus-Anhänger“, der darauf zielt, die für die neutestamentliche Zeit anachronistischen Begriffe „Christen“ oder „Kirche“ zu vermeiden („Gemeinde“ ist auch nicht viel besser), ist sicherlich eine Verlegenheitslösung� Man könnte ebenso gut von „Christus-Verehrern“ sprechen� Prof. Dr. Karl-Wilhelm Niebuhr, geb� 1956 in Neuruppin, 1994-1996 Professor für Biblische Theologie an der Technischen Universität Dresden, seit 1997 Professor für Neues Testament an der Friedrich-Schiller-Universität Jena� - Forschungsschwerpunkte: Corpus Judaeo-Hellenisticum Novi Testamenti; Kommentar zum Jakobusbrief ( EKK ); Anthropologie des Neuen Testaments; Katholische Briefe und Aposteltraditionen� 130 Karl-Wilhelm Niebuhr Verhältnis beider Testamente der christlichen Bibel zueinander erfasst� Während das Alte wie das Neue Testament vom Handeln Gottes an Israel und der ganzen Schöpfung einschließlich der Völker zeugt, kann von der endzeitlichen Vollendung des Handelns Gottes in Jesus Christus nur und erst das Neue Testament Zeugnis geben, wenngleich wiederum dieses neutestamentliche Zeugnis ohne die alttestamentlichen Zeugnisse über Gottes Handeln an Israel und seiner Schöpfung „in der Luft hängen“ würde� Damit ist gesagt, dass eine sachgemäße Verhältnisbestimmung zwischen beiden Testamenten im Rahmen des christlichen Glaubens vom Neuen Testament her vorgenommen werden muss� Einem jüdischen Selbstverständnis, das sich auf das Bundesverhältnis zwischen Gott und seinem Volk stützt, wie es in den Schriften Israels bezeugt wird, ist damit aber keineswegs der Boden entzogen, sondern vielmehr gleichermaßen Raum gegeben, wie der eigene, christliche Interpretationsanspruch auf das Alte Testament vom Christusglauben her gewahrt bleibt� Im Blick auf eine biblisch-theologisch begründete Rede von Ursprung und Wesen der Kirche sind allerdings Entsprechungen und Differenzen zwischen dem alttestamentlichen und dem neutestamentlichen Zeugnis in ein theologisch sachgemäßes Verhältnis zueinander zu setzen� Im Blick auf das Gottesverständnis kann dabei im Rahmen christlich-theologischer Lehrbildung von einer grundlegenden Identität beider Testamente gesprochen werden� Die entscheidende Gemeinsamkeit zwischen ihnen besteht darin, dass ein heilsames Verhältnis zwischen Gott und Mensch nur von Gott her begründet werden kann, während Menschen dazu in der Lage sind, diese Gottesbeziehung zu zerstören� Ein solches Gottesverständnis liegt schon dem alttestamentlichen Erwählungsgedanken zu Grunde� 8 Im Neuen Testament ist es besonders in der paulinischen Theologie zum Tragen gekommen, wie sich exemplarisch an Röm 9-11 zeigen lässt, aber ebenso an der Reflexion des Paulus über seinen eigenen Weg vom Verfolger der Gemeinde Gottes zum Verkünder des Evangeliums� 9 Wenn also das Gesamtzeugnis der christlichen Bibel vom Neuen Testament her erschlossen werden muss, so können doch theologisch verbindliche Aussagen über die Kirche auch aus dem Alten Testament gewonnen werden� So kann christliche Theologie etwa am Beispiel Israels aus dem Alten Testament lernen und im Neuen bestätigt finden, dass die Kirche creatura verbi ist und angesichts ihrer Verfehlung des Gotteswillens ganz auf Gottes Barmherzigkeit und Vergebung angewiesen bleibt� Ebenso lernt sie im Alten Testament Gott schon als den kennen, der sich durch menschlichen Ungehorsam nicht von seinen 8 Vgl� nur die exemplarischen Gestalten Abraham und David nach Gen 12 und 1Sam 16� 9 Vgl� dazu K�-W� Niebuhr, Heidenapostel aus Israel� Die jüdische Identität des Paulus nach ihrer Darstellung in seinen Briefen (WUNT 62), Tübingen 1992, 66-78.137-158. Sola Scriptura und Communio Sanctorum 131 heilsamen Intentionen abbringen lässt und Gemeinschaft mit ihm und untereinander gerade da ermöglicht, wo sie von Menschen für unmöglich gehalten wird� Im Gottesverständnis lässt sich also eine grundlegende Identität beider Testamente der christlichen Bibel feststellen� Darüber hinaus kann von einer heilsgeschichtlichen Verbindung zwischen dem Handeln Gottes an Israel und seinem endzeitlichen Handeln im Christusgeschehen gesprochen werden, sofern damit ein theologisches Urteil getroffen wird und nicht etwa ein historisches� Kontinuität besteht nämlich allein im berufenden Handeln des Gottes Israels, der der Vater Jesu Christi ist� Dieser Glaube impliziert nach Paulus, dass Gott seine Heilszusage an Israel einlöst, indem er aus Israel und den Völkern sein endzeitliches Heilsvolk beruft� 10 Auch das lukanische Doppelwerk ist buchstäblich von Anfang 11 bis Ende 12 in diesem Sinn ‚heilsgeschichtlich’ geprägt, wobei im Zusammenhang der lukanischen Geschichtsdarstellung die Zeugnisse der Schrift über „den Christus“ besonderes Gewicht erhalten� 13 Von daher kann die Beziehung zwischen den Heilszusagen an Israel im Alten Testament und den Heilserfahrungen der Kirche im Neuen auch im Sinn einer Typologie begriffen werden� In den Schriften des Neuen Testaments wird eine solche dezidiert christologische, eschatologische und ekklesiologische Interpretation alttestamentlicher Texte, abgesehen von den Evangelien und den Paulusbriefen, in besonders drastischer Weise im Hebräerbrief, 14 aber etwa auch im 1� Petrusbrief vollzogen� 15 Mit solchen typologischen Interpretationen ist aber keineswegs ausgeschlossen, vielmehr gerade sichergestellt, dass das Alte Testament als Gottes Wort der Kirche gegenüber auch sein eigenes Wort zur Geltung bringen kann� Es ist dies nach christlichem Verständnis aber eben das Wort des drei-einen Gottes, der mit Israel seinen Bund schließt und hält, dessen heilsamer Geist in Jesus aus Nazareth wirksam war und in seiner Gemeinde nach Ostern erfahrbar bleibt und der in Jesus Christus die Kirche aus Israel und den Völkern zu seinem endzeitlichen Volk berufen hat und vollendet� Schließlich lassen sich noch eine Fülle von metaphorischen Verbindungslinien zwischen alttestamentlichen Zeugnissen des Glaubens Israels und neutesta- 10 Vgl. exemplarisch Röm 9,22-24. 11 Vgl. besonders die Lobgesänge Lk 1,46-55.68-79; 2,29-32.34. 12 Vgl. Apg 28,23-28. 13 Vgl. Lk 24,25-27.45-49; Apg 2,29-36; 3,18; 8,5-12; 17,2 f. Vgl. zur heilsgeschichtlichen Konzeption des Lukas M� Wolter, Das Lukasevangelium (HNT 5), Tübingen 2008, 26-33; ders�, Das lukanische Doppelwerk als Epochengeschichte, in: Die Apostelgeschichte und die hellenistische Geschichtsschreibung (FS E� Plümacher), hg�v� C� Breytenbach / J� Schröter, AJEC 57, Leiden, Boston 2004, 253-284. 14 Vgl. bes. Hebr 3,1-6; 8,1-5. 15 Vgl. nur 1Petr 2,9f; 3,3-6.20 f. 132 Karl-Wilhelm Niebuhr mentlichen Zeugnissen des Glaubens der Kirche ziehen� Sie sind besonders für ekklesiologische Zusammenhänge bedeutsam� So können etwa kultische Motive aus der biblisch-jüdischen Überlieferung im Neuen Testament in metaphorischem Sinn rezipiert werden� 16 Die Rede von der Gemeinde als „Tempel Gottes“ 17 und von ihrer „Heiligkeit“ 18 ist ein klassisches Beispiel dafür, aber auch die von dem Apostel oder den Glaubenden als „Priestern“� 19 Zwischen den genannten Ebenen der Beziehungen von Altem und Neuem Testament zueinander ( Identität im Gottesverständnis, heilsgeschichtliche Kontinuität, Typologie, metaphorische Verbindungslinien ) ist in der theologischen Interpretation jeweils sorgfältig zu unterscheiden� Die Kirche verdankt sich dem berufenden Wirken des einen Gottes Israels, der im Alten Testament bezeugt wird und nach dem Zeugnis des Neuen Testaments als der drei-eine Gott geglaubt wird� Vom Glauben an den drei-einen Gott des Neuen Testaments her erschließen sich die Zeugnisse des Alten Testaments in differenzierter Weise als christliche Glaubensaussagen, die für die Kirche maßgeblich sind� Nur wenn die Zeugnisse der Schriften Israels vom christlichen Glauben her erschlossen werden, kann das Alte Testament ein theologisch konstitutiver Bestandteil der christlichen Bibel bleiben� 2. Die Spannungseinheit zwischen Jesu Wirken und der österlichen Verkündigung Das Neue Testament bezeugt Jesu Wirken, Weg und Geschick im Licht des Glaubens an seinen heilvollen Tod und seine Auferweckung von den Toten durch Gott� Der Glaube an Jesus als wahren Menschen und wahren Gott, der seinen dogmatischen Ausdruck in der „Zwei-Naturen-Lehre“ der altkirchlichen Bekenntnisse gefunden hat, prägt als Spannungseinheit schon die narrativen Zeugnisse von Jesus im Neuen Testament, die Evangelien� Im Blick auf eine biblische Begründung von Ursprung und Gestalt der Kirche spiegelt sich diese christologische Grundaussage in der Spannungseinheit zwischen der voröster- 16 Vgl� dazu K�-W� Niebuhr, Art�: Kult / Kultus� V� Neues Testament, RGG 4 4, 2001, 1809 f� 17 1Kor 6,19� 18 Vgl� dazu K�-W� Niebuhr, Heiligkeit und Heiligung im Rahmen der paulinischen Theologie, in: M� Illert / M� Schindehütte (Hg�), Theologischer Dialog mit der Rumänischen Orthodoxen Kirche� Die Apostoliziät der Kirche� 12� Begegnung im bilateralen Theologischen Dialog zwischen der Rumänischen Orthodoxen Kirche und der Evangelischen Kirche in Deutschland (Goslar XII)� Heiligkeit und Heiligung� 13� Begegnung im bilateralen Theologischen Dialog zwischen der Rumänischen Orthodoxen Kirche und der Evangelischen Kirche in Deutschland (Goslar XIII), ÖR.B 97, Leipzig 2014, 164-182. 19 Röm 15,16; 1Petr 2,5�9� Sola Scriptura und Communio Sanctorum 133 lichen Lebensgemeinschaft Jesu mit den von ihm berufenen Jüngern und der Gemeinschaft der österlichen Gemeinde mit Jesus Christus, die im Geschehen von Tod und Auferstehung gründet, wider� Diese Spannungseinheit kann anhand charakteristischer Merkmale des vorösterlichen Wirkens Jesu aufgewiesen werden, die erst im Zusammenhang mit dem Osterglauben einen für die Kirche maßgeblichen, biblischen Sinn erhalten� 20 Hier ist vor allem auf Formen des Wirkens Jesu hinzuweisen, die in der Exegese als prophetische Zeichenhandlungen beurteilt werden� 21 Damit sind Taten und Verhaltensweisen gemeint, die punktuell die Wirklichkeit der Gottesherrschaft unter den Lebensbedingungen und Sozialbeziehungen irdischen Lebens aufscheinen lassen� Diese Zeichenhandlungen werden in ihrem theologischen Sinn erst verständlich, wenn sie im Zusammenhang von Wirken, Weg und Geschick Jesu im Licht des Osterglaubens erfasst werden� Sie dürfen also nicht gegen den Osterglauben der Gemeinde ausgespielt, sondern müssen auf ihn bezogen werden� So ist die Berufung und Sendung des Zwölferkreises als zeichenhafte Wiederherstellung des Zwölf-Stämme-Volkes zu verstehen, dem die eschatologischen Verheißungen der Propheten gelten� 22 Der Zwölferkreis, in ihm besonders Petrus, repräsentiert mit seinem Zeugnis für die Auferweckung Jesu 23 aber zugleich auch die Kontinuität der von Jesus Berufenen über den Graben von Karfreitag hinweg - oder besser: durch das Grab des Gekreuzigten hindurch� 24 Hier hat die besondere Bedeutung der Apostel für die Kirche, und unter ihnen auch die des Petrus, ihren theologischen Grund� In diese österliche Gemeinschaft der Apostel können dann sogar Paulus und Jakobus, der Herrenbruder, einbezogen 20 Vgl� dazu die Reflexionen des katholischen Neutestamentlers Wilhelm Thüsing: Die neutestamentlichen Theologien und Jesus Christus� Grundlegung einer Theologie des Neuen Testaments� Bd� I: Kriterien aufgrund der Rückfrage nach Jesus und des Glaubens an seine Auferweckung, Münster 2 1996; Bd� II: Programm einer Theologie des Neuen Testaments mit Perspektiven für eine Biblische Theologie, Münster 1998; Bd� III: Einzigkeit Gottes und Jesus-Christus-Ereignis, hg�v� T� Söding, Münster 1999� 21 Wesentliche Impulse für die neutestamentliche Forschung auf diesem Gebiet sind von dem katholischen Neutestamentler Heinz Schürmann ausgegangen, vgl� bes�: Die Symbolhandlungen Jesu als eschatologische Erfüllungszeichen� Eine Rückfrage nach dem irdischen Jesus, BuL 11 (1970), 29-41.73-78 (bearbeiteter Nachdruck in: derselbe, Jesus - Gestalt und Geheimnis� Gesammelte Beiträge, hg�v� K� Scholtissek, Paderborn 1994, 136-156); Der Jüngerkreis Jesu als Zeichen für Israel (und als Urbild des kirchlichen Rätestandes), GuL 36 (1963), 21-35 (bearbeiteter Nachdruck in: Gestalt und Geheimnis, 64-84). 22 Vgl. Mt 10,1-4 / Mk 3,13-19 / Lk 6,12-16; Mt 10,5-14 / Mk 6,7-11 / Lk 9,1-6; Mt 19,28 / Lk 22,28-30. 23 Vgl. zu Petrus 1Kor 15,5; Lk 24,12 (Mk 16,7); Joh 20,2-10; 21,1-14.15-23, zum Zwölfer- (bzw. Elfer-) Kreis 1Kor 15,5; Lk 24,36-49; Mt 28,16-20; Joh 20,19-23.24-29. 24 Vgl� in der Reflexion des Paulus Röm 6,3 f� 134 Karl-Wilhelm Niebuhr werden, obwohl sie bekanntlich nicht zu den vorösterlichen Anhängern Jesu zählten� In der durch Begegnungen mit dem auferstandenen Christus begründeten Gemeinschaft der Apostel 25 wird also die Gemeinschaft Jesu mit seinen Jüngern österlich transformiert� 26 Durch das Heilen Kranker lässt Jesus zeichenhaft erkennen, dass Gott den Menschen heil geschaffen hat und dass er alle Krankheit und alles Elend von Israel wegnehmen will, wie es die Propheten für die eschatologische Heilszeit verheißen haben� 27 In dieser prophetischen Verheißung und ihrer zeichenhaften Verwirklichung durch Jesu Heilungen wurzelt die Hoffnung der österlichen Gemeinde, dass Gott auch ihre gegenwärtigen Erfahrungen von Leid und Unheil in eschatologischen Jubel verwandeln wird� Die Vollmacht zum Vergeben von Sünden , durch die der vorösterliche Jesus in seinem heilenden Wirken und seinem Zuspruch von Vergebung zeichenhaft Gemeinschaft mit Gott bewirkt, 28 bildet in österlicher Transformation die Grundlage für das Geschehen der Sündenvergebung in Taufe und eucharistischem Mahl� Diesem Geschehen verdankt die Kirche ihre Existenz� Die Tischgemeinschaften Jesu , insbesondere die Einbeziehung von sozial und religiös Deklassierten, 29 lassen seinen Anspruch erkennen, als Repräsentant Gottes die zerstörte Sozialgemeinschaft in Israel zu heilen und im Vorgriff auf die eschatologische Vollendung schon jetzt ein Festmahl zu feiern, ein Anspruch, den auch der auferstandene Christus im eucharistischen Mahl gegenüber seiner Gemeinde erhebt� In seinem letzten Mahl erschließt sich Jesu „Proexistenz“ radikal in seiner Lebenshingabe für die Vielen� 30 Jesus stellt den Jüngern im Vollzug der Mahl- 25 Biblischer Schlüsseltext dafür ist 1Kor 15,3-11. 26 Vgl� dazu K�-W� Niebuhr, Gemeinschaft der Apostel� Das „Apostelkonzil“ als Bezugspunkt und Modell konziliarer Gemeinschaft in der Kirche, in: D� Heller / J� Schneider (Hg�), Die Ökumenischen Konzilien und die Katholizität der Kirche� Das elfte Gespräch im bilateralen theologischen Dialog zwischen der Rumänischen Orthodoxen Kirche und der Evangelischen Kirche in Deutschland (ÖR.B 83), Frankfurt 2009, 46-69. 27 Vgl. Mt 11,2-6 / Lk 7,18-23 im Horizont von Jes 29,18; 35,5 f.; vgl. dazu K.-W. Niebuhr, Die Werke des eschatologischen Freudenboten (4Q521 und die Jesusüberlieferung), in: C� M� Tuckett (Hg�), The Scriptures in the Gospels (BEThL 131), Leuven 1997, 637-646. 28 Vgl. Mt 9,1-8 / Mk 2,1-12 / Lk 5,17-26; Lk 17,11-19; vgl. dazu K.-W. Niebuhr, Jesu Heilungen und Exorzismen� Ein Stück Theologie des Neuen Testaments, in: W� Kraus / K�- W� Niebuhr (Hg�), Frühjudentum und Neues Testament im Horizont Biblischer Theologie� Mit einem Anhang zum Corpus Judaeo-Hellenisticum (WUNT 162), Tübingen 2003, 99-112. 29 Vgl. Mt 9,10-17 / Mk 2,15-22 / Lk 5,29-39; Mt 11,19 / Lk 7,34; Lk 15,1f.; 19,1-10. 30 Mt 20,28 / Mk 10,45� Der Begriff „Proexistenz“ als umfassendes Signum für die Lebens- und Sterbenshaltung Jesu geht auf H� Schürmann zurück, vgl� die Zusammenstellung seiner einschlägigen Aufsätze dazu in: Jesus - Gestalt und Geheimnis (s. Anm. 21), 268-345. Sola Scriptura und Communio Sanctorum 135 gemeinschaft proleptisch und zeichenhaft seine Lebenshingabe vor Augen und bezieht sie damit ein in sein Todesgeschick� In der Feier der Eucharistie wird der auferstandene Gekreuzigte gegenwärtig und schafft sich seine Gemeinde� Die Gemeinde erfährt im eucharistischen Mahl Gemeinschaft mit dem Auferstandenen im Vorgriff auf die endzeitliche Vollendung der Schöpfung� 31 3. Die Spannungseinheit zwischen dem Christusgeschehen und seinen Bezeugungen Schließlich ist die Spannungseinheit zwischen dem einen Christusgeschehen und seiner vielfältigen Bezeugung in den Schriften des Neuen Testaments zu bedenken� Auf der ekklesiologischen Ebene entspricht dem die Spannungseinheit zwischen der einen Kirche und den vielfältigen Gestaltungsformen kirchlichen Lebens, wie sie in den Konfessionen begegnet� Nach einem vergröbert als ‚katholisch’ zu bezeichnenden Einheitsmodell wird der kirchlichen Lehrtradition eine maßgebliche Funktion bei der Anerkennung der Schrift als Kanon zugeschrieben� Demgegenüber kommt nach einem grob gesagt ‚protestantischen’ Einheitsmodell der im Glauben wahrgenommenen Offenbarung des Christusgeschehens die maßgebliche Rolle bei der Erschließung der Schrift zu� In der Spannungseinheit zwischen dem Zeugnis der Schrift, das der Kirche vorgegeben ist, und ihrer Überlieferung in der und durch die Kirche liegen m� E� Recht und Grenzen beider Modelle eng beieinander� 32 Damit steht dem einen Christusgeschehen als Ausdruck des Handelns des drei-einen Gottes der ganzen Bibel die Pluralität menschlicher Bezeugungen in der Schrift gegenüber� Solche Pluralität menschlicher Wahrnehmungen des Handelns Gottes hat in der Bibel selbst ihr Urbild� Als Modellfall biblischer Pluralität kann die Geschichte vom Turmbau zu Babel gelten, 33 in neutestamentlicher Entsprechung dazu die Pfingstgeschichte� 34 Deren Pointe liegt gerade darin, dass erst die Gabe des Geistes Gottes es ermöglicht, aus der Vielfalt von Sprachen und Stimmen die Einheit stiftende Grundbotschaft der Kirche wahrzunehmen und zu verstehen� Das Neue Testament zeichnet sich nicht bloß durch eine Vielfalt von Zeugnissen aus, die alle auf das eine Grundgeschehen 31 1Kor 11,23-34; Mk 14,25. 32 Vgl. dazu näher K.-W. Niebuhr, Gerechtigkeit und Rechtfertigung (s. Anm. 2), 1346-1348; ders�, Rechtfertigung - der einzige Weg zum Heil? Zur Stellung der paulinischen Rechtfertigungslehre in der Soteriologie des Neuen Testaments, ThG 52 (2009), 2-15 (12-15). 33 Gen 11,1-9. 34 Apg 2,1-13. 136 Karl-Wilhelm Niebuhr von Gott in Christus verweisen� Diese Vielfalt ist in der Kirche auch noch kanonisch autorisiert! 4. Kirchengemeinschaft auf biblischer Grundlage Auch die Frage, wie die Einheit der Kirche in ihren Lebensformen Ausdruck finden soll, kann der beschriebenen Spannungseinheit von Einheit und Vielfalt nicht entzogen werden� Alle kirchlichen Entscheidungen, die sich auf die Schrift als Maßstab für die Gestaltung kirchlichen Lebens und kirchlicher Strukturen stützen, müssen sich der Frage aussetzen: Bleibt in ihnen die Spannungseinheit zwischen dem einen Christusgeschehen und seiner vielfältigen Bezeugung in der Schrift gewahrt oder wird sie durch einseitige Betonung und Durchsetzung spezifischer Gestaltungsformen kirchlichen Lebens gefährdet oder gar aufgehoben? Für eine skizzenhafte Reflexion dieser Prüffrage lege ich das Modell der Kirche als communio sanctorum zugrunde, das bekanntlich sowohl im Neuen Testament als auch in der Bekenntnistradition der Kirchen eine bedeutende Rolle spielt� Im Modell der communio sanctorum kommen die beiden Aspekte kirchlicher Wirklichkeit in den Blick, die dem biblischen Konzept von Gemeinschaft ( koinōnia / communio ) entsprechen: Teilhabe am Heilshandeln Gottes und Gemeinschaft der Glaubenden untereinander� Der Aspekt der Teilhabe kommt darin zum Ausdruck, dass die Kirche ihre Existenz, ihre Gemeinschaft mit Gott und untereinander, Gott verdankt ( creatura verbi ), der Aspekt der Gemeinschaft in der Ausgestaltung kirchlichen Lebens in der gottesdienstlichen Feier, im Miteinander-Leben der Glaubenden und in ihrer gemeinsamen Bezeugung des Evangeliums� Beide Aspekte kirchlicher Wirklichkeit zeigen sich in den Grundvollzügen kirchlichen Lebens: der Verkündigung des Evangeliums und der Feier der Sakramente� Die Teilhabe an dem Geschehen, in welchem Gott seine Kirche beruft und schafft, ist nicht denkbar und erfahrbar ohne die Gemeinschaft derer, die das Evangelium hören und die Eucharistie feiern� Im neutestamentlichen wie im altkirchlichen Sprachgebrauch kann mit dem Wort koinōnia / communio sowohl die Teilhabe an Gott im Christusgeschehen, insbesondere an den eucharistischen Gaben ausgedrückt werden als auch die Gemeinschaft derer, die diese Gaben im Glauben miteinander teilen� Für den neutestamentlichen Gebrauch von koinōnia 35 ist ein zweifacher Doppelsinn zu 35 Vgl� dazu N� Baumert, KOINONEIN und METECHEIN - synonym? Eine umfassende semantische Untersuchung (SBB 51), Stuttgart 2003; B� Rossing, Modelle der Koinonia im Neuen Testament und in der Alten Kirche, in: H� Holze (Hg�), Die Kirche als Gemeinschaft� Lutherische Beiträge zur Ekklesiologie (LWB.D 42), Genf 1998, 61-74; J. Reumann, Sola Scriptura und Communio Sanctorum 137 konstatieren: Das Wort bezeichnet zum einen sowohl die Teilhabe an etwas bzw� jemandem als auch die Gemeinschaft zwischen zwei voneinander unterschiedenen Wesenheiten; der Begriff bezeichnet darüber hinaus zum anderen die Gemeinschaft von Menschen mit Gott, und zwar wiederum hinsichtlich beider Aspekte der zuerst genannten Bedeutung, also sowohl die Teilhabe an der Wirklichkeit des dreieinigen Gottes als auch die innige Kommunikation zwischen Menschen und Gott� Ein verbindendes Element des koinōnia -Wortfeldes im Neuen Testament 36 liegt in dem Bezug von koinōnia auf Gott, der auch bei den Aussagen zur zwischenmenschlichen Gemeinschaft, etwa in einer christlichen Gemeinde, zwischen der Gemeinde und ihrem Apostel oder zwischen Mitarbeitern einer oder verschiedener Gemeinden, bestimmend bleibt� Eine ‚rein zwischenmenschliche’ Gemeinschaft ist den neutestamentlichen Autoren fremd� Wenn man nach Bezügen des neutestamentlichen koinōnia -Verständnisses zum Alten Testament sucht, kommt das Bundesverhältnis zwischen Gott und seinem Volk Israel in den Blick� 37 Mit diesem Kürzel lässt sich ein komplexes Überlieferungsfeld zusammenfassen, zu dem unter anderem der Gedanke der Berufung und Erwählung Israels, 38 die Gabe der Tora als Gemeinschaftsordnung, 39 die Zusage der Treue Gottes gegenüber seinem Volk, 40 die Ansage seines Gerichts angesichts der Vergehen Israels, insbesondere seiner Abkehr von Gott, 41 und die Gewissheit von der unendlichen Überlegenheit der Barmherzigkeit Gottes gegenüber seinem Gerichtszorn 42 gehören� Eine charakteristische Ausprägung innerhalb des Alten Testaments fand die Bundestheologie Koinonia in der Bibel� Ein Überblick, in: G� Gaßmann / D� Heller (Hg�), Santiago de Compostela 1993� Fünfte Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung 3� bis 14� August 1993� Berichte, Referate, Dokumente, ÖR 67 (1994), 37-69; J. Roloff, Die Kirche im Neuen Testament (GNT 10), Göttingen 1993, 100-110.234-238.273-276.307-309. 36 Vgl� zur exegetischen Orientierung J� Hainz, Art�: koinōnia , EWNT 2 2, 1992, 749-755; W� Popkes / E� D� Schmitz / K� Haacker / A� Huschke, Art�: Gemeinschaft, TBLNT 2 1, 1997, 712-722. 37 Einen knappen Überblick über die aktuelle alttestamentliche Forschungsdiskussion gibt J� C� Gertz, Art�: Bund� II� Altes Testament, RGG 4 1, 1998, 1862-1865; vgl. auch den Sammelband E� Zenger (Hg�), Der Neue Bund im Alten� Studien zur Bundestheologie der beiden Testamente (QD 146), Freiburg, Basel, Wien 1993, sowie die umfassende Monographie von P� J� Gräbe, Der neue Bund in der frühchristlichen Literatur unter Berücksichtigung der alttestamentlich-jüdischen Voraussetzungen (fzb 96), Würzburg 2001� 38 Vgl. exemplarisch Gen 12,1-3; Dtn 7,7-16; 32,8 f.; Hos 11,1-9; Jes 41,8 f. 39 Ex 19-34; Dtn 6,1-13; 26,16-19. 40 Vgl. Gen 17,7; Ex 3,1-15; Num 22-24; Jer 31,3. 41 Vgl. Jes 1,1-20; 5,1-7; Jer 25,1-13; Hos 4 f. 42 Vgl. nur Ex 34,6 f.; Jer 31,31-34. 138 Karl-Wilhelm Niebuhr im sogenannten ‚deuteronomistischen Geschichtswerk’, 43 eine andere in der theologischen Geschichtsdeutung der Prophetenbücher, 44 wobei die Querverbindungen zwischen beiden die in sich vielfältige Einheit des alttestamentlichen Gottes- und Geschichtsverständnisses dokumentieren� 45 Auch für diese bundestheologische Konzeption gilt, dass Gemeinschaft zwischen Gott und Menschen und Gemeinschaft von Menschen untereinander sich durchdringen� Menschen werden in die Wirklichkeit göttlichen Handelns einbezogen, indem sich Gott ein Volk erwählt� Auch das Israel des Alten Testaments ist in diesem Sinne creatura verbi � Die durch Gott in seinem erwählenden Handeln an Israel konstituierte Gemeinschaft verpflichtet zum Gehorsam gegenüber seinem Gebot und zur Solidarität untereinander� Die Identität des Gottesvolkes und sein heiles Gottesverhältnis werden nicht etwa durch Israels Gehorsam gegenüber der Tora begründet� Vielmehr ist es Gott, der durch die Gabe der Tora eine heilvolle Gottesbeziehung schafft und sie wiederherstellt, wenn sie durch den Ungehorsam Israels zerstört wurde� Die Tora ist also im Bundesverhältnis Ausdruck der Gegenwart Gottes bei seinem Volk, Ort erfahrener Gottesgemeinschaft� Dies wird besonders im Opferkult erfahrbar, wo Gott im Vollzug der Sühne Sündern Gemeinschaft mit ihm ermöglicht und bewirkt� 46 Dieses vom Bundesgedanken bestimmte Verständnis von Kult und Tora ist in frühjüdischer Zeit bestimmend� In der jüngeren Forschung zum antiken Judentum hat sich dafür in Folge der Arbeiten von Krister Stendahl, Heikki Räisänen, Ed P� Sanders und James D� G� Dunn, der Terminus ‚covenantal nomism’ eingebürgert� 47 Die Tora wird hier als Gnadengabe Gottes und Ausdruck der Er- 43 Vgl� dazu exemplarisch O� Kaiser, Der Gott des Alten Testaments� Theologie des Alten Testaments, Teil 1: Grundlegung, Göttingen 1993, 186-212. Zur jüngeren Diskussion in der alttestamentlichen Wissenschaft vgl� W� Dietrich, Art�: Deuteronomistisches Geschichtswerk, RGG 4 2, 1999, 688-692. 44 Vgl. Kaiser, Theologie 1 (s. Anm. 43), 213-262. 45 Zur Frage der Einheit der Gottesbezeugungen des Alten Testaments in ihrer Verschiedenheit vgl. Kaiser, Theologie 1 (s. Anm. 43), 157-162; siehe auch ders., Der Gott des Alten Testaments� Wesen und Wirken� Theologie des Alten Testaments, Teil 2: Jahwe, der Gott Israels, Schöpfer der Welt und des Menschen, Göttingen 1998, 9-28, sowie den gesamten Teil 3: Jahwes Gerechtigkeit, Göttingen 2003� 46 Auch hier soll zur Orientierung über die Forschungslage nur auf einen Lexikonartikel verwiesen werden: B� Ego, Art�: Kult / Kultus� IV� Altes Testament und Antikes Judentum, RGG 4 4, 2001, 1807-1809. 47 Vgl� zu Einzelnachweisen und zu den Konsequenzen eines solchen frühjüdischen Gesetzesverständnisses für die Deutung der paulinischen Rechtfertigungsaussagen K�- W� Niebuhr, Die paulinische Rechtfertigungslehre in der gegenwärtigen exegetischen Diskussion, in: T� Söding (Hg�), Worum geht es in der Rechtfertigungslehre? Das biblische Fundament der „Gemeinsamen Erklärung“ von katholischer Kirche und Lutherischem Weltbund (QD 180), Freiburg, Basel, Wien 1999, 106-130, bes. 118-123. Sola Scriptura und Communio Sanctorum 139 wählung Israels verstanden� Toratreue ist die von Israel geforderte Antwort auf seine Erwählung durch Gott� Der im Bundesverhältnis stehende Israelit kann Übertretungen der Tora bereuen und die von Gott in der Tora bereitgestellten Sühnemittel (Buße, Opfer, Barmherzigkeitstaten) gebrauchen� Eine heilvolle Gottesbeziehung wird nicht durch Gesetzesgehorsam ‚erworben’, sondern ist als Voraussetzung für ein heilvolles Leben von Gott in der Schöpfung geschaffen� Toragehorsam ist nicht bloß Erfüllung von Geboten und Vermeidung von Übertretungen, sondern Bekenntnis zum Bund Gottes mit Israel und Ausdruck des Willens, den Bund nicht eigenmächtig zu verlassen oder zu zerstören� Für eine biblisch-theologisch verankerte Rede von communio als Ursprung und Wesen der Kirche sind die Entsprechungen und Differenzen zwischen dem alttestamentlichen Bundesgedanken und der im Christusgeschehen gründenden Gemeinschaft, von der das Neue Testament zeugt, in ein Verhältnis zueinander zu setzen� Gemeinsamkeiten und Unterschiede lassen sich dabei im Entscheidenden auf einen eschatologischen, einen christologischen und einen ekklesiologischen Aspekt konzentrieren� Der eschatologische Aspekt schlägt sich nieder in der Erfahrung des Geistes Gottes als Gegenwart� Die im Alten Testament verheißene Geistbegabung des Gottesvolkes wird in den Gemeinden der Jesus-Anhänger als gegenwärtig erfahren, wenngleich die Vollendung endzeitlicher Gottesgemeinschaft noch zukünftig aussteht� 48 Der christologische Aspekt zeigt sich in der Behauptung der neutestamentlichen Zeugen, dass im Christusgeschehen die Heilserwartungen Israels, vor allem die Erwartung des endzeitlichen Repräsentanten Gottes und Retters Israels, in ganz unerwarteter Weise wahr geworden sind, 49 nämlich in der Menschwerdung Gottes in Jesus aus Nazareth� Der ekklesiologische Aspekt wird darin sichtbar, dass nach dem Selbstverständnis urchristlicher Gemeinden das endzeitliche Gottesvolk im Christusgeschehen von Gott selbst neu konstituiert wird, indem er aus Israel und den Völkern Menschen zur Gemeinschaft im Glauben beruft� 50 5. Resümee Die Bibel bietet einen großen Reichtum an exemplarischen Texten, modellhaften Konzeptionen und grundlegenden theologischen Bestimmungen für das 48 Neben der Pfingstgeschichte in Apg 2 (vgl. bes. das Zitat aus Joel 3,1-5 in Apg 2,17-21) kann hier auf die paulinische Missionsverkündigung verwiesen werden, in deren Zusammenhang es zu Geisterfahrungen in den Gemeinden kam (vgl. 1Thess 1,6; Gal 3,1-3; 1Kor 12,1-3). 49 Vgl. als exemplarisches Beispiel die Szene der „Täuferanfrage“ Mt 11,2-6 / Lk 7,18-23, siehe dazu meinen Aufsatz: Die Werke des eschatologischen Freudenboten (s� Anm� 27)� 50 Vgl. hierzu noch einmal Röm 9,22-24, aber auch Eph 2,11-22. 140 Karl-Wilhelm Niebuhr Wesen und die Gestaltung kirchlichen Lebens� Dieser Reichtum wird durch einzelne biblische Begriffe oder Wortfelder wie koinōnia / communio nur unzureichend erfasst� Ebenso wenig erschließt er sich, wenn einzelne Texte oder Begriffe unmittelbar auf Gestaltungsformen oder -ziele kirchlichen Lebens übertragen werden� Vielmehr können die biblischen Zeugnisse ihre grundlegende und kritische Funktion für die Gestaltung kirchlichen Lebens nur in ihrem hermeneutisch reflektierten kanonischen Zusammenhang erfüllen� Dafür wurde hier ein mehrfach in sich differenziertes Modell von Spannungseinheiten im biblischen Zeugnis vorgeschlagen� Als charakteristisch für das biblische Verständnis von koinōnia / communio hat sich ein zweifacher Doppelsinn ergeben� Gemeinschaft ist zugleich Teilhabe und Kommunikation, Einssein und Gemeinsamkeit, und zwar im Verhältnis der Glieder der Gemeinschaft untereinander wie der Gemeinschaft zwischen ihnen und Gott bzw� Jesus Christus, also in horizontaler wie in vertikaler Hinsicht� Solche biblische koinōnia / communio hat nach dem Alten Testament ihre Grundgestalt im Bund Gottes mit seinem Volk Israel� Nach dem Neuen Testament wird dieser Bund im Christusgeschehen durch Gott endzeitlich vollendet� Für ein biblisch begründetes Verständnis von Gemeinschaft in der Kirche lassen sich gemeinschaftstheologische Aspekte fruchtbar machen, wie sie am Wirken Jesu in österlicher Perspektive abgelesen werden können� Das modell- und zeichenhafte Wirken Jesu, seine kompromisslose Lebensausrichtung am Willen Gottes, sein Ruf in die Gegenwart der Gottesherrschaft in seiner Nachfolge, seine bedingungslose Zuwendung zu denen am Rande der Gesellschaft, seine rücksichtslose Lebenshingabe für andere, all dies wurde in österlicher Transformation und in narrativer Ausgestaltung in den neutestamentlichen Schriften zur Lebensgrundlage für die Gemeinschaft der Jesus-Anhänger und Christus-Verehrer� Auch für Gestaltungsformen von Kirchengemeinschaft bietet das Neue Testament, in kanonischer Perspektive gelesen, verschiedene Modelle an, etwa nach paulinischer Missionspraxis ein Modell geistgewirkter Selbständigkeit von Gemeinden, die durch Kommunikation untereinander und gemeinsamen Bezug auf den Gründerapostel Kirchengemeinschaft praktizieren, bei allen daraus resultierenden Konflikten, von denen die paulinische Korrespondenz unmissverständlich zeugt, oder das Modell des Jüngerkreises Jesu, der als Kollektiv ganz auf den berufenden Herrn orientiert ist und in dem doch einzelne, vor allem Petrus, Führungsfunktionen ausüben, bei aller Ambivalenz, die in dem neutestamentlichen Petrusbild ungeschönt sichtbar wird� Friedlichkeit ist offenbar kein neutestamentliches Gemeindemodell! Besonders attraktiv gerade in ökumenischer Perspektive scheint mir dagegen das Modell der Gemeinschaft der Apostel zu sein, das exemplarisch in dem doch so kontrovers-theologischen Sola Scriptura und Communio Sanctorum 141 Galaterbrief vor Augen tritt: Nach kontroverser Diskussion um die Einheit aller Gemeinden von Jesus-Anhängern und Christus-Verehrern reichen die Protagonisten einander die Hand zur Gemeinschaft und beauftragen sich gegenseitig: „wir zu den Völkern und sie zum Volk der Verheißung“, und, nicht zu vergessen: „dass wir der Armen gedenken“ (Gal 2,1-10). Zeitschrift für Neues Testament Heft 39 / 40 20. Jahrgang (2017) Die biblische Vorgeschichte des Schriftprinzips 1 Petr Pokorný 1. Das Problem In der Zeit der Reformation war das Schriftprinzip ein konfessioneller Streitpunkt innerhalb der Christenheit� Dies trifft für die heutige Zeit nicht mehr zu� Das 20� Jahrhundert brachte neue Herausforderungen mit sich, und die Christen begannen, ihre gemeinsamen Wurzeln ökumenisch zu erleben, sodass schon vor mehr als fünfzig Jahren galt: „Die Sola Scriptura Lehre sollte heute nicht mehr als Grund der Trennung unter Christen ins Feld geführt werden�“ 2 Es ist das Ziel des vorliegenden Aufsatzes, durch Untersuchung der biblischen Vorgeschichte des Schriftprinzips ( sola scriptura ) einen Beitrag zu seiner gegenwärtigen Deutung zu leisten� Einer kurzen Charakteristik der einzelnen Etappen der Entstehungsgeschichte des christlichen Kanons schicke ich eine Bemerkung über die zwei Dimensionen des Schriftprinzips voraus� Das Schriftprinzip, demzufolge die Schrift als Norm der Lehre und des Lebens der Kirche gilt, hat zwei Dimensionen: Für John Wyclif 3 war die Schrift nach dem Zeugnis der Apostel eine Offenbarung der Wahrheit Gottes (Gal 1,11-12) und ein Spiegel des göttlichen Wirkens (Weish 7,26)� Dies gilt auch für die Glaubensbekenntnisse der Reformation� 4 1 Die Zitate aus der Bibel sind der Lutherübersetzung in der revidierten Fassung von 1984 entnommen� 2 K� Rahner / H� Vorgrimler, Kleines theologischen Wörterbuch, Freiburg i� Br� (1961) 5 1965, 328� 3 De veritate Sacrae Scripturae I, 1378� 4 Helvetica posterior I,1-4, Confessio Bohemica 1,2-3; im Augsburger Bekenntnis fehlt ein solcher Artikel� Das Schriftprinzip hat man offensichtlich für selbstverständlich gehalten� 144 Petr Pokorný Das zweite Motiv kann durch das Schlagwort ad fontes charakterisiert werden, das die Reformation mit dem Humanismus (inbesondere des Erasmus von Rotterdam) verbunden hat� Im Unterschied zu der ersten Begründung, welche die Autorität der Schrift von Gott durch den Heiligen Geist (bildlich „von oben“) ableitet, wird hier eher das zeitliche „vor“ betont, das den Text der Bibel mit den ersten Zeugen (im Neuen Testament: mit den Aposteln) verbindet und in der Weltreformation auch die Rückkehr zur Bibel in den Ursprachen bedeutet� 2. Die Vorgeschichte der Heiligen Schrift in Israel Das Gesetz und die Propheten hielt Israel für die in menschlicher Sprache zugängliche Stimme Gottes� Einzig den Dekalog schrieb Gott selbst mit seinem „Finger“ auf die Tafeln (Ex 31,18; 32,16; vgl� Dtn 5,22)� Mose zerbrach diese allerdings im Zorn, als er sah, dass das Volk während seiner Abwesenheit begonnen hatte, einem Götzen zu dienen (Ex 32,19)� Einer anderen Tradition ist zu entnehmen, dass es Mose war, der die Worte Gottes auf die Tafeln schrieb, und nur die glänzende Haut seines Gesichts deutete an, dass es in der Nähe Gottes geschah� Demzufolge kann der Mensch den Willen Gottes nur in menschlichen Worten vernehmen� Das gilt nicht nur im Hinblick auf den Dekalog, sondern auch für den ganzen Text des Gesetzes� Das 8� Kapitel des Buches Nehemia schildert das Vorlesen des Gesetzes nach der Rückkehr aus dem Exil� In Jerusalem lesen Esra und die Leviten von der hölzernen Kanzel den Text vor (Neh 8,2-6). Da nicht alle das Vorgelesene verstehen (8,2-3), wird gleich hinzugefügt, dass das Vorlesen mit Unterweisung und Auslegung verbunden ist (8,7� 8� 11)� Dies bedeutet zunächst, dass der Gottesdienst auf der Grundlage der (Vor-) Lesung des geschriebenen Textes die Form alternativer Ausübung der Frömmigkeit Israels in einer Zeit darstellte, als der Tempel noch nicht neu errichtet oder (später) schon zerstört war, und vor allem überall außerhalb Jerusalems� Zweitens sehen wir, dass ein solcher Gottesdienst aus zwei Teilen bestand: aus (Vor-)Lesung und Deutung , aus heutiger christlicher Sicht würde man sagen: aus dem Text und aus der Predigt � Wir werden hier Zeugen eines dialektischen Prozesses: Der Text vermittelt die Autorität, die über der Gemeinde steht; aber gleichzeitig verleiht die Wirkung der Schrift einigen Vertretern der Gemeinde die Kompetenz, das Gesetz fūr die anderen zu interpretieren. 5 5 Zu diesem Problem siehe besonders P� Ricoeur, The Canon between the Text and the Community, in: P� Pokorný / J� Roskovec (Hg�), Philosophical Hermeneutics and Biblical Exegesis (WUNT 153), Tübingen 2002, 7-26, hier bes. 24-26. Die biblische Vorgeschichte des Schriftprinzips 145 3. Jesus und das Gesetz und die Propheten In neutestamentlicher Zeit war die Autorität des Gesetzes und der Propheten aus jüdischer Sicht allgemein anerkannt (Mt 5,27)� Auffällig ist deswegen, dass Jesus in einigen seiner Aussagen aus der Spruchsammlung Q (bei Matthäus als Antithesen gestaltet) die Worte der Bücher des Gesetzes radikalisiert, aber manchmal auch relativiert. So wird etwa in Mt 5,31-32par. das Wort von der Ehescheidung aus Dtn 24,1 radikalisiert, 6 aber die Tora-Vorschriften, reine und unreine Speisen voneinander zu unterscheiden (Lev 11), werden in Mk 7,18-23par. relativiert. Grundlegend kommt die gesetzeskritische Einstellung Jesu im kommentierenden Wort des Evangelisten zur Sprache: „Damit erklärte er alle Speisen für rein“ (Mk 7,19b)� Wiederholt argumentiert Jesus mit einem anderen Schriftzitat� Beispielsweise verteidigt er die Störung der Sabbatruhe in Mk 2,23-26par. mit seiner Berufung auf die Schrift (1Sam 21,2-7) und fügt eine neue Deutung des Sabbatgebots hinzu: „Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen“ (Mk 2,27)� 7 Später argumentiert er in derselben Frage mit dem Liebesgebot: „Soll man am Sabbat Gutes tun oder Böses tun, Leben erhalten oder töten? “ (Mk 3,4)� Diese sokratische Gegenfrage führt deutlich das Problem vor Augen: Die Schrift ist auf Deutung angewiesen, sie gilt nicht an sich. Als Norm 6 Vgl� hierzu die Exegese bei H� Hübner, Das Gesetz in der synoptischen Tradition, Witten 2 1986, 40-112. 7 Markus begreift dies als eine feierliche Äußerung Jesu als des Menschensohnes, wie es zur Christologie der ersten nachösterlichen Zeitperiode gehört hat� Prof. Dr. Petr Pokorný, geboren 1933, studierte evang� Theologie (Dr� theol� habil�) und Geschichte der griech Literatur (DrSc) in Prag, 1957-1967 evang. Vikar und Pfarrer, dann Lehrer; seit 1972 Prof� an der evang�-theol� Fakultät in Prag (auch Aufenthalte in Bonn, Genf und Oxford)� Ab 2001 Mitarbeiter (bis 2011 Direktor) des Zentrums für biblische Studien der AW und der Karlsuniversität in Prag� - Mitarbeit an der tschechischen ökum� Bibelübersetzung� Studien zu Christentum und Gnosis, zur synoptischen Theologie und zur Jesusforschung (Princeton - Prague Jesus Research), Kommentare (Eph� Kol), „Die Entstehung der Christologie“ und (mit U� Heckel) „Einleitung in das NT�“ Seit 1967 Mitglied (1964-1965 Präsident) der Studiorum Novi Testamenti Societas. Gastdozent oder research fellow in Greifswald, Pittsburg ( PA) , Tübingen, Princeton (NJ ) � Dr� h� c� in Bonn, Budapest und St� Petersburg� 146 Petr Pokorný kann sie nur durch den Vergleich mit anderen Worten und durch Unterscheidung zwischen dem Grundanliegen und den Rändern geltend gemacht werden. Bei Jesus ist die Autorität, mit der er das Gesetz auslegt, eine Äußerung seines Selbstbewusstseins als des endzeitlichen Propheten: „Das Gesetz und die Propheten reichen bis zu Johannes� Von da an wird das Evangelium vom Reich Gottes gepredigt …“ (Lk 16,16)� Seit Jesus hat unter den Christen das Gesetz eine neue Rolle erhalten� 8 Jesus spricht mit Autorität ( exousia - Mk 1,22par�)� Eine seiner Neuinterpretationen ist die Universalisierung der Hoffnung� Die israelzentrierte Eschatologie der Propheten wird dadurch relativiert (Mt 8,11-12par.; Lk 4,24-27) 9 - das Reich Gottes wird zum Horizont aller Menschen� Das alles scheint der Bestätigung des Gesetzes zu widersprechen, die im Lukasevangelium neben dem Wort von der Verkündigung des Evangeliums vom Reich Gottes steht (16,17) und ihre Parallele in Mt 5,18 hat: „Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis es alles geschieht�“ Dieses Wort zirkulierte wahrscheinlich unter den jüdischen Anhängern Jesu� Matthäus löste das Problem, indem er die Aussage über die Geltung des Gesetzes dem Doppelgebot der Liebe unterordnete: „An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten“ (Mt 22,40)� Daraus geht hervor, dass die Einhaltung des Liebesgebots die tiefste Intention jedes Buchstabens des Gesetzes erfüllt, wenn es auch wörtlich genommen widersprüchlich erscheinen mag� 10 Dies kann wirklich der Absicht Jesu entsprechen� Auch kann uns die Tatsache, dass die in seiner Gesetzesauslegung enthaltene Spannung ein Teil des Kanons geworden ist, indirekt zur Deutung der Autorität der Schrift in der Kirche verhelfen� Dass das Grundanliegen des Textes eine höhere Norm darstellt als ein einzelner Spruch, gilt auch für die Traditionen über Jesus � In 1Kor 13 (das Hohelied der Liebe) relativiert der Apostel Paulus einen der bestbezeugten Sprüche Jesu über den Glauben, der Berge versetze (Mt 17,20 / Lk 17,6/ - Q; Mk 11,22-23 / Mt 21,21; Thom� Ev� Log� 48), durch den Verweis auf das Liebesgebot (1Kor 13,2b)� 8 D� Sänger, Schriftauslegung im Horizont der Gottesherrschaft (1999), zuletzt in: ders�, Von der Bestimmtheit des Anfangs, Neukirchen-Vluyn 2007, 1-32, hier: 31. 9 Sänger, Schriftauslegung, 26-28. 10 Das war das Ergebnis der Untersuchung von K� Berger, Die Gesetzauslegung Jesu (WMANT 40 / 1), Neukirchen-Vluyn 1972, 390� In Mt 7,12 hält Jesus auch die Goldene Regel für eine Zusammenfassung des Gesetzes� Die biblische Vorgeschichte des Schriftprinzips 147 4. Die frühe christliche Verkündigung und die jüdische Bibel Die (frühen) Christen sahen in der jüdischen Bibel die Vorhersage der ganzen Geschichte Jesu� Praktisch kommt diese Rolle vor allem der jüdischen Bibel in Gestalt der griechischen Übersetzung der Septuaginta zu � 11 Auch die biblischen Apokryphen und Pseudepigraphen und ebenso die Qumrantexte enthalten Kommentare zur Schrift, aber die eindeutige Konzentration auf eine Gestalt, wie es für die christlichen Gruppen charakteristisch war, ist ein spezifisches Phänomen, das von der Einmaligkeit der christlichen Ostererfahrung abhängt� Beispielsweise greift schon die vorpaulinische Identifizierung Jesu mit dem davidischen König (Röm 1,3; 2Tim 2,8) über den biblischen Text hinaus (vgl. z. B. Jes 9,5-6 mit Lk 1,32), weil Jesus als Gott-Held kein weltumfassendes Friedensreich gegründet hat und nicht an die Stelle der ungerechten Herrscher getreten ist� 12 Es handelt sich dabei also um keine Deutung der Aussage des Textes, sondern um dessen Neuinterpretation aus der Sicht eines neuen Ereignisses, das außerhalb des Textes liegt. Eben dieses Ereignis ermöglichte eine neue Deutung des Gesetzes und der Propheten und war später im neutestamentlichen Kanon selbst kanonisiert worden. Dies ist die Grundlage der exegetischen Regel Luthers, wonach alle Bücher der Bibel untersucht werden sollen, „ob sie Christum treiben oder nicht�“ 13 In der Formel des mündlichen Evangeliums aus 1Kor 15,3b-5 ( euaggelion in V� 1) wird die Aussage über Jesu Tod durch die Wendung „nach den Schriften“ ergänzt� Der Zusatz macht deutlich, dass das Zeugnis der jüdischen Bibel in das Evangelium mündet (bzw� dass im Evangelium das Zeugnis der jüdischen Bibel seinen Höhepunkt erreicht), und dass es durch die Bibel unterstützt wird� Anders gesagt: Die Osterverkündigung versteht sich als die wahre Predigt biblischer Texte, die ihre Erfüllung bezeugt� Die jüdischen Christusgläubigen gebrauchten die als prophetische Vorhersage der Rolle Jesu ausgesuchten biblischen Stellen zur Unterstützung ihrer Position unter den Juden� Diese biblischen Belege sollten ihr Bekenntnis zu Jesus als dem schon gekommenen Messias angesichts der jüdischen Erwartung des künftigen Messias rechtfertigen� Bald trat jedoch ein anderes Anliegen in den Vordergrund : Im heidenchristlichen Milieu präsentierte die Kirche die jüdische Bibel als ihre Vergangenheit und als die Vorgeschichte Jesu. Sie hat die jüdische Bibel auf ihrem Weg in die heidnische Welt mitgenommen� 11 Zum Problem siehe H� Hübner, Vetus Testamentum und Vetus Testamentum in Novo, in: JBTh 3 (1988), 147-162, hier: bes. 155. 12 Vgl� hierzu B� S� Childs, Isaiah� Louisville, KT 2001, 66-67. 13 Die These stammt aus Luthers Vorrede zu den Episteln des Judas und Jakobus (WA DB 7,384)� 148 Petr Pokorný Dieser Prozess begann schon in der Zeit, als Paulus das Evangelium in 1Kor 15,3b-5 zitierte, das seine (augenscheinlich nicht selbstverständliche) Schriftgemäßheit betont� In den nachfolgenden zweihundert Jahren musste die Kirche um die jüdische Bibel und ihre Rolle in der christlichen Liturgie kämpfen� Die Lösung von Markion ist allgemein bekannt; weniger deutlich, wie weniger fassbar und weniger scharf konturiert, ist heute die gnostische Einstellung, die die (jüdische) Bibel mehr oder weniger als Negativfolie des Evangeliums betrachtete� Im zweiten Traktat des Großen Seth ( NHC VII / 2) werden die biblischen Gestalten von Adam bis zu den zwölf Propheten als lächerliche Gestalten charakterisiert (vgl. 62-63). Die Bindung des Glaubens an die Geschichte war dadurch aufgelöst, und das Kreuz Jesu - die Lehre von dem „toten Mann“ - als Lüge charakterisiert (60,22)� Hierbei handelte es sich um eine späte Polemik gegen die Großkirche; die Konsequenzen einer Unterschätzung der jüdischen Bibel werden dadurch allerdings angedeutet� In der Unterweisung an Timotheus in 2Tim 3,15-17 lesen wir: „… dass du von Kind auf die heilige Schrift kennst, die dich unterweisen kann zur Seligkeit durch den Glauben an Christus Jesus� Denn alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre, zur Zurechtweisung, zur Besserung, zur Erziehung und der Gerechtigkeit, dass der Mensch Gottes vollkommen sei, zu allen guten Werk geschickt�“ Wir werden hier Zeuge einer Zusammenfassung der Rolle der jüdischen Bibel in der dritten christlichen Generation, einige Jahrzehnte bevor sich die Idee des zweiteiligen christlichen Kanons in der Kirche durchgesetzt hat� Die jüdische Bibel ( Tenak ) wird hier (2Tim 3,15) wörtlich als „die Heiligen Schriften“ ( hiera grammata ) bezeichnet (2Tim 3,16), wie es schon bei Philo (vgl� z� B� De Vita Mosis II ,292) belegt ist� Sie wird als inspiriert, „von Gott eingegeben“ ( theopneustos ) bezeichnet, was man später als Attribut der ganzen zweiteiligen christlichen Bibel verwendet hat� Sie kann zur Rettung (zum Heil) „durch den Glauben an Christus Jesus“ belehren� Dadurch wird die Inspiration an die Person Jesu gebunden� Dieses Modell, wonach die entscheidende Autorität in den heiligen Schriften nur indirekt enthalten ist, konnte nur insoweit funktionieren, als die entscheidenden Traditionen über Jesus lebendig waren� Das ändert nichts an der Tatsache, dass eine wörtliche (buchstäbliche) Inspiration der christlichen Erfahrung widerspricht� 14 14 2Petr 1,21 bezieht sich auf die Rede der Propheten, nicht auf die Schrift� Von dem Anspruch an eine wörtliche Inspiration (Diktat) kann man nur im Koran sprechen� Die biblische Vorgeschichte des Schriftprinzips 149 5. Voraussetzungen und Anfänge des christlichen Kanons Für die Entstehung des christlichen Kanons war die Entstehung des Materials, d� h� des Inhalts, die erste Voraussetzung� 15 Paulus hatte vorausgesetzt, dass seine Briefe den Adressaten - den Mitgliedern der adressierten christlichen Gemeinden - während des Gottesdienstes vorgelesen werden, aber für allgemein gültige Texte für den ständigen liturgischen Gebrauch hat er sie nicht gehalten� Dies blieb späteren Zeiten vorbehalten� Das älteste der synoptischen Evangelien ist das Evangelium nach Markus� 16 Es beginnt mit dem Satz „Anfang des Evangeliums von Jesus Christus (dem Sohn Gottes)“� 17 Seit dem Ende des zweiten Jahrhunderts hat man diesen Satz als eine Einführung des Abschnitts über Johannes den Täufer interpretiert, des Abschnittes also, mit dem das Evangelienbuch beginnt� Dies ist allerdings nicht die ursprüngliche Bedeutung, denn „Evangelium“ bezeichnete damals noch kein Buch oder eine literarische Gattung� Diese Bedeutung ist erst mehr als siebzig Jahre später belegt� So ist in der Apologie Justins des Märtyrers (gestorben um das Jahr 165) zu lesen (1Apol 66,3), dass „die Apostelerinnerungen auch euaggelia genannt werden�“ 18 Sprach man vorher, in der Zeit der Entstehung der Markus-Schrift, von „Evangelium“, so bedeutete dies das mündliche Evangelium von der Auferstehung Jesu� Was Markus (auf-)geschrieben hat, sollte deswegen der Anfang oder die Voraussetzung des Osterevangeliums von der Auferstehung Jesu, also die Geschichte Jesu, seine Biographie sein. In der ersten Zeit nach Ostern war es unnötig, einen solchen Text zu schreiben, weil die Traditionen über Jesus vorhanden waren und einige Menschen ihn noch kannten� Als allerdings neue Generationen nachfolgten und das Evangelium die Grenzen des Judentums überschritt, musste sichergestellt werden, dass man bleibend etwas über die konkrete Person wusste, zu der sich Gott durch die Auferstehung bekannt hatte� Das von Markus verfasste Buch verstand sich demnach als eine Sammlung - mehr noch - als eine Auswahl der Traditionen der Worte Jesu (etwa ein Drittel des Textes) und der Traditionen über Jesus, die 15 J. B. Souček hat in seiner Studie über die Entstehung des neutestamentlichen Kanons „Vznik novozákonního kánonu“ (Prag 1943) die Entstehung des Inhalts, der Idee des Kanons und seiner Begrenzung als die drei Etappen der Entstehung der christlichen Bibel definiert� 16 Siehe dazu P� Pokorný, „Anfang des Evangeliums“� Zum Problem des Anfangs und des Schlusses des Markusevangeliums (1978), zuletzt in: P. Pokorný / J. B. Souček (Hg.), Bibelauslegung als Theologie (WUNT 100), Tübingen 1997, 237-253; ders., From the Gospel to the Gospels (BZNW 195), Berlin / Boston, 2013, bes� Kap� 6� 17 Meine Übersetzung� 18 Die Evangelienüberschriften „Das Evangelium nach …“ könnten einige Jahre älter sein, für die Datierung haben wir allerdings wenig Stützen� Zum Thema siehe M� Hengel, Die Evangelienüberschriften (SHAW 1984 / 3), Heidelberg 1984� 150 Petr Pokorný in diesem Rahmen als Anfang des Evangeliums präsentiert werden� Innerhalb dieser Schrift kommt das Evangelium als Zeugnis von der Auferstehung des hingerichteten und begrabenen Jesus erst in den letzten Versen vor (16,6-7, mit V� 8 endet der ursprüngliche Text)� Sonst ist an den meisten Stellen, wo von euaggelion die Rede ist, das Osterevangelium gemeint (z� B� 10,29; 13,10; 14,9)� Nur in Mk 1,14-15 handelt es sich um das Evangelium vom Reich Gottes, das Jesus verkündigt hat, und das folglich zum Anfang des Osterevangeliums gehört� Der erste Satz des Markusevangeliums gibt also seinen Inhalt kurz wieder� Hinsichtlich des Problems der Entstehung der Idee des christlichen Kanons ist von Bedeutung, dass Markus diesen Satz und gleichzeitig den Titel seines Werkes mit dem Wort archē , begonnen hat� Mit „Am Anfang“ ( en archē, hebr� bereschit ) fängt in der Septuaginta das Buch Genesis an� Dies ist kaum ein Zufall, sondern ein Versuch des Verfassers, die Geschichte Jesu als Neuanfang zu präsentieren, als die Geschichte der neuen Schöpfung und des neuen Adam, zu dem sich Gott bekennt, und der im Unterschied zum alten Adam den Versuchungen des Satans widersteht (Mk 1,13)� Den christlichen Kanon, 19 wie er sich später durchgesetzt hat, konnte der Evangelist noch nicht vor Augen haben� Doch ist der Anfang der Idee des christlichen Kanons mit dem Markusevangelium schon da� Es war ein Gedanke, den die Evangelisten nur angedeutet haben, aber das Bedürfnis, einen für das christliche Zeugnis autoritativen Text zu haben, ist im ersten Vers des Markusevangeliums schon zu spüren� Die schriftlich fixierte Tradition über Jesus war für die entstehende Kirche unentbehrlich� Dies scheint eine gewagte These zu sein, denn noch im Jahr 150 war für Justin „die Schrift“ die jüdische Bibel, die man in der Kirche später Altes Testament genannt hat� Er beruft sich oft auf die Evangelien als „Erinnerungen der Apostel“, aber er illustriert dadurch nur die Autorität von Jesus als dem Herrn� Durch Jesus und durch die Apostel, die sich an ihn erinnert haben, spricht nach Justin (Dial� 119,69) die Stimme Gottes ( phonē theou )� 20 Justin kannte auch die Briefe des Paulus, zitierte diese aber nicht als Autorität� Die Ambition des Markus begriffen jedoch die anderen Autoren kanonischer Evangelien, wenn auch das Modell eines Kanons, der mehrere Evangelien umfasste, ihnen noch fern war� Der älteste Bericht über die Evangelien, der sich augenscheinlich auf ihren liturgischen Gebrauch bezieht, geht auf Papias von Hierapolis zurück (um 130 n� Chr�, bei Eusebius, hist� eccl� III ,39,14-17). Dieser impliziert schon die 19 Das Wort Kanon (griech� kanōn ) hat bei den Kirchenvätern bis in das 4� Jh� die Tradition der Lebensweise bezeichnet, die den „Sitten Jesu“ entspricht� Erst seit der Mitte des 4� Jh� hat es die autoritative Sammlung für die liturgische Lesung bezeichnet; siehe B� Metzger, The Canon and the New Testament, Oxford 1967, 289-293. 20 R� Fialová, „Scripture“ and the „Memoirs of the Apostles“, in: J� Dušek / J� Roskovec (Hg�), The Process of Authority (DCLS 27), Berlin / Boston 2016, 165-177, hier: 174-177. Die biblische Vorgeschichte des Schriftprinzips 151 Idee einer Sammlung mit mehreren Evangelien: Papias’ Bericht über das Markusevangelium, der länger ist als der über das Matthäusevangelium, stellt das Markusevangelium in eine direkte Beziehung zu dem Apostel Petrus, wobei er die Koexistenz beider Texte (er nennt sie noch nicht Evangelien) in der Liturgie voraussetzt� Dabei hat Papias selbst immer der lebendigen mündlichen Tradition den Vorrang vor den schriftlichen Quellen eingeräumt (ebd� 39,4)� 21 6. Der Streit um die Gestalt des christlichen Kanons Das Markusevangelium ist durch die Betonung der Heilsbedeutung des Todes Jesu (Mk 10,45) mit Paulus verbunden und hat sich demnach wohl zunächst in den paulinischen Gemeinden verbreitet� Bald fand es jedoch auch in anderen Bereichen der Kirche Widerhall� Ein weiterer, größtenteils schon schriftlich verbreiteter Text, der sich auf Jesus bezieht, war die Spruchsammlung Q (Logienquelle)� An zwei verschiedenen Orten haben zwei gebildete Christen offensichtlich voneinander unabhängig die Idee gahabt, das Markusevangelium und die Logienquelle in einem Buch zusammenzufassen� Die Logienquelle hat schon zur Zeit der Entstehung des Markusevangeliums existiert, und der Verfasser des Markusevangeliums hat sie wahrscheinlich gekannt, aber nicht als Quelle gebraucht� Die Logienquelle enthält keine Passionsgeschichte, Jesu Tod und Auferstehung werden nicht erwähnt� Das Wort Evangelium kennt sie nicht, nur das Zeitwort euaggelizomai als Charakteristik der Verkündigung Jesu (Q 7,22)� Auch repräsentiert sie eine andere Christologie als die von Paulus zitierten Formeln des Osterevangeliums� Der Grund der Ablehnung der Logienquelle durch das Markusevangelium war also theologischer Natur� In unserem Zusammenhang ist von Bedeutung, dass die anderen Synoptiker die Logienquelle aufgenommen, sie aber der Struktur des Markusevangeliums angepasst haben� Ihre Bücher gipfeln ebenfalls in Tod und Auferstehung Jesu� „Lukas“ und „Matthäus“ haben begriffen, dass die Idee des Markus, die Biographie von Jesus als eine Analogie des ersten Buches des Gesetzes zu präsentieren, der Autorität ihrer Schriften im gottesdienstlichen Gebrauch zugute kommt� Der Anfang des Matthäusevangeliums (Mt 1,1) ist eine direkte Anspielung auf den Anfang und die Geschichten der Bibel (des Alten Testaments): „Das Buch der Genesis Jesu Christi, des Davidsohns, des Abrahamsohns�“ Unmittelbar bezieht sich Mt 1,1 auf die darauffolgende Genealogie Jesu, aber die Analogie 21 Noch Ignatius polemisiert gegen die Autorität der Urkunden ( archeia ), denn seine Urkunde sei Jesus Christus, sein Tod und seine Auferstehung (Ign� Phil� 8,2)� Siehe auch J�A� Dus, Papers or Principles? , in: Dušek / Roskovec (siehe Anm. 18), 151-163. 152 Petr Pokorný zum Buch Genesis ist deutlich� „Das Buch der Genesis“ kann im Matthäusevangelium als das erste Wort gemeint sein, das zur Benennung des ganzen Buches dient� 22 Diese Analogie bedeutet weder, dass das Matthäusevangelium ein Ersatz des Buches Genesis, noch dessen Fortsetzung ist, sondern dass es von einem Neuanfang erzählt� Die Erweiterung der markinischen Vorlage „zurück“, bis zur Geburt Jesu, verleiht dem ersten Satz zusätzliches Gewicht: Die Geburt Jesu ist die wahre Genesis, der wahre Anfang des Osterevangeliums� 23 Matthäus hat allerdings gleichzeitig beabsichtigt, mit seinem Buch das Markusevangelium als gottesdienstliche Lektüre der Christen zu ersetzen� Er erwähnt nicht, dass es seine Quelle war� Die Ambition, einen Text für die gottesdienstliche Lesung zu schreiben, hatte auch „Lukas“� Im Unterschied zu Matthäus spricht er von seinen Vorgängern: Er erwähnt in 1,1-2 „viele“, die es schon „unternommen“ haben, von dem „unter uns“ Geschehenen zu berichten, wie sie es von denjenigen übernommen haben, die „von Anfang an“ Augenzeugen waren� „Unter uns“ deutet auf die Christen seiner Zeit, sodass der Prolog des Lukasevangeliums sich auf das ganze Doppelwerk (Lukasevangelium und Apostelgeschichte) bezieht� Der „Anfang“ referiert hier auf das Auftreten Jesu� Dass er an Markus anknüpft, verrät der Prolog der Apostelgeschichte� Dort lesen wir, dass der erste Band (erste Erzählung; logos ), also das Lukasevangelium, über alles berichtete, was Jesus „begonnen hat ( ērxato ) zu tun und zu lehren“ bis zu seiner Himmelfahrt� Das Leben Jesu, seine Werke und seine Lehre, das alles ist also der Anfang des „Wortes“, dessen Diener die ersten Zeugen (Apostel) geworden sind� Das entspricht der Absicht von Mk 1,1� Das, was folgt, und was bei Markus das eigentliche Osterevangelium war, interpretiert der Verfasser der beiden Bücher ad Theophilum als die Präsenz des „lebendigen“ Jesus „unter uns“ durch den Heiligen Geist (Apg 1,1-3). Lukas schätzt die Augenzeugen, die Diener des Wortes geworden sind, aber er unterscheidet von ihnen seine direkten Vorgänger, deren Werke er relativiert: „Unternehmen“ ( epicheireō ) kann auch mit „versuchen“ wiedergegeben werden und herabsetzend gemeint sein� Der Verfasser des Markusevangeliums, dessen Grundstruktur Lukas übernommen hat, taucht nur als einer unter „vielen“ auf, deren Arbeit jetzt in einem repräsentativen Werk - dem Lukasevangelium - zusammengefasst und interpretiert vorliegt� 22 Vgl� U� Luz, Das Evangelium nach Matthäus (EKK I / 1), Düsseldorf / Neukichen-Vluyn 5 2002, 118� 23 Viel Material zu diesem Thema hat G� N� Stanton gesammelt: Matthew, BIBΛOΣ, EYAΓΓΕΛION or BIOΣ? , in: F� van Segbroeck et alii (ed�), The Four Gospels 1992 (FS F� Neirynck), Leuven 1992, 1187-1201. Der Nachteil seines Beitrags ist allerdings, dass er von der späteren Bedeutung des euaggelion als Buch ausgeht, und ihren Anfang schon bei Matthäus sieht, wobei er den Einfluss von Mk 1,1 nicht erwähnt� Die biblische Vorgeschichte des Schriftprinzips 153 „Lukas“ und „Matthäus“ haben das Markusevangelium auch am Ende erweitert� Bei „Markus“ beschränkt sich die Erzählung (das Narrativ) auf den „Anfang“ des Evangeliums (die Geschichte Jesu), während das Evangelium selbst in der letzten Szene (16,6-7) ledigilich durch ein kurzes Zeugnis vertreten ist, in dem der Leser das Evangelium erkennt, das in 1Kor 15,3b-5 zitiert wird� Im Unterschied dazu bieten die übrigen Synoptiker und das Johannesevangelium auch eine narrative Darstellung der Begegnungen mit dem auferstandenen Jesus, also auch das Evangelium selbst� Im lukanischen Doppelwerk kommt noch als zweiter Band die Darstellung der ersten, idealen Reaktion auf die neue Weise der Präsenz Jesu hinzu� Dadurch war das Material vorhanden, das seiner Funktion nach etwa dem Gesetz und den „vorderen“ Propheten entsprach� Es ist bezeichnend, dass „Lukas“ und „Matthäus“, die beide den Anspruch erkennen lassen, das maßgebliche Buch für den gottesdienstlichen Gebrauch vorgelegt zu haben, neben dem Markus- und dann auch neben dem Johannesevangelium ihren Platz im christlichen Kanon gefunden haben. Die Kanonisierung der vier Evangelien ermöglicht es, besser zu verstehen, dass die Norm für die Orientierung und Wirkung des Glaubens die konkrete Geschichte Jesu ist, an welche sich die vier Evangelien aus vier verschiedenen Blickwinkeln erinnern� 7. Die entscheidende Phase Der letzte Versuch, einen einzigen autoritativen Text über Jesus für den kirchlichen Gebrauch zu etablieren, ist mit dem Diatessaron von Tatian (ca 170-180), einer Harmonie der vier Evangelien, gegeben� Dieses Werk war allerdings nur eine Reaktion auf die liturgische Koexistenz der vier Evangelien, und wenn es auch in Syrien mehr als zweihundert Jahre lang in Umlauf war, konnte es sich gegen den de facto schon existierenden christlichen Kanon nicht durchsetzen� Das Johannesevangelium kann als eine Weiterführung der geistigen Reflexion der Geschichte Jesu aus dem Markusevangelium charakterisiert werden� 24 Zum Beispiel knüpft die Erzählung über Jesus als dem Brot des Lebens in Joh 6 an die metaphorische Geschichte von Jesus als dem einzigen Brot aus Mk 8,14-21 an� Das Johannesevangelium war für einen begrenzten Kreis von Christen bestimmt, für eine Erneuerungsbewegung, und sein Verfasser hatte die Absicht, das Leben der Kirche, besonders seine Auffassung der Taufe und des Herren- 24 Die Hypothese von der Priorität das Johannesevangeliums scheitert an der Analyse der theologischen Reflexion, die bei Johannes an frühere Etappen (bes� Markus) anknüpft� Allenfalls kann man von einigen alten Traditionen sprechen, die das Johannesevangelium, allerdings in seiner Interpretation, bewahrt hat� 154 Petr Pokorný mahls, zu verinnerlichen� Die Eröffnung mit dem Satz „Im Anfang war das Wort“ ( Joh 1,1) bestätigt, dass er die ersten Sätze der synoptischen Evangelien so begriff, wie wir schon dargelegt haben, nämlich als Anspruch auf die Autorität, die die jüdische Bibel ( Tenak ) besaß� Die Analogie mit dem ersten Satz der Septuaginta ist hier eine wörtliche: en archē � Nach 140 n� Chr� hat Markion in Rom seinen Kanon, bestehend aus dem von den angeblichen Judaismen befreiten Lukasevangelium und den leicht revidierten Paulusbriefen, eingeführt� Die Kirche hat den Kanon Markions wegen seines Dualismus und seiner Ablehnung der jüdischen Bibel nicht anerkannt (im Jahr 144 verlässt Markion Rom); der Weg für den endgültigen Sieg des Kanons mit mehreren Evangelien, einschließlich des Johannesevangeliums, war damit geebnet� Die erste uns bekannte, wenn auch spekulative Begründung des vier Evangelien umfassenden Kanons geht auf Irenäus von Lyon zurück (Adv� Haer� 3,11,8): Wenn es vier Gesichter der Cheruben gibt und vier Weltrichtungen, müssen wir auch vier Evangelien haben, so seine Argumentation� Vom Ende des 2� Jahrhunderts stammt der Kanon Muratori, 25 der bereits mit vier Evangelien rechnet und sieben Paulusbriefe enthält� Dies war nicht selbstverständlich, da Markion und Valentin mit anderen Gnostikern die Briefe des Paulus für sich usurpierten (vgl� 2Petr 3,16b)� 26 Da jedoch die paulinischen Gemeinden im Heidenchristentum eine integrierende Rolle spielten - hinter 1Kor 15,3b-5 dürfte ein Verbund von Gruppen stehen, die das darin formulierte Osterevangelium übernommen haben -, erkannten weitere Gruppen die Apostolizität, oder zumindest die herausragende Missionsarbeit (Lk - Apg) des Paulus an� Besondere Bedeutung gewann er aber durch seine Einstellung zur jüdischen Bibel� In ihr hat er Voraussetzungen und Vorbilder seiner Rechtfertigungslehre gefunden: Die Christen sind wahre Nachkommen Abrahams, weil sie seinen Glauben haben (Gal 3; Röm 4)� Gleichzeitig hat Paulus dadurch für die Christen aus den Völkern die Aufnahme des jüdischen geistigen Erbes samt der jüdischen Bibel - des christlichen Alten Testaments - begründet, und zwar dadurch, dass er die Verheißungen der jüdischen Bibel auf Jesus bezogen hat� Die faktische Kanonisierung der Briefe des Paulus unterstützten auch einige seiner Schüler, die sich gegen die gnostischen Tendenzen gewandt haben (1Tim 6,20-21; 2Tim 2,18). Schon zu Beginn des 2. Jh. (also nicht erst mit Markion) ist offensichtlich eine Sammlung seiner Briefe entstanden, die indirekt in 2Petr 3,16 belegt ist� Dies war freilich kein gradliniger Prozess: Mit der Empfehlung der Paulusbriefe im 2� Petrusbrief geht auch die Erwähnung ihres Missbrauchs 25 Hg� von H� Lietzmann, Kleine Texte I, Berlin 2 1933� 26 Belege bei E� Pagels, The Gnostic Paul, Philadelphia 1976� Die biblische Vorgeschichte des Schriftprinzips 155 durch die Häretiker einher� Für den Verfasser ändert das allerdings nichts an der Nützlichkeit der Paulusbriefe, da die Häretiker auch andere „Schriften“ (Bücher der Bibel) missbrauchten� 27 Dies zeugt von der Autorität der Paulusbriefe, die damals schon in mehreren christlichen Gruppen einen autoritativen Rang für den gottesdienstlichen Gebrauch innehatten - wie die „anderen“ Bücher der Bibel� Dass die Paulusbriefe auf gleicher Ebene mit der jüdischen Bibel stehen, bezeugt zugleich, dass der christliche Kanon auch die jüdische Bibel enthielt: das Gesetz, die Propheten und die Schriften� Der christliche Kanon war allerdings keine Erweiterung des Tenak� Träfe dies zu, so müssten die Evangelien etwa nach Nehemia und die Paulusbriefe nach den Propheten stehen� Der christliche Kanon ist eher zu verstehen als das Gegenüber zur jüdischen Bibel, als ihr Pendant, das aus der Sicht der neueren und „letzten“ (eschatologischen) Offenbarung Gottes in Jesus Christus gedeutet werden soll (Hebr 1,1-2). In diesem Zusammenhang ist für uns jedenfalls von Bedeutung, dass man nach 2Petr 3,16 die autoritativen und weisen Texte missdeuten kann, und für die authentische Deutung ist es nötig „in der Gnade des Herrn und Heilands zu wachsen “ (2Petr 3,18)� Es bedeutet, dass es ohne die Kenntnis des Osterevangeliums nicht möglich ist, die christliche Deutung der Schrift zu verstehen� 8. Schlussbetrachtung Das Erstaunlichste und Charakteristischste bei der Entstehung des Kanons der christlichen Bibel ist, dass er schnell und von unten, nicht durch den Beschluss eines kirchlichen Gremiums, entstand� 28 Die Gremien (von den Ortsgemeinden bis zu den Konzilen) äußerten sich erst zu den Grenzen des Kanons� „Von unten“ bedeutet praktisch, dass sich der Grundbestand des Neuen Testaments (vier Evangelien und die Briefe des Paulus) als gottesdienstliche Lesung in den meisten christlichen Gemeinden durch eigene innere Autorität durchgesetzt hat� Die Kirche hat seine Autorität anerkannt (rezipiert) und nicht dekretiert oder bestimmt� Dieser Anfang (Ursprung) des Kanons hilft uns, die Beziehung zwischen den beiden Größen „Bibel“ und „Gemeinde“ als Prozess zu begreifen� Die konfessionelle Zerteilung der Kirche wirft ein Schlaglicht auf die Bedeutung der Bibel, nämlich dergestalt, dass die Theologien der verschiedenen kanonischen Schriften und die Theologien der Konfessionen ineinandergreifen� Dies führte Ernst Käsemann vor mehr als sechzig Jahren zu dem Schluss, dass der neutestamentliche Kanon eher die Fülle verschiedener Konfessionen als die Ein- 27 Der Begriff Häresie war damals vieldeutig: W� Bauer, Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum (BHTh 10), Tübingen 1934, 231-240. 28 Siehe bes. J. B. Souček, Vznik … (siehe oben Anm.15), 6 f. 156 Petr Pokorný heit der Kirche begründet� 29 Wir können noch hinzufügen: Er begründet nicht nur die Vielfalt der Konfessionen, sondern kann auch die Neuinterpretationen des Osterevangeliums inspirieren� Die letzte Etappe der Kanonbildung galt der Abgrenzung der Ränder des Kanons, die bis dahin nicht einheitlich oder eindeutig waren� Allerdings sind die Unterschiede zwischen den größten Kirchen (Katholizismus, östliche Orthodoxie und Protestantismus) nicht entscheidend� 30 Die vier Evangelien konnte man als Beweis der Verlässlichkeit (mehrere Zeugnisse) verstehen und auf die Analogie im Tenak hinweisen, wo 1Sam - 2Kön eine Analogie in 1-2Chr haben� In diesen Texten läuft ein Teil des deuteronomistischen Werkes mit dem chronistischen Werk parallel� Dies ist ein sekundäres Zeugnis dessen, dass die eigentliche Autorität und Norm des Glaubens hinter dem kanonisierten Text, nämlich in den bezeugten Ereignissen liegt� Dieser Autoritätsbegriff hängt vor allem mit der hebräisch-christlichen Auffassung der Offenbarung Gottes zusammen, die sich nicht des Mediums der individuellen Vision, Ekstase oder dergleichen bedient, sondern in Gestalt konkreter Ereignisse geschieht, etwa dem Exodus, der Rückkehr aus dem Exil, dem Auftreten der Propheten und der Geschichte von Jesus� Die göttlichen Offenbarungen sind Teil der Geschichte der Menschheit� Man kann nur im Modus des Zeugnisses auf sie verweisen� Und weil sie ein Teil der Geschichte sind, ist ihr Bezeugen mit Erinnerung verbunden, die schriftlich fixiert ist� Wenn die Evangelien die Geschichte Jesu mehrfach und auf verschiedene Art bezeugen, ermöglicht dies bis heute eine aktive Erinnerung� Der Vergleich der einzelnen Versionen hilft den Lesenden / Hörenden, das Bezeugte von der Sprache des Zeugnisses zu unterscheiden und den Charakter des Geschehens durch historische Kritik besser zu verstehen� Die historische Kritik ist die heute gebräuchliche Methode, die in den biblischen Texten niedergelegte Erinnerung zu erfassen und sie auf diesem Wege von bloßer Phantasie zu unterscheiden� Und weil die Erinnerung ein unentbehrlicher Teil der Begegnung mit der Offenbarung Gottes ist, gewinnt die historische Kritik gerade als profane Methodik eine theologische Bedeutung, sie kann ein Verfahren des Glaubens werden� 31 29 E� Käsemann, Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche? (1951) zuletzt in: ders�, Exegetische Versuche und Besinnungen I, Göttingen 4 1965; J. B. Souček, Einheit des Kanons - Einheit der Kirche (1968), zuletzt in P� Pokorný / ders�, Bibelauslegung als Theologie (WUNT 100), Tübingen 1997, 99-108. 30 Zur Geschichte und Gestalt des Kanons vgl� H� von Campenhausen Die Entstehung der christlichen Bibel�, Tübingen 2 1968, B� M� Metzger, The Canon of the New Testament, Oxford 1987; P� J� Boumis, The Canons of the Church Concerning the Canon of the Holy Scripture, Theologia 67 (2007), 545-602. 31 Dies ist keine anti-wissenschaftliche Einstellung� Die reflektierte Wendung des Glaubens, die zu seiner Orientierung in der Welt gehört, kann Ausdruck der letzten, eschatologi- Die biblische Vorgeschichte des Schriftprinzips 157 Die voranstehenden Einblicke in die Vorgeschichte des christlichen Kanons haben gezeigt, dass der Kanon eine abgeleitete Norm ist� Der Glaube bezieht sich vor allem auf das lebendige Zeugnis von der Präsenz Jesu im Geist ( testimonium internum Spiritus Sancti ), der Kanon ermöglicht hauptsächlich die Orientierung des Glaubens im Leben, in der Geschichte� So kann man pointiert die Auffassung Karl Barths über die Bibel zusammenfassen� Sie ist ein menschliches Wort von der Offenbarung, 32 ein Wort, das mit den Menschen beginnt, die die „einmalige und kontingente“ Funktion der ersten Zeugen hatten� 33 Weil es aber ein menschliches Zeugnis ist, ist es grundsätzlich unabgeschlossen� 34 Nicht in der Sache, wohl aber dem Ausdruck nach� Diese Auffassung kann sich auf verschiedene Arten der Erfahrung mit der Bibel beziehen: Hierzu gehören bereits kleine Änderungen des kanonischen Textes, die in der westlichen Christenheit Gültigkeit haben, Textabweichungen, die in den kritischen Textausgaben dokumentiert sind und teilweise auch in die liturgischen Übersetzungen übernommen wurden� Auffällig ist sodann die Offenheit der Sprache und der literarischen Gattungen, Subgattungen und Tropen (bes� Metaphern) der Bibel, die die Lesenden / Hörenden zum Mitdenken einladen� 35 Entscheidend ist aber vor allem die Offenheit des Textes gegenüber der Sache, gegenüber der Offenbarung, im christlichen Kanon: gegenüber Jesus� Jesus ist nicht mit dem Text identisch, der Text spricht „über“ Jesus, er bezeugt ihn� Daraus folgt auch, dass der Kanon keine einzige, einheitliche Deutung bzw� Erklärung erfährt� Das bedeutet nicht, dass die Deutung des Textes nur vom Interpreten abhängt, wie die Texttheorie der Konstanzer Schule oder der sog� Reader-Response Criticism verstanden werden kann� Jeder Text hat seinen autonomen Kern, der gerade durch die verantwortliche Interpretation deutlich wird� Das Spektrum der Interpretation hat seine deutlichen Grenzen, es handelt sich allerdings um ein Spektrum und nicht um eine eindeutige Mitteilung� Die verschiedenen Deutungen des einen Textes sind jedoch immer grundsätzlich konvergierend oder komplementär, im Falle des neuen Testaments: komplementär in der Deutung der Person Jesu� schen Verankerung der kritischen Bewertung der Geschichte sein� Jede kritische Arbeit muss durch einen elementaren Glauben getragen werden, damit sie sinnvoll ist� 32 Kirchliche Dogmatik I / 2, 512� 33 Ebd�, 539� Die Evangelien stammen zwar nicht von den Aposteln, es handelt sich jedoch um die ältesten christlichen literarischen Zeugnisse, vgl� E� Lohse, Von einem Evangelium zu den vier Evangelien, AAWG, NF 18, Sammelband 3 (2012), 53-76. 34 Ebd�, 532� 35 P� Pokorný, Hermeneutics as a Theory of Understanding, Grand Rapids (MI) / Cambridge U� K� 2011, 37 ff� 158 Petr Pokorný Die Hermeneutik jedes alten Textes ist eine Disziplin, die sich mit dem Schweigen des geschriebenen Textes auseinandersetzt� Unmittelbarer Dialog mit dem Text ist nicht möglich, weil wir ihn nicht (be-)fragen können, wenn wir etwas nicht verstehen, 36 wie es bei einer lebendigen Person der Fall ist� Und die Verdoppelung der Information im Bericht aus verschiedenen Blickwinkeln, wie sie uns in biblischen Texten vorliegt, die geschichtliche Schichtung ihres Textes und vor allem die zauberhafte Fähigkeit der Sprache, sich selbst zu relativeren und „über“ etwas zu sprechen - das alles ist ein fragmentarischer, aber doch wirksamer Ersatz des lebendigen Dialogs� Deswegen begegnen wir in der Geschichte des Kanons der ständigen Spannung zwischen Schrift und Geist� Dies alles scheint eine Relativierung der Autorität der Schrift zu sein, eine Revision der These von Martin Luther� Und doch kann ich zum Schluss ein Wort von Luther zitieren, das kühner ist als unsere bisherigen Überlegungen: „Quod si adversarii scripturam urserint contra Christum, urgemus Christum contra scripturam“ 37 - „Würden die Gegner die Schrift gegen Christus treiben, lasset uns Christus gegen die Schrift treiben“� Dies ist eine für Luther bezeichnende radikale Äußerung, die die Regel sola scriptura allerdings nicht aufhebt� Aus dem Zeugnis der Schrift kann nämlich der Mensch lernen, dass die Quelle des menschlichen Heils und der Hoffnung sich in der Schrift als Schrift nicht erschöpft, sondern im gegenwärtig durch das Zeugnis und Bekenntnis wirkenden Jesus (Christus) liegt, 38 der die eschatologische Zukunft hat. Für diese Erkenntnis ist die Schrift allerdings unentbehrlich. 39 36 Platon, Phaidros 274e-275e� 37 WA 39,1,47� 38 Aus systematischer Sicht behandelt dieses Problem G� Ebeling, Luther, Tübingen 1981, bes. 117-119. 39 This study is a result of the research funded by the Czech Science Foundation as the project GA ČR P401 / 12 / G168 „History and Interpretation of the Bible“� Zeitschrift für Neues Testament Heft 39 / 40 20. Jahrgang (2017) Sola scriptura Eine neutestamentliche Anmerkung 1 Eckart Reinmuth 1. Martin Luther hat Ende 1520, im Jahr vor seinem Auftreten vor dem Reichstag in Worms, in seiner assertio , seiner ‚Wahrheitsbekräftigung’, die grundlegende Forderung erhoben, dass allein die Schrift regieren soll - solam scripturam regnare. 2 Damit war das Zentrum reformatorischen Schriftverständnisses, wie es in der wirkkräftigen Wendung sola scriptura zum Ausdruck kommt, formuliert - eine Kampfformel, 3 gerichtet gegen die Auslegungspriorität von Tradition und Dogma, gegen hierarchisierte Deutungsmacht� 2017 stellt sich die Frage neu, welche theologische Bedeutung dieser Formel zukommt - auch aus bibelwissenschaftlicher, auch aus neutestamentlicher Sicht� Die Reformation hat um eine Unterscheidung gekämpft� Wir sprechen heute formelhaft von einer Unterscheidung zwischen Schrift und Tradition und wis- 1 Ausgearbeitete Version meiner am 20� Januar 2017 in der Universitätskirche Rostock gehaltenen Abschiedsvorlesung� 2 Assertio omnium articulorum Martini Lutheri per bullam Leonis X novissimam damnatorum, WA 7,91-151, hier: 7, 98; mit dt. Übersetzung und Kommentar von S. Rolf in: Martin Luther, lat�-dt� Studienausgabe (LDStA), hg� von W� Härle u� a�, Bd� 1: Der Mensch vor Gott, Leipzig 2006, 71-217. 3 Vgl� A� Beutel, Scriptura ita loquitur, cur non nos? Sprache des Glaubens bei Luther, in: A� Beutel, Protestantische Konkretionen� Studien zur Kirchengeschichte, Tübingen 1998, 104-123, hier: 108: „’Sola scriptura’ war der Schlachtruf der Reformation.“ Luthers Gebrauch der Wendung ist dokumentiert bei Beutel, Erfahrene Bibel� Verständnis und Gebrauch des verbum dei scriptum bei Luther, im selben Band 66-103, 79 (mit Anm. 97). 160 Eckart Reinmuth sen doch, dass bei näherem Hinsehen wesentlich feiner zu differenzieren wäre, wenn die Traditionshaltigkeit des biblischen Kanons und die Vielfalt biblischer Rezeptionsgeschichten in kirchlichen Traditionen berücksichtigt würden� Dennoch: Die Unterscheidung, für die die Reformation gekämpft hat, war zugleich eine substantielle Erinnerung an die unaufgebbare Bedeutung des biblischen Kanons für die christliche Kirche: Kirche sein bedeutet, sich verbindlich auf die Entscheidung für den Kanon zu beziehen und diese Entscheidung andauernd interpretierend zu vollziehen� Der Unterscheidungsprozess zwischen Schrift und Tradition war bereits in der Alten Kirche zu einem relativen Abschluss gekommen� Mitten in einem permanenten Produktionsprozess literarischer Texte war der biblische Kanon bestimmt worden� 4 Die Erinnerungsleistung der Reformation bestand auf der Einsicht, dass die christliche Kirche sich für die biblischen Schriften als das unterscheidende Gegenüber entschieden hat� Kirche sein heißt, sich interpretierend auf den biblischen Kanon zu beziehen� 5 Kirche existiert in diesem ständigen Interpretationsprozess� Er ist ihr Kraftquell� Er ist ihre einzige gesellschaftliche Legitimation� Die Reformation hat daran erinnert, dass der Singular scriptura die Voraussetzung impliziert, die Kanonwerdung als Konstruktionsprozess inmitten einer unabgeschlossenen Literaturproduktion zu begreifen, der aus vielen Schriften die eine ‚Schrift’ werden ließ� Das reformatorische sola scriptura impliziert folglich den Umstand, dass es den Singular scriptura nie gegeben hat� Die ‚Schrift’ gibt es nur im Plural, von Anfang an� Ihr Singular ist ein Interpretament, mit dem Einheitlichkeit, Ursprünglichkeit, Maßgeblichkeit gesichert werden sollen� Von Beginn an begleitet die Kirchen und Christentümer der Plural der Worte, der Meinungen und Gruppen, der Schriften, Texte und Quellen, der argumentativen Profile und narrativen Versionen� Ebenso von Beginn an sehen wir Tendenzen und Prozesse der Sinnsicherung, die z� B� mittels Verschriftlichung, Kanonisierung, Autorisierung kirchlicher Auslegungstraditionen auf die Vereinheitlichung und 4 M� Oeming, Das Hervorwachsen des Verbindlichen aus der Geschichte des Gottesvolkes� Grundzüge einer prozessual-soziologischen Kanon-Theorie, ZNT 12 (2003), 52-58; H. von Lips, Der neutestamentliche Kanon� Seine Geschichte und Bedeutung, Zürich 2004; Chr� Markschies, The Canon of the New Testament in Antiquity� Some New Horizons for Future Research, in: M� Finkelberg / G� G� Stroumsa (Hg�), Homer, the Bible, and Beyond� Literacy and Religious Canons in the Ancient World (JSRC 2), Leiden / Boston 2003, 175-194; E�-M� Becker, (Hg�), Kanon in Konstruktion und Dekonstruktion� Kanonisierungsprozesse religiöser Texte von der Antike bis zur Gegenwart; ein Handbuch, Berlin [u� a�] 2012; M� Ebner, Der christliche Kanon, in: M� Ebner / St� Schreiber (Hg�), Einleitung in das Neue Testament (KStTh 6), Stuttgart 2 2013, 9-52. 5 Vgl� E� Reinmuth, Der Kanon des Neuen Testaments und die Ethik der Interpretation, in: Neues Testament, Theologie und Gesellschaft� Hermeneutische und diskurstheoretische Reflexionen, Stuttgart 2012, 29-42. Sola scriptura 161 Instrumentalisierung von Deutungsmacht abzielen� Dabei ist an die vielfältigen, bereits im Neuen Testament zu findenden Versuche und Formen zu erinnern, ‚den’ Sinn der Schrift zu bestimmen und zu sichern, 6 seien es die Bemühungen um eine regula fidei in der Alten Kirche, sei es die Bedeutung des Katechismus in seinen drei Hauptstücken als Zusammenfassung des Schriftinhalts, 7 sei es die Rolle der Bekenntnisschriften in den protestantischen Kirchen oder die Suche nach einer Mitte der Schrift oder gar nach einem Kanon im Kanon� Die reformatorische Wendung sola scriptura setzt mit dem Singular den biblischen Kanon in seiner Vielfalt und Widersprüchlichkeit als kritisches Gegenüber zur gegenwärtigen Praxis von Kirche und Glaubenden voraus� Mit dem relativen Abschluss des Kanons in der Alten Kirche schuf die Kirche sich eine abgegrenzte und doch multiple Größe, deren Interpretation sie nun zu ihren wesentlichen Aufgaben zählte� Sie schuf sich damit die entscheidende Möglichkeit, sich in Auseinandersetzung mit den biblischen Schriften kritisieren, erneuern, ja eigentlich immer wieder finden und begründen zu können� Die zitierte klassische Formulierung solam scripturam regnare zielt darauf ab, dass die Kirche die Bibel sich selbst wie der Gesellschaft gegenüber immer wieder kritisch in Anschlag zu bringen hat� 8 6 Vgl� den richtungsweisenden Aufsatz von W� H� Kelber, Die Fleischwerdung des Wortes in der Körperlichkeit des Textes, in: H�-U� Gumbrecht / K� L� Pfeiffer (Hg�): Materialität der Kommunikation (stw 750), Frankfurt a. M. 1988, 31-42. 7 Vgl� A� Beutel, Erfahrene Bibel, a� a� O� (Anm� 3), 69� Beutel verweist a� a� O�, 70 darauf, dass Gleiches für das christliche Credo gelte: Luther kann „selbst das Credo, das den Glauben an Christus bekennt, als ‚Bibel’ bezeichnen�“ 8 Ulrich Luz hat 1997 auf die ökumenische Dimension dieses Sachverhalts hingewiesen; vgl� ders�, Was heißt sola scriptura heute? Ein Hilferuf für das protestantische Schriftprinzip, EvTheol 57 (1997), 28-35, hier: 35; vgl. ähnlich z. B. den Hinweis von Klaus Berger und Christiane Nord in: Das Neue Testament und frühchristliche Schriften� Übersetzt und kommentiert von Klaus Berger und Christiane Nord, Frankfurt am Main 1999, 13 f� Prof. Dr. Eckart Reinmuth, 1951 in Rostock geboren, studierte Evangelische Theologie in Greifswald, wurde 1981 in Halle promoviert und habilitierte sich 1992 in Jena� Er war Gemeindepastor in Mecklenburg und Professor für Neues Testament an der Kirchlichen Hochschule Naumburg und der Universität Erfurt� Von 1995 bis 2017 lehrte er an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock� 162 Eckart Reinmuth Das setzt voraus, dass keine Autorität die Interpretation der Bibel dominieren darf außer sie selbst - sacra scriptura sui ipsius interpres � 9 Keine Interpretation eines biblischen Textes darf sich auf eine Autorität berufen, die ihr die Verantwortung für das eigene Verstehen abnehmen dürfte� Keine wie auch immer geartete kirchliche Theologie darf ‚die Schrift’, d� h� die Interpretation der biblischen Schriften dominieren� Diese Interpretationsarbeit darf weder das hinter den Texten hypothetisch Erschlossene noch das interpretatorisch aus den Texten Erschlossene zur maßgeblichen Wahrheit erklären� Die akademische Theologie und mit ihr die Bibelwissenschaften dürfen sich als logische Konsequenz des reformatorischen Schriftprinzips verstehen� Deshalb ist dafür zu werben, das sola scriptura als integrierendes Moment theologischen und näherhin bibelwissenschaftlichen Selbstverständnisses und einer theologisch stetig zu leistenden Selbstaufklärung bzw� Selbstverständigung namhaft zu machen und zu beanspruchen� Programmatisch ist den beiden Bibelwissenschaften damit eine hohe Verantwortung aufgegeben� Aus diesen knappen Vorüberlegungen ergeben sich aktuelle Fragen� Ist das Prinzip des sola scriptura auch heute als kritische Instanz zu verstehen? Wie verhält sich der Singular ‚Schrift’ zur biblischen Vielstimmigkeit? Welche Bedeutung hat diese Vielstimmigkeit für die gegenwärtige Bedeutung des sola scriptura ? 2. In den apokryphen Petrusakten, einer Schrift aus der Zeit um 200, werden wir in die fiktive Situation der römischen Gemeinden im erzählerischen Anschluss an die Apostelgeschichte geführt� 10 Es wird von einem römischen Senator namens Marcellus erzählt, der Christ wurde und ein wichtiger Förderer der Gemeinde war� Er wird jedoch von Simon Magus, dem großen Zauberer, dessen literarische Karriere in der Apostelgeschichte beginnt (vgl. Apg 8,9-24), dazu gebracht, vom Glauben abzufallen� Petrus, schon in der Apostelgeschichte Simons erfolgreicher Antipode, kommt dahinter und deckt den Skandal auf� Marcellus bittet ihn um seine Fürbitte bei Christus und versucht, seinen Abfall verständlich zu 9 Vgl� dazu E� Reinmuth, Der Schlüssel� Hermeneutische Überlegungen zur Biblischen Theologie, in: Vom Menschen� Die letzte Ringvorlesung der Kirchlichen Hochschule Naumburg mit einem Rückblick auf ihre Geschichte 1949-1993, Naumburg 1993, 93-102. 10 Vgl� F� Bovon, Die kanonische Apostelgeschichte und die apokryphen Apostelakten, in: J� Frey / C� K� Rothschild / J� Schröter (Hg�), Die Apostelgeschichte im Kontext antiker und frühchristlicher Historiographie (BZNW 162), Berlin / New York 2009, 349-379; O. Zwierlein, Petrus und Paulus in Jerusalem und Rom� Vom Neuen Testament zu den apokryphen Apostelakten (= Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 109), Berlin 2013� machen� Er verweist darauf, dass er im Glauben noch keinen festen Stand gehabt habe, und erinnert Petrus an Jesu Wort vom Glauben wie ein Senfkorn (Mt 17,20) - wie auch an den Zweifel, den Petrus selbst von seinem Seewandel her kenne (Mt 14,28 ff�)� Abschließend fügt Marcellus seiner Argumentation einen merkwürdigen Satz hinzu, den Jesus gesagt habe und aus dem ja hervorgehe, dass selbst die Apostel mit Unverstand auf Jesus reagiert hätten: Qui mecum sunt, non me intellexerunt - die mit mir sind, haben mich nicht verstanden� 11 Was für ein bestürzendes Wort� Die Herkunft dieses sogenannten Agraphons 12 ist unklar� Es wirkt wie eine konzentrierte Zusammenfassung des Unverständ- 11 Actus Petri cum Simone = Actus Vercellenses, Kap� 10� Der Text findet sich in R� A� Lipsius: Acta Apostolorum Apocrypha 1, Darmstadt 1959, 45-103; eine deutsche Übersetzung in: W� Schneemelcher (Hg�), Neutestamentliche Apokryphen II: Apostolisches, Apokalypsen und Verwandtes, Tübingen 6 1997, Die Akten des Petrus 256-289; ders., Petrusakten: ebd., 252-255 (Abschnitte 4-6) und jetzt in B. Lang, Die Taten des Petrus, Kleine Bibliothek der antiken jüdischen und christlichen Literatur (Hg� Jürgen Wehnert), Göttingen 2015, 52� 12 In der traditionellen Fachsprache neutestamentlicher Wissenschaft handelt es sich bei einem Agraphon um ein Jesus zugeschriebenes Wort, das nicht Aufnahme in die kanonischen Evangelien fand und daher als „ungeschrieben“, nicht in den Evangelien verschriftlicht, galt: „Ein Agraphon ist ein dem irdischen Jesus zugeschriebener Ausspruch, der in der ältesten Fassung der vier kanonischen Evangelien nicht überliefert ist�“ (O� Hofius, Unbekannte Jesusworte, in: P� Stuhlmacher [Hg�], Das Evangelium und die Evangelien [WUNT 28], Tübingen 1983, 355-382, hier: 355). Die Probleme dieses theologischen Fachwortes sind vielfältig� Es erweckt u� a� den falschen Eindruck, als seien tendenziell die außerhalb der Evangelien überlieferten Jesusworte nicht authentisch, während dies für die Jesusworte in den Evangelien vorauszusetzen wäre� Die zitierte Definition schließt verschiedene Rubriken von Worten aus, z� B� solche, die dem präexistenten oder auferstandenen Jesus Christus zugeschrieben werden, solche, in denen er alttestamentliche Worte oder gar eigene kanonische zitiert bzw� variiert� Leitendes „Auswahlkriterium“ für die Beurteilung ist „ein Ausscheidungsverfahren …, das diejenigen Agrapha zu ermitteln sucht, die inhaltlich und überlieferungsgeschichtlich den Jesusworten der synoptischen Evangelien an die Seite gestellt werden können�“ (O� Hofius, Außerkanonische Herrenworte, in: Chr� Markschies / J� Schröter u� a� [Hg�], Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung. Band I, Tübingen 2012, 184-208, 187). Offensichtlich soll mit einem Logienbestand gerechnet werden, der überlieferungsgeschichtlich in die Nähe eines historischen Jesus führt, so dass erwogen werden könne, ob mit einigen wenigen Logien (vgl. Hofius in: Markschies / Schröter, 188 f.: „Agrapha Nr. 5-7“) „authentische Jesusworte vorliegen�“ (ebd�; vgl� ders�, O� Hofius, Art� Agrapha, TRE 2, 1978, 103-110, 108 f. sowie ders�, Versprengte Herrenworte, in: W� Schneemelcher [Hg�], Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, Band 1, Tübingen 1987, 76-79, 78). Wenn Ruben Zimmermanns Vermutung zutrifft, „je nach Forschungsinteresse und hermeneutischen Voraussetzungen (werde) die Auswahl und Wertung der Agrapha ausfallen“ (ders�, Parabeln unter den Agrapha, Einleitung, in: R� Zimmermann [Hg�], Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, 935-939, 937), steht die Frage nach der wissenschaftlichen Kommunizierbarkeit und Belastbarkeit dieses Fachbegriffs im Raum� Hinsichtlich der Thematik Sola scriptura 163 164 Eckart Reinmuth nisses der Jünger, das bereits in den kanonischen Evangelien (vgl� z� B� Joh 14,9) 13 und insbesondere dem Markusevangelium (4,13; 7,18; 8,17 ff.32f; 9,19) herausgearbeitet wird� 14 Das Markusevangelium thematisiert mit dem Nichtverstehen der Jünger ein grundsätzliches theologisches Problem� Der Weg Gottes in die Tiefe, in die Verlorenheit und Rettungslosigkeit der Menschen, die unter der Macht von Feindschaft, Selbstzerstörung und Hass stehen, muss den Menschen unbegreiflich bleiben� dieses Aufsatzes ist zu fragen: Dürfen wir weiterhin die stillschweigende Voraussetzung akzeptieren, mit dem Kanonischen sei zugleich die Gewähr des Historisch-Authentischen gegeben? Legitimiert das sola scriptura die Konstruktion eines historischen Jesus? Tobias Nicklas hat zu dieser Problematik 2006 in einer ausgeführten Thesenreihe das Nötige ausgeführt (T� Nicklas, Zur Problematik der so genannten „Agrapha“: Eine Thesenreihe, Revue Biblique 113 [2006], 78-93). Er wies u. a. auf die traditionsgeschichtlichen Konsequenzen des Umstands hin, dass „im Grunde jedes Herrenwort, das sekundär Eingang in Handschriften des Neuen Testaments gefunden hat, bereits durch seinen Kontext unter dem Einfluss schriftlicher Jesustraditionen“ stehe (81)� Die Vorstellung, „es habe sich im frühen Christentum über lange Zeit hinweg so etwas wie ein reiner Strom durch schriftliche Überlieferungen unbeeinflusster Mündlichkeit halten können, dass also von zumindest einzelnen echten ‚Agrapha’ ein direkter Zugang zu den Quellen mündlicher ‚Ur-Traditionen’ bestehe,“ lasse sich so nicht mehr halten (81)� Nicklas stellt fest, dass „ jede christliche Jesusüberlieferung aus nachösterlicher Perspektive tradiert und motiviert“ worden ist (83, Kursivierung original)� 13 Otfried Hofius bezieht das Wort prominent auf Joh 14,9, weil der Autor der Petrusakten das Johannesevangelium „gekannt und benutzt hat“ (Hofius, Unbekannte Jesusworte [vgl� Anm� 12], 367), und er verweist zusätzlich auf die entsprechende Formulierung der Vulgata (367 f�), ohne dass deren argumentativer Wert ersichtlich würde� Der Autor der Petrusakten bezieht sich indessen keineswegs lediglich auf das Johannesevangelium� Im unmittelbaren Umfeld unserer Stelle wird begründend das Matthäusevangelium zitiert� Überdies gerät leicht aus dem Blick, dass dieses Logion der Petrusakten der markinischen Konzeption des Jüngerunverständnisses weit mehr entspricht� Die johanneische Konzeption des Jüngerunverständnisses läuft in aufnehmender und weiterführender Auseinandersetzung mit der markinischen Position darauf hinaus, dass sich für die Jünger mit der Erhöhung Jesu die Rätsel seines irdischen Weges klärten (vgl� Joh 2,22; 12,16; 14,26 [nachösterliche Rolle des Parakleten]; 20,9), während Markus den bleibenden Skandal des Unverständnisses der Jünger artikuliert� 14 Zu erwähnen wäre daneben das vorläufige Nichtverstehen einschließlich der literarischen Ironie und kalkulierter Missverständnisse wie z� B� im Johannesevangelium (vgl� die vorige Anm.), die Apologien des Nichtverstehens (bzw. Nichtglaubens) in Mk 16,9-14, die Rhetoriken des gescholtenen Unverstands (z� B� Hebr 5,12 f�; 1Kor 3,2: Milch vs� feste Nahrung)� Die Reflexion des Nichtverstehens reicht weit in die biblischen Schriften Israels zurück (Dtn 32,28 f�; Ps 106,7; Jes 6,9 f�)� Markus schildert das Unverständnis der Jünger so, dass die Adressaten seines Evangeliums es besser wissen können� 15 Sie werden aufgefordert, Jesu gewaltlosen Weg zu verstehen, besser, als es den Jüngern gelang� Oder hätten ihn gerade die verstanden, die ihn zu Tode brachten (vgl. z. B. Joh 19,19-22) - oder gerade nicht (vgl� z� B� 1 Kor 2,8)? - Oder die Gleichgültigen, die lieber nichts mit solchen selbstgefährdenden Ideen zu tun haben wollten? Oder die, die in Jesu Tun Blasphämie sahen und ihren Gott nicht in den Schmutz ziehen lassen wollten? Der Philosoph Hans Blumenberg (1920-1996) hat diesem Jesuswort im Mund des Marcellus einige nachdenkliche Zeilen gewidmet� In seinem Nachlass fand sich unter den ‚Notizen zum Atheismus’ ein Text, dessen Titel auf das oben problematisierte Fachwort ‚Agraphon’ anspielt: ‚Aus dem Ungeschriebenen’� 16 Der Kern von Blumenbergs Verständnis lautet: „Wer mir zustimmt und nachfolgt, bezeugt eben dadurch, dass er mich nicht verstanden haben kann� Und das muss auch so sein� Wo der Sendling des Vaters, der Bote aus einer anderen Welt gesprochen hat, muss jede Überzeugung, seine Botschaft verstanden zu haben, ein frommes Missverständnis sein�“ Gleiches gälte schließlich für Philosophen wie Sokrates� Aber Blumenberg plädiert nicht für eine resignative Auslegung, die „eine kaltschultrige Zurückweisung verächtlicher Mitläufer“ wäre: „Es genügt, mit ihm zu sein, auch wenn man dadurch zum Zeugen wird für das Unerfüllbare� Anders gesagt: Keiner hätte jemals mit diesem Jesus aushalten können, hätte er die Zumutungen verstanden, die in seinen Worten und Forderungen enthalten waren� Man hielt es nur mit ihm aus, wenn man ihn nicht verstand und indem 15 Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an die Verwendung von Jes 6,9 f� in Mk 4,12� Der markinische Gleichnisdiskurs soll offenbar zu verstehen geben: Eine reine Unterscheidung von Verstehenden und Nichtverstehenden ist nicht möglich (vgl� dazu zuletzt K� Dronsch, Uneins sein� Mediologische Einfälle narrativer Identität in den Evangelien, in: St� Alkier / Chr� Böttrich [Hg�], Neutestamentliche Wissenschaft in gesellschaftlicher Verantwortung. Studien im Anschluss an Eckart Reinmuth, Leipzig 2017, 110-123,120 f.). Es sei denn, man wolle meinen, die Drinnen würden alles und die Draußen nichts verstehen� Genau dieses Verständnis wird mit dem Gleichniskapitel Mk 4 aufgebrochen� Bereits 1,22 macht deutlich, dass Jesu Lehre schlicht Entsetzen auslöst� Das wiederholt sich: z� B� 4,41; 5,15�42; 6,51� Sie löst auch deshalb Entsetzen aus, weil Jesus wie jemand spricht, der dazu ermächtigt ist (1,22)� Wir können bei Markus eine doppelte Bewegung ausmachen; sie hält christliches Bekenntnis in markinischer Perspektive in Bewegung� Gemeint ist einerseits der Skandal dieses Gottes am Kreuz, und andererseits der immer wieder scheiternde Versuch, diese unausdenkbare Paradoxie sprachlich zu erfassen und zu kommunizieren� 16 H. Blumenberg, Notizen zum Atheismus, Neue Rundschau (2 / 2007), 154-160, 154 f. („Aus dem Ungeschriebenen“)� Sola scriptura 165 166 Eckart Reinmuth man sich der schönen Täuschung überließ, man habe ihn verstanden und dem Verstandenen genügt�“ 17 Das Jesus zugeschriebene Wort ist kompromisslos� Es lässt nicht die Möglichkeit zu, Jesus vielleicht doch noch richtig verstanden zu haben� 18 Es macht eine Erfahrung, eine Befürchtung und Einsicht der Späteren deutlich: Schon von Anfang an steht zur Frage, wer Jesus wirklich war, und ob die, die um ihn waren, das überhaupt verstanden haben� Es wird strittig bleiben, so war offenbar die Überlegung, wer Jesus wirklich war� Was sein Weg bedeutete� Ob er diesen Weg geplant hatte oder ihm ausgeliefert war� Ob er ein auf Erden wandelnder Gott oder ein zu Unrecht Gott beanspruchender Mensch war� Ein Prophet wie so viele� Und gescheitert wie sie� Das Wort legt den Schluss nahe: Es bleibt letztlich unentscheidbar� Oder sollte das Wort lediglich die unmittelbaren Begleiter Jesu tadeln, das Verstehen der Späteren aber gerade von ihrem Unverständnis abheben? Sind wir es, die Jesus richtig verstehen, waren es die, die ihm dies Wort zuschrieben? Als der markinische Petrus beteuert, mit Jesus durch Dick und Dünn zu gehen und sogar zu sterben, hat er offensichtlich von seinem Mut eine andere Vorstellung als Jesus (Mk 14,29-31). Petrus geht davon aus, dass es darum geht, 17 Dieser Gedanke wird dann geschichtstheoretisch transformiert: „Wir halten es nur aus, Geschichte zu haben und auf ihr zu insistieren, weil wir sie nicht verstehen�“ Eine andere Dimension des Nichtverstehens sah Franz Overbeck (1837-1905). Overbeck war der Meinung, dass die Kanonwerdung der biblischen Schriften das Ergebnis wachsenden Unverständnisses gewesen sei: Weil man die ursprünglich nur für ihre Zeitgenossen geschriebenen Texte nicht mehr verstand, kanonisierte man sie� In seiner denkwürdigen Gedankensammlung ‚Christentum und Kultur’ notierte er: „Die christliche Urliteratur ist darum für spätere Geschlechter und noch für uns so schwer verständlich, weil sie es für ihr ursprüngliches Publikum so unmittelbar war� … Indem sie … versäumte, sich den Anschluß an die Weltliteratur zu sichern, ist sie von der Kirche kanonisiert worden: das will sagen, die Nachwelt hat darauf verzichtet, sie zu verstehen, und sich vorbehalten, sie auszulegen.“ F. Overbeck: Werke und Nachlaß, Stuttgart 1994-2010; Band 6.1 (2002): Christentum und Kultur (kritische Ausgabe des 1919 von C� A� Bernoulli kompilierten Nachlassmaterials), 56� In seinem ‚Kirchenlexikon’ (F� Overbeck, a� a� O� Bd� 5 [1995], 433) vermutet Overbeck, „dass man in der Kirche den Kanon aufstellte genau in dem Moment, wo man von den Schriften, aus denen er bestand, nichts mehr verstand …“ (vgl� dazu 65�425�629)� 18 Damit ist anderes gemeint als das Unverständnis, mit dem biblischen Texten oft begegnet wird; vgl� dazu S� Luther / R� Zimmermann, Bibelauslegung als Verstehenslehre, in: dies� (Hg.), Studienbuch Hermeneutik, Gütersloh 2014, 13-72. Sie verweisen auf Schwierigkeiten des Verstehens (15) und bezeichnen den gegenwärtigen Relevanzverlust der Schrift als „Unverständnis“, das „zugleich zum Katalysator der Verstehenslehre, ja sogar der hermeneutischen Kompetenz werden“ könne (ebd�)� Ihr hermeneutischer Optimismus bezieht sich vornehmlich auf „sachlich-logische Widersprüche, Zweifel an historischer Zuverlässigkeit und Relevanzverlust“ (a� a� O� Anm� 5)� Jesus mit Waffengewalt zu verteidigen und bei diesem Kampf vielleicht den Tod zu finden� Jesus indessen weiß, dass er sich nicht verteidigen lassen wird� Und er weiß, wer ihn genau versteht� Die Dämonen schreien es heraus: Was willst du von uns, Jesus von Nazareth? Du bist gekommen, uns zu vernichten� Ich weiß, wer du bist: der Heilige Gottes! 19 Jesus ließ die Geister nicht reden; denn sie kannten ihn� 20 Und wenn ihn die unreinen Geister sahen, fielen sie vor ihm nieder und schrien: Du bist Gottes Sohn! 21 Was ist aus diesen Überlegungen zu folgern? Sie markieren auf der einen Seite einen Bereich der Unentscheidbarkeit, und sie reklamieren zum anderen eine Entschiedenheit� Blicken wir auf das mit dem Jesuswort festgestellte Nichtverstehen, so bleibt fraglich, welches spätere Verstehen denn ‚richtig’ verstanden haben soll� Blicken wir auf unsere eigene Verstehensarbeit, so sehen wir, dass sie nicht bei dieser als anfänglich imaginierten Unentscheidbarkeit verbleibt, sondern bei den Entscheidungen, die sich in Überlieferungen, Reflexionen und Verstehensversuchen manifestieren� Wir beanspruchen folglich nicht, den Jesus dieses Wortes besser zu verstehen, sondern bauen auf diejenigen, die seine Geschichte zu verstehen versuchten� Sie kam ihnen immer schon in der Form von Überlieferungen, Reflexionen und Verstehensversuchen zu� Wir setzen uns also gleichsam mit einer ‚Entschiedenheit in der Unentscheidbarkeit’, mit einer entschiedenen Unentscheidbarkeit auseinander� Zugleich gerät das, was wir verstanden zu glauben haben, wiederum in die Bereiche der Unentscheidbarkeit� Es gerät in die Diskursivität 22 alternierender Interpretationen, die ihrerseits je ein zutreffendes Verstehen für sich reklamieren� Was wir an unserer Interpretationsarbeit als spannungsvoll, gar widersprüchlich erleben, gilt bereits für die Texte des Neuen Testaments� Auch sie sind sämtlich Interpretationstexte, Kommentartexte, Hinweistexte� Ihr ‚Text’ ist die Geschichte Jesu Christi� Unsere Interpretationsarbeit bezieht sich auf die Interpretationsarbeit, die wir in den neutestamentlichen Texten antreffen� Unser Verstehen oder Nichtverstehen ist in mehrfacher Weise gebrochen� Und es ist gerade in dieser Gebrochenheit auf mehrfache Interpretationsprozesse bezogen� Mit ihnen setzt sich unsere Arbeit auseinander, nicht unmittelbar mit einem 19 Ti hēmin kai soi, Iēsou Nazarēne; ēlthes apolesai hēmas; oida se tis ei, ho hagios tou theou , Mk 1,24� 20 Ouk ēphien lalein ta daimona, hoti ēdeisan auton, Mk 1,34� 21 Kai ta pneumata ta akatharta, hotan auton etheōroun, prosepipton autō kai ekrazon legontes hoti sy ei ho hyios tou theou , 3,11� 22 An dieser Stelle ist die grundsätzliche Forderung zu betonen, dass die Methodik der Textinterpretation im Rahmen wissenschaftlicher Theologie in gleicher Weise kommunizierbar sein muss wie die anderer Disziplinen; vgl� dazu E� Reinmuth / K�-M� Bull, Proseminar Neues Testament� Texte lesen, fragen lernen, Neukirchen-Vluyn 2006, 88� Sola scriptura 167 168 Eckart Reinmuth hinter den Texten hypothetisch erschlossenen historischen Jesus� Folglich lautet die kritische Frage an die Texte nicht, wieweit sie dem entsprechen, was in historischer Hinsicht über Jesus ausgesagt werden kann� Mit dieser Frage wurden die Texte oft gegen ihre offenkundige Absicht nach einem ihnen fremden Kriterium beurteilt� In der Annahme, mit dem historischen Jesus ein gleichsam objektives geschichtliches Faktum zu besitzen, das zutreffender sei als die in den Diskursen der frühen Gemeinden entstandenen Texte, wertete man diese gegenüber der vermeintlichen Wahrheit der Geschichte ab� 23 Dieser Weg hat sich als nicht gangbar erwiesen� Immer wieder wurde die Suche nach einem gleichsam objektiven Kriterium der Schriftinterpretation enttäuscht� Die Vielstimmigkeit des Neuen Testaments, von der eingangs die Rede war, die Konfliktivität seiner Schriften und Texte, gehört zu den unhintergehbaren Voraussetzungen seiner Interpretation� Sie reicht von bekannten und weniger bekannten Widersprüchen in der sachlichen Referentialität - vgl� z� B� die Frage des Geburtsortes, der Eltern bzw� der Mutter, des Todesdatums Jesu - über antagonistische Positionen - vgl. z. B. Röm 13; 1Tim 2,1-6 mit Apk 13; Lk 4,6; vgl. Jak 2,14-26 mit Röm 3,20-4,25 24 - bis zu dem literaturtheoretischen Sachverhalt, dass unterschiedliche Texte nur über den Preis ihrer Literarizität, ihrer literarischen Autonomie harmonisiert, gleichsam zu einem Text gemacht werden können� Die Frage, ob und gegebenenfalls welche neutestamentlichen Schriften oder Texte Jesus ‚richtig’ verstanden haben könnten, führt vor diesem Hintergrund kaum weiter� Es reicht also nicht aus, die Vielstimmigkeit der neutestamentlichen Schriften, des neutestamentlichen Kanons hervorzuheben; nein, es geht vielmehr darum, diese Vielstimmigkeit auch in ihrer Widersprüchlichkeit, als Spannungsreichtum, zu verstehen und diese Konfliktivität als integrierendes Element des sola scriptura zu würdigen� 3. Luther kannte die contraria der Schrift zur Genüge - Widersprüchliches, das sich gerade nicht im Text der Schrift, also etwa mit Hilfe einer schlagenden Bibel- 23 A� a� O�, 87� 24 Nicht zu übersehen die Vorwürfe des Nichtverstehens oder Falschverstehens, die sich schon im Neuen Testament an diejenigen richten, die anderer Meinung sind - Juden, „Irrlehrer“ usw� Wir haben nicht nur an die Kontroversen zu denken, für die beide Meinungen aufbewahrt wurden, sondern auch an die, von denen nur die siegreiche Stimme hörbar blieb� stelle auflösen ließ� Dabei ist zu bedenken, dass Martin Luther primär von christologisch verstandenen Gegensätzen im Neuen Testament und darüber hinaus in der ganzen Bibel sprach� Er hat die zusammengehörige Polarität zwischen Gott und Mensch in Jesus Christus radikal gedacht und zum Ausdruck gebracht� 25 Erst vor diesem Hintergrund wird seine Rede von den durchaus substantiellen biblischen contraria verständlich� Luther hatte als Bibelwissenschaftler den Spannungsreichtum, die Widersprüchlichkeit, ja Unvereinbarkeit biblischer Aussagen und Positionen hinlänglich studiert� Diese contraria mussten jede formale Vereinheitlichung zum Scheitern verurteilen� Auch für ihn ist die Bibel als Sammelwerk unterschiedlicher Texte, Quellen, Überzeugungen, Abfassungszeiten, auf der Textoberfläche auf keinen einheitlichen Nenner zu bringen� Es ging Luther vielmehr darum, die biblischen contraria so zusammenzustellen, dass sie sich in einer collatio gleichsam gegenüber stehen, so dass sie einander sachlich zugeordnet werden können� Jun Matsuura hat eindrücklich gezeigt, wie Luther diesen biblischen Widersprüchen nicht ausweicht, sie übersieht oder ausblendet, sondern sie mit Hilfe des biblischen Modells der Bundeslade würdigt und hermeneutisch fruchtbar macht� 26 Dabei war für ihn das Bild von den beiden cherubim auf der Bundeslade mit den einander entgegengesetzten Gesichtern entscheidend� Schon bei der Leipziger Disputation hatte Luther dieses Bild verwendet und daran gezeigt, wie er die collatio einander widerstreitender biblischer Aussagen methodisch versteht� Luther ging es darum, entgegengesetzte Aussagen der Bibel aufeinander zu beziehen, anstatt sie gewaltsam aufzulösen� Sie sollten vielmehr in ihrer Gleichrangigkeit erkannt und so in ihrem hermeneutischen Potential gewürdigt werden� 27 Das von Luther herangezogene Bild aus Ex 25 enthält eine gleichsam leere Mitte: Denn die Blicke der beiden einander entgegengesetzten Cherubim treffen in der Mitte aufeinander - da, wo die Präsenz Gottes gedacht wird - auf der ‚Versöhnungsplatte’, dem propitiatorium (Vulgata), dem hilastērion ( LXX ; vgl� Röm 3,25), der kapporet � Diese Mitte bietet mit der Erkenntnis der Versöhnung das Gewahrwerden Christi� Christus ist folglich nach Maßgabe dieses 25 Vgl� z� B� J� Baur, Extreme Theologie, in: ders�, Luther und seine klassischen Erben� Theologische Aufsätze und Forschungen, Tübingen 1993, 3-12. 26 J� Matsuura, Duo Cherubim adversis vultibus� Zur Herausbildung und texthermeneutischen Bedeutung des Grundsatzes Scriptura sui ipsius interpres, in: V� Leppin (Hg�), Reformatorische Theologie und Autoritäten� Studien zur Genese des Schriftprinzips beim jungen Luther, Tübingen 2015, 141-174. 27 Vgl� Matsuura, a� a� O�, 161: „Nicht bloß die Ausschaltung textexterner Instanzen bei der collatio ist das Entscheidende und das Unterscheidende gegenüber der Tradition, sondern die Zusammenstellung gerade der contraria mit ihrem Aufeinander- und Zusammentreffen�“ Sola scriptura 169 170 Eckart Reinmuth Bildes weder in die Widersprüche der Bibel hinein aufzulösen oder einseitig zugunsten einer Polarität innerhalb des Textes festzulegen, sondern vielmehr als in diesen Widersprüchen bezeugt zu sehen� 28 Es geht nach Matsuura also um die „Grundauffassung, Gott rede zu den Menschen in einander entgegengesetzten Worten, die in Christus zusammenfinden� Texthermeneutisch expliziert besagt dies: Die Schrift sei auf konstitutiven Gegensätzen gebaut, die nach ihrer Übereinstimmung fragen lassen, wenn sie überhaupt eine Einheit und Ganzheit sein soll, und biete diese Übereinstimmung in Christus, der so als Mitte und Botschaft des ganzen gefunden werden wolle� Die Christuserkenntnis bedeutet so zugleich die Erkenntnis der in ihm zusammenfindenden Gegensätze und umgekehrt�“ 29 Matsuura vertritt also die These, „dass der Grundsatz scriptura sui ipsius interpres in der christologisch verankerten Auslegung der contraria seinen eigentlichen konkret texthermeneutischen Kern hat und dass auch die sonstigen Aspekte der neuen Hermeneutik sachlogisch daraus ableitbar sind“ (168)� Meine neutestamentliche Anmerkung findet bei der Schrifthermeneutik Luthers einen sachlichen Anhalt� Die Vielfalt und Konfliktivität des neutestamentlichen wie biblischen Kanons führt nicht aus diesem hinaus in einen von außen, z� B� lediglich religionshistorisch zu bestimmenden Kontext - so unentbehrlich dieser für das Verständnis dieser Schriften ist� Sie führt vielmehr in die entschiedene Unentschiedenheit (s�o� S� 169), in die Vielfalt der Interpretationen der Jesus-Christus-Geschichte, die uns nach ihr fragen lässt� 28 In dieser Perspektive ist den Versuchen Recht zu geben, die die Mitte des Kanons extratextuell zu bestimmen suchen; vgl� z� B� I� U� Dalferth, Die Mitte ist außen� Anmerkungen zum Wirklichkeitsbezug evangelischer Schriftauslegung, in: C� Landmesser/ H�-J� Eckstein/ H� Lichtenberger (Hg�), Jesus Christus als die Mitte der Schrift� Studien zur Hermeneutik des Evangeliums, FS O� Hofius (BZNW 86), Berlin / New York 1997, 173-198; H� Weder, Die Externität der Mitte� Überlegungen zum hermeneutischen Problem des Kriteriums der Sachkritik am Neuen Testament, a.a.O, 291-320; H.-J. Hermisson, Jesus Christus als externe Mitte des Alten Testaments� Ein unzeitgemäßes Votum zur Theologie des Alten Testaments, a. a. O., 199-233. 29 Matsuura, a� a� O� 162� Matsuura fährt fort: „Dies also ist die konkrete, inhaltliche Füllung sowie der Kern der texthermeneutischen These, die Schrift sei ipsius interpres … Die Schrift interpretiert sich selbst durch diese ihr eigene Struktur … Von hier aus erhalten auch die ‚Selbstauslegungen’ der Schriftworte im allgemeineren Sinn - Auslegungen durch den Kontext, durch Parallelstellen oder dergleichen - ihren Ort im Gesamtverständnis von der Selbstinterpretation der Schrift, so dass diese insgesamt als Prinzip der Schriftauslegung behauptet werden kann.“ (162). Vielfältige Stellenverweise werden a. a. O., 160-169 geboten� 4. Es sind genau genommen nicht zuerst die Texte selbst, die uns in die Auseinandersetzung mit ihnen führten, sondern ihr Gebrauch, ihre Rezeptions- und Wirkungsgeschichte� 30 Durch sie lernten wir die Texte kennen, und wir lernten genauer nach ihnen zu fragen� So schreiben wir die Geschichte ihrer Rezeptionen und in einem umfassenderen Sinn ihre Wirkungsgeschichte weiter� Wenn gilt, dass das Nichtverstehen zum Anlass des Verstehens werden kann, 31 muss das Verstehen sich dafür öffnen, wieder ins Nichtverstehen zu geraten und sich erneut ans Lesen zu machen� 32 Jedes erneute Lesen entzündet sich am allzu sicher Verstandenen, signalisiert das Fraglichwerden des Verstandenen, kommt dem Verrat auf die Spur, den ihm die Überlieferung zumutet� 33 Es geht mir in diesem Sinne um einen ‚gegenwärtigen’ Dialog mit den antiken Texten� Das schließt das Wissen darum ein, ihnen nicht gerecht werden zu können - in gleichem Sinne, wie das für ihre Wirkungsgeschichte gilt� Wir sind als heutige Leserschaft zunächst Erben dieser Wirkungsgeschichte und fragen durch sie hindurch nach den Texten selbst, die - das zeigt ihre Konfliktivität - ihrerseits ihrer Interpretationsaufgabe gerecht zu werden versuchten� Deshalb hilft es nicht allzu viel, einen angenommenen ‚Ursprungssinn’ problematisch gewordener Texte herauszuarbeiten, wiederherzustellen und mit ihm etwaige problematische Rezeptionen gleichsam zu überspringen� Ein solcher ‚Ursprungssinn’ wäre ja nicht ohne weiteres ‚unschuldiger’ als manche seiner Interpretationen� Für ihn wäre freilich ein anderes setting zu veranschlagen, das möglicherweise eine Motivation freilegen könnte, die ganz anders abgezielt war, als spätere Auslegungen das vermuten lassen� Es steht uns nicht zu, hier zu richten, wohl aber, unsere heutigen Interpretationen vor dem Horizont einer komplexen und problematischen Wirkungsgeschichte zu verantworten� 30 Vgl� dazu jetzt K�-W� Niebuhr, Außerkanonische Schriften im antiken Christentum� Das Beispiel syrischer Menander (in Anm. 15 a. a. O.), 345-366, 346 ff. 31 Vgl� dazu den einführenden Problemüberblick von Ph� Stoellger, Wo Verstehen zum Problem wird� Einleitende Überlegungen zu Fremdverstehen und Nichtverstehen in Kunst, Gestaltung und Religion, in: J� Albrecht / J� Huber u� a� (Hg�), Kultur Nicht Verstehen� Produktives Nichtverstehen und Verstehen als Gestaltung, Zürich / New York 2005, 7-27. Stoellger stellt a� a� O�, 13 fest: „Das Ziel des Verstehens kann nicht immer sein, das Nicht- Verstehen zu überwinden oder zu beseitigen, sondern oft nur, es schärfer zu fassen� Denn die Bedingung des Verstehens kann nicht selber im Verstehen aufgehen, sonst wäre und bliebe sie nicht seine Bedingung�“ 32 Vgl� E� Reinmuth, Offenbarung als Literatur? Bibelinterpretation zwischen Geschichte und Geltung, in: ders�, Neues Testament, Theologie und Gesellschaft� Hermeneutische und diskurstheoretische Reflexionen, Stuttgart 2012, 43-59, hier: 52 f. 33 Die Formulierung spielt auf den Doppelsinn des Wortes ‚Tradition’ an; das in ihm enthaltene tradere bedeutet sowohl ‚übergeben’ als auch ‚ausliefern’� Sola scriptura 171 172 Eckart Reinmuth Mit ihr lohnt es sich, an den Anfang zu gehen und die biblischen Texte neu zu buchstabieren� Ich möchte vor dem Hintergrund dieser Überlegungen meine neutestamentliche Anmerkung formulieren: Die läuft zum einen auf eine Mahnung zur Bescheidenheit, zur Selbstbescheidung gegenüber einer allzu hochgemuten Verstehensgewissheit hinaus� Und sie läuft zum anderen auf die Bitte hinaus, dass wir die neutestamentlichen Schriften und Texte nicht gleichsam harmonistisch lesen, in dem Sinne also, dass wir ihre Widersprüche und Spannungen zu nivellieren und einzuebnen versuchen� Geben wir jeder Schrift, jedem einzelnen Text sein Eigenrecht, das ihm Eigene so unverwechselbar und unersetzbar zu sagen, wie jeder Text es auf seine konkrete und kontingente Weise tut� Und sie führt drittens zu einer Forderung an unsere Textarbeit in Theologie und Kirche: Stärken wir den Dialog mit der Schrift - kritisch wie selbstkritisch - es geht um das, wovon diese Schriften in ihren fremden Sprachen reden� Es sind Kommentartexte, Hinweistexte, Interpretationstexte� Nur, wenn wir ihren Wortlaut studieren, verstehen wir, wovon sie reden� Und das ist weder vergangen, noch tot oder starr, noch konservierbar� Eine lebendige Geschichte, die wir auch als Interpretierende weiterschreiben, unabhängig davon, welche Glaubensüberzeugungen wir teilen� Wo das gelingt, wird auch unser interpretierender Diskurs vielstimmig, spannungsvoll, widersprüchlich bleiben - in durchaus vergleichbarer Weise wie die ersten interpretierenden Diskurse dieser unglaublichen Geschichte, deren fragmentierte Relikte wir Neues Testament nennen� Gehen wir das Risiko des offenen interpretierenden Diskurses ein� Ohne Risiko kein Verstehen, keine Wahrheit, keine Stimme, kein Gehör� Zeitschrift für Neues Testament Heft 39 / 40 20. Jahrgang (2017) Kanonische Schriftauslegung und sola scriptura heute Günter Röhser 1. Die Themenstellung Aus meiner Sicht gibt es (mehrere) gute Gründe, das Thema „Schriftprinzip“ über den „Umweg“ des Themas „Kanon“ anzugehen: 1� Mit dem Kanonbegriff ist in der Fundamentaltheologie bzw� in der dogmatischen Prinzipienlehre die Frage nach der Autorität und Normativität der Schrift verbunden� Die einfachste und für unsere Zwecke grundlegende Definition des Begriffs lautet: „Kanon“ ist in der christlichen Kirche und Theologie die normative, d� h� maßgebende, richtunggebende Sammlung der heiligen Schriften, zusammengefasst zu einer Heiligen Schrift - der Bibel Alten und Neuen Testaments� Das griechische Wort kanōn (von „kanna“ = „Rohr“, einem semitischen Lehnwort) bedeutet nämlich „Maßstab, Regel, Richtschnur“ (im wörtlichen wie im übertragenen Sinne) - was sofort und unmittelbar an die Konkordienformel von 1577 (Epitome, Von dem summarischen Begriff, Regel und Richtschnur: „allein die Schrift ist die einzige Regel und Richtschnur“) erinnert� 1 Allerdings ist der Begriff in seiner präzisen definitorischen Verwendung erst in der modernen christlichen Theologie populär geworden� 2 1 BSLK 767,15-19; 769,22-23. - Inwiefern es sich dabei von Anfang an um ein „Prinzip“ im eigentlichen Sinne handelte, sei hier dahingestellt (zur historischen Frage siehe jetzt F� Stengel, Sola scriptura im Kontext� Behauptung und Bestreitung des reformatorischen Schriftprinzips [ThLZ�F 32], Leipzig 2016)� 2 Auch wenn er sich als Bezeichnung für ein Verzeichnis maßgeblicher Schriften bis zu Rufinus, Euseb und Quintilian zurückverfolgen lässt� 174 Günter Röhser 2� Mit dem Kanon ist die traditio scripta (die „geschriebene Tradition“) der Kirche bezeichnet und darauf verwiesen, dass die (mündliche) Verkündigung und Überlieferung der Kirche durch die Zeiten für die Aufrechterhaltung der Kontinuität mit Jesus und den ersten Zeuginnen und Zeugen des Glaubens (alleine) nicht genügt, sondern einer von den Wechselfällen menschlicher Überlieferung möglichst unabhängigen und für alle Gläubigen möglichst einheitlichen Grundlage bedarf� Das sind zunächst die (alleine) als maßgeblich anerkannten heiligen Schriften des Judentums in „christlicher“ Perspektive (Septuaginta bzw� Altes Testament), neben die dann (zusätzlich zur weitergehenden mündlichen Überlieferung) die Schriften des sog� Neuen Testaments treten� Zu fragen ist, welchen Stellenwert diese schriftlich-textlichen (Er)Zeugnisse innerhalb der kirchlichen Traditionsbildung und -weitergabe insgesamt besitzen� Anders gesagt: Liegt die Betonung nicht nur auf dem sola , sondern auch auf dem bzw� der scriptura (gegenüber allen anderen Formen der Traditionsvermittlung - durch Bild, Ton, mündliche Rede …)? Und lässt sich eine exklusive Beschränkung autoritativer Bedeutung auf diese scriptura (mit Betonung auf sola ) heute noch bzw� überhaupt begründen und verteidigen? 3� Die (Gesamt-)Biblische und die Kanonische Theologie sind zweifellos aus bibelwissenschaftlicher Sicht der wichtigste Beitrag zur aktuellen Hermeneutik- Diskussion� Entstanden in den 1960er Jahren als „Canonical Approach“ (Brevard S� Childs) in den USA und zunehmend bestimmend seit den 1970er Jahren als „Biblische Theologie“ auch in Deutschland stellen sie den Versuch einer Antwort auf die Krise der Schriftautorität dar, wie sie durch den Ansturm des Historismus und der liberalen Theologie bereits im 19� Jahrhundert eskaliert war� Dazwischen liegen der Neuaufbruch der Dialektischen Theologie nach 1918 und im angelsächsischen Raum die Biblische-Theologie-Bewegung (Begriffsprägung durch B� S� Childs: „Biblical Theology Movement“) von ca� 1940 bis in die 1960er Jahre� Ohne diese beiden Richtungen (von denen die Erstere die Letztere mehr oder weniger beeinflusst hat) wäre auch die Entwicklung der letzten Jahrzehnte nicht möglich gewesen� Im Vordergrund steht dabei als wichtigstes Anliegen die Frage nach der Einheit der ganzen Bibel� Doch ist diese Frage (die üblicherweise in den Prolegomena der Dogmatik als Frage nach der „Offenbarung Gottes in Israel“ oder nach dem „Verhältnis von Altem und Neuem Testament“ behandelt wird) nur ein besonders deutlich ausgeprägter Aspekt des Grundproblems von Schriftautorität und Schriftprinzip: wie es nämlich auf der Basis des Kanons als einheitlicher Grundlage für alle Gläubigen (s� o� 2) auch zu einer möglichst einheitlichen Auslegung und Anwendung der einen Schrift aus all den vielen Einzelschriften und Einzelaussagen kommen kann� Kanonische Schriftauslegung und sola scriptura heute 175 2. Exkurs: Zur Entstehung des Kanons Da die Frage - wie sich zeigen wird - eine gewisse Rolle in meiner Gedankenentwicklung spielt, gehe ich an dieser Stelle kurz auf sie ein, ohne sie abschließend beantworten zu können� Wir haben es dabei mit zwei unterschiedlichen Sichtweisen zu tun, deren Differenz die Forschungsdiskussion in den nächsten Jahren - hoffentlich! - zunehmend beschäftigen wird� 2.1. Die „traditionelle“ Sichtweise Sie ist vor allem dadurch charakterisiert, dass sie sich die Entstehung des Kanons als einen langen, allmählichen Prozess vorstellt, als das Ergebnis eines Jahrhunderte währenden Ringens darum, was als Schriftgrundlage in der Kirche gelten soll, oder auch als Prozess der „Selbstdurchsetzung“ und faktischen Rezeption bestimmter Schriften in der Kirche� Am Anfang der christlichen Kanonbildung stehen demnach kleinere Sammlungen von Paulusbriefen, die von den Mitarbeitern des Apostels und paulinischen Gemeinden veranstaltet werden und die dann allmählich in größere Sammlungen übergehen (Abschluss vielleicht mit den Pastoralbriefen)� Bis zur Mitte des 2� Jh�s treten die vier Evangelien als weitere Autorität daneben� Durch Markion wird der Prozess beschleunigt� Noch vor der Mitte des 2� Jh�s bestimmt dieser „Irrlehrer“ zur Stützung seiner Sondermeinungen einen eigenen, zweiteiligen „Kanon“: ein „revidiertes“ Lukasevangelium plus zehn „gereinigte“ Paulusbriefe (vielleicht von ihm „Neues Testament“ genannt)� Das - später so genannte - Alte Testament verwarf er ganz� Darauf musste die „orthodoxe“ kirchliche Theologie - besonders in Kleinasien und Rom - reagieren und ihr eigenes Kanonverständnis vorantreiben� 3 3 Vgl� zum Ganzen: H� von Lips, Der neutestamentliche Kanon� Seine Geschichte und Bedeutung, Zürich 2004, 43-54 (eine gute Zusammenfassung der „traditionellen“ Sicht). Prof. Dr. Günter Röhser, Jahrgang 1956, Studium der Evangelischen Theologie in Erlangen, Heidelberg und Neuendettelsau� Promotion (1986) und Habilitation (1993) in Heidelberg� Pfarrer der Evang�-Luth� Kirche in Bayern, Lehrtätigkeit in Bamberg und Siegen, 1997-2003 Professor für Bibelwissenschaft an der RWTH Aachen, seit 2003 für Neues Testament an der Universität Bonn� Homepage: www�guenter�roehser�de 176 Günter Röhser Die Aufnahme weiterer Schriften (neben Evangelien und Paulusbriefen) in den entstehenden neutestamentlichen Kanon war lange Zeit umstritten, am längsten im Falle des Hebräerbriefs, der sieben sog� Katholischen Briefe sowie insbesondere der Apokalypse des Johannes (Letztere war im Osten bis ins Mittelalter umstritten)� Man kann sagen, dass die Hauptentscheidungen über den Umfang des neutestamentlichen Kanons im 4� Jh� getroffen waren� Wichtige Daten in diesem Zusammenhang sind der 39� Osterfestbrief des Bischofs Athanasius von Alexandrien von 367 und die Synodalbeschlüsse von Hippo Regius aus dem Jahre 393 sowie von Karthago 397 und 419 n� Chr� Athanasius nennt in seinem Brief alle 27 Schriften unseres neutestamentlichen Kanons (und 22 des hebräischen Alten Testaments) - wenn auch zum Teil in anderer Reihenfolge� Er habe sich entschlossen, „der Reihe nach die kanonisierten ( kanonizomena ), überlieferten und als göttlich geglaubten (oder: bestätigten [ pisteuthenta ]) Bücher darzulegen, damit ein jeder Getäuschte seine Verführer verwerfe und ein jeder unbefleckt Gebliebene sich freue, wenn er wieder daran erinnert wird�“ Die Aufzählung schließt mit den Worten: „Dieses sind die Quellen des Heils, auf dass der Dürstende sich an den in ihnen enthaltenen Worten übergenug labe� In ihnen allein wird die Lehre der Frömmigkeit verkündigt� Niemand soll ihnen etwas hinzufügen oder etwas von ihnen fortnehmen�“ In der Sicht des Athanasius ist der Kanon für die ganze „rechtgläubige“ Kirche definitiv abgeschlossen� Wenige weitere Schriften sind zur Lektüre zugelassen (z� T� aus dem Septuaginta-Kanon, aber auch Didache und Hirt des Hermas), alle anderen werden als „apokryph“ und „häretisch“ verworfen� Parallel zur Herausbildung des neutestamentlichen Kanons - und diese befördernd - vollzieht sich also auch die „Kanonisierung“ des sog� Alten Testaments - und zwar auf christlicher wie auch (natürlich nicht unter der Bezeichnung „Altes Testament“! ) auf jüdischer Seite� Zwar waren die heiligen Schriften des Volkes Israel bei den Christusanhängern von Anfang an anerkannt und wurden - zumindest im Gottesdienst und von den Gebildeten - auch fleißig gelesen und benutzt� Trotzdem stand der genaue Umfang des „alttestamentlichen Kanons“ noch lange nicht fest� Melito von Sardes (2� Hälfte 2� Jh�) scheint der erste gewesen zu sein, der sich um ein genaues Verzeichnis der alttestamentlichen Bücher bemüht hat� Wie beim Neuen Testament ist auch in der Frage des alttestamentlichen Kanons erst durch Synodalentscheidungen des 4� Jh�s ein gewisser Abschluss erreicht worden� 4 Trotz des zweifellos bestehenden Einflusses der Synagoge mit ihrem hebräisch-palästinischen Kanon hat sich dabei in der Kirche und bei den Christen letztlich der Septuaginta-Kanon durchgesetzt, d� h� 4 W� Schneemelcher, Art� Bibel III� Die Entstehung des Kanons des Neuen Testaments und der christlichen Bibel, TRE 6 (1980), 22-48, hier: 38 f. also die Sammlung der ins Griechische übersetzten oder ursprünglich griechisch verfassten jüdischen heiligen Schriften aus zwischentestamentlicher Zeit� Zusammengefasst: „Der Kanon ist um die Wende vom 2� zum 3� Jh� grundsätzlich vorhanden� Abgeschlossen ist er aber erst sehr viel später, und zwar in der Zeit der Reichskirche, die auch auf diesem Gebiet die alte Vielfalt nicht mehr dulden konnte�“ 5 2.2. Eine neue Sichtweise: die sog. Kanonische Ausgabe David Trobisch versuchte bereits 1996, also vor mehr als zwanzig Jahren, zu zeigen, dass das Neue Testament in der Form, in der es uns heute vorliegt, „nicht das Produkt eines jahrhundertelangen Entwicklungsprozesses“, sondern ein einziges und redaktionell einheitliches Buch ist, „das von einem konkreten Herausgeberkreis an einem bestimmten Ort und zu einem bestimmten Zeitpunkt herausgegeben wurde“ 6 - deshalb editio princeps mit dem Buchtitel „Das Neue Testament“� Belege dafür sind bestimmte Charakteristika der alten Handschriften: 1� Das einheitliche Abkürzungssystem der nomina sacra : In nahezu allen Handschriften werden die Begriffe Gott, Herr, Jesus und Christus (und noch einige andere) erstaunlich einheitlich abgekürzt, ohne dass es eine echte Analogie dafür in antiken Texten gäbe� 2� Das einheitliche Überschriftensystem: Da das Buch den Titel „Das Neue Testament“ trug, ist anzunehmen, dass bereits auch ein Buch mit dem Titel „Das Alte Testament“ (ähnlich der Septuaginta) zur Kanonischen Ausgabe gehörte� Die Kanonteile sind einheitlich benannt - und dabei wiederum die „Paulusbriefe“ nach den Adressaten, die „Katholischen Briefe“ und die Apokalypse des Johannes mit dem Verfassernamen im Genitiv, besonders auffällig aber die „Evangelien“ nach dem Schema euaggelion kata. Letzteres ist ganz ungewöhnlich und findet allenfalls in der Zitation von Übersetzungen des Alten Testaments („nach Aquila“, „nach Symmachus“, „nach den Siebzig“) eine gewisse Entsprechung� Die Botschaft aber ist eindeutig und klar: Der Buchteil „Evangelien“ enthält vier verschiedene Versionen ein und desselben Evangeliums von Jesus Christus� 3� Die erstaunlich gleichbleibende Reihenfolge der Schriften und Schriftengruppen: die 4 Evangelien, der Praxapostolos (= Apostelgeschichte + die Briefe der in ihr erwähnten Apostel, v� a� Jakobus, Petrus, Johannes [in dieser Reihenfolge; vgl� auch Gal 2,9]), die 14 Paulusbriefe (mit Hebr in der Mitte; ebenso wie die 5 Schneemelcher, Bibel, 46 f� 6 D� Trobisch, Die Endredaktion des Neuen Testaments� Eine Untersuchung zur Entstehung der christlichen Bibel (NTOA 31), Freiburg Schweiz / Göttingen 1996, 11� Kanonische Schriftauslegung und sola scriptura heute 177 178 Günter Röhser drei wird auch Paulus zuvor in Apg dem Leser vorgestellt) und die Apokalypse des Johannes� Von den großen Codices des 4� und 5� Jh�s bringt nur der Sinaiticus die Paulusbriefe vor dem Praxapostolos, aber auch dort ist die Verbindung zwischen Apostelgeschichte und Katholischen Briefen nicht gelöst (dies macht erst Erasmus von Rotterdam)� Die Reihenfolge der Schriftengruppen orientiert sich grundlegend an derjenigen in der Septuaginta: Grundlegung mit der Tora bzw� dem Pentateuch (Evangelien), Geschichtsbücher (Apg), Psalmen und Weisheit (v� a� Texte der in den Geschichtsbüchern erwähnten Könige David und Salomo analog zu den Briefen der in Apg erwähnten Apostel), Prophetie (Apokalypse) - was ebenfalls für eine Endredaktion der gesamten Kanonischen Ausgabe (Altes und Neues Testament) aus einer Hand sprechen könnte (zumal die Trennung von Geschichts- und prophetischen Büchern = vorderen und hinteren Propheten dem jüdischen Verständnis widerspricht, jetzt aber die Prophetie als Ausblick auf Jesus Christus erscheinen lässt)� 7 Festzuhalten ist an dieser Stelle, dass die Standardausgabe des griechischen Neuen Testaments (Nestle-Aland) die genannten Sachverhalte entweder falsch (Evangelienüberschriften, Reihenfolge und Zusammengehörigkeit) oder gar nicht ( nomina sacra , Buchtitel) wiedergibt� 8 4� Die Kanonische Ausgabe erscheint von Anfang an nicht in Rollenform (wie zu dieser Zeit noch mehrheitlich üblich), sondern als Kodex, d� h� als zusammengebundene Bögen aus Papyrus (später Pergament) mit festem Einband, und könnte einen entscheidenden Anstoß zur Verbreitung dieser Praxis bei den Christen gegeben haben (sei es aus Kosten- oder Praktikabilitätsgründen, sei es zur Unterscheidung der eigenen heiligen Schrift von anderen)� Zusammengefasst: Offizielle Anerkennung findet die Kanonische Ausgabe erst in der Zeit der Reichskirche (und ist dann auch erst im vollen Sinne „kanonisch“ - insofern ist der Begriff „Kanonische Ausgabe“ missverständlich und die neutrale Bezeichnung editio princeps vorzuziehen)� Entstanden ist sie aber bereits in der Mitte des 2� Jh�s - nicht als Ergebnis eines längeren Prozesses bzw� aufgrund autoritativer Entscheidung wie bei Markion (der in der Folge eine eigene Kirche gründete), sondern als literarische Antwort auf dessen herausfordernde Lehren (Ablehnung des Alten Testaments und seines heilsgeschicht- 7 Zur Darstellung der These Trobischs siehe auch M� Ebner, Der christliche Kanon, in: M� Ebner / S� Schreiber, Einleitung in das Neue Testament (KStTh 6), Stuttgart 2 2013, 9-52, hier: 18-20. 8 In der 28� Auflage ist nunmehr mit den subscriptiones die letzte Spur Editionsgeschichte des Neuen Testaments aus unseren Ausgaben verschwunden; die Ersteren enthalten spätere Vermutungen zu Abfassungsort und Datierung neutestamentlicher Briefe (D� Trobisch, Die 28� Auflage des Nestle-Aland� Eine Einführung, Stuttgart / Atlanta 2013, 51)� lichen Zusammenhangs mit dem Neuen, Berufung ausschließlich auf Paulus) und die durch ihn ausgelösten Auseinandersetzungen (v� a� in Rom und Kleinasien)� Vor diesem Hintergrund gewinnt die Kanonische Ausgabe ihr inhaltliches Profil durch die Balance zwischen dem Heidenapostel Paulus und den anderen, am Judentum orientierten Aposteln (wobei deren Voranstellung im Praxapostolos durchaus einen nicht nur chronologischen, sondern auch sachlichen Vorrang der Katholischen Briefe signalisiert - entsprechend dem Erzählaufbau der Apg) 9 sowie durch die Abwehr markionitisch-gnostischer Schöpfungs- und Geschichtsvergessenheit (Integration des „Alten Testaments“)� Weitere Konsequenz: Die weiterbestehenden Unsicherheiten und Auseinandersetzungen bezüglich der Zugehörigkeit einzelner Schriften zum „Kanon“ in der alten Kirche sind dann nicht Zeugnisse für einen erst noch in der Entwicklung befindlichen Kanon, sondern Ausdruck einer Diskussion über eine bereits existierende „Kanonische Ausgabe“ des 2� Jh�s� 3. Fundamentaltheologische Reflexion kanontheologischer Entwürfe Ich setze die eingangs angesprochenen Fragen nach der Autorität und Einheit der Schrift in folgende konkrete Fragestellungen um: 1� Was heißt „kanonische Bedeutung der Bibel“ und wie entsteht sie? Folgt daraus ein besonderer Umgang mit diesem Buch, der es aus aller anderen Literatur in unvergleichlicher Weise heraushebt? 2� Gilt die kanonische Bedeutung unterschiedslos („einheitlich“) für die ganze Bibel in allen ihren Teilen und Aspekten oder gibt es auch Elemente, deren kanonischen Rang man in Zweifel ziehen kann oder muss? Wie kann Einheit der Schrift überhaupt darstellbar sein oder erfahrbar werden? ad 1� „Kanonische Bedeutung“ kann nicht heißen, dass für die Auslegung der Bibel andere Grundsätze gelten oder andere Methoden angewendet werden müssten als für die Auslegung von anderen Texten der Vergangenheit� Als Äußerungen und Werk von Menschen können die Aussagen und Schriften der Bibel und ihre Zusammenstellung der historischen Erforschung und Nachfrage nicht entzogen werden, und diese Arbeit darf durch den Glauben nicht eingeschränkt oder im Sinne einer philologia / hermeneutica sacra verändert werden� Wohl aber muss an einer bestimmten Stelle des Auslegungsprozesses für Menschen im 9 Vgl� Ebner, Kanon, 39 f� Kanonische Schriftauslegung und sola scriptura heute 179 180 Günter Röhser Raum der Kirche, die dieses Buch als „kanonisch“ anerkennen, die Wahrheitsfrage angesichts der Texte gestellt werden: Inwiefern leiten diese Texte und ihre Zusammenstellung zu einem heutigen Glauben und Leben an und sind insofern für Menschen, die sich als Christinnen und Christen verstehen, verbindlich und normsetzend? Man kann die Frage nach der kanonischen Bedeutung aber auch andersherum ansetzen: Menschen machen mit ihren Fragen nach Glauben und Leben eine besondere Erfahrung mit diesem Buch und seinen Texten, die sie zur Anerkennung seiner unvergleichlichen Bedeutung führt, und sie erkennen in diesen Texten immer wieder von neuem ihren Glauben, indem sie Hilfe und Anstoß zu heilsamer Veränderung durch sie erfahren� „Bewahrheitung“ erfolgt durch „Bewährung“� So ergibt sich ein doppelter Zugang, gewissermaßen von zwei Seiten her, zur Frage der Verbindlichkeit und Bedeutsamkeit der Schrift: von der Seite der „Ausgangstradition“ (hier: der traditio scripta ) her und von der Seite der „Anwendungssituation“ her� Man muss beides nicht gegeneinander ausspielen, aber man muss überlegen, wo man den Schwerpunkt sehen will� Ein Grundmodell für die Entstehung kanonischer Autorität (diesseits des vollständigen bzw� des redaktionellen Kanons) bietet Gal 2,9� Dort sagt Paulus mit Blick auf die Urapostel Jakobus, Kephas (= Petrus) und Johannes: „Sie erkannten die Gnade, die mir gegeben war�“ Genau darum geht es: Ein Mensch tritt mit einem Vollmachts- und Sendungsanspruch (mündlich oder schriftlich geäußert, unter seinem eigenen Namen, pseudonym oder anonym) vor andere Menschen� Der Sendende ist im biblischen Raum traditionell der Gott Israels und Vater Jesu Christi oder Jesus Christus selbst� Diese anderen Menschen, die ebenfalls glaubwürdige Erfahrungen mit diesem Gott bzw� seinem Sohn gemacht haben, erkennen im (durchaus neuen) Handeln, Schreiben und Verkündigen des Gesandten in ihrer aktuellen Situation (hier: Frage der Heidenmission) den eigenen Glauben bzw� die „Handschrift“ ihres Gottes und Jesu Christi wieder und erkennen den Verkündiger deshalb als von Gott begnadet und gesandt an� Sie bestätigen seine prophetische oder apostolische Legitimität und damit seine „Kanonizität“; sie erkennen seine Lehre und sein Auftreten in einer bestimmten (als krisenhaft erlebten) Herausforderungssituation als authentische („wahre“), weil hilfreiche und weiterführende Interpretation und Auslegung ihres Glaubens und ihrer Ursprungstraditionen an� Die Kanonfrage ist also zutiefst und im Kern auch eine Legitimitätsfrage� Werden bestimmte Autoritäts- und Wahrheitsansprüche (Berufung oder Beauftragung durch Gott, Einsetzung durch Jesus Christus oder durch andere Autoritäten, göttlicher Schreibauftrag, Inspiration / Geistbesitz und damit verbundene Wahrheitserkenntnis, letztlich auch die Sendung Jesu selbst) zu Recht erhoben oder nicht? Und können sie durch eigene Erkenntnis und Erfahrung eingeholt werden? ad 2� Es stellt sich die Frage, wie man solche Rang- und Wertunterschiede in der Bibel bzw� wie man dann die Einheit der Bibel einvernehmlich sollte feststellen können� Die Heraushebung eines „Kanons im Kanon“ der Schrift, also einer Grundintention, an der man alle Einzelteile und -aussagen der Schrift (und somit auch deren Wertigkeit) messen kann, scheint ja nicht ohne subjektive Willkür und Gewaltsamkeiten gegenüber den Texten möglich zu sein� Natürlich kann man Namen und Begriffe wie JHWH , den Gott Israels, Jesus Christus oder auch Gnade und Gericht, Bund und Erwählung, Sühne und Versöhnung, die Gottesherrschaft, Leben o� ä� als die „Mitte der Schrift“ bezeichnen, aber diese Bestimmungen sind zunächst sehr allgemein und wenig konkret� Versucht man jedoch eine Näherbestimmung, zeigen sich sofort die Schwierigkeiten: Welchen Stellenwert haben die Bundesformel oder der Sühnegedanke im Alten und die Rechtfertigungslehre im Neuen Testament (und umgekehrt)? Welche Bedeutung hat der Name Gottes („Ich bin, der ich bin“) für das Neue und die Christologie für das Alte Testament? „Ewiges Leben“ ist zwar Heilsziel im Neuen, spielt aber in weitesten Teilen des Alten Testaments überhaupt keine Rolle - und so weiter� 10 Weiterführend ist in diesem Zusammenhang eine Unterscheidung, die Ludger Schwienhorst-Schönberger vorgeschlagen hat: in eine literaturwissenschaftlichsynchrone Bedeutung von „Mitte“ einerseits, die sich auf die „Sinnmitte einer Textsammlung“ bezieht, und eine theologisch-auktoriale Bedeutung andererseits, die in Gott als dem „Urheber“ der Schrift deren „Einheit“ findet� 11 Letztere 10 Eine Möglichkeit, was die „Auswahl“ aus dem AT angeht, wäre natürlich, sich dazu an der Rezeption durch das NT zu orientieren - so H� Hübner, Vetus Testamentum und Vetus Testamentum in Novo receptum� Die Frage nach dem Kanon des Alten Testaments aus neutestamentlicher Sicht, JBTh 3 (1988), 147-162; ders., Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. 1: Prolegomena, Göttingen 1990, 37-76. Das grundsätzliche Problem dieses Ansatzes (Vetus Testamentum in Novo receptum) wird man darin zu erblicken haben, dass der Einfluss des Alten auf das Neue Testament nicht einfach an den Zitaten abgelesen werden kann, sondern dass Sprache und Denken des Neuen Testaments insgesamt vom Alten Testament geprägt sind� Noch weniger kann umgekehrt die Bedeutung des Alten Testaments auf diejenigen Stellen reduziert werden, die im Neuen Testament rezipiert werden� Vielmehr muss das Gesamtzeugnis des hebräischen und des griechischen Alten Testaments neben und in Verbindung mit demjenigen des Neuen Testaments gewürdigt und berücksichtigt werden� 11 L� Schwienhorst-Schönberger, Einheit und Vielheit� Gibt es eine sinnvolle Suche nach der Mitte des Alten Testaments? , in: F�-L� Hossfeld (Hg�), Wieviel Systematik erlaubt die Schrift? Auf der Suche nach einer gesamtbiblischen Theologie (QD 185), Freiburg [u� a�] 2001, 48-87, hier: 55-59; 70; 79 f. Kanonische Schriftauslegung und sola scriptura heute 181 182 Günter Röhser kann man mit Christoph Schwöbel auch „referentielle Einheit“ nennen, 12 weil sie sich auf eine hinter den Texten (und damit außerhalb der Texte) liegende (bzw� als solche angenommene) Größe bezieht� Vergleichbar ist auch Walther Zimmerlis Vorstellung von der Mitte der Schrift als „Fluchtpunkt“ der Texte, der zwar an ihnen abzulesen ist, sich aber gleichwohl hinter ihnen befindet� 13 Für die „Sinnmitte einer Textsammlung“ nenne ich als exemplarischen Vertreter Peter Stuhlmacher� 14 Für ihn hat das Neue Testament eine klare „Mitte“: Es ist das Zeugnis von der Versöhnung Gottes mit der Welt, die er durch den stellvertretenden Sühnetod Jesu Christi am Kreuz bewirkt hat� Und diese Mitte ist in jeder Hinsicht durch das Alte Testament vorbereitet und vorweggenommen: Die Stichworte „Gerechtigkeit“, „Sühne“, „Auferstehung“, „Gesetz“ und „Evangelium“ bezeichnen entscheidende, begrifflich fixierbare Traditionslinien vom Alten ins Neue Testament, die sich historisch-exegetisch aus den Texten erweisen lassen (überlieferungsbzw� begriffsgeschichtlicher Ansatz einer gesamtbiblischen Theologie)� 15 Für das theologisch-auktoriale Verständnis kann man den bereits genannten Brevard S� Childs anführen: Er hatte zwar die Suche nach einer „Mitte der Schrift“ im Biblical Theology Movement für gescheitert erklärt, plädierte aber gerade deshalb für ein neues Ernstnehmen des in der Kirche gültigen Kanons und seines inneren Zusammenhangs - mit der Begründung, Gott selbst in seiner Offenbarung sei der Hauptgegenstand und damit der angenommene außertextliche Bezugspunkt der biblischen Schriften und letztlich Urheber ihres Zusammenhangs� Dies gilt auch, wenn Childs letztlich die Realität Jesu Christi als diesen Hauptgegenstand und Bezugspunkt bestimmt: Damit ist dann keine 12 C� Schwöbel, Erwartungen an eine Theologie des Alten Testaments aus der Sicht der Systematischen Theologie, in: B� Janowski (Hg�), Theologie und Exegese des Alten Testaments / der Hebräischen Bibel� Zwischenbilanz und Zukunftsperspektiven (SBS 200), Stuttgart 2005, 159-185, hier: 167 f; 172; 179-181. 13 Siehe W� Zimmerli, Zum Problem der „Mitte des Alten Testamentes“, EvTh 35 (1975), 97-118, und dazu die Darstellung und positive Aufnahme bei C. Tietz, Kanon und Kirche, in: B� Janowski (Hg�), Kanonhermeneutik� Vom Lesen und Verstehen der christlichen Bibel (Theologie Interdisziplinär Bd. 1), Neukirchen-Vluyn 2007, 99-119, hier: 108-110: Der Fluchtpunkt ist ein Geschehenszusammenhang (Gottes Zuwendung zu den Menschen)� 14 Von den in meinem Beitrag genannten (und vielen weiteren) Bibeltheologen finden sich repräsentative Originalbeiträge in dem Reader: C� Dohmen / T� Söding (Hg�), Eine Bibel - zwei Testamente� Positionen Biblischer Theologie (UTB 1893), Paderborn [u� a�] 1995 (Stuhlmacher: 275-289; Childs: 29-34; Gese [s. u.]: 35-44; Hübner [s. o. Anm. 10]: 209-223). 15 Darstellung und Kritik der Position von Stuhlmacher bei M� Oeming, Das Alte Testament als Teil des christlichen Kanons? Studien zu gesamtbiblischen Theologien der Gegenwart, Zürich 3 2001, 140-152; 191. Bekenntnis aussage („Jesus ist der Christus“) in Texten , sondern Jesus Christus als Heils person , als Gottes Offenbarung im Vollzug gemeint� 16 Childs zur Seite könnte man Hartmut Gese stellen: Er sieht in der Entwicklungsgeschichte des biblischen Kanons einen organischen Wachstumsprozess, ein Kontinuum, das mit „logischer“ Notwendigkeit vom (dadurch entstehenden) Alten Testament über das frühe Judentum auf das Neue Testament als Ziel zuläuft� Obwohl somit ein Vertreter des überlieferungs- und begriffsgeschichtlichen Ansatzes wie Stuhlmacher, stehen bei Gese nicht zentrale inhaltliche Aussagen der Bibel im Vordergrund des theologischen Interesses, sondern der Gang der Überlieferung selbst (den es historisch nachzuzeichnen gilt)� Denn dieser hat für ihn ontologische (d� h� Wirklichkeit setzende) und offenbarende Bedeutung, da Gott in ihm am Werk ist� Mit Childs verbindet diesen Ansatz, dass es bei der gesuchten Einheit der Schrift primär nicht um Begriffe oder Texte (schon gar nicht um eine an sie herangetragene oder herausgelesene „Mitte“), sondern letztlich um ein Geschehen von Gott her geht: Gott offenbart sich durch den Kanon bzw� die Kanonsgeschichte: in und durch den Traditionsprozess, in dem dieser sich ausbildet� Offenbarung ist, was in diesem Prozess zur Wirkung kommt und das Leben trägt� Einheit der Schrift wird also - und das gilt dann damals wie heute - in einem existenziellen Geschehen erfahren und kann nicht begrifflich-allgemeingültig dargestellt werden� 17 Von daher ist es letztlich auch nicht möglich, eine konsensfähige heutige Rangfolge biblischer Aussagen und Elemente aufzustellen� 4. Neuere kanontheologische Entwürfe Es gibt zwei neuere Entwürfe kanonischer Schriftauslegung, die in bemerkenswerter Weise von den genannten Typisierungen abweichen: 1� die sog� biblische Auslegung, wie sie etwa von Thomas Hieke vorgeschlagen worden ist� Nach ihm markiert der Kanon als „ literarischer Begriff “ „den ersten und privilegierten Kontext“, „in dem ein biblischer Text verstanden wird“� Vorher 16 Wichtigste Werke: B� S� Childs, Biblical Theology in Crisis, Philadelphia 1970; Biblical Theology of the Old and New Testaments� Theological Reflection on the Christian Bible, Minneapolis 1993; siehe auch: The Church’s Guide for Reading Paul� The Canonical Shaping of the Pauline Corpus, Grand Rapids [u� a�] 2008 (Childs’ letztes Werk, eine Art Vermächtnis des „canonical approach“)� - Darstellung und Kritik der Position von Childs bei Oeming, Das Alte Testament, 197-216; S. Krauter, Brevard S. Childs’ Programm einer Biblischen Theologie� Eine Untersuchung seiner systematisch-theologischen und methodologischen Fundamente, ZThK 96 (1999), 22-48. 17 Ein Problem von Geses Ansatz ist es, wie die Nachzeichnung einer Überlieferungs- und Offenbarungsgeschichte zu einer heutigen Anrede werden kann� - Darstellung und Kritik der Position von Gese bei Oeming, Das Alte Testament, 127-140 (siehe auch 25-29). Kanonische Schriftauslegung und sola scriptura heute 183 184 Günter Röhser muss allerdings eine Entscheidung getroffen sein, „welche Kanonausprägung, also welche ‚Bibel’, der Auslegung zugrunde liegt“ (hebräische, christliche, Luther-Bibel usw�)� Deswegen wird der Ansatz „biblische Auslegung“ genannt (der Begriff geht auf Hiekes Regensburger Lehrer Christoph Dohmen zurück)� „Die Sinnkonstituierung erfolgt … im Lektürevorgang, bei dem der Autor nicht anwesend ist und der Leser mit seinem jeweiligen Vorwissen zusammen mit dem Text als fester Zeichenfolge und dem jeweiligen literarischen Kontext, in dem der Text überliefert ist, ein Verständnis des Textes aufbaut�“ Methodisch geht es „vor allem darum, die im Text selbst angelegten Strukturen und Strategien zur Leserlenkung aufzudecken, d� h� zu zeigen, welche Kriterien der Text selbst für eine angemessene und ‚ökonomische’ Lektüre aufstellt�“ 18 Gegenstand der Auslegung ist der gesamte neutestamentliche bzw� der gesamte biblische Text als eine literarische Einheit� Subjekte der Sinnkonstitution sind die Leserinnen und Leser, die sich dazu an Textsignalen, Strukturen oder Querverweisen im Text orientieren (die sich laut Hieke „besonders bei Übergängen und Endpositionen“ finden 19 )� Die biblische Auslegung achtet auf Sinneffekte, die sich allein aufgrund der Zusammenstellung der Texte im jeweiligen Kanon ergeben� Ihre Beobachtungen „notieren nicht Intentionen irgendwelcher Autoren oder Kompositoren des Kanons, sondern erfolgen deutlich auf der Ebene des Lesers, dem die christliche Bibel vor Augen steht und der offen ist für ‚die gewaltige Synoptik der Bibel’“ (Martin Buber)� 20 So kann z� B� der Abschnitt Offb 22,6-21 als „Schlussstein der christlichen Bibel“ interpretiert werden 21 - allein aufgrund von dessen faktischer Endposition am Schluss des Kanons und ohne dass der Autor der Johannesoffenbarung oder ein Kompositor des Kanons je daran gedacht hätten� Ergebnis: Auch wenn die biblische Auslegung zunächst als literaturwissenschaftlich-synchroner Zugang im Sinne der obigen Typisierung erscheint, fragt sie doch nicht nach der Sinnmitte einer Textsammlung, sondern nach der Sinnkonstituierung durch die lesenden Subjekte� Wie der theologisch-auktoriale Ansatz führt sie aus dem Text heraus, allerdings nicht hinter den Text zu dessen auktorialem Bezugspunkt, sondern vor den Text zu dessen Rezipienten� Die Rezeption erfolgt nicht rein subjektiv, sondern wird durch die Strukturen und Signale des Textes gesteuert� Es gibt aber mehr als nur eine Sinnmöglichkeit eines Textes für die Lesenden� Ein einheitliches Verständnis der ganzen Bibel wird 18 Thomas Hieke, Neue Horizonte� Biblische Auslegung als Weg zu ungewöhnlichen Perspektiven, ZNT 12 (2003), 65-76, hier: 65 f. 19 Hieke, Neue Horizonte, 70� Er wählt dazu als Beispiel den „offenen Schluss“ der Apostelgeschichte (Apg 28,16-31). 20 Ebd� 21 Hieke, Neue Horizonte, 71 f� deshalb am Ende, wenn es gelingt, nur durch eine größere Interpretations- und Auslegungsgemeinschaft zu erreichen sein, die die verschiedenen Rezeptionen am Text überprüft und eingrenzt� 22 Fasst man diese Rezipienten allerdings mit Ulrich Körtner als „inspirierte“ Leser, 23 dann landet man am Ende wieder bei der theologisch-auktorialen Einheitskonzeption� Denn die Einheit stellt sich letztlich dann doch als ein Geschehen von (dem inspirierenden) Gott her dar� 2� die kanonische Lektüre im Anschluss an David Trobisch (s� o� 2�2): Bei ihr handelt es sich zunächst um ein streng historisch orientiertes Unternehmen: Sie fragt nach dem, was die damaligen Leser der Kanonischen Ausgabe im Sinne von deren Herausgeber verstehen sollten� Deswegen betrachtet sie die Strategien zur Leserlenkung auch nicht einfach (wie die biblische Auslegung) als durch die Zusammenstellung der Texte gegeben, sondern als durch die Hand des Herausgebers gezielt gesetzt und insofern rekonstruierbar� Dem entspricht es, wenn man auf die intra textuellen Verknüpfungen in der Kanonischen Ausgabe achtet, während die biblische Auslegung häufig - und zu Recht - auch als „kanonischinter textuelle Lektüre“ bezeichnet wird� Hierin kommt zutreffend zum Ausdruck, dass es sich bei der Kanonischen Ausgabe in noch viel höherem Maße um einen Entwurf aus einer Hand und um letztlich einen einzigen Text handelt als bei der (gesamt)biblischen Auslegung unterschiedlichster Einzeltexte, die einen Autor oder Herausgeber im literaturwissenschaftlichen Sinne gar nicht kennt� Matthias Klinghardt, der Trobischs Annahmen teilt und auch in diesem ZNT- Sonderheft zu Wort kommt, hat in einem Beitrag zum Dresdner SFB „Transzendenz und Gemeinsinn“ diese Konzeption theologisch weiterentwickelt� Er betont besonders die pseudonymen Autorenzuschreibungen sowie die (teilweise fingierten) intratextuellen Querverweise und Kohärenzsignale in der Kanonischen Ausgabe und sieht daraus (nach dem Willen des im Hintergrund bleibenden Herausgebers dieser Ausgabe) ein „Transzendenznarrativ“ entstehen, dessen Bedeutung er wie folgt bestimmt: Es „bildet das innere Strukturprinzip der Kanonischen Ausgabe und entspricht darin dem, was traditionell als ‚Kanon im Kanon’ bezeichnet wird: Eine Metanorm zur Steuerung des Verständnisses der Einzeltexte�“ Diese „Geschichte hinter der Geschichte“ wird „nicht direkt erzählt und unterscheidet sich darin von den Erzählungen der einzelnen Schriften� Gleichwohl besitzt diese Metaerzählung eine narrative Struktur, da ihre 22 Zur Rolle der Interpretations- und Auslegungsgemeinschaft(en) siehe Hieke, Neue Horizonte, 66; 73 f� 23 Siehe dazu die Darstellung bei R� Sohns, Verstehen als Zwiesprache� Hermeneutische Entwürfe in Exegese und Religionspädagogik (Religionspädagogische Kontexte und Konzepte 9), Münster [u. a.] 2003, 93-101. Kanonische Schriftauslegung und sola scriptura heute 185 186 Günter Röhser einzelnen Elemente eine Geschehensfolge konstituieren: Sie ist nicht Narration, sondern Narrativ�“ 24 Die Wirkung dieses Narrativs beruht neben seiner hohen Kohärenz v� a� auf der „Selbstinvisibilisierung des Herausgebers“: „Die Leser selbst sind die Urheber der von ihnen entdeckten Zusammenhänge� Aus diesem Grund ist ihre Wahrnehmung frei, zwanglos und unmittelbar� Diese Unmittelbarkeit lässt den Lesern keinen Spielraum, sich bewusst zu diesem Hintergrundnarrativ zu verhalten, seinen Anspruch zu plausibilisieren oder ihn abzuweisen: Er ist ihnen unverfügbar� So beruht die Authentifikation der christlichen Bibel als ‚Wort Gottes’ … auf der Wirkung des Transzendenznarrativs …“� 25 Inhaltlich bietet dieses Narrativ nicht nur die (nicht spannungsfreie, aber am Ende harmonische) „Geschichte der Entstehung der frühesten Kirche im Zeitalter der Apostel, sondern bindet diese in das umfassende Narrativ der Heilsgeschichte ein: Die entscheidende Leistung der Kanonischen Ausgabe war die Kombination von Altem und Neuem Testament zu einer Einheit�“ 26 Damit wird die zunächst nur formale Bestimmung von Transzendenz mit dem spezifisch christlichen „Narrativ der Heilsgeschichte“ verbunden� Und die Erfahrung von Unverfügbarkeit und unmittelbarer Evidenz (von Gott her) führt so zur Wahrnehmung kanonischer Einheit� Ich variiere im Folgenden bewusst diese Formulierungen und bezeichne das Narrativ als „die Geschichte und das Leben des Gottesvolkes“� Denn damit soll die Verlängerung des einheitlichen Verstehens der Schrift (aufgrund der Metanorm hinter den Texten ) in ihre einheitliche, in sich konsistente Applikation hinein (aufgrund des Situationsbezugs im Leben ) angezeigt sein: Der Existenzvollzug des Gottesvolkes (nach innen wie nach außen) und aller seiner Glieder scheint mir das treffendste und passendste Kriterium für diese Applikation zu sein� Wir nehmen also den Ansatz beim Heils geschehen statt bei den Texten aus den vorhergehenden Konzeptionen auf, nehmen es aber dezidiert von der Seite des Menschen und der „Anwendungssituation“ im Leben her in den Blick� Wir gehen gleichzeitig über den Schwerpunkt der biblischen Auslegung beim Verstehen statt bei der Anwendung der Texte 27 hinaus zur Applikation� Ungeachtet dessen, ob sich das Modell von Trobisch / Klinghardt forschungsgeschichtlich durchsetzen wird, hat es auf jeden Fall den Charme, dass es die Aufgabe kanonischer Schriftauslegung nicht nur fundamentaltheologisch zu begründen hilft, sondern sie v� a� auch historisch-kanongeschichtlich zu demons- 24 M� Klinghardt, Inspiration und Fälschung� Die Transzendenzkonstruktion der christlichen Bibel, in: H� Vorländer (Hg�), Transzendenz und die Konstitution von Ordnungen, Berlin / Boston 2013, 331-355, hier: 347. 25 Klinghardt, Inspiration, 348 f� 26 Klinghardt, Inspiration, 351� 27 Hieke, Neue Horizonte, 74� - Diesen Schwerpunkt teilt Hieke mit Klinghardt� trieren und zu illustrieren vermag - ein seltener Fall von unmittelbarer Konvergenz theologischer Lehre von der Heiligen Schrift und historischer Forschung! Hinzu kommt: Das Modell verbindet die strikte Notwendigkeit einer einheitlichen, kanonischen Schriftauslegung mit der Offenheit und Unverfügbarkeit der jeweiligen Wahrnehmung und Aneignung� Denn zum einen bewirkt das Transzendenznarrativ eine Erfahrung von Einheit der Schrift auf der „referentiellen“ Ebene unmittelbaren Vollzugs und existenzieller Aneignung; zum anderen lässt es sich ebendeshalb nicht begrifflich fassen und stellt auch keinen bewussten Akt theologischer Interpretation dar, sondern es bedeutet den Nachvollzug einer zeitlich strukturierten Geschichte („Heilsgeschichte“, biblische Geschichte), der keinen jemals identischen Erzähltext hervorbringen wird� Der Ort, an dem dieser Nachvollzug geschieht, ist das Leben des Gottesvolkes und aller seiner Glieder in ihrem jeweiligen Situationsbezug� Folgende Schlussfolgerungen lassen sich aus der Betrachtung der verschiedenen Entwürfe kanonischer Schriftauslegung ziehen: 1� Erfahrung von Einheit der Schrift findet dort statt, wo es einen extratextuellen archimedischen Punkt gibt, von dem her sie möglich wird� In jedem Fall handelt es sich dabei um ein Geschehen oder einen Vollzug (Gottes Offenbarung, Rezeption als Leser, Transzendenzerfahrung durch das Narrativ)� Zugleich ergaben sich Hinweise, dass existenzielle Erfahrungen wie diese nicht ohne Berücksichtigung ihres geschichtlichen Ortes (Kanongeschichte, Geschichte des Gottesvolkes) und ihrer jeweiligen Rezeptions- oder Aneignungssituation im Blick auf die Schrift angemessen erfasst und beschrieben werden können� Dies entspricht aber wieder ganz dem oben dargestellten doppelten Zugang zur Frage der Kanonizität von der Seite der „Ausgangstradition“ (hier jedoch nicht der traditio scripta , sondern der zugrundeliegenden Offenbarungs- und Glaubensgeschichte) her und von der Seite der „Anwendungssituation“ her� 2� Der archimedische Punkt macht zugleich deutlich, dass es bei unserem Thema um mehr geht als um Schriftlichkeit oder Textlichkeit als solche� Diese ist für den Kanon notwendig, aber nicht als solche normativ� 28 Letztlich geht es (wie schon Luther wusste) nicht um die scriptura , sondern um die viva vox evangelii , 28 Vgl� D� Hiller, Die Spur des Textes� Eine narrativ-kritische Programmskizze biblischer Theologie, in: C� Landmesser / A� Klein (Hg�), Der Text der Bibel� Interpretation zwischen Geist und Methode, Neukirchen-Vluyn 2013, 81-98, hier: 82, die diesen Sachverhalt sogar an einer Unterscheidung zwischen der „Schrift“ und dem Text selbst festmachen kann: „Nicht der Text, sondern das, was im Text aufgeschrieben ist, wird geglaubt“ und ist somit normativ� Ferner H� Hübner, Kanon - Geschichte - Gott, ZNT 12 (2003), 3-17, hier: 8 f. (8: „Von ihrem Anfang her, ihrem Ur -Sprung her, ist die Kirche Kirche des Wortes , nicht aber Kirche der Schrift ! “)� Kanonische Schriftauslegung und sola scriptura heute 187 188 Günter Röhser die auf unterschiedliche Arten laut und vernehmbar werden kann� Auch da, wo die Schriftlichkeit einen sehr hohen Stellenwert für das Gesamtkonzept hat (wie z� B� bei Hieke und Trobisch / Klinghardt für das verstehende Lesen), entsteht der gültige und in sich konsistente Sinn der kanonischen Texte erst durch die jeweilige Rezeption bzw� die jeweilige Aneignung durch die Leserinnen und Leser und liegt nicht schon in den Texten selber� 3� Wahrnehmung von Einheit in der Schrift - auf welcher Ebene auch immer - ist die Voraussetzung für deren Gültigkeit und Autorität in der Kirche� Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden noch einmal die vorhin (s� o� 3) formulierte Frage 2 nach der einheitlichen Gültigkeit der ganzen Bibel aufgegriffen werden� Erst von da aus wird dann die Frage nach der Allein gültigkeit der Bibel gestellt werden� 5. Die Frage nach der (Allein-)Verbindlichkeit der (ganzen) Schrift in der Kirche Eine Anerkennung der gleichrangigen Gültigkeit aller Teile und Texte des Kanons (also ihrer „Kanonizität“ in einem unspezifischen, formalen Sinne) ist nur dann möglich, wenn wir gleichzeitig davon ausgehen und den Umstand anerkennen, dass alle diese „kanonischen“ Elemente und Äußerungen ursprünglich nicht direkt und unmittelbar an uns Heutige gerichtet sind, nicht primär uns Heutigen gelten, sondern zunächst einmal vergangen sind und eine antike Rezeptionssituation widerspiegeln� Das ist eine Absage an jeglichen fundamentalistischen Missbrauch von Schriftautorität, schließt aber im Umkehrschluss ein, dass alle Aussagen der Schrift jene unmittelbare Autorität einmal besessen haben - sonst stünden sie nicht in der Bibel - und auch prinzipiell wiedergewinnen können (zum Teil besitzen sie sie ja oder haben sie nie verloren)� Wie jedoch erforderlichenfalls Aussagen der Schrift (auch vermeintlich oder tatsächlich grundlegende) in die Gegenwart vermittelt werden können, bedarf allerdings in jedem Einzelfall der gesonderten Reflexion und kann nicht vorab durch eine „vereinheitlichende“ Lektüre der Schrift erledigt werden (keine „Mitte der Schrift“ im literaturwissenschaftlichen Sinn! )� Das schließt die Möglichkeit ein, dass einige Aussagen - zumindest derzeit - überhaupt nicht vermittelt werden können� Was und wie es Autorität gewinnen und verbindlich sein soll, muss jeweils in einem Prozess der hermeneutischen Urteilsbildung herausgefunden und festgelegt werden� Versucht man diesen Prozess zu systematisieren, so enthält er zunächst - wenig überraschend - zwei Faktoren: 1� den biblischen Text; 2� die heutige Situation� Ad 1� Hier hat die historische Exegese ihre unverzichtbare Funktion� Und zwar hat sie sich nicht nur mit den unteren Hierarchiestufen des biblischen Textes zu beschäftigen (allgemeine theologische Aussagen, Zusammenhänge innerhalb und zwischen den Kanonteilen und kanonischer Gesamtzusammenhang), sondern gerade auch mit den oberen und obersten, wo es um die einzelnen Schriften und Texte in ihrem Eigenprofil sowie die Intentionen ihrer Verfasser geht und ihr unverwechselbarer Beitrag im und zum Kanon erkannt und zur Geltung gebracht werden soll� Ich entlehne dieses Modell aus der Hermeneutik Klaus Bergers, nach dem solche „hierarchische Differenzierung Möglichkeiten abgestufter Bindung und Freiheit“ gegenüber den kanonischen Texten gewährt� „Die Voraussetzung ist, daß sich auf exegetischem Wege zentrale und weniger zentrale Aussagen eines Textes scheiden lassen�“ 29 Damit ist übrigens noch nicht entschieden, welche Möglichkeiten der Abstufung (innerhalb eines Textes und zwischen verschiedenen Texten) man im konkreten Verbindlichkeitsfall nutzt - nur, dass es überhaupt solche Möglichkeiten gibt! - Auch hier bringt die kanonische Lektüre nach Trobisch / Klinghardt eine interessante neue Perspektive ein; denn nach ihr stellte das Transzendenznarrativ der Kanonischen Ausgabe die oberste Rangstufe im Sinne Bergers dar, da es sich dabei um „das konkreteste, direkte Anliegen“ 30 und unmittelbare Ziel ihrer Veröffentlichung handelt� Einen Gegenstand der Exegese (und nicht nur der Kanongeschichte und der Fundamentaltheologie) stellt das Transzendenznarrativ insofern dar, als es sich an den Texten und ihren Querverbindungen ablesen und als Metaerzählung darstellen lässt� Ad 2� Die Situation muss mit derselben Sorgfalt „exegesiert“ werden wie der biblische Text, weil sie darüber entscheidet (und damit legen wir nun endgültig den Schwerpunkt in der Frage nach der Verbindlichkeit der Schrift auf den Zugang von der Seite der Situation her; s� o�), welcher (Teil-)Text auf welche Weise überhaupt zur Erhellung und Bearbeitung der Situation herangezogen werden kann und soll� Dazu ist einerseits Sachkenntnis in den Herausforderungen durch die Situation vonnöten und andererseits eine Berücksichtigung der möglichen 29 K. Berger, Hermeneutik des Neuen Testaments, Gütersloh 1988, 229-236, hier: 232. Der ganze Abschnitt (§ 15 Die Hierarchie der Textfunktionen) ist leider in der Neubearbeitung des Buches (ders�, Hermeneutik des Neuen Testaments [UTB 2035], Tübingen / Basel 1999) komplett entfallen� 30 Berger, Hermeneutik, 233� Kanonische Schriftauslegung und sola scriptura heute 189 190 Günter Röhser Auswirkungen und - eng damit verbunden - eine Einschätzung der möglichen Akzeptanz des Textes in der Situation� Diese In-Beziehung-Setzung von Text und Situation geschieht nicht im luftleeren Raum, sondern ihr Ort ist die Kirche und das kirchliche Glaubensbewusstsein (was nicht heißt, dass dieses nicht auch sehr fragil und verunsichert sein kann)� In zahllosen Fällen geschieht die Verbindung im Leben der Gläubigen ganz von selbst und ohne große hermeneutische Reflexion� Wo aber das Leben und der Existenzvollzug des Gottesvolkes nachhaltig „gestört“ ist (zu diesem Kriterium s� o� vor Anm� 27), werden Fachleute (ExegetInnen für den Text und Sachverständige für die Situation) herangezogen und um Analysen gebeten� Wichtig ist, dass diese Analysen den Charakter von ernst zu nehmenden Beiträgen haben und auch konkrete Vorschläge für die Urteilsbildung (Glaubenssätze, ethische Normen, Verhaltensänderungen) beinhalten können� Die Entscheidung über die Verbindlichkeit wird aber nicht von den Fachleuten (auch nicht denen aus der Theologie und Exegese), sondern im Gesprächsprozess der Kirche getroffen, an dem grundsätzlich die einzelnen Gemeinden und alle Christen, die Synoden, die Kirchenleitungen und die Theologischen Fakultäten beteiligt sind (dies steht in der Evangelischen Kirche an der Stelle des römisch-katholischen Lehramts)� Die Einbeziehung der Genannten erfolgt nach der Reichweite der Entscheidung� Im Fall des Gelingens kommt es zu einer einheitlichen Auslegung der Schrift im konkreten Fall durch die Gemeinde und im Lebensvollzug der Kirche von begrenzter Reichweite, was den Erstreckungsradius betrifft (in der Regel nicht die Weltchristenheit), und von begrenzter Dauer, was die „Haltbarkeit“ der Entscheidung betrifft - die also immer wieder einmal überprüft werden muss (je konkreter die Applikation, desto häufiger)� Gegebenenfalls kann die Entscheidung auch von den zuständigen kirchlichen Organen formal verbindlich gemacht, kodifiziert oder publiziert werden� Die Herausstellung der Rolle „der Kirche“ und ihres „gelingenden Lebensvollzugs“ als Kriterium der Applikation richtet sich gegen die These, die Konstitution von existenziellem Sinn und verbindlicher Erkenntnis sei letztlich der gläubigen bzw� religiösen Subjektivität zu überlassen (und auch nur für sie gültig)� Man könnte sich dafür unter Umständen sogar auf das protestantische Gewissen berufen, das für den Einzelnen die einzige Verbindlichkeit darstelle� 31 Dieser Position möchte ich mich nicht anschließen - zu oft wurde das protestantische Gewissen mit seinen Entscheidungen allein gelassen� Auf Luthers gläubiges und der Wahrheit des Evangeliums verpflichtetes Ich („Hier stehe 31 Vgl� kürzlich das leidenschaftliche Plädoyer von K� R� Ziegert, Die EKD und das neue Mittelalter� Über die Widersprüche im kirchlichen Reformationsgedenken, DtPfrBl 116 (2016) 7, 383-389. ich …“) kann man sich dafür ganz bestimmt nicht berufen� Auch der evangelische Christ - erst recht, wenn er ein Pfarr- oder Lehramt wahrnimmt - hat sich mit den öffentlichen Äußerungen seiner Kirche und ihrer Organe sorgfältig zu befassen und konstruktiv-kritisch auseinanderzusetzen� Er darf die Lehre seiner Kirche nicht ignorieren und sich nur im Einzelfall und dann mit sehr guten Gründen davon distanzieren� 32 Die jeweils aktuelle Applikation der Schrift ist darin eingeschlossen� Es stellt sich also heraus, dass die Schrift ihre jeweilige Autorität und Verbindlichkeit immer nur von einer bestimmten Interpretation her gewinnt, über die man sich in der Kirche immer wieder verständigen muss und die sich z� B� in Bekenntnisschriften, theologischen Erklärungen, Denkschriften oder Synodalerklärungen niederschlägt und in ihnen zum Ausdruck kommt� Und diese beinhalten immer auch Auswahlentscheidungen und Schwerpunktsetzungen („Hierarchisierungen“) oder auch neue inhaltliche Verknüpfungen mit und innerhalb der Schrift (also tatsächlich so etwas wie „kirchliche Tradition“ neben der Schrift)� Insofern entsteht verbindliche Erkenntnis und Praxis immer aus beidem: aus der singulären und unveränderlichen Vorgabe der Schrift (Kanon) und der jeweiligen Herausforderungssituation, in der die Schrift zur aktuellen und einheitlichen Anwendung kommen soll� Erst aus der Korrelation dieser beiden Pole entsteht Verbindlichkeit, Normativität, ja man kann sogar sagen: Kanonizität (im engeren, eigentlichen Sinne)� Der schriftliche Kanon ist somit nicht die einzige Quelle für Glauben, existenziellen Sinn und verbindliche Lebensführung in der Kirche; konstitutiv ist vielmehr auch die jeweilige Erschließungs- und Rezeptionssituation� 33 In der Sache entspricht dies durchaus dem „kanonischen Prozess“, wie ihn James A� Sanders in einem weiten Sinne im Rahmen seines „canonical criticism“ verstanden hat: nämlich als „jenen Vorgang, in dem die Tradition durch Relektüre und Resignifikation immer neu ihre identitätsstiftende Kraft für die Glaubensgemeinschaft(en) erweist� Dabei gewinnt die Tradition einerseits an Stabilität, andererseits aber bleibt sie kraft ihrer Multivalenz und Pluriformität offen, per ‚dynamic analogy’ an neue Lebenssituationen angepaßt“ - und ich füge hinzu: und auch verändert - „zu werden�“ Dieser Vorgang ist bis heute 32 Man kann sich dafür auch nicht auf die in K� Bergers Hermeneutik so wichtige „kritische Minorität“ in der Kirche berufen (Berger, Hermeneutik, 75-92). Denn diese ist gerade darauf ausgerichtet, Mehrheiten für verbindliche Praxis der Kirche zu gewinnen� 33 Dieser Ansatz wurde umfassend begründet und als vollständige Dogmatik ausgeführt von G. Siegwalt, Dogmatique pour la catholicité évangélique, Paris / Genf 1986-2007; siehe die kompakte Darstellung: ders�, Das Schriftprinzip auf dem Prüfstand unserer Zeit� Versuch einer systematischen Rechenschaft, DtPfrBl 114 (2014) 2, 68-72 (unter Bezugnahme auf P� Tillichs „Methode der Korrelation“)� Kanonische Schriftauslegung und sola scriptura heute 191 192 Günter Röhser nicht abgeschlossen, erfordert nur seit der formalen Kanonisierung als der relativen „Stabilisierung des Kanonumfangs und des Textes neue Formen der Hermeneutik“� 34 Ich formuliere als abschließende These: Es sind letztlich nicht bestimmte formale Voraussetzungen oder inhaltliche Merkmale, die einen Text im engeren Sinne „kanonisch machen“, sondern es ist eine bestimmte Interpretation desselben, die sich im Leben des Gottesvolkes bewährt� „Bewährung“ ist hier nichts Statisches, sondern bedeutet Hilfe und Anstoß zu heilsamer Veränderung (s� o� 3 ad 1)� Es kommt darauf an, die „Störung“ (Leiden und Defizite jeglicher Art) im Existenzvollzug des Gottesvolkes zu beheben� Was also heißt sola scriptura in diesem Zusammenhang einer hermeneutischen Urteilsbildung und Interpretationsaufgabe? Es bedeutet zwar nicht, dass es überhaupt eine Schriftinterpretation jenseits der Auslegungssituation gäbe (insofern kein sola ), aber es bedeutet sehr wohl, in dieser Situation als einzige vorgegebene Instanz jeweils immer nur die Schrift zu befragen und nur aus der Beschäftigung mit ihr neue und hilfreiche Aspekte für die Bearbeitung der Herausforderungssituation zu erwarten und zu gewinnen� 35 Eine gleichrangige Berücksichtigung aller späteren kirchlichen Tradition ist damit zugleich abgewiesen� Eine nachrangige, die Vorgabe der Schrift respektierende Orientierungsfunktion solcher Tradition (z� B� Bekenntnisschriften, Konzilsentscheidungen) ist damit jedoch nicht ausgeschlossen� Es handelt sich bei ihr sozusagen um exemplarische Ergebnisse der Schriftauslegung in bestimmten (Schlüssel-)Situationen� Damit sind wir bei unserem letzten Punkt: der Verhältnisbestimmung von Schrift und Tradition� 6. Schrift und Tradition Die Diskussion über „Schrift und Tradition“ hat im 20� Jhdt� eine interessante Modifikation erfahren und zu einer ökumenischen Annäherung geführt� Die evangelische Theologie kann heute nicht mehr wie früher eine strikte Unterscheidung, ja Entgegensetzung der beiden Größen behaupten, da die historische Forschung das partielle Recht der katholischen Sichtweise gezeigt hat: Die Schrift ist selbst ein Teil der kirchlichen Traditionsbildung und tatsächlich inner- 34 So das Referat der Position von Sanders durch J� Barthel, Die kanonhermeneutische Debatte seit Gerhard von Rad� Anmerkungen zu neueren Entwürfen, in: B� Janowski (Hg�), Kanonhermeneutik� Vom Lesen und Verstehen der christlichen Bibel (Theologie Interdisziplinär Bd. 1), Neukirchen-Vluyn 2007, 1-26, hier: 11 f. 35 Es gilt aber auch das Umgekehrte: Aus der Beschäftigung mit der Herausforderungssituation können sich neue und hilfreiche Aspekte des biblischen Textes ergeben� halb der Kirche entstanden und kanonisiert worden - wenn auch durchaus nicht eigenmächtig durch die Kirche oder ihre Theologen, sondern in Anerkennung der von der Schrift selbst bzw� den einzelnen Autoren erhobenen Autoritäts- und Wahrheitsansprüche (z� B� 1Thess 2,13; 1Tim 2,7) 36 und in Aufnahme einer bereits vorhandenen faktischen Durchsetzungskraft� Und auch der hypothetische Herausgeber der Kanonischen Ausgabe nach Trobisch / Klinghardt veranstaltet seine Edition nicht im luftleeren Raum, sondern als Teil der kirchlichen Traditionsbildung (sonst wäre er nicht so erfolgreich gewesen)� Auf der anderen Seite vermied das 2� Vatikanische Konzil in seiner „Konstitution über die göttliche Offenbarung“ bewusst eine Wiederholung der Rede von Schrift und Tradition als zwei koordinierten Offenbarungsquellen und betonte stattdessen Christus selbst als die eine Quelle der Offenbarung sowie die fundamentale Bedeutung der Schrift� 37 Aus meinen obigen Darlegungen ergibt sich jedoch ein anderer Vorschlag für eine Neubestimmung des Verhältnisses: 38 Man kann die beschriebene Korrelation von Text und Situation selbst bzw� deren Ergebnisse als kirchliche Tradition bestimmen, die in gewissem Sinne neben die Schrift tritt und diese zeitgenössisch interpretiert� Damit gewinnt man a) durch die Berücksichtigung der Situation die nötige Freiheit, um auch stark von der Bibel abweichende Erscheinungen oder Entwicklungen im Leben des Gottesvolkes ggf� positiv würdigen zu können, b) durch die jeweilige Verbindung mit der Schrift die Möglichkeit, ihnen ggf� eine abgeleitete Orientierungsfunktion zusprechen zu können� Für unsere Ausgangsfragestellung bedeutet das: Wenn schon neben die Schrift die Situation als „Autorität“ und Quelle der Verbindlichkeit tritt, die für die Artikulation und Praxis derselben konstitutiv ist, dann wird man diesem Ergebnis eine abgeleitete „Autorität“ nicht absprechen können, zumal wenn es sich um eine Herausforderungssituation von nicht nur punktueller, sondern längerfristiger und grundsätzlicher Bedeutung handelt (wie im Falle von Kon- 36 Vgl� dazu: H�-J� Eckstein, Die implizite Kanonhermeneutik des Neuen Testaments, in: Janowski (Hg.), Kanonhermeneutik, 47-68; F. W. Horn, Wollte Paulus ‚kanonisch’ wirken? , in: E�-M� Becker / S� Scholz (Hg�), Kanon in Konstruktion und Dekonstruktion� Kanonisierungsprozesse religiöser Texte von der Antike bis zur Gegenwart� Ein Handbuch, Berlin / Boston 2012, 400-422. 37 Siehe weiter im Konzilsdokument „Dei Verbum“ und dazu: C� Dohmen / M� Oeming, Biblischer Kanon, warum und wozu? Eine Kanontheologie (QD 137), Freiburg [u� a�] 1992, 108-110. 38 Anregungen bei J� Nissen, Scripture and Community in Dialogue� Hermeneutical Reflections on the Authority of the Bible, in: J�-M� Auwers / H� J� de Jonge (Hg�), The Biblical Canons (BEThL 163), Leuven 2003, 651-658; vgl. ferner D. Ritschl, A Plea for the Maxim: Scripture and Tradition� Reflections on Hope as a Permission to Remember, in: ders�, Konzepte: Ökumene, Medizin, Ethik. Gesammelte Aufsätze, München 1986, 97-110. Kanonische Schriftauslegung und sola scriptura heute 193 194 Günter Röhser zils- oder Synodalentscheidungen)� Insofern erfährt das sola scriptura im herkömmlichen Verständnis eine doppelte Modifikation: sowohl im Hinblick auf die Bedeutung der Situation als auch - davon abgeleitet - im Hinblick auf die Rolle der Tradition� Dass das Schriftprinzip dadurch aufgehoben würde, wird man nicht sagen können: Die Schrift behält eine unersetzliche kritische Funktion, da sie allen anderen Autoritäten voraus ist und im Gegensatz zu Situation und Tradition sich niemals ändert� 7. Fazit Wir stehen am Ende unseres Gedankengangs: Die (Gesamt-)Biblische und die Kanonische Theologie haben uns auf die Notwendigkeit einer einheitlichen Schriftauslegung aufmerksam gemacht, wenn die Autorität der Schrift gelten soll� Man kann nicht spannungsvoll gegensätzlichen Inhalten gleichzeitig Verbindlichkeit zusprechen� Aufgrund der Entstehung und der spannungsvollen Inhalte des Kanons lässt sich diese Einheit aber nicht ohne weiteres darstellen� Am ehesten gelingt dies noch im Falle der Kanonischen Ausgabe im Sinne von Trobisch / Klinghardt, da sich deren Metanorm (das Transzendenznarrativ der Heilsgeschichte) an den Texten ablesen lässt, wenn es auch nicht direkt in ihnen enthalten ist� In jedem Falle muss man für eine Erfassung und Beschreibung der Einheit einen Bezugspunkt hinter den Texten suchen - welcher selbst kein geschriebener Text sein kann (vorzugsweise ein Geschehen)� Die Fragen von Autorität und Einheit der Schrift haben uns weiterhin auf die Bedeutung der Situation für die Gewinnung einer verbindlichen, konkreten und in diesem Sinne „einheitlichen“ Auslegung und Anwendung der Schrift aufmerksam gemacht� Die Autorität der Schrift kann nicht gelten ohne ihre Bewährung im Leben des Gottesvolkes� Und in dessen Lebenswirklichkeit spielen neben der Schrift eben auch bestimmte Traditionen, die sich bewährt haben, eine wichtige Rolle� Auch in den protestantischen Kirchen herrscht kein reines Schriftprinzip, sondern immer nur die perspektivisch interpretierte und situativ ausgelegte, manchmal auch missverstandene Schrift - insofern also „Tradition“� Über die Dauerhaftigkeit dieser Tradition ist damit natürlich - bei wechselnden und sich verändernden Situationen und Lebenswirklichkeiten - nicht entschieden� In jedem Fall bleibt das Schriftprinzip, was es immer war: eine Einweisung in den Disput und eine Herausforderung für Theologie und Hermeneutik� Zeitschrift für Neues Testament Heft 39 / 40 20. Jahrgang (2017) Sola Scriptura-- Grundlage für Konsens und Individualisierung des Glaubens? Gerd Theißen Martin Luther bestritt auf der Leipziger Disputation (1519) die Irrtumslosigkeit von Konzilien und die Autorität des Papstes, da sie sich nicht aus der Schrift begründen ließe� Damit spielte er die Schrift gegen die entscheidende normative Instanz der Kirche aus, wenn es um aktuelle Fragen ging, und begründete das Schriftprinzip (des sola scriptura ), mit dem die Reformation ihre Botschaft von der exklusiven Heilsbedeutung des Glaubens, der Gnade und des Christusgeschehens (das sola fide , sola gratia und solus Christus ) legitimierte� 1 Das Schriftprinzip entstand, um den Dissens der Protestanten gegenüber der katholischen Kirche und den konfessionellen Pluralismus der Neuzeit zu begründen und hatte in diesem Zusammenhang eine emanzipatorische und kritische Funktion� Als sich die protestantischen Kirchen gegenüber dem Katholizismus verselbständigt hatten, wurde das sola scriptura - verbunden mit den genannten formulae exclusivae - zur Konsensbasis der neuen Kirchen, musste jetzt aber die Pluralisierung des Glaubens begrenzen, die durch die Reformation ausgelöst worden war und in den Augen der Reformatoren eine neue „Gefahr“ darstellte; neben den von Luther beeinflussten Landeskirchen entstanden reformierte Gemeinden, darüber hinaus eine in sich zersplitterte alternative Reformation 1 V� Leppin, Reformation, Darmstadt 2013, 20 f� Formuliert wurde das Schriftprinzip im selben Jahr durch Ph� Melanchthon: „Für einen Katholiken ist es nicht notwendig, über die Dinge hinaus, die ihm durch die Schrift bezeugt werden, noch weitere zu glauben“ (Melanchthons Werke, hg� R� Stupperich Bd 1, Reformatorische Schriften, Gütersloh 1951, 24)� 196 Gerd Theißen aus Täufern und Mennoniten, Spiritualisten und Mystikern� Bis heute dient das Schriftprinzip daher auch zur „Varianzbändigung“ 2 dieses innerprotestantischen Dissenses� Jede religiöse Gemeinschaft muss definieren, wer zu ihr gehört und wer nicht� In diesem Zusammenhang hat das sola scriptura eine restriktive und kontrollierende Funktion� 3 Die emanzipatorische und die begrenzende Funktion des Schriftprinzips wirken in protestantischen Konfessionen bis heute nebeneinander, oft aber auch gegeneinander in einer fundamentalistischen Schriftdogmatik auf der einen und einer liberalen Schrifthermeneutik auf der anderen Seite� Der Fundamentalismus insistiert auf dem Buchstaben, d� h� auf einer wörtlich verstandenen und irrtumsfreien Schrift, begegnet aber meist abgemildert als „evangelikale Schrifttreue“, die so viel wie möglich, aber nicht alles wörtlich und historisch verstehen will� Liberale Schrifthermeneutik relativiert die Schrift durch historische Distanzierung oft so stark, dass sie in einem zweiten Schritt hermeneutisch „wiederbelebt“ werden muss, damit ihre Intention in einer gewandelten Welt zur Geltung kommt� Auch sie wird meist durch eine dezidiert kerygmatische Schriftdeutung aufgefangen, welche die Intention der Schrift (oder das „Kerygma“ in ihr) umso nachdrücklicher vertritt, je mehr sie alles andere historisch relativiert� 4 Dass sich evangelikale Schrifttreue und kerygmatische Schriftdeutung in einer Opposition gegen den modernen Zeitgeist verbinden können, geschieht 2 J� Lauster, Die Verzauberung der Welt� Eine Kulturgeschichte des Christentums, München 2014, 116� Dogmen haben eine regulative Funktion� „In Analogie zur Kanonisierung der biblischen Schriften kann man dies als eine ‚Varianzbändigung’ verstehen, die einen Rahmen für das abzustecken versuchte, was als angemessener Ausdruck christlichen Glaubens zu verstehen war�“ 3 Das Sola-scriptura -Prinzip muss sich der kritischen Anfrage stellen, ob es nicht auf Selbsttäuschung basiert� Seine Anwendung ist durch Prämissen mitbestimmt, die in der Schrift selbst nicht begründet sind� So steht das Sola-scriptura -Prinzip zwar von seinem Ursprung her in Opposition zur Tradition, ist aber selbst Teil einer protestantischen Tradition (Diese Erkenntnis verdanke ich einer Seminararbeit: E� Maikranz, Reformatorische Tradition zwischen Rechtfertigungslehre und ‚Sola Scriptura’� Ein Versuch einer konstruktiven Annäherung an ein protestantisches Traditionsverständnis, Heidelberg 2015� Sie wird zurzeit zu einer systematisch-theologischen Dissertation ausgebaut)� Der fundamentalistische Antimodernismus reagiert ebenso wie liberale hermeneutische Modernisierungsversuche auf die Distanz zwischen Bibel und gegenwärtiger Welt� Beide gehen davon aus, dass vergangene Texte wahrheitsfähig sind und wir ihren Sinn erfassen, aber nicht erschaffen können� 4 R� Bultmanns existenziale Interpretation ist das Paradigma solch einer Verbindung von historisch-relativierender Kritik und kerygmatischer Auslegung: Neues Testament und Mythologie� Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung, in: Offenbarung und Heilsgeschehen, (BEvTh 7), München 1941, 27-69 = neu hg. von E� Jüngel, BEvTh 96, München 1988� Sola Scriptura 197 dort, wo sie einen Protest gegen Ungerechtigkeit teilen� Aber beide können sich auch antagonistisch bekämpfen, wenn sich fundamentalistische Schriftdogmatik mit politischem Konservativismus, liberale Schrifthermeneutik aber mit sozialkritischem Engagement verbinden� Ethische und politische Einstellungen trennen heute mehr als Schriftauffassungen� In der Gegenwart stellt sich das Verhältnis von Varianzbändigung und Varianztolerierung noch einmal neu, weil sich die Pluralisierung inzwischen zur Individualisierung der Religion entwickelt hat� Diese Individualisierung meint „ein verändertes Verhältnis der Menschen zu bisher weitgehend vorgegebenen Lebensformen, Lebensdeutungen und Institutionen … Aus selbstverständlich erachteten Vorgaben des Familienlebens, der Geschlechterrollen, der lebenslangen Erwerbsarbeit, der regionalen und religiösen Bindungen sehen sich immer mehr Menschen herausgelöst� Wie die Statistik belegt, verschwinden die herkömmlichen Lebensformen zwar damit nicht schlagartig - faktisch bewegt sich die Mehrheit der Bevölkerung nach wie vor in ihren Bahnen; sie haben aber ihren Charakter des Vorgegebenen und Selbstverständlichen eingebüßt� Angesichts verfügbarer Alternativen werden sie zu Objekten komplizierter Wahlvorgänge und Entscheidungen�“ 5 Wenn man dieser Diagnose zustimmt, stellt sich das Problem konsensstiftender Normen neu� Mit der Individualisierung des Lebens wird ja keineswegs die Notwendigkeit vorgegebener Traditionen aufgelöst, im Gegenteil: Individualisierung und Entscheidungszuwachs sind auf Vorgaben an Alternativen angewiesen, die es ermöglichen, sinnvoll zu entscheiden� Die Frage ist: Bietet die Schrift genug sinnvolle Alternativen für den Einzelnen? Ist ihr Konsenspotenzial groß genug, um Menschen mit modernen Individualisierungsprogrammen zusammenzuführen? Oder muss man sie durch andere In- 5 K� Gabriel, Religiöse Individualisierung und Authentizität, in: A� Kreutzer / Ch� Niemand (Hg�), Authentizität - Modewort, Leitbild, Konzept� Theologische und humanwissenschaftliche Erkundungen zu einer schillernden Kategorie, Regensburg 2016, 117-132. Prof. Dr. Gerd Theißen, geb� 1943, Studium der Germanistik und Ev� Theologie, Promotion 1968 und Habilitation 1973 in Bonn, 1976 Lehrer an Gymnasien, 1978 Professor in Kopenhagen, seit 1980 Heidelberg� Schwerpunkte: Historischer Jesus, Soziologie, Psychologie und Theorie des Urchristentums� 198 Gerd Theißen stanzen ergänzen? Man muss nicht gleich an ein autoritatives Lehramt denken wie an das Papsttum, auch demokratische Entscheidungsprozesse in Synoden sind denkbar� Muss die Schrift für solche demokratischen Entscheidungsprozesse durch Tradition, Erfahrung und Vernunft erweitert werden? 6 Das entspricht dem methodistischen Viereck (oder quadrilateral ), dabei ist die Schrift die primäre Instanz, ihre Auslegung aber geschieht im Lichte von Tradition, soll mit Vernunft betrieben werden und findet ihr Ziel in persönlicher Erfahrung� Müssen diese Instanzen vielleicht zu Instanzen entwickelt werden, mit denen die Schrift ggf� auch kritisiert werden kann? Im Folgenden wird die These vertreten, dass die Schrift einen dreifachen Pluralismus begründet und individuelle Entscheidungsspielräume eröffnet: a� Die Schrift ermöglicht einen Pluralismus des Dialogs zwischen Konfessionen und Religionen : Sie ist nicht nur Grundlage verschiedener christlicher Konfessionen, 7 sondern auch von Judentum und Christentum, darüber hinaus Niederschlag eines Dialogs mit den Religionen des Alten Orients und der Antike� Das hat die „religionsgeschichtliche Schule“ seit dem Ende des 19� Jahrhunderts bewusstgemacht� Auch wenn ihre Ergebnisse korrigiert wurden, ist ihre Fragestellung aktuell� b� Die Schrift ermöglicht einen Pluralismus der Prinzipien : In der Schrift selbst sind Tradition, Erfahrung und Vernunft als Instanzen theologischen Denkens begründet� Schrift und Tradition standen schon immer fest, Erfahrung und Vernunft verdanken wir dem Pietismus und der Aufklärung des 18� Jahrhunderts� Beide begünstigen eine individualisierende Frömmigkeit: Erst in persönlicher Erfahrung kommt das Verstehen zum Ziel� Aufklärung bedeutet, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen� 6 Das methodistische Quadrilateral (Viereck) geht der Sache nach auf John Wesley zurück, der Begriff Quadrilateral aber wurde geprägt von A� C� Outler, The Wesleyan Quadrilateral in Wesley, in: WTJ 20 (1985), 1-18, der es so zusammenfasst (9): „Thus, we can see in Wesley a distinctive theological method, with Scripture as its pre-eminent norm but interfaced with tradition, reason and Christian experience as dynamic and interactive aids in the interpretation of the Word of God in Scripture�“ J� Wesley folgte dabei einer anglikanischen Trias, der er die „Erfahrung“ hinzufügte� - Um Missverständnissen vorzubeugen, sei gesagt: Ich bin kein Methodist, sondern reformiert� Im Übrigen kann man das methodistische Quadrilateral schon in Martin Luthers Erklärung vor dem Wormser Reichstag 1521 erkennen: Luther beruft sich dort auf die Schrift, die Vernunft und sein Gewissen gegen die Autorität von Konzilien und Päpsten� Wenn man das Gewissen zur Erfahrung rechnet, Päpste und Konzilien zur Tradition, so nennt er hier alle vier Prinzipien� 7 E� Käsemann, Begründet der Neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche? in: Ders�, Exegetische Versuche und Besinnungen, Göttingen 1970, 214-223, hier: 221: „Der nt.liche Kanon begründet als solcher nicht die Einheit der Kirche� Er begründet als solcher, d� h� in seiner dem Historiker zugänglichen Vorfindlichkeit dagegen die Vielzahl der Konfessionen�“ c� Die Schrift ermöglicht einen Pluralismus der Interpretationen : An die Stelle einer una sancta interpretatio tritt heute eine polyphone Hermeneutik� Zwar dominierten im Protestantismus reduktive Hermeneutiken, die ein einziges Auslegungsverfahren ins Zentrum stellten - beginnend mit der Reformation, die unter Berufung auf den Literalsinn den vierfachen Schriftsinn des Mittelalters überwand� Aber durch eine Folge einseitiger hermeneutischer Ansätze entstand im Protestantismus ein neuer vielfacher Schriftsinn: 8 Die Schrift wird seit der Aufklärung historisch-kritisch , seit Klassik und Romantik poetisch , in der dialektischen Theologie kerygmatisch und im Existenzialismus existenzial ausgelegt� Sie dient in der Gegenwart dem ökumenischen Gespräch� Die Schrift lässt als „Buchstabe“, d� h�, wenn man sie mit den allgemeinen wissenschaftlichen Methoden auslegt, viele Deutungen zu� Abschließend fragen wir, wodurch die Schrift durch ihren „Geist“ dennoch eine pluralitätsbegrenzende Kraft auch in unserer Zeit haben kann� Erste These: Das Schriftprinzip begründet den Pluralismus des Dialogs zwischen Konfessionen und den Dialog der Religionen. 1. Die Schrift besteht aus Altem und Neuem Testament und enthält damit in sich einen Religionsdialog � Historisch-kritische Erforschung hat gezeigt: Das Alte Testament ist keine christliche Schriftensammlung� Es gibt zwar eine Verheißungslinie in ihm, die in die Zukunft weist� Aber neben ihrer Erfüllung im Neuen Testament steht gleichberechtigt seine Wirkungsgeschichte im Judentum� Die Schriften des Alten Testaments sind jüdische Schriften, die auch von Christen als eigene Bibel gelesen wurden� Wenn man sich der reformatorischen Formeln bedient, kann man sagen: Das solus Christus lässt sich im Alten Testament nicht finden� Daraus darf man nicht den Schluss ziehen, das Alte Testament müsse „entkanonisiert“ werden� 9 Es hat ein theologisches Eigengewicht� Ohne Altes Testament gibt es kein lebensfähiges Christentum: ohne den Glauben an 8 So meine These in: G� Theißen, Polyphone Hermeneutik - ein Nachklang der Bibelhermeneutik aus vielen Jahrhunderten, in: Polyphones Verstehen� Entwürfe zur Bibelhermeneutik (BVB 23), Münster 2014, 2 2015, 21-64. 9 R� Slenczka hat in der Tradition von F� Schleiermacher und A� v� Harnack die kanonische Gleichrangigkeit des Alten mit dem Neuen Testament in Frage gestellt� Sein Aufsatz: Die Kirche und das Alte Testament, in: E� Gräb-Schmidt (Hg�), Das Alte Testament in der Theologie (MJTh 25), Leipzig 2013, 83-119, rief im Jahre 2015 eine intensive Debatte hervor� Sein Hauptargument ist zutreffend: Historisch-kritische Forschung macht eine christologische Auslegung des Alten Testaments unmöglich, die für Luther zweifellos Voraussetzung für die kanonische Geltung des Alten Testaments war� Das sola scriptura und das solus Christus gehören für Luther zusammen� Sola Scriptura 199 200 Gerd Theißen den einen und einzigen Gott und seine Schöpfung, seine Spuren in Welt und Geschichte, Gottes Gesetz und die Verantwortung des Menschen, individuelle und gesellschaftliche Ethik, extreme Lebensverzweiflung und Lebensbejahung� 10 Darüber hinaus gilt: Es ist eine besondere Chance, dass in den Grundlagen der christlichen Religion der Dialog mit einer anderen Religion „eingebaut“ ist� Die Beziehung zum Judentum ist nicht sekundär zum Christentum hinzugekommen� Seine Grundlagenschriften sind gleichzeitig die Schriften einer anderen Religion� Das Judentum ist und bleibt damit die Wurzel, aus der das Christentum gewachsen ist� Aber Judentum und Christentum haben sich aus ihr zu verschiedenen Religionen entwickelt� Anstatt das Christentum zu einer Variante des „Judentums“ umzudeuten und in die Geschichte des Judentums einzuschreiben - obwohl offen ist, ob Juden das angesichts der Geschichte christlicher Schuld gegenüber ihnen akzeptieren können -, sollte man die Existenz einer Alternative zwischen zwei Religionen anerkennen mit der Konsequenz, dass Konversionen zwischen ihnen vorbehaltlos akzeptiert werden� Sie sind Ausdruck individueller religiöser Freiheit� Es muss und soll keine Mission stattfinden, wohl aber müssen Konversionen anerkannt werden� Mission ist Ausdruck von Bevormundung, Konversionen sind Ausdruck von Freiheit� 2. Das Neue Testament umfasst eine Pluralität von Theologien. Es begründet nicht nur die Einheit der Kirche, sondern die Vielfalt der Konfessionen - und darüber hinaus des individuellen christlichen Glaubens� Auch im Neuen Testament lässt sich eine judenchristliche Theologie von einer für Heidenchristen konzipierten Theologie unterscheiden� So wird in zwei Schriften genau das vertreten, was die Reformation als „Werkgerechtigkeit“ verurteilt hat: im Matthäusevangelium 11 und Jakobusbrief� In diesen Schriften gilt das sola fide und sola gratia nicht so wie bei Paulus� Im MtEv werden alle Menschen am Ende vom Weltenrichter nur nach einem ethischen Kriterium beurteilt: Was habt ihr meinen geringsten Brüdern getan? Umstritten kann bleiben, ob das MtEv gegen Paulus indirekt polemisiert� Alle fünf Reden des MtEv enthalten m� E� versteckte Polemik gegen ihn - gegen einen Lehrer, der kleinste Gebote auflöst (Mt 5,19), gegen Missionare, die ihre Reisen durch Gelderwerb finanzieren (Mt 10,9), gegen Gemeindegründer, die Unkraut unter die Saat säen (Mt 13,24-30), gegen Menschen, die in den Gemeinden für viele ein Ärgernis sind (Mt 18,6 f�), oder Pharisäer, die übers 10 G� Theißen, Der Eigenwert des Alten Testaments� Überlegungen eines Neutestamentlers aus reformierter Tradition, in: M� Oeming / W� Boës (Hg�), Alttestamentliche Wissenschaft und kirchliche Praxis, FS J� Kegler (BVB 18), Münster LIT 2009, 15-28. 11 U� Luz, Die Jesusgeschichte nach Matthäus, Neukirchen-Vluyn 1993, stellt in seiner Darstellung der Theologie des Matthäusevangeliums es als Vertreter von Werkgerechtigkeit dar� Meer reisen, um dort Proselyten zu machen (Mt 23,15)� 12 Im Jakobusbrief findet sich m� E� eine direkte Polemik gegen die These des Paulus, dass Glauben ohne Werke rettet� Außerdem misst der Jakobusbrief die wahre Weisheit von oben daran, dass sie keinen Streit erzeugt� Auch damit könnte Paulus gemeint sein, der ständig von Konflikten umgeben war� 13 Unabhängig davon ist unbestreitbar, dass die im MtEv vertretene „Werkgerechtigkeit“ ein wertvolles Erbe ist, das sich erst in der Aufklärung durchgesetzt hat: Alles in der Religion muss daran gemessen werden, ob es ethischen Kriterien entspricht: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen! “ (Mt 7,16)� Angesichts von religiösem Fanatismus und Terrorismus ist diese Erkenntnis heute wichtiger denn je� Das aber heißt: Das einst von der Reformation abgelehnte Prinzip der Werkgerechtigkeit muss rehabilitiert werden� Das würde auch der ökumenischen Verständigung dienen, denn die Polemik gegen jüdische Werkgerechtigkeit war vor allem Polemik gegen den Katholizismus� Damit würde das sola gratia der Reformation relativiert� Dasselbe gilt für das sola fide : „Glaube“ ist nicht die einzige Form im Neuen Testament, um zu Jesus in eine existenzielle Beziehung zu treten� In den synoptischen Evangelien begegnet als alternative Form die Nachfolge � Sie bezieht sich auf Jesu Person und Lehre� Wenn Sokrates uns gelehrt hat, dass unser Wissen vor allem darin besteht, uns unser Unwissen einzugestehen, so lehrt uns Jesus: Moralisch ist nur, wer sich seine Unmoral eingesteht� Bei Paulus begegnet eine andere Form der Beziehung zu Jesus, der Glaube, der sich auf Kreuz und Auferstehung richtet und hier einer Macht begegnet, die aus Nichts schafft� Im Johannesevangelium ist gleichwertig mit dem Glauben vom Erkennen die Rede, wenn Jesus sagt: „Das ist das ewige Leben, dich, den einzigen wahren Gott zu erkennen und Jesus Christus, den du gesandt hast“ (17,3)� Diese verschiedenen Weisen, sich auf Jesus zu beziehen, Nachfolge, Glaube und Erkennen, widersprechen einander nicht, aber geben Freiheit, sich auch heute in verschiedener Weise zu Jesus zu verhalten� 3. Die ganze Bibel, Altes und Neues Testament, ist Niederschlag eines Dialogs mit anderen Religionen. Das ist oft ein polemischer Dialog� Aber die Polemik gegen die „Götzen“ der Völker darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Schrift in vielen Punkten Gedanken der Umwelt aufgreift� Wir können die Schöpfungsgeschichte nur im Lichte altorientalischer Schöpfungsgeschichten verstehen� 14 12 G� Theißen, Kritik an Paulus im Matthäusevangelium? Von der Kunst verdeckter Polemik im Urchristentum, in: O� Wischmeyer / L� Scornaienchi (Hg�), Polemik in der frühchristlichen Literatur (BZNW 170), Berlin 2011, 465-490. 13 G� Theißen, Die pseudepigraphe Intention des Jakobusbriefes� Ein Beitrag zu seinen Einleitungsfragen, in: P�v� Gemünden / M� Konradt / G� Theißen, Der Jakobusbrief� Zur Rehabilitierung der „Strohernen Epistel“ (BVB 3), Münster 2003, 54-82. 14 M� Bauks, Die Welt am Anfang: zum Verhältnis von Vorwelt und Weltentstehung in Gen 1 und in der altorientalischen Literatur (WMANT 74), Neukirchen-Vluyn 1997� Sola Scriptura 201 202 Gerd Theißen Wir können die Gesetzestexte des Alten Testaments nicht verstehen, wenn wir sie nicht mit Rechtsbüchern wie dem Codex Hammurapi vergleichen� 15 Wir können die alttestamentliche Prophetie nicht verstehen, wenn wir sie nicht im Kontext der Prophetie des Orients sehen� 16 Erst recht betreten wir in der Weisheitsliteratur ein Feld internationaler Überlieferungen. In Spr 22,17-24,22 wurde eine Spruchsammlung aufgenommen, die ihre nächste Parallele in der ägyptischen Lehre des Amenemope hat� 17 Hiob wird im Alten Testament nicht als Israelit dargestellt� Sein Leiden und seine Weisheit sind universal� Für das Neue Testament gilt ebenso: Wir verstehen es nur, wenn wir es in Beziehung zu seiner religionsgeschichtlichen Umwelt setzen� Dazu genügt eine einfache formgeschichtliche Überlegung: Das Neue Testament entstand in Kreisen, für die das „Alte Testament“ die Bibel schlechthin war, aber es setzt in seinen beiden Grundformen keine Gattung des Alten Testaments fort, sondern orientiert sich bei den Evangelien und Briefen an Formen der nicht-jüdischen Umwelt, in der Biographien und Briefsammlungen anerkannte Formen waren� 18 Die Anlehnung an die Umwelt gilt dabei nicht nur für literarische Formen, sondern auch für theologische Inhalte� Die Christologie des Neuen Testaments greift aus der Umwelt Modelle auf: Die Vorstellungen von einer präexistenten Weisheit stammt aus der jüdischen Weisheitsliteratur, die Erwartung eines Menschensohns als eschatologischem Richter aus der Apokalyptik des Judentums, das Bild eines nach seinem Tod zu Gott erhöhten Sohn Gottes und „Heilands“, dessen Herrschaft als „Evangelium“ in aller Welt verkündigt wird, ist ein Gegenbild zum römischen Kaiser und zum Kaiserkult� Denn hier erlebten die damaligen Zeitgenossen, wie ein Mensch nach seinem Tod postmortal zur Gottheit erhöht wurde, der von einigen schon zu Lebzeiten als göttliches Wesen verehrt wurde� Die Bibel ist in allen ihren Teilen Niederschlag eines intensiven Dialogs� Deshalb würde man diese dialogische Dimension der Bibel nur bewusstmachen, wenn man heute eine „Dialogbibel“ schaffen würde, in der biblische Texte mit Texten aus anderen Religionen verglichen und kontrastiert würden� 19 15 R� Borger [u� a�] (Hg�), Rechtsbücher Bd 1 (TUAT I / 1), Gütersloh 1982, 39-80. 16 M� Weippert, Götterwort in Menschenmund: Studien zur Prophetie in Assyrien, Israel und Juda (FRLANT 252), Göttingen 2014� 17 I� Shirun-Grumach, Weisheitstexte II (TUAT III / 2), Gütersloh 1991, 222-250. 18 Vgl� G� Theißen, Die Entstehung des Neuen Testaments als literaturgeschichtliches Problem, Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 40, Heidelberg 2007 2 2011, 84-92. 93 f.; 135 f. 19 Vgl� meinen Vorschlag zu einer Dialogbibel in: G� Theißen, Bibelhermeneutik als Religionshermeneutik. Der vierdimensionale Sinn der Bibel, EvTh 72 (2012), 291-306; ebd. 305, der von U� Luz, Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments, Neukirchen-Vluyn 2014, 558, aufgegriffen wurde� Zweite These: Das Sola-scriptura-Prinzip begründet den Pluralismus der Prinzipien: Schrift, Tradition, Erfahrung und Vernunft 1. Schrift und Tradition sind keine Gegensätze, da die Schrift selbst Traditionsliteratur ist. Sie verarbeitet nicht nur Traditionen als Quellen, sondern wirkt traditionsbildend, indem ältere Teile zur Quelle jüngerer Schriften wurden � Evident ist das beim Verhältnis der alttestamentlichen Rechtsbücher: Bundesbuch, Deuteronomium und das Heiligkeitsgesetz bauen aufeinander auf� Die Chronikbücher schreiben die älteren Geschichtsbücher fort, das Johannesevangelium ist eine Neufassung synoptischer Jesustraditionen� Vor allem das weit verbreitete Phänomen der Pseudepigraphie zeigt die traditionsbildende Kraft anerkannter Autoren und deren Schriften� Die Briefform wurde durch Paulus zu einer „kanonischen“ Gattung� Er entwickelte den Freundschaftsbrief zum Gemeindebrief und wurde dadurch Vorbild für andere neutestamentliche Autoren� Alle Briefe im Neuen Testament sind intertextuell mehr oder weniger auf seine Briefe bezogen, wenn auch in verschiedener Form: Der 2� Thessalonicherbrief lehnt sich an einen einzigen Brief, den 1� Thessalonicherbrief, an� Kolosser- und Epheserbrief interpretieren nicht nur einen einzigen Brief, sondern schreiben die gesamte paulinische Theologie weiter� Die Pastoralbriefe ahmen die Paulusbriefsammlung nach; denn sie wurden von vornherein als Corpus von drei Briefen geschaffen� Alle diese Briefe wurden unter dem Namen des Paulus veröffentlicht und sind weitergeschriebene Paulustraditionen� Hinzu kommen pseudepigraphe katholische Briefe unter anderen Namen als dem des Paulus� Theologisch wollen sie m� E� ein Gegengewicht zu Paulus sein� Die Schrift hat also nicht erst in ihrer nachkanonischen Wirkungsgeschichte Traditionen begründet, sondern schon in ihrer vorkanonischen Entstehungsgeschichte� 2. Schrift und Erfahrung sind keine Gegensätze, sondern die Mehrteiligkeit des Kanons demonstriert die Notwendigkeit, neue Erfahrungen zu berücksichtigen. Religionen brauchen einerseits Stabilität, andererseits Flexibilität� Der alttestamentliche Kanon weist in seiner Grundstruktur auf dieses doppelte Bedürfnis: Er besteht aus Thora auf der einen, Propheten und Schriften auf der anderen Seite� Die Thora verkörpert Stabilität� Die Propheten zeigen dagegen, dass in neuen geschichtlichen Erfahrungen immer wieder unvorhersehbar neue Botschaften notwendig sind, Psalmen artikulieren darüber hinaus typische individuelle Erfahrungen von Leid und Glück, wie sie in jedem einzelnen Leben vorkommen� Die Dialektik der Kanonbildung bringt es mit sich, dass die aktuellen Erfahrungen von gestern als Traditionen festgeschrieben werden� Das Bedürfnis nach einer flexiblen Verarbeitung neuer Erfahrungen aber bleibt bestehen� Es führt in spät- und nachalttestamentlicher Zeit zur Entstehung einer neuen „Offenbarungsliteratur“, der Apokalypsen, die Offenbarungen an Gestalten der Ver- Sola Scriptura 203 204 Gerd Theißen gangenheit, Henoch, Moses, Abraham oder Esra schildern, aber in der Gegenwart geschrieben wurden, um an die Zeitgenossen eine Botschaft zu vermitteln� Eines dieser Bücher, das Buch Daniel, wurde in den alttestamentlichen Kanon aufgenommen� Im Neuen Testament wiederholt sich diese Dialektik von Stabilität und Flexibilität� Sie zeigt sich in der Zweiteilung des neutestamentlichen Kanons in Evangelien und Briefe� Die Jesusüberlieferung der Evangelien ist in ihm ein stabilisierendes Element, die Briefe zeigen, dass neue Situationen neue Antworten erfordern� Auch hier begegnen am Rande Offenbarungsschriften� Charakteristisch für diese urchristlichen Apokalypsen ist, dass sie sich nicht auf Gestalten der Urzeit berufen, sondern auf Zeitgenossen, d� h� auf Johannes auf Patmos und Hermas in Rom� Beide verarbeiten in ihren Apokalypsen aktuelle Erfahrungen� Die Johannesapokalypse ruft zum Widerstand gegen Rom auf, ist aber eine Absage an jeden gewaltsamen Aufruhr� Ihre Botschaft wird symbolisiert in der Metapher des Lammes, das zugleich Sieger und Opfer ist� 20 Der Hirt des Hermas ruft zu einer Erneuerung der Kirche auf und verkündigt die Chance einer zweiten Buße� 3. Schrift und Vernunft sind keine Gegensätze, sondern vernunftbasierte Schriften wurden in Form der Weisheitsliteratur kanonisiert. Das Nachdenken des Menschen über Regelmäßigkeiten der Welt und des Lebens, des Handelns und Erlebens schlägt sich in den Sprüchen und Reflexionen der Weisheitsliteratur nieder� Was in Israel „Weisheit“ (hebr� chochma oder griech� sophia ) genannt wurde, wurde in der griechischen Welt zur philosophia (oder „Liebe zur Weisheit“) systematisiert� Die griechische Philosophie setzt damit die allgemeinen Reflexionen der Weisheit auf höherer Ebene fort� Die von ihr vorausgesetzte allgemeine Weisheit begegnet auch in der Bibel� Sie scheint in den Sprüchen oder im Prediger Salomo wenig mit der konkreten Geschichte Israels zu tun zu haben� Aber sie wird im Laufe der Zeit immer enger mit ihr verbunden� In Jesus Sirach finden wir ein „Lob der Väter“ (Sir 44-50), in der Weisheit Salomos wird die Geschichte Israels (Sap 10-19) ausführlich behandelt. Im Neuen Testament ist Jesus selbst die Inkarnation des Logos und der Weisheit ( Joh 1,1-18). Diese Hochschätzung der „Weisheit“ (der sophia) war die Voraussetzung für die Synthese von Philosophie und Theologie in der europäischen Geistesgeschichte in Patristik, Scholastik, Idealismus und Existenzialismus� Sie ist keine Fehlentwicklung, sondern im Herzen der Bibel verankert� Dafür sei auf eine kleine Beobachtung hingewiesen: Jesus verbindet das höchste Gebot der Gottesliebe nicht nur mit der Nächstenliebe, sondern auch mit der Vernunft� Bei den Vermögen des Menschen, die in der Liebe zu Gott aktiviert werden, findet sich über 20 C� L� P� Chan, Die Metapher des Lamms in der Johannesapokalypse� Eine sprach- und sozialgeschichtliche Analyse (NTOA 99), Göttingen 2016� das hebr� Alte Testament und die Septuaginta ( kardia , psychē , dynamis ) hinaus eine Ausweitung: In Mk 12,30 spricht Jesus von vier Vermögen des Menschen: Herz, Seele, Verstand ( dianoia ) und Kraft� Der „Verstand“ ist gegenüber der Tradition neu� 21 Mt verkürzt entsprechend der alttestamentlichen Tradition auf drei Glieder, streicht aber nicht den „Verstand“, sondern die „Kraft“ (Mt 22,37)� Lk bringt alle vier Vermögen, die ersten drei in der alttestamentlichen Reihenfolge, danach den „Verstand“� Das Besondere der Jesusüberlieferung, also die Betonung des kognitiven Vermögens, bleibt in allen Variationen erhalten� Mt 22,37 Mk 12,30 Mk 12,33 Lk 10,27 kardia (Herz) kardia kardia kardia psychē (Seele) psychē psychē dianoia (Verstand) dianoia (Verstand) synesis (=Verständnis) dianoia (Verstand) ischys = (Kraft) ischys ischys Dritte These: Die Schrift zeigt in sich Ansätze eines Pluralismus der Interpretationen, einer kritischen, poetischen, existenzialen und kerygmatischen Interpretation 1. Die Schrift enthält in sich Kritik; denn das Alte Testament wird im Neuen Testament kritisch rezipiert. Die Zugehörigkeit des Alten Testaments zum Kanon der heiligen Schriften ist für das Christentum ein Glücksfall: Das Christentum enthielt schon in seinen Grundlagen die Möglichkeit und Legitimität einer kritischen Lektüre heiliger Schriften� Die ersten Christen erklärten z� T� nach tiefen Konflikten viele Ritualgebote des Alten Testaments für ungültig: Sie hörten auf zu opfern, lehnten Beschneidung und Speisegebote ab� Auch nach der Zerstörung des Tempels träumten sie nicht von dessen Wiederaufbau� Die Kritik an den Ritualgeboten des Alten Testaments geschah bewusst, die Kritik an einigen seiner ethischen Gebote und Glaubensüberzeugungen wurde erst allmählich bewusst� Erst Markion sah hier eine Spannung zwischen Gerechtigkeit und Liebe, die er sich nur durch eine Zwei-Götter-Lehre erklären konnte: Das Alte Testament sei die Offenbarung des Gottes der Gerechtigkeit, das Neue Testament die Offenbarung des Gottes der Liebe� Das Bewusstsein einer Spannung zwischen Altem und Neuem Testament blieb gesamtkirchliche Tradition, ihre 21 Der Schriftgelehrte verkürzt in seiner Antwort Mk 12,33 auf drei Glieder (entsprechend der Dreizahl im atl� Text)� Er fasst die mittleren Glieder als „Verständnis“ ( synesis ) zusammen� Sola Scriptura 205 206 Gerd Theißen Deutung durch zwei Gottheiten wurde als „häretisch“ verworfen� Sie widersprach dem monotheistischen Grundaxiom von Judentum und Christentum� Natürlich geht historisch-kritische Forschung der Schrift weit über eine solche schriftimmanente Kritik des Neuen am Alten Testament hinaus� Aber die Tatsache, dass seit der Aufklärung historische Kritik in die Theologie integriert werden konnte, wurde durch die kritische Bezugnahme des Neuen auf das Alte Testament erleichtert� 2. Die Schrift vertritt an einigen Stellen eine poetische Auffassung ursprünglich unpoetischer Aussagen. Die Auffassung der Schrift als Dichtung verdanken wir dem späten 18� Jahrhundert� Sie wurde am deutlichsten von J� G� Herder vertreten� Eine solche poetische Auffassung der heiligen Schriften hat Ansätze in der Bibel selbst� Als der Monotheismus sich durchsetzte, wurden viele „polytheistische“ Aussagen weiter tradiert, aber konnten nur noch als Bild und Gleichnis verstanden werden� So hatte JHWH ursprünglich eine Frau an seiner Seite, die Himmelskönigin, die auch kultisch verehrt wurde� In der Weisheitsliteratur aber begegnet diese Frau nur noch als eine bildliche Aussage über die „Weisheit“ Gottes, mit der er die Welt geschaffen hat� Sie wird seine Gespielin genannt� Aber sie ist nur der poetische Ausdruck für die überwältigende Intelligenz, die Menschen in der Schöpfung erkennen und ahnen (Spr 8)� Die Poetisierung religiöser Aussagen findet bei Jesus einen Höhepunkt: Jesus kleidet seine Botschaft in Parabeln und Gleichnissen ein� Sie erlauben es ihm, „anthropomorph“ von Gott als Vater und König, Hausherr und Weinbergbesitzer, Gastgeber und Richter zu sprechen - aber es ist von vornherein klar, dass all das nur Bilder sind, die auf Gott weisen� Was für den historischen Jesus gilt, wird im Johannesevangelium für den kerygmatischen Christus auf einer anderen Ebene wiederholt� Auch die Botschaft von Jesus als dem vom Himmel gekommenen Offenbarer wird in Bilder gekleidet� Die Christologie hat ihre Spitzenaussagen in Bildworten: Ich bin das Brot des Lebens, das Licht der Welt, die Tür, der gute Hirte, der gute Weinstock� 3. Die Schrift enthält in sich Ansätze einer existenzialen Interpretation. Auf Fragen des persönlichen Lebens wurde die Schrift in ihrer ganzen Auslegungsgeschichte gedeutet, aber erst im 20� Jh� wurde diese Deutung durch die philosophische Theorie des Existenzialismus fundiert: In der Analyse der menschlichen Existenz sah er einen Weg zur Erfassung der Wirklichkeit selbst� Existenzanalyse war Fundamentalontologie� Wenn man etwas bescheidener argumentiert, wird man existenziale Analysen als psychologische Exegese betrachten, als Frage danach, wie biblische Glaubensvorstellungen individuelles Erleben und Verhalten deuten und verändern� Dazu sei hier nur ein Beispiel genannt: 22 Der Glaube bezieht sich im Römerbrief auf objektive Vorgänge im Himmel und auf Erden, er ist Glaube an das Handeln Gottes durch Christus in der gegenwärtigen Endzeit� Im ganzen Römerbrief aber werden diese objektiven „mythischen“ Vorgänge in Parallele zum Verhalten und Erleben des Menschen gesetzt� „Psychomythische Parallelismen“ durchziehen den ganzen Brief: Das Gericht im Himmel hat eine Parallele im inneren Gericht des Gewissens (Röm 2,5-11 / / 2,15-16). Der Erweis der Liebe Gottes im Sterben Christi hat eine Parallele in der Ausgießung der Liebe Gottes in die Herzen der Menschen (Röm 5,8 / / 5,5)� Die Fürsprache des erhöhten Christus hat eine Parallele in der Fürsprache des Geistes in den Tiefen des Herzens (Röm 8,34 / / 8,26)� Die Rechenschaft der Christen vor Gott hat seine Parallele in der Selbstverurteilung der Menschen (14,1-12 / / 14,22-23). Durchgehend finden wir als entscheidenden Parallelismus: Wie sich Gott im Laufe des Römerbriefs durch seine Offenbarung in Christus aus einem zornigen Gott zu einem liebenden Gott verwandelt, so verwandelt sich auch der Mensch durch seine Verbindung mit Christus aus einem aggressiven in ein kooperatives Wesen� 23 Die ganze objektive „Heilsgeschichte“ wird durch den persönlichen Glauben zu einer inneren, verändernden Kraft im Leben� 4. Die Schrift enthält in sich eine kerygmatische Deutung von Texten. Die moderne Exegese wirkt oft wie eine Profanisierung von Texten� Aus Offenbarungstexten werden menschliche Produkte� Theologische Hermeneutik muss, im Gegenzug, in ihnen das Wort Gottes aufspüren� Menschliche Texte werden dadurch „theologisiert“� Auch dieser Vorgang einer „Theologisierung“ ursprünglich profaner Texte finden wir immer wieder in der Bibel� Die Gesetzessammlungen im Alten Testament werden im Kontext der Gesetzgebung am Sinai theologisiert 24 - vor allem aber werden diese Gesetze durch Einbettung in die Geschichte vom Tanz um das goldene Kalb und der erneuerten Gesetzgebung zu einer Geschichte der Gnade Gottes: Schon die Existenz des Gesetzes ist Ausdruck seiner Zuwendung zu ungehorsamen, sündigen Menschen� Die Geschichte von der Thronnachfolge Davids schaltet Gott nur sehr zurückhaltend in das Geschehen ein� Sie wirkt wie eine profane Geschichte von Intrigen und Machtkämpfen� Erst durch ganz wenige Bemerkungen wird sie im Rahmen des Kanons „theologisiert“� 22 Aus: G� Theißen / P�v� Gemünden, Der Römerbrief - Rechenschaft eines Reformators, Göttingen 2016, 471-488. 23 P�v� Gemünden, Image de Dieu - image de l’être humain dans l’Épître aux Romains, RHPhR 77 (1997), 11-49 = Gottesbild und Menschenbild im Römerbrief, in: Affekt und Glaube� Studien zur Historischen Psychologie des Frühjudentums und Urchristentums (NTOA 73), Göttingen 2009, 207-225. 24 Zur „Theologisierung des Rechts“ vgl� E� Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, Stuttgart 1994, 104� Sola Scriptura 207 208 Gerd Theißen Die Weisheitsüberlieferung wirkt auf weite Strecken sehr profan� Aber durch die Einleitung von Spr 1-8 in das Weisheitsbuch wird auch sie „theologisiert“. Wir können ein Fazit ziehen: Die Schrift kann Grundlage eines pluralen und sich immer mehr individualisierenden Verstehens sein� Das sola scriptura muss dazu mit einer vorurteilslosen historisch-kritischen Deutung der Bibel verbunden werden� Aber diese Öffnung der Schrift hat einen Preis� Für die Reformatoren gehörten die vier formulae exclusivae zusammen� Sie hörten aus der Schrift die eine klare Botschaft solus Christus, sola fide, sola gratia. Eben das muss eine konsequent historische Auffassung der Schrift bestreiten: Diese drei Prinzipien gelten nicht für alle Schriften der Bibel, nicht einmal für alle neutestamentlichen Schriften� Die reformatorische Botschaft ist gewiss in der Schrift enthalten, besonders klar bei Paulus, auch wenn den Reformatoren die soziale Funktion der paulinischen Rechtfertigungslehre zu wenig bewusst war� 25 Man müsste die paulinischen Schriften zum Kanon im Kanon erklären, um die reformatorische Schriftauffassung als Gesamtskopus der Schriften aufrecht zu erhalten, dabei aber andere Schriften abwerten� Das würde eine Verarmung des Glaubens bedeuten� Umso mehr stellt sich die Frage: Können wir heute auf der Grundlage einer pluralistisch verstandenen Schrift Konsens schaffen - selbst unter den Vorzeichen der gegenwärtigen Individualisierung von Religion und Leben? Ganz allgemein gilt: Gerade weil historische Auslegung die innere Pluralität der Schriften herausgearbeitet hat, ist die Schrift heute eine gute Grundlage für die Kirche: Sie lässt Spielraum für Flexibilität und Antworten auf neue Herausforderungen� Sobald klar ist, dass solche Antworten biblisch begründbar oder vertretbar sind, werden sie als Bestandteile christlicher Identität anerkannt� Deshalb wird um diese Antworten ernsthaft gerungen� Die Schrift ist zweifellos nach wie vor ein Reservoir für Konsens, Identitätsfindung, Legitimierung und Motivierung, darüber hinaus eine Basis für das ökumenische Gespräch in und außerhalb der Kirchen� Liberale wie Evangelikale können sich auf ihrem Boden begegnen, Katholiken und Protestanten mit ihrer Hilfe verständigen, griechisch-orthodoxe und orientalische Kirchen, alte und junge Kirchen können sich auf sie beziehen� 25 Das ist die Kritik der New Perspective on Paul an der reformatorischen Paulusauslegung� Aber auch unabhängig zeigt V� Stolle, Luther und Paulus� Die exegetischen und hermeneutischen Grundlagen der lutherischen Rechtfertigungslehre im Paulinismus Luthers (ABG 10), Leipzig 2002, bes. 415-438, Spannungen: Neu ist bei Luther der durchgehende Dualismus von Gott und Satan� Die Bindung des Gesetzes an Israel spielt bei ihm nicht die Rolle, die sie bei Paulus hatte� Paulus sah den Menschen im Übergang von der alten zur neuen Welt, Luther deutet ihn synchronisch als simul iustus et peccator � Das Kreuz deutet bei Luther die Existenz des Christen in der Gegenwart, bei Paulus seine Verwandlung zu einem neuen Leben� Stolles Ergebnis ist: „Ein Diskurs, der Luthers Paulinismus mit Paulus selbst neu ins Gespräch bringt, führt notwendig zu einer Destruktion des lutherischen Sinnganzen“ (438)� Wie solch ein Konsens und Dialog entstehen kann, sei mit Hilfe einer sprachanalytischen Hermeneutik erläutert, auch wenn sie hier nur kurz skizziert werden kann: Religionen sind Zeichensprachen� Sie haben wie alle Sprachen eine Grammatik, d� h� Regeln, nach denen diese Zeichen verknüpft und organisiert werden� Diese Regeln entscheiden darüber, was in einer Sprache legitim ist und was nicht� Menschen, die in die christliche Glaubenswelt hineinwachsen, haben diese Regeln aufgrund biblischer Texte intuitiv internalisiert, ohne dass sie sich darüber Rechenschaft ablegen müssen� Wir beherrschen ja auch unsere Muttersprache, bevor wir ihre Grammatik erlernten� Was schon Kinder aus den biblischen Schriften lernen können, sind zwei Axiome der christlichen Religion: den Glauben an den einen und einzigen Gott und den Glauben an einen Offenbarer neben Gott� Gott steht im Alten Testament im Zentrum, Jesus als Offenbarer im Neuen Testament� Die Zeugnisse von ihnen enthalten wiederkehrende Motive� Es sind zunächst Textmotive wie die Notwendigkeit der Umkehr, die uns von Amos bis zur Johannesapokalypse in vielen Variationen begegnen� Sie werden zu Lebensmotiven , wenn sie das Verhalten und Erleben von Menschen bestimmen� Sie werden vor allem zu Interpretationsmotiven , mit denen Leben und Welt in einem neuen Licht gedeutet werden können� Man kann verschiedene Listen solcher „Grundmotive“ zusammenstellen� Nicht alle Texte im Neuen Testament müssen alle Grundmotive enthalten, nicht alle Christen müssen alle internalisieren� Es reicht, wenn es genug sind, um eine „Familienähnlichkeit“ (L� Wittgenstein) herzustellen� 26 Anbei gebe ich eine Liste der wichtigsten Grundmotive ohne Anspruch auf Vollständigkeit: 1� Das Schöpfungsmotiv: Alles könnte auch nicht und anders sein� Eine aus dem Nichts schaffende göttliche Macht ist in jedem Augenblick wirksam und tritt in der Geschichte in der Auferweckung Jesu hervor� 2� Das Weisheitsmotiv: Die Welt ist durch Gottes Weisheit geschaffen, die sich in unwahrscheinlichen Strukturen zeigt, sich oft unter ihrem Gegenteil verhüllt - bis hin zur „Torheit“ des Kreuzes, in der Gottes Weisheit verborgen ist� 3� Das Wundermotiv: Alles Geschehen ist offen für überraschende Wendungen, nichts ist völlig determiniert� Gott und Mensch, Glauben und Gebet bewirken wunderbare Änderungen� Jesus ist Träger solcher Wundermacht� 26 Zu diesen Grundmotiven vgl� G� Theißen, Zur Bibel motivieren� Aufgabe, Inhalte und Methodik einer offenen Bibeldidaktik, Gütersloh 2003, 131-173. Die oben wiedergegebene Kurzfassung findet sich u� a� in: G� Theißen, Polyphone Evidenz� Die Überzeugungskraft der Bibel in der modernen Welt, in: Polyphones Verstehen, 2014, 131 f� Sola Scriptura 209 210 Gerd Theißen 4� Das Distanzmotiv: Alles Leben lebt in Distanz zu Gott und entspricht nicht der Realität, die es hervorgebracht hat und erhält� Im Menschen wird diese Ferne von Gott durch die Erfahrung von Schuld und Leid bewusst: Beides trennt ihn von Gott� In Christus deckt Gott diese Distanz auf und überwindet sie� 5� Das Hoffnungs- und Erneuerungsmotiv: Die Geschichte durchzieht eine wachsende Verheißung - bis hin zur Erwartung einer neuen Welt, die schon jetzt beginnt� Der Mensch ist Bürger zweier Welten, mit seiner „Sarx“ (dem Fleisch) der alten Welt verhaftet, mit dem „Pneuma“ (dem Geist) der neuen Welt verpflichtet, die mit Jesus begonnen hat� 6� Das Umkehrmotiv: Der Mensch hat die Möglichkeit radikaler Veränderung� Wie sich die Welt verändern muss, um Gottes Willen zu entsprechen, so auch der Mensch - er kann ein neues Leben beginnen, wenn er sich mit Christus kreuzigen lässt und mit ihm ein neues Leben beginnt� 7� Das Exodusmotiv: Nicht nur einzelne Menschen werden durch Gottes Ruf verändert, sondern ganze Gruppen - beginnend mit Abrahams Exodus aus der Heimat und Israels Rückkehr aus dem Exil bis hin zum Aufbruch der neutestamentlichen Gemeinde in eine neue Welt in der Nachfolge Jesu� 8� Das Glaubensmotiv: Gott erschließt sich durch Menschen, denen wir vertrauen, d� h� nicht primär durch Strukturen, Institutionen oder Gedanken, sondern durch ein „Du“, zu dem wir in eine freie Beziehung ohne Zwang treten� Im Zentrum aller Menschen, durch die Gott zu uns spricht, steht Jesus von Nazareth� 9� Das Inkarnationsmotiv: Gott nimmt Wohnung in der konkreten Welt� Er ist präsent in Israel, in Christus, im Wort, im Sakrament und in jedem Gläubigen durch seinen Geist� Die Inkarnation in Christus macht diese Nähe Gottes beim Menschen ein für allemal gewiss - auch in Schuld und Leid� 10� Das Stellvertretungsmotiv: Leben ist stellvertretendes Leben für andere - entweder unbewusst leidendes Leben, auf dessen Kosten sich anderes Leben entfaltet, oder bewusstes Leben für andere� Die blutigen Tieropfer zeugen vom Zwang, auf Kosten anderer zu leben� Christus zeigt die Alternative: Leben als Hingabe für andere� 11� Das Positionswechselmotiv: Der Erste wird der Letzte, der Letzte der Erste sein� Von denen, die bis zur Selbststigmatisierung (in Askese und Martyrium) freiwillig auf Status verzichten, geht eine verwandelnde Kraft aus� Noch mehr aber von Christus, der als Richter gerichtet, als Priester zum Opfer, als Weltenherr zum Sklaven und als Gekreuzigter zum Grund neuen Lebens wurde� 12� Das Agapemotiv: Jeder Mitmensch wird durch Liebe zu unserem Nächsten - sei es durch Suche des Verlorenen, durch Aufnahme des Fremden oder durch Liebe zum Feind� Auch hier ist Christus das Urbild solcher Liebe: Seine Lebenshingabe ist Liebe für die, die Gottes „Feinde“ waren� 13� Das Gerichtsmotiv: Alles Leben ist selektiven Prozessen unterworfen� Nur dem Menschen ist dies bewusst: Er weiß, dass er nicht nur als physisches Lebewesen, sondern als moralisch Handelnder bedroht ist� Er wird daran gemessen, was er getan hat - nach ethischen Maßstäben, nach denen Gott ein endgültiges Urteil über ihn fällt� Maßstab und Richter ist Jesus� 14� Das Rechtfertigungsmotiv: Die Legitimation des Daseins ist so unbegründbar wie die Existenz des Lebens überhaupt� Sie ist eine Schöpfung aus dem Nichts, die der Mensch so rezeptiv empfängt, wie er seine physische Existenz empfängt� Er hat sich selbst nicht geschaffen� Grundlage der Rechtfertigung ist das neue Schöpfungshandeln Gottes in Christus� Diese Axiome und Grundmotive des biblischen Glaubens stellen den „Geist der Bibel“ dar� Wer sie als regulative Sätze internalisiert hat, kann mit ihrer Hilfe neue Texte im Geist der Bibel schaffen, die nirgendwo in der Bibel stehen� Er kann mit ihrer Hilfe Grenzen ziehen� Wer etwa dem Menschen grundsätzlich die Fähigkeit abspricht, in seinem Leben neu zu beginnen, widerspricht dem Grundmotiv der „Umkehr“ und fällt aus einem christlichen Konsens heraus� Für die Hermeneutik der Bibel gilt: Der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig� Sieht man nur historisch den buchstäblichen Sinn der Texte, so verwirrt die Mannigfaltigkeit des Sinnes� Ist man dagegen vom Geist der Bibel ergriffen und hat die oben skizzierten Grundmotive in seinem Leben und Denken internalisiert, so fügt sich vieles zusammen� Dann kann man die Texte der Bibel im Geiste der Bibel weiterdenken� Dazu sind Tradition, Erfahrung und Vernunft notwendig - nicht nur als Auslegungsprinzipien, die der Schrift untergeordnet sind (wie das im methodistischen quadrilateral der Fall ist), sondern als kritische Instanzen, die ggf� der Schrift widersprechen� Vernunft impliziert aber vor allem einen argumentativen Austausch über die Auslegung� Daher muss das methodistische „Viereck“ zu einem Fünfeck erweitert werden: Schrift, Tradition, Erfahrung, Vernunft und Beratung� 27 Kein Lehramt kann autoritativ entscheiden, was gilt� Wohl aber können Presbyterien und Synoden darüber mit Argumenten beraten� Wenn ihre Mitglieder vom Geist der Bibel erfasst sind und vernünftig argumentieren, gibt es eine Chance, dass sie zu einem Konsens ohne Zwang gelangen� 28 27 Ein solches „synodales“ Prinzip lässt sich aus der Schrift ableiten� Das „Schlüsselamt“ des Petrus (Mt 16,18-20) wird in 18,18 auf die Gemeinde übertragen. Hinzu kommt in 23,8-12 die Ablehnung irdischer Lehrer: Jesus ist der einzige Lehrer� 28 Diskussionen mit Pastoren und Pastorinnen haben mir gezeigt: „Varianzbändigung“ ist heute eine schwierige Aufgabe� Meist aber handelt es sich nicht um die Frage, ob „grammatische“ Grundregeln des biblischen Glaubens verletzt werden, sondern um „stilistische“ Fragen� Innerhalb derselben Überlieferung gibt es viele zulässige Varianten etwa bei der Gestaltung von Kasualien� Aber es gibt zweifellos bessere und schlechtere Varianten� Sola Scriptura 211 Zeitschrift für Neues Testament Heft 39 / 40 20. Jahrgang (2017) Vom „sola scriptura“-Prinzip zu einem „Prä“ der Heiligen Schrift Peter Wick 1. Probleme mit dem „sola scriptura“? Das reformatorische „sola scriptura“ könnte ein Leitstern für Kirche und Theologie in der heutigen Schrift vergessenen Zeit sein� Als Lehrsatz oder Prinzip hat es jedoch seine Begrenzungen� Was bedeutet es, wenn ein Prinzip in sich den Anspruch „allein“ trägt und begrenzt ist? In der Bibel erscheint es nicht in einer solchen Formel� Wie spricht die Schrift über den angemessenen Schriftgebrauch? Es wird sich zeigen, dass die Rede vom Vorrang der Schrift oder vom „Prä“ der Schrift der Schrift selbst angemessener ist� Selbstverständlich soll der Ruf zum „sola scriptura“ weiterhin hochgehalten werden, doch der bescheidenere, aber zugleich auch praktikablere Anspruch vom „Prä“ der Schrift könnte in der heutigen Zeit eine größere Wirkung entfalten� In diesem Beitrag soll zuerst das Neue Testament unter einem Gesichtspunkt nach der Bedeutung der Heiligen Schriften befragt werden� Alle Autoren des Neuen Testaments erkennen die Heiligen Schriften des Judentums an� Sie erkennen sie als heilig an� Heilig bedeutet, dass sie dem (All-)Gemeinen entzogen sind� Sie werden nicht als Teil der übrigen Schriften der Menschheit betrachtet, sondern bleiben von diesen getrennt und unterscheidbar� Diese Voraussetzung teilen alle Verfasser der neutestamentlichen Schriften mit dem Judentum� Die Verfasser des Neuen Testaments betrachten die Tora und den Kanon der Hebräischen Bibel beziehungsweise der Septuaginta, auch wenn seine Grenzen noch nicht exakt festgelegt sind, als vorgegeben� Diese Autoren sind durch Jesus Christus zu einem neuen Welt- und Lebensverständnis gekommen� Dieser Weltdeutung ordnen sie in ihren Schriften immer wieder eine neue Schriftdeutung 214 Peter Wick bei� Sie deuten die Heilige Schrift auf für sie neue Weisen und damit auch das Leben und die Welt anders als früher� Jesus Christus und die Heilige Schrift sind zwei Größen, nicht eine� Deshalb stehen schon die zwei „soli“ der Reformation, nämlich das „sola scriptura“ und das „solus Christus“ logisch gesehen in einem paradoxen Verhältnis zueinander� Nur ein „allein“ kann wirklich „allein“ sein� Zwei „allein“ heben streng logisch jeweils ihr eigenes Alleinsein und das des anderen auf� Allerdings waren diese „soli“ nie dafür bestimmt, solch einer Logik unterworfen zu werden, sondern sie sollen zwei unverzichtbare Perspektiven auf den Zugang zum Heil sprachlich fassen, die mit den anderen zwei „soli“ - „sola fide“ und „sola gratia“ - insgesamt vier Aspekte des einen und einzigen Zugangs zum Heil ausdrücken� Alle diese „allein“-Formulierungen sind eng aufeinander bezogen� Sie sind relationale Formulierungen� „Sola scriptura“ bekennt somit keinen Monismus, sondern eine Relation� Doch eine Relation in diesem Sinne enthält auch eine Relativierung des „Allein-Anspruchs“� Das Neue Testament verzichtet auf die paradoxe Formulierung eines relationalen „Alleins“ und somit auf ein „sola scriptura“-Bekenntnis� Jesus Christus, die Hebräische Bibel, das Heil, der Glaube, die neue Schau der Welt und eine erneuerte Ethik stehen in unauflöslicher Beziehungsvielfalt und Beziehungsdichte zueinander� 2. Das „Prä“ der Schrift in der Schrift Drei der Evangelien fangen wörtlich mit der Heiligen Schrift an� Sie vertreten explizit kein „sola scriptura“ sondern ein „Prä“ der Schrift� Das Markusevangelium setzt mit dem Wort Anfang seinen eigenen Anfang� Damit spielt es auf den Anfang der Tora an, welche mit „im Anfang“ ( en archē ; Gen 1,1) beginnt� Dieser Anspielung auf die Genesis folgt unmittelbar ein expliziter Rückgriff auf die Bibel: „1 Anfang des Evangeliums ( archē tou euaggeliou ) von Jesus Christus [, vom Sohn Gottes], 2 wie geschrieben steht im Propheten Jesaja, siehe ich sende meinen Boten vor dir her, 4 so trat Johannes der Täufer in der Wüste auf …“ Der Anfang des Evangeliums von Jesus Christus beginnt, wie geschrieben steht mit einem Mischzitat aus Jesaja 40,3, Exodus 23,20 und Maleachi 3,1� Eine eigene Sinnwelt des Anfangs wird generiert: Tora und Propheten kommen zusammen, um das Evangelium anzuschieben� „Wie geschrieben steht, … so trat Johannes der Täufer auf “� 1 Mit gut bezeugten Lesarten ist sogar folgende Über- 1 In diese Richtung geht die Einheitsübersetzung: „Es begann, wie es bei dem Propheten Jesaja steht … So trat Johannes der Täufer in der Wüste auf …“ (Mk 1,2-4). Vom „sola scriptura“-Prinzip zu einem „Prä“ der Heiligen Schrift 215 setzung möglich: „Wie geschrieben steht, … so wurde Johannes in der Wüste ein Taufender“� Auf diese Weise erzählt der Verfasser des Markusevangeliums, dass das Evangelium von Jesus Christus damit beginnt, dass sich Tora und Propheten erfüllen, beziehungsweise, dass Tora und Propheten selbst den Anfang des Evangeliums hervorrufen� Sowohl der Aufbau des Markusevangeliums als auch seine Semantik zeigen, wie die Heilige Schrift den Anfang des Evangeliums bildet� Wenn im Markusevangelium bereits nach fünf oder nach anderer Lesart nach sieben Wörtern das Schriftzitat eingeleitet wird, so beginnt das Matthäusevangelium noch expliziter mit Worten aus der Tora: biblos geneseōs Iēsou Christou hyiou David hyiou Abraam � (Mt 1,1) „Buch der Entstehung von Jesus Christus, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams�“ Dieser Anfang nimmt den Anfang des zweiten Schöpfungsberichtes in der Septuaginta wörtlich auf: hautē hē biblos geneseōs ouranou kai gēs � (Gen 2, 4) „Dies ist das Buch der Entstehung von Himmel und Erde�“ Mit der Wendung „Buch der Entstehung“ wird das Matthäusevangelium mit der Schöpfung in der Genesis verbunden, um dann Jesus mit dem aus Abraham „wachsenden“ Stammbaum (Mt 1,1-17) in der ganzen Heilsgeschichte der Bibel zu verwurzeln� Der Autor des Matthäusevangeliums zeigt, dass der Anfang seines Evangeliums außerhalb seines Textes in der Tora, den Propheten und den Schriften liegt� Das Johannesevangelium beginnt mit den beiden selben Wörtern wie die Tora in der Übersetzung der Septuaginta� „Im Anfang ( en archē ) war das Wort, und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort“ ( Joh 1,1)� Daraufhin schafft Gott in der Tora Himmel und Erde durch sein Wort: „Und Gott sprach, es werde Licht …“ Das vierte Evangelium setzt diese beiden Wörter an seinen Anfang und verbindet diese explizit mit dem Wort Gottes: Im Anfang war das Wort Gottes� Prof. Dr. Peter Wick (geboren 1965 in Basel, verheiratet, vier Kinder, wohnhaft in Hattingen an der Ruhr) studierte Evangelische Theologie in Basel und Fribourg� Promotion 1993 in Basel über Form und Inhalt des Philipperbriefes. 1994-1995 Studienaufenthalt in Jerusalem. 1999 Habilitation über die Entstehung der urchristlichen Gottesdienste im jüdischen Kontext in Basel. 2000-2003 Assistenzprofessor für Neues Testament und Antike Religionsgeschichte an der Universität Basel� Seit 2003 auf dem Lehrstuhl für Exegese und Theologie des Neuen Testaments / Geschichte des Urchristentums an der Ruhr-Universität Bochum (D)� Seit 2008 im Vorstand des Käte-Hamburger Kollegs „Dynamiken der Religionsgeschichte zwischen Asien und Europa“� 216 Peter Wick Durch das An-Zitieren und eine Anspielung auf die Heilige Schrift wird so die Heilige Schrift und das Wort Gottes explizit an den Anfang gestellt� Auch andere Schriften des Neuen Testaments setzen die Heiligen Schriften an ihren Anfang� In seinem langen Brief an die Gemeinde in Rom entfaltet Paulus die Grundlage seines von ihm verkündigten Evangeliums� Gleich zu Beginn verankert er das „Evangelium Gottes“ (Röm 1,1) in den Verheißungen der Propheten in den Heiligen Schriften (Plural! Röm 1,2)� Weitere Schriften des Neuen Testaments tun dasselbe� So beginnt der Brief an die Hebräer mit dem Reden Gottes durch die Propheten in der Vergangenheit (Hebr 1,1)� Der Jakobusbrief spricht mit seinen ersten Worten wenigstens assoziativ die Geschichte Gottes mit seinem Volk in der Bibel an, wenn er seine Leser als die zwölf Stämme in der Diaspora anspricht� 2 Selbstverständlich bezeugen auch die anderen Schriften des Neuen Testaments, dass die Heiligen Schriften Voraussetzung für sie sind und eine Vorrangstellung haben� Sie argumentieren, dass sich in ihren Berichten und Argumenten die Schrift erfüllt und dass ihre Argumente schriftgemäß sind� Doch die Verfasser der oben genannten Schriften des Neuen Testaments steigern diesen „Vor-Rang“ nochmals, indem sie die Heiligen Schriften an den Anfang ihrer eigenen Schrift stellen� Das Neue Testament bezeugt auf diese Weise eindrücklich und eindringlich das „Prä“ der Schrift� 3. Das „Prä“ des Gebets in der Schrift Wenn die neutestamentlichen Schriften nicht mit ihrer Bibel anfangen, dann gibt es für sie - von wenigen kleinen Ausnahmen abgesehen - eine einzige Alternative: Sie beginnen mit einem Gebet� Beinahe alle Schreiben der paulinischen Briefliteratur, ob sie nun Paulus direkt oder Schülern von ihm zugeschrieben werden, beginnen mit Formen des Gebets� Paulus entwickelt sein Gebetsformat am Briefanfang schon in seinem frühsten Brief (1Thess)� Er hält sich an die epistolographischen Formalien des Präskripts und der brieflichen Danksagung� Letztere nutzt er, um gleich nach der Nennung der Verfasser und Absender, der Empfänger und des Segensgrußes, mit einem Gebet zu beginnen� Er richtet seinen Dank an Gott (1Thess 1,2-10). In 1Kor 1,4 f., Eph 1,15 f., Phil 1,3-8, Kol 1,3-6, 2Thess 1,3-10, 2Tim 1,3 und Phlm 4 f. eröffnet ebenfalls ein Dank an Gott an dieser Stelle den Brief. Auch im Römerbrief folgt auf das überlange Präskript (Röm 1,1-7), in dem zuerst an die Heiligen Schriften angeknüpft wird, das Dankgebet am für die 2 In 1Joh 1 ist Jesus Christus zum vorausgehenden Wort des Lebens geworden, das der Verfasser gleich mit dem Briefanfang bezeugt (1Joh 1,1), und der Titusbrief beginnt mit einem Bezug auf das bereits durch die Predigt verkündete, offenbarte Wort Gottes� Vom „sola scriptura“-Prinzip zu einem „Prä“ der Heiligen Schrift 217 briefliche Danksagung vorgesehenen Ort (Röm 1,8)� In diesem Dank erwähnt Paulus oft seine regelmäßige Gebetspraxis (Röm 1,10; Eph 1,16 f�; Phil 1,3 f�; Kol 1,3�9; 1Thess 1,2 f�; 2Thess 2,3; 2Tim 1,3; Phlm 4)� Neben seinem Dankgebet erwähnt er hier auch mitunter sein Flehen� Öfters mündet der Dank in ein Fürbittengebet (Eph 1,17-19; Phil 1,9-11; 2Thess 1,11-12; Phlm 6). Dank und Fürbitte münden im Philipperbrief in eine Doxologie (Phil 1,11)� Im Kolosserbrief schließt an den Dank und die Fürbitte sogar eine ausführliche hymnische Doxologie an (Kol 1,12-20). In 2Thess 1,12 erscheint die Doxa als Ziel von Dank und Fürbitte. Der Galaterbrief beginnt weder mit Dank noch mit Fürbitte, doch das Präskript endet in einer Doxologie (Gal 1,5)� Der zweite Brief an die Korinther beginnt anstelle der brieflichen Danksagung mit einer Eulogie (Lobpreis Gottes; 2Kor 1,3 f�) und der Epheserbrief stellt dem Dank und der Fürbitte eine längere Eulogie voraus� Paulus beginnt seine Schriften wie gezeigt in der Regel mit einem Gebet� Ein Blick auf die übrigen Schriften des Neuen Testaments zeigt, dass auch der erste Petrusbrief mit einer Eulogie beginnt (1Petr 1,3-5) und zum Auftakt der Offenbarung des Johannes ebenfalls eine Doxologie gehört (Offb 1,5 f�)� Nur der erste Timotheusbrief, der zweite Petrusbrief, der zweite und dritte Johannesbrief und der Judasbrief wählen weder die Schrift noch das Gebet als Anfang� Welchen Weg beschreitet in dieser Hinsicht der Auctor ad Theophilum ? Nach kurzer Einführung eröffnet er sein Evangelium mit einer Geschichte, in der das gemeinsame Gebet eine grundlegende Rolle spielt� Der Priester Zacharias bringt im Tempel das Weihrauchopfer dar� Parallel dazu betet „die ganze Menge des Volkes“ draußen� Der zu Gott aufsteigende Weihrauch und die an Gott gerichteten Gebete des Volkes sollen sich nach einer in verschiedenen Religionen weitverbreiteten Vorstellung miteinander verbinden� Der Weihrauch kann - wenigstens in der Volksfrömmigkeit - als Vehikel für die Gebete, die zu Gott aufsteigen sollen, verstanden werden� Der Priester übt beim Räuchern eine Mittlerrolle 3 zwischen Gott und dem Volk aus� Ein Engel erscheint Zacharias im Tempel und spricht ihn auf sein Gebet an: „Fürchte dich nicht, Zacharias, denn dein Flehen ist erhört worden“ (Lk 1,13)� Mit dem Bericht von der Himmelfahrt überlappen sich das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte� Der Auferstandene verheißt ihnen den Heiligen Geist (Apg 1,4�8)� Nachdem er sie verlassen hat, versammeln sie sich zuerst in Jerusalem zum Gebet (Apg 1,14)� Es sieht so aus, als ob die Verfasser der neutestamentlichen Schriften zwischen den beiden Alternativen gewählt haben� Entweder sie fangen mit einer expliziten Rückkopplung an ihre Heiligen Schriften an, oder sie beginnen mit ei- 3 F. Bovon, Das Evangelium nach Lukas, 1. Teilband Lk 1,1-9,50 (EKK III / 1), Zürich [u� a�] 1989, 53� 218 Peter Wick nem Gebet oder einer Geschichte über das Gebet� Das „Prä“ der Heiligen Schrift in den Schriften des Neuen Testaments ermutigt zu einem sola scriptura, doch die vielen Schriften, die mit dem Gebet ihren Anfang setzen, würden ein solches „sola scriptura“ relativieren� Die Signifikanz dieser beiden Anfangsmöglichkeiten lässt nach dem Verhältnis der scriptura zur oratio fragen� Wie verhält sich eine Vorordnung des Gebets zu einer Vorordnung der Schrift? Doch wenn die Anfänge der neutestamentlichen Schriften danach verlangen, scriptura und oratio in ein Verhältnis zu setzen, dann ist damit schon ausgesagt, dass „sola scriptura“ von der Schrift her ein relationaler Begriff sein muss� Als relationaler Begriff wird aber das „allein“ des „sola scriptura“ relativiert� Dies gilt nicht für das „Prä“ der Schrift� Denn die Frage nach dem Verhältnis von Heiliger Schrift und Gebet stellt sich ja erst dadurch, dass auch das Neue Testament zur Heiligen Schrift gezählt wird� Erst so wird diese Beobachtung der Anfänge der neutestamentlichen Schriften zu einer Beobachtung, womit diese biblischen Schriften (Neues Testament) ihren Anfang machen, mit ihrer Bibel oder mit dem Gebet� So wird durch diese Fragestellung das „Prä“ der Schrift nicht relativiert, sondern hervorgehoben� Erst das „Prä“ der Schrift lässt die alternative Vorordnung der Schrift oder des Gebets zu einer wichtigen Frage werden� 4. Martin Luther und das „Prä“ der Schrift An der großen Tagung der wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie in Dresden im Jahr 1990 zum Thema „sola scriptura“ entfaltet Jörg Baur Martin Luthers differenziertes Verständnis von „scriptura“� Im Gegensatz dazu ist für Jörg Baur das „sola“ kein Problem� Dieses gelte für Luther immer, wenn er von „sciptura“ spricht� „Das ‚sola’ ist keine beiläufige Überspitzung� Wenn Luther ‚scriptura’ sagt, dann meint er allemal: sola scriptura, und zwar so energisch und so bestimmt, wie es zuvor - … - niemand zu sagen wagte oder auch nur sagen konnte�“ 4 Vom Neuen Testament herkommend soll hier nur eine kurze, aber grundlegende Schrift Luthers nach dem „sola“ befragt werden� In der „Vorrede zum ersten Band der Wittenberger Ausgabe der Deutschen Schriften“ von 1539 5 schreibt Martin Luther programmatisch über die Stellung und Bedeutung der Heiligen Schrift und über den Umgang mit ihr� Luther hatte große Bedenken gegenüber der Publikation seiner gesammelten Schriften� Er befürchtete, 4 J� Bauer, Sola Scriptura - historisches Erbe und bleibende Bedeutung, in: H� H� Schmid / J� Mehlhausen (Hg�), Sola Scriptura: das reformatorische Schriftprinzip in der säkularen Welt, Gütersloh 1991, 19-43, hier: 20. 5 WA 50, (654) 657-661. Vom „sola scriptura“-Prinzip zu einem „Prä“ der Heiligen Schrift 219 dass diese in Konkurrenz zur Heiligen Schrift geraten könnten� „Gern hätte ich es gesehen, dass meine Bücher allesamt im Hintergrund geblieben und untergegangen wären“(661,1 f�)� 6 Denn diese erweitern die zahllosen Bücher, die seit der Entstehung der Kirche geschrieben worden sind und allein schon von ihrer Fülle her daran hindern, das Wort Gottes zu studieren� „Damit wird nicht allein die edle Zeit und das Studieren in der Schrift versäumt, sondern damit ist schließlich auch die reine Erkenntnis des göttlichen Worts verloren gegangen …“ (661,7-10). Luther gesteht gewissen Büchern neben der Bibel eine Existenzberechtigung als „Zeugen und Geschichtsbeweise“ (661,13) zu� Eine gute nichtbiblische Schrift müsse „auf Christus weisen“ (661,14)� Luther stellt in dieser Vorrede die Existenz seiner Schriften von der Bibel her immer wieder in Frage, weil die Bibel durch diese konkurrenziert werden könnte� Der Schrift kommt eine Superiorität zu� Sie macht es besser als die Konzilien, die Kirchenväter und er selbst (661,27-29). Wenn die Bibel alle anderen Schriften überragt, so steht sie doch in Beziehung zu diesen� Sie allein kann zum Heil führen, doch diese Schriften können ihr dabei helfen� Doch auch wenn sie in Relation zu den anderen Schriften allein zum Heil führen kann, so braucht der Mensch für sein Heil noch anderes als die Schrift allein: „… obwohl wir auch den Heiligen Geist, Glauben, göttliche Rede 7 und Werke haben müssen, wenn wir selig werden sollen, die wir die Propheten und Apostel auf ihrem Pult sitzen lassen müssen und hier unten zu ihren Füßen hören, was sie sagen, und nicht wir sagen, was sie hören müssen“ (661,29-33). Mit dieser Aussage relativiert er das „sola scriptura“ hinsichtlich des Heils� Wer zum Heil gelangen will, braucht mehr als die Schrift� Er braucht auch den Heiligen Geist, den Glauben, göttliche Rede und Werke (! )� Doch er braucht neben der Schrift nicht unbedingt eine andere Schrift� Luther setzt den Nutzen seiner Schriften gegenüber der Bibel gezielt herunter� „Wer meine Bücher zu dieser Zeit unbedingt haben will, der lasse sie sich beileibe nicht ein Hindernis sein, die Schrift selbst zu studieren, sondern behandle sie so, wie ich des Papstes Dreckete und Drecketalien und der Sophisten Bücher behandle, das heißt: dass ich da und dort hineinsehe, was sie gemacht haben oder auch die Geschichte früherer Zeit verstehe� Nicht dass ich darin studieren müsste oder genau das tun sollte, was ihnen richtig schien - nicht viel anders halte ich es mit den Büchern der Väter und Konzilien auch“ (663,9-16). 6 Zitiert nach der Übersetzung in Martin Luther, Deutsch-Deutsche Studienausgabe, Band 1, Glauben und Leben, hg� von Dietrich Korsch, Leipzig 2012� In den Klammern die entsprechenden Seiten und Zeilenangaben� 7 In der Deutsch-Deutschen Studienausgabe wird hier „göttliche Rede“ mit „Wort Gottes“ übersetzt� 220 Peter Wick Offensichtlich achtet Luther seine Schriften als Gefahr für das Studium der Heiligen Schrift� Sie könnten davon ablenken� Das „allein“ der Schrift wird durch sie herausgefordert� Luther kann diese Gefahr der Schriften neben der Bibel nicht aufheben, sondern er mahnt dazu, ihnen keine große Bedeutung zuzumessen� Er sieht sich durch die Publikation seiner Schriften gezwungen, diese in Relation zur Bibel zu stellen� Er wertet sie und ihren Gebrauch stark ab� Aber dennoch bringt er so auf semantischer Ebene auch die Bibel in Relation zu seinen Schriften� Das beunruhigt ihn sehr� Denn damit stellt er fest, dass kein „sola scriptura“ davor schützt, dass die Bibel immer auch in Beziehung zu anderen Büchern steht� Durch diese Gegebenheit wird aber auch ihre alleinige Stellung als Heilsweiserin herausgefordert� Vor dieser Gefahr warnt Luther und will sie einschränken, indem er zu einem äußerst zurückhaltenden Gebrauch seiner Schriften aufruft� Nach diesem kurzen Rat zum Gebrauch seiner Schriften rät er zu einem umso intensiveren Umgang mit der Heiligen Schrift� Er stellt drei Regeln auf� Indem er konsequent das „Prä“ der Schrift beachtet, gewinnt er diese Regeln aus Psalm 119 und damit aus der Schrift selbst� „Darin wirst du drei Regeln finden, die durch den ganzen Psalm hindurch ausführlich angewandt werden� Sie heißen: Oratio, Meditation, Tentatio - Gebet, Meditation, Anfechtung“ (663,37-39). Im Gebet soll vor allem um den Heiligen Geist gebetet werden� „Sondern knie nieder in deinem Kämmerlein und bete mit rechter Demut und Ernst zu Gott, dass er dir durch seinen lieben Sohn seinen Heiligen Geist geben wolle, der dich erleuchte, leite und dir Verstand gebe“ (665,5-8). Durch die Meditation soll man sich die Schrift innerlich und gerade auch äußerlich aneignen� „Zweitens sollst du meditieren, das heißt, nicht allein im Herzen, sondern auch äußerlich die mündliche Rede und die geschriebenen Worte im Buch immer drehen und wenden, wieder und wieder lesen, unter fleißigem Aufmerken und Nachdenken, was der Heilige Geist damit meint“ (665,20-24). „Denn Gott will dir seinen Geist nicht geben ohne das äußere Wort, danach richte dich“ (665,31-32). Auch bei der Meditation der Schrift geht es um den Empfang des Heiligen Geistes� Als dritte Regel ist die Anfechtung notwendig� Denn diese lehrt „die Erfahrung, wie recht, wie wahrhaftig, wie süß, wie lieblich, wie mächtig wie tröstlich Gottes Wort ist - Weisheit über alle Weisheit“ (665,37-39). Für Luther müssen sich zur Schrift drei Praktiken gesellen� Der Besitz der Schrift allein genügt nicht für den Leser, auch nicht das Bekenntnis zum „sola scriptura“� Er muss sie sich aneignen und er soll dies auf dreifache Weise tun� Das „Prä“ der Schrift verlangt so nach einer unermüdlichen Beschäftigung mit ihr, die der Beschäftigung mit allen anderen Büchern vorgeordnet bleibt� Die Beschäftigung muss weit über die bloße Lektüre hinausgehen� Sie äußert sich in Vom „sola scriptura“-Prinzip zu einem „Prä“ der Heiligen Schrift 221 der Meditation der Schrift, zu der sich das Gebet und die Anfechtung gesellen� Die Anfechtung führt zur existentiellen Erfahrung mit der Schrift� 8 Beinahe 20 Jahre früher schreibt Luther in seiner „Assertio omnium articulorum M� Lutheri per bullam Leonis X� novissimam damnatorum“ 9 : „Nolo omnium doctior iactari, sed solam scripturam regnare nec eam meo spiritu aut ullorum hominum interpretari, sed per se ipsam et suo spiritu intellegi, volo�“ (Ich will mich nicht als derjenige rühmen, der gelehrter ist als alle, sondern ich will, dass die Schrift allein regiere und dass sie nicht ausgelegt werde durch meinen Geist oder den anderer Menschen, sondern verstanden werde durch sich selbst und ihren eigenen Geist�) Luther will, „dass die Schrift allein regiere“ (solam scripturam regnare) und durch sich selbst ausgelegt werde� 10 Für ihn ist die Schrift allein die Königin� Offensichtlich gibt es für ihn keinen anderen König oder andere Königin neben der Schrift� Allein die Schrift herrscht, aber die Schrift regiert nicht allein, sondern hat zahlreiche Unterstützer in ihrem Gefolge� Zu diesen gehören gemäß der Vorrede zu den deutschen Schriften vor allem der Heilige Geist, aber auch der Glaube, Werke, das Gebet, die Schriftmeditation und die Erfahrung� Weit darunter gesetzt kann Luther auch andere Schriften inklusive seine eigenen als Unterstützer dieser Königin zulassen� Allerdings bleiben diese schriftlichen Unterstützer besonders gefährlich, denn die Menschen tendieren über kurz oder lang dazu, mit ihnen der eigentlichen Königin die Herrschaft streitig zu machen� Durch das „Prä“ der Schrift findet Luther in Psalm 119 das Gebet, die Schriftmeditation und die durch die Anfechtung bewirkte Erfahrung mit der Schrift den rechten Umgang mit der Bibel� Ein Blick auf die Anfänge der neutestamentlichen Schriften, der nur durch ein Bekenntnis zum „Prä“ der Schrift einen normativen Anspruch erheben kann, hat gezeigt, dass diese selbst mit einem „Prä“ der Schrift oder einer Voranstellung des Gebets beginnen� Hier wie dort wird ein „Prä“ der Schrift postuliert� Hier wie dort kann höchstens von einem relativen „sola scriptura“-Prinzip gesprochen werden� Immer wieder betont Lu- 8 Siehe dazu den weiterführenden Beitrag von Ralf Stolina, der von dieser Schrift im Gefolge Luthers eine „theologia experimentalis“ skizziert: R� Stolina, Gebet - Meditation - Anfechtung� Wegmarken einer theologia experimentalis, Zeitschrift für Theologie und Kirche 98 (2001), 81-100, 97-100. 9 WA 7; 98,40-99,2. 10 WA 7; 98,40-99,2. Textkritisch zu bemerken ist: Statt doctior ist auch doctor ohne i zu finden� Aufgrund der Mehrdeutigkeit von iactari könnte dann auch folgende Übersetzung sinnvoll sein: „Ich will nicht, dass ein jeder Lehrer verworfen werde, aber ich will, dass allein die Schrift regiert …“ (Übersetzung von Dennis Surau für diesen Beitrag)� 222 Peter Wick ther die absolute Vorordnung der Heiligen Schrift als Gottes Wort� Die Formel „sola scriptura“ verwendet er jedoch nur zehnmal in seinem ganzen Werk� 11 5. Krise des „sola scriptura“-Prinzips-- Krise der Schrift heute Das „sola scriptura“-Prinzip ist im Protestantismus schon lange in der Krise� Für Ulrich Luz scheint die Geschichte des Protestantismus „eine einzige Widerlegungsgeschichte des protestantischen Schriftprinzips zu sein“� Das Schriftprinzip sei gescheitert durch „die Betrachtung der Einzigartigkeit geschichtlicher Situationen und die Entdeckung der Vielfalt der Bibel durch die historische Exegese, die Neuentdeckung der Allmacht der Tradition als Mutter und Auslegerin der Bibel durch den Protestantismus, die Entdeckung der prägenden Kraft einer vielfältigen Wirkungsgeschichte und die Entdeckung des Lesers für die Texthermeneutik …“� „Wir [Bibelausleger] haben uns … durch unser Tun als Wegbereiter dieser modernen, religiösen oder postreligiösen Gesellschaft erwiesen …“ 12 � Auch Friedemann Stengel betont, wie sehr das Schriftprinzip in der Krise ist� Es sei eher ein Bestandteil des protestantischen Diskurses als die Grundlage des Protestantismus� 13 Theologen deuten dieses Schriftprinzip vielfach um, stellen seine Funktion als einheitsstiftende Normquelle zur Zeit der Reformation in Frage oder bestreiten seine Bedeutung für die Moderne� 14 Luthers Position ist sehr stark an seinen Kontext gebunden� 15 Als reformatorisches Schriftprinzip ist es erst im 19� Jahrhundert konstruiert worden� Es ist fraglich, ob es als solches eine treffende Bezeichnung für die Reformationszeit ist, in der „die Autorität und die argumentative Rolle der Heiligen Schrift stets zur Debatte standen und diesen Debatten kein irgendwie klar formuliertes und konzeptionell ausgearbeitetes Prinzip vorausging�“ Die Rede von der „‚Krise des Schriftprinzips’ bezieht sich also im Grunde auf eine Debatte des 20� Jahrhunderts�“ 16 Auch Jörg Lauster konstatiert eine Krise des Schriftprinzips� Er findet den Grund dazu bereits vor dem 19� Jahrhundert� „Luthers Erben im Zeitalter der altprotestantischen Orthodoxie haben aus dem reformatorischen Schriftprinzip einen fundamentaltheologischen Artikel von barocker Wucht geformt 11 F� Stengel, Sola scriptura im Kontext� Behauptung und Bestreitung des reformatorischen Schriftprinzips, Leipzig 2016, 24 (Anm� 46 mit allen Belegen)� 12 U� Luz, Was heißt „Sola scriptura“ heute? Ein Hilferuf für das protestantische Schriftprinzip, in: EvTh 57 (1997), 28-35, hier: 28; 29 f. 13 Vgl� Stengel, Sola scriptura im Kontext, 9� 14 Dazu Stengel, Sola scriptura im Kontext, 11-18. 15 Stengel, Sola scriptura im Kontext, 41-110. 16 Stengel, Sola scriptura im Kontext, 26-39. Vom „sola scriptura“-Prinzip zu einem „Prä“ der Heiligen Schrift 223 und paradoxerweise gerade damit die neuzeitliche Krise des Schriftprinzips heraufbeschworen�“ 17 Als Leitstern hat das Schriftprinzip weiterhin seinen dogmatischen Nutzen� Es gibt schnell eine erste Orientierung um theologische Konstrukte einordnen und das eigene Denken überprüfen zu können� Doch ein „Leitstern“ blinkt am Himmel fern vom theologischen und kirchlichen Alltag� Als Kampfformel wider die Schriftvergessenheit unserer Zeit ist dieses Prinzip anscheinend zu schwach� Es gibt eine große Krise der Heiligen Schrift in unserer Zeit� Man kann in Deutschland (und anderswo) nicht sicher sein, an jedem Sonntag in einer zufällig ausgewählten Gemeinde auf eine Predigt über einen Bibeltext zu stoßen� Besondere Sonntagsgottesdienste wie z� B� Kindergottesdienste werden gerne zum Anlass genommen, auf ein biblisches Wort zu verzichten� Im Gegensatz zu den evangelischen Kirchen, in denen die Liturgie garantiert, dass auf jeden Fall Bibeltexte vorgelesen werden sollten, gibt es manche freikirchlichen Gottesdienste, in denen kaum mehr aus der Bibel vorgelesen wird� Das Problem der Bibelvergessenheit wird auf übergemeindlichen Ebenen eher noch drängender� Im Jahr 2016 habe ich an einer großen Jubiläumsfeier einer der zahlreichen deutschen Bibelgesellschaften teilgenommen� In den zahlreichen Festvorträgen wurde zwar die Bibel und ihre Verbreitung hoch gelobt, doch kein Wort aus der Schrift zitiert� Im Gottesdienst an einer Synode wurde in der Predigt das große Lob Luthers und seines Evangeliums von der Freiheit angestimmt, doch einen Bibeltext gab es in der Predigt nicht� Solche Dinge „passieren“ überall� Ja, sie können sogar dort beobachtet werden, wo das Bekenntnis zum „sola scriptura“- Prinzip hochgehalten wird� Das Postulat des „Prä“ der Schrift wäre viel praktikabler� Ist die Schrift dieser oder jener kirchlichen Praxis vorgeordnet? Ist sie der Predigt oder der kirchlichen Verlautbarung vorgeordnet? Ist ihr „Prä“ in einer theologischen Debatte zu beobachten? Solche Fragen sind sehr einfach und von vielen Menschen zu stellen und zu überprüfen� Ein „Prä“ der Schrift provoziert auch nicht solche subversiven Fragen gegenüber der Schrift wie das Schriftprinzip, da es auf einen „allein“-Anspruch verzichtet� Wenn die Schrift allein den Weg zum Heil weist, was ist dann mit anderen Schriften? Was ist mit dem Gebet? Was mit dem Heiligen Geist? Was mit der Erfahrung? Was mit den Erkenntnissen der modernen Wissenschaften? Je stärker dieses Prinzip betont wird, desto schneller kommt man zu aporetischen Gegenüberstellungen und muss sich entweder für oder gegen die Schrift entscheiden� Das „Prä“ der Schrift als Postulat gibt hingegen einen bestimmten 17 J� Lauster, Systematische Theologie, in: F� Nüssel (Hg�), Schriftauslegung, Tübingen 2014, 179-206, 181 f. 224 Peter Wick Standpunkt an, der die Schrift priorisiert� Von diesem Standpunkt her ist der Dialog, die Rezeption von Neuem, die gegenseitige kritische Durchdringung und viele Lernprozesse ohne weiteres möglich: Die Schrift im kritischen Gespräch mit der Wissenschaft; die Schrift, die das Gebet prägt und das Gebet, das zur Schrift führt; die Schrift, die dem Heiligen Geist Gestalt gibt und der Heilige Geist, der die Schrift dynamisiert; die Schrift, die neue Erfahrungen eröffnet und Erfahrungen, die sich durch die Schrift verstehen lassen� Dieser Standpunkt wäre im besten Sinn des Wortes evangelisch: Er könnte die von Luz beklagte innerevangelische Heterogenität bejahen und zugleich auf eine gemeinsame positive Basis stellen, und wäre zugleich in ökumenischer Hinsicht nicht automatisch abgrenzend� 6. Das „Prä“ der Schrift: Ohne Maß und doch bescheiden Paulus eröffnet im Brief an die Römer das Briefkorpus mit einer kurzen Inhaltsangabe zum ganzen Brief (Röm 1,16 f�)� Er stellt dem Briefkorpus die Verkündigung des Evangeliums voran� „Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht, denn es ist eine Kraft ( dynamis ) Gottes zur Rettung jedem Glaubenden, zuerst dem Juden und dann dem Griechen�“ (Röm 1,16) Das Evangelium ist Botschaft, Inhalt und Wort zugleich� Paulus stellt also das ihm anvertraute Wort an den Anfang, wie er das mit dem Bibelwort in diesem Brief bereits gemacht hat (vgl� 1,2)� Dieses Wort ist für ihn nicht zuerst eine Lehre und auch kein Prinzip, sondern eine Dynamis� Das Evangelium ist eine Kraft Gottes, die das bewirkt, für das sie bestimmt ist, nämlich die Rettung der Menschen� Dieses „Prä“ des Wortes führt also nicht zuerst zu einem bestimmten Konzept, sondern zu einer Kraftwirkung� Diese Kraft ist ohne Maß� Sie erhebt jedoch keinen „allein“ Anspruch� Es gibt viele andere Kräfte und Gewalten (vgl� z� B� Röm 13,1 f�) neben ihr� Doch das Evangelium ist viel kraftvoller als alle anderen Gewalten und Kräfte� Offensichtlich geht Paulus davon aus, dass dies auch für das von ihm geschriebene Evangelium gilt� Dieses ist machtvoller als ein Schriftprinzip und wird mit diesem Brief auch in Rom seine Kraft entfalten� Viel bescheidener als das Schriftprinzip formuliert der zweite Timotheusbrief� „Jede von Gott eingegebene Schrift ist auch nützlich zur Lehre, zur Überführung, zur Besserung und zur Erziehung in der Gerechtigkeit, damit der Mensch Gottes allen Anforderungen gewachsen sei, ausgerüstet für jedes gute Werk�“ (2Tim 3,16 f�) Die Heiligen Schriften machen den Menschen, der vor Gott steht, bereit zu jeder guten Tat� Die göttliche Inspiration der Schriften wird nicht bekannt, sondern vorausgesetzt und dann funktional ausgewertet� Weil sie Vom „sola scriptura“-Prinzip zu einem „Prä“ der Heiligen Schrift 225 von Gott eingegeben sind, erfüllen sie einen ganz bestimmten Nutzen� Sie sind nützlich zur Weisung� Offensichtlich befähigen sie den Menschen, der vor Gott ist beziehungsweise zu Gott gehört, zum Handeln� Durch ihren Gebrauch wirkt eine große Kraft� Genaueres schreibt er nicht� Diese beiden Aussagen spiegeln keine dogmatische Fixierung von irgendeinem Schriftprinzip wider� Sie verzichten auch auf eine Überhöhung der Schrift durch ein Bekenntnis seiner „Allein-Stellung“� Doch sie verweisen auf ihre durch kein Maß zu beschreibende Kraft und ihre funktionale Wirksamkeit� So können auch diese Stellen nicht zur Verteidigung des Schriftprinzips herangezogen werden, sondern ermutigen dazu, das Schriftprinzip in den Hintergrund zu stellen� Dort kann es weiterhin aus der Ferne als Leitstern für das theologische Denken dienen� Im Vordergrund aber soll viel bescheidener, aber auch praktischer und umso mehr davon gesprochen werden, dass wir die Schrift allem anderen vorordnen sollen, dass die funktionalen Konsequenzen aus ihrer Vorrangstellung in den Fokus geraten sollen und dass das „Prä“ der Schrift zum Gebet, zum Heiligen Geist, zur Tat und zur Anfechtung führen will, um so Schrift und Erfahrung im Menschen, der Theologie und der Kirche immer wieder und immer tiefer zu verbinden� „Sola scriptura“ war ein Kampfbegriff für Luther und die Reformation� Danach ist dieser zum Dogma und zum Prinzip (Schriftprinzip) verabsolutiert worden, was weder bei den Befürwortern noch den Gegnern zu einem lebendigen Gebrauch der Schrift führen musste� In der heutigen Zeit taugt „sola scriptura“ nicht zum Kampfbegriff� Es kann viel zu leicht in aporetische Diskussionen hinein gelotst und so paralysiert werden� Wenn „sola scriptura“ gefordert wird, stellt sich sofort die Frage nach der Bedeutung der Naturwissenschaften und der Humanwissenschaften, nach dem interreligiösen Dialog und nach vielem anderen mehr, was Menschen heute als wesentlich für ihren Weg zum individuellen Heil verstehen� Wenn hingegen der Schrift der Vorrang gegeben wird, dann soll sie durch ihre vielfältige Auslegung selber mit den Herausforderungen unserer Zeit ringen, mit dem Denken, mit der Wissenschaft und mit den Nöten der Menschen� Denn dieser Vorrang soll auch ein Vorrang in Bezug auf die Kraft sein, die von ihr erwartet wird� Als neuer Kampfbegriff kann der Aufruf zu einem „Prä“ der Schrift dienen� Denn das die Schrift vorangestellt wird und ihr der Vorrang zukommt, das kann von Theologen und Laien eingefordert und überprüft werden� Der Ruf, die Schrift voranzustellen, schärft das Profil der Protestanten in der heutigen Zeit, ohne sie von anderen Kirchen prinzipiell zu trennen� Dieser Ruf verpflichtet, den Buchstaben, die Wörter und die Strukturen, die einen Text zum Text machen, wieder und immer wieder staunend wahrzunehmen� Zugleich ermutigt er, die im Text angelegte Sinnvielheit zu entdecken und eine Interpretation neben 226 Peter Wick die andere zu stellen, ohne sich für die eine wahre entscheiden zu müssen� Gerade wenn dem Text viel zugetraut wird und er zuerst als Kraft und Wirkung und erst dann als fixierte Lehre betrachtet wird, dann verlangt der Text selbst danach, dass Menschen und Kirchen ihn vielfältig verstehen und mannigfache Erfahrungen mit ihm machen� 18 Dies soll zum Abschluss kurz mit einer zugleich an den Text gebundenen und freien Interpretation einer Perikope des Matthäusevangeliums demonstriert werden� Die Weisen aus dem Morgenland haben in ihrer Heimat den Stern des neugeborenen Königs der Juden gesehen� Sie waren Astronomen und zugleich Astrologen und haben sich aufgrund eines Zeichens auf die Suche nach einer Erfahrung des Heils (Mt 2,1-2) gemacht. Sie vermuten den Säugling in Jerusalem, der Hauptstadt der Juden und einer der Residenzorte des jüdischen Königs Herodes� Doch weiter kommen sie durch ihren Leitstern nicht� Dennoch sind sie am richtigen Ort, denn Jerusalem ist auch ein Ort der Schriftgelehrsamkeit� Hohepriester und Schriftgelehrte konsultieren als Fachleute die Heilige Schrift und verweisen sie auf Bethlehem� Sie hören auf das Wort Gottes und brechen nach Bethlehem auf� Diesem „Prä“ des Wortes folgt die Tat� Über diese Zu- und Nachordnung der Tat zum Wort ließe sich viel schreiben (vgl� nur Jak 1,22 f�)� Pikanterweise führt das Wort in dieser Geschichte bei den Schriftgelehrten gerade nicht zur Tat� Nachdem die Weisen der Weisung der Heiligen Schrift Folge geleistet haben, geschieht das Wunder: Auch der Stern fügt sich in dieses Wort und ihren Gehorsam ein und fängt an, ihnen voranzuziehen bis zum Haus des Kindes (Mt 2,3-10). Das „sola scriptura“-Prinzip ist wie dieser Leitstern, der die Weisen auf den richtigen Weg bringt� Doch auf diesem Weg müssen sie lernen, dass den Heiligen Schriften selbst der Vorrang zukommt� Nur dank diesen finden sie nach Bethlehem� Auch ihr Leitstern beugt sich dieser Vorrangstellung und kraft der Schrift beginnt er, sich auf den richtigen Ort hin zuzubewegen� Der Verfasser des Matthäusevangeliums lässt ihn über dem Haus mit dem Kind stehen bleiben� Wenn das Schriftprinzip der Schrift nicht mehr vorgeordnet, sondern diesem 18 Zu einer Schrifthermeneutik für die heutige Zeit, die das Gewicht des Buchstabens, die Multiperspektivität der Bibel und die Freiheit der Interpretation herausarbeitet und sich damit in den Kontext rabbinischer Auslegungsziele und postmoderner Wirklichkeitswahrnehmungen stellt, siehe meine Aufsätze: Ein Text, viele Auslegungen� Zukunftsperspektiven für den kirchlichen Umgang mit den Heiligen Schriften, in: A� Grözinger / E� Stegemann (Hg�), Das Christentum an der Schwelle zum 3� Jahrtausend, Stuttgart [u� a�] 2002, 77-90; Exegese und Realität. Über das Wirklichkeitsverständnis eines multimethodischen Ansatzes, in: G. Gelardini (Hg.), Festschrift für E. Stegemann, Stuttgart 2005, 267-281; Wie beeinflussen traditionelle (mentale) Bilder die Lektüre biblischer Texte? Überlegungen aus exegetischer Sicht, Forum Exegese und Hochschuldidaktik: Verstehen von Anfang an Heft 1 / 2017 (unveröffentlicht)� Vom „sola scriptura“-Prinzip zu einem „Prä“ der Heiligen Schrift 227 mit vielem weiteren nachgeordnet wird, kann es aus seiner Erstarrung befreit werden und wieder zum lebendigen Gebrauch der Schrift ermutigen� Doch dafür muss die Schrift sogar dem Schriftprinzip vorangestellt werden� Zeitschrift für Neues Testament Heft 39 / 40 20. Jahrgang (2017) Sola scriptura, claritas scripturae und sacra scriptura sui ipsius interpres Kritische Überlegungen aus exegetischer und hermeneutischer Sicht Oda Wischmeyer Sola scriptura - wieweit ist diese lutherische Devise eine Maxime unseres wissenschaftlichen Tuns? Wieweit leitet sie die exegetische Arbeit inspirierend und fördernd? Wieweit schränkt sie unser wissenschaftliches Fragen ein, bindet sie uns an normierende Gesetze der Textinterpretation? Für uns deutschsprachige neutestamentliche Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, soweit unsere Arbeit größtenteils im institutionellen Zusammenhang staatlicher Universitäten und evangelischer Fakultäten oder Fachbereiche stattfindet, gehört das lutherische sola scriptura in den Bereich der dogmatischen Schriftlehre� Als solche ist sie keine methodische Maxime unseres wissenschaftlichen Tuns, nämlich der Exegese des zweiten Teils der christlichen Bibel unter den Fragestellungen zeitgenössischer Textinterpretation, sondern eine Stimme aus der Vergangenheit, Teil unseres theologischen Erbes� Sich zum lutherischen sola scriptura zu äußern, gehört nicht zu unseren primären Themen� Und doch ist auch die neutestamentliche Exegese nicht von der Frage entbunden, wie das sola scriptura unser Textverstehen beeinflusst, behindert oder entwickelt� Auch geht von derart zugespitzten und geschliffenen Devisen ein hoher Reiz aus, eine Herausforderung, das eigene wissenschaftliche Selbstverständnis an der Devise zu messen oder von ihr messen zu lassen� Peter Sloterdijk hat diese Herausforderung gespürt und in einem ausführlichen Essay versucht, die Devise im Sinne einer divinatorisch arbeitenden Variante der intellectual his- 230 Oda Wischmeyer tory zu interpretieren 1 - ein Versuch, der nach meinem Verständnis gescheitert ist� Ohne eine gewisse Lutherkenntnis und ohne eine Vorstellung von der Bibel und von Bibelexegese muss auch die intellektuell anspruchsvollste Deutung ihren Gegenstand verfehlen� Aber Sloterdijks Versuch mahnt nicht nur zur Vorsicht bei historischen Linienziehungen und großflächigen Deutungen, sondern regt eher gerade dazu an, selbst eine Stellungnahme zu versuchen� Nicht eine verfehlte Deutung ist problematisch: Über sie kann man streiten� Problematisch wäre eine exegetische Verweigerung des Tones: „Das ist nicht mein Gebiet� Dazu äußere ich mich nicht“� Jeder Exeget und jede Exegetin kann sich durch das sola scriptura herausgefordert fühlen und mit sich selbst zu Rate gehen, ob und wie sich eine exegetische Reaktion formulieren lasse� Hier regiert das - hoffentlich nicht gänzlich uninformierte - Subjekt� Und man könnte sagen: endlich einmal, nachdem das Subjekt normalerweise bei der exegetischen Arbeit zurücktritt� 1. Luthers sola scriptura Exegeten denken historisch, und so fange ich nicht bei Sloterdijk an, denn ohne einen historischen Einstieg scheint mir jede Überlegung zum Thema in der Luft zu hängen� Die reformatorische Devise sola sciptura hat ihren historischen Ort in der theologisch, kirchen- und reichspolitisch zentralen Debatte um die regierenden Normen der christlichen Lehre und ihrer institutionellen und individuellen Implikationen um 1520� 2 Es ging um die Gestalt der römischen Kirche, um Gottesdienst- und Sakramentsverständnis und um das Heil und die Frömmigkeit des einzelnen Christen, nicht um eine inneruniversitäre bibelhermeneutische Diskussion oder gar um die exegetische Frage nach der angemessenen Übersetzung von dikaiosynē theou � 3 Die Funktion von sola scriptura war in diesem Zusammenhang die einer grundsätzlichen Kampfdevise, die das Problem der formalen Autorität, auf die sich theologische und kirchenpolitische Sätze berufen konnten, klären sollte� Der Streitpunkt zwischen Luther und seinen Gegnern war nicht die Stellung der Schrift als solcher, sondern die Frage danach, wer sie autoritativ auslegen könne� Genau hier greift Luthers sola scriptura : im Sinne der scriptura sui ipsius interpres ist die Schrift ihre eigene Autorisierungsgröße� 1 P� Sloterdijk, Glaube, die Hölle des Zweifels, in: NZZ Samstag 1� Oktober 2016� Internationale Ausgabe, 27-30. 2 Vgl� B� Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, 204-213 (systematisch). 3 Dazu einführend Lohse, Luthers Theologie, 97-110. Vgl. WA 54, 185 f� (Lateinische Schriften, Vorrede)� Sola scriptura, claritas scripturae und sacra scriptura sui ipsius interpres 231 Wie aber sah diese autorisierte Selbstauslegung der Schrift praktisch aus? Auslegung geschieht immer durch Ausleger� Luther machte theologisch die Schrift zu ihrer eigenen Auslegerin, praktisch war es die Exegese, die diese Rolle einnahm, und zwar seine Exegese, und das impliziert: er als Exeget� Seine Exegese hatte die Voraussetzungen für die Devise sola scriptura und für ihre Wirkung geschaffen und war die Basis seiner kämpferisch vertretenen Position� Das sola scriptura eröffnete Luther den theologischen und praktischen Spielraum, eigene Autorität jenseits des kirchlichen oder päpstlichen Lehramtes auszuüben, denn er war „Doktor der Heiligen Schrift“ und zutiefst von seiner exegetischen und hermeneutischen Kompetenz - sit venia verbo - überzeugt� In der „Schrift“ war er nach seinem Urteil jedem überlegen, sei es der Papst, seien es die „Romanisten“, sei es Erasmus� Und es ist nicht zufällig, dass seine Gegner ihn nicht aus der Schrift widerlegten� Luther errichtete sich also eine eigene theologisch-autoritative Basis: die Kenntnis und das hermeneutisch angemessene Verständnis der Bibel beider Testamente, das auf gründlichstem exegetischem Bibelstudium beruhte� Dieser Ansatz sollte im Lauf der Geschichte der protestantischen Theologie und speziell der Bibelhermeneutik ebenso zu immer größerer Freiheit als auch zu neuen autoritativen theologischen Verengungen führen� Denn die Schrift eröffnete nicht eine, sondern viele Auslegungsmöglichkeiten� Anselm Schubert weist darauf hin, dass „gerade die von der Reformation erhobene Forderung nach der Schrift als alleiniger Norm des Glaubens … erstmals die Widersprüchlichkeit der verschiedenen biblischen Texte, Traditionen und Theologien deutlich“ machte� 4 Dass Luther diese Unterschiede gesehen und furchtlos benannt hat, machen seine Vorreden zu den biblischen Büchern ebenso deutlich wie seine Äußerungen über einzelne biblische Bücher in seinen Tischgesprächen und seine 4 A� Schubert, Humanismus und Reformation: Einführung, in: O� Wischmeyer (Hg�), Handbuch der Bibelhermeneutiken (HBH), Berlin / Boston 2016, 273-275, hier: 275. Prof. Dr. Oda Wischmeyer war von 1993-2009 Professorin für Neues Testament an der Friedrich-Alexander- Universität Erlangen-Nürnberg� 2015 Ehrendoktor der Universität Lund� 232 Oda Wischmeyer Behandlung bestimmter alttestamentlicher und neutestamentlicher Schriften� 5 Er konnte die Unterschiede der biblischen Bücher benennen, weil er die Bibel insgesamt als Christuszeugnis verstand und die einzelnen Texte weder harmonisieren noch alle gleich schätzen musste� Er hielt seine Bibelhermeneutik, die auf dem Verständnis der Schrift als Christuszeugnis - „was Christum treibet“ oder: solus Christus - und als Evangelium beruhte und mit Glauben beantwortet werden sollte - sola gratia und sola fide -, für evident� Zugleich musste er erleben, dass sowohl von altgläubiger als auch von reformatorischer Seite sehr andere hermeneutische Entwürfe vorgelegt wurden� Eine allgemeine christliche Verständigung auf „das Evangelium“ fand nicht statt� 6 In den reformatorischen Kirchentümern sollte es mehr als 250 Jahre dauern, bis sich eine selbstverantwortete Bibelexegese und Bibelhermeneutik unabhängig von den kirchlichen Bekenntnisständen an den Universitäten entwickeln konnte� Gewisse kirchliche, konfessionstheologische und allgemeintheologische Vorbehalte gegenüber bestimmten exegetischen und hermeneutischen Positionen sind auch nach 200 Jahren kritischer Exegese im Bereich universitärer Bibelwissenschaften nicht gänzlich verschwunden, was nicht per se negativ bewertet werden sollte, sind doch die Bibelwissenschaften mit den Kirchen in ihrem Gegenstand und auch in der Bekenntniszugehörigkeit ihrer Vertreter konfessionell verbunden, ohne gebunden zu sein� Hermeneutische Vielfalt und theologischer Rückbezug auf kirchliche Institutionen sind legitime Aspekte theologischer Verantwortung, wie gerade die aktuellen Debatten um angewandte bzw� kontextuelle Hermeneutiken deutlich machen� 7 2. Sola Scriptura aus heutiger Perspektive Ich wechsle jetzt die Perspektive und lese die Devise nicht historisch-verstehend, sondern im „Literalsinn“, wobei allerdings erneute Rückgriffe auf historische Fragestellungen unvermeidbar sind� Allein aus der „Schrift“ über die christliche Botschaft, ihre Wahrheit und ihre theoretische, d� h� theologische und weltdeutende, und praktische, d� h� kirchenrechtliche und ethische, Gestalt belehrt zu werden, wie Luthers Devise zu insinuieren scheint, ist auf den ersten Blick - 5 H� Bornkamm (Hg�), Luthers Vorreden zur Bibel (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1550), Göttingen 3 1989� 6 Vgl� die Beiträge zu bibelhermeneutischen Entwürfen in der Reformation und Nachreformation in: Wischmeyer, Handbuch, 273-488. 7 Vgl� A� de Zwiep, Bible Hermeneutics from 1950 to the Present: Trends and Developments, in: HBH 933-1008. Vgl. weiter das Dokument des Lutherischen Weltbundes zur Bibel: Die Bibel im Leben der lutherischen Gemeinschaft� Ein Studiendokument zur lutherischen Hermeneutik, Genf 2016� eben ohne historische Kontextualisierung - als Programm ebenso heldenhaftminimalistisch wie naiv-unrealistisch und damit letzten Endes gefährlich, auf jeden Fall ahistorisch� Wo bleiben die „Väter“, modern gewendet: die Rezeptionsgeschichte, wo bleibt der Erfahrungsschatz der Geschichte - katholisch gewendet: der Kirche? Wo bleiben die Menschen? Wo bleibt die Veränderung? Wo bleiben die ewig wechselnden Kontexte? Die jeweiligen neuen Notwendigkeiten? Wo bleiben Vermittlung und Applikation? Wo bleibt die Liebe? Wo das Verstehen? Und am wichtigsten: weshalb überhaupt „allein“? Das Adverb transportiert Ausschlüsse und verbaut Alternativen, Erfahrungen, Vielfalt, multiple Zugänge, Diskussion� „Allein“ ist rechthaberisch, tyrannisch� Hier wird nicht Inklusion geübt, sondern Exklusion exerziert� Sicherheit und Einfachheit wird vorgetäuscht, wo doch gerade Offenheit und viel Sensibilität für das Komplexe und den Wandel notwendig sind� Spüren wir hier den Terror des Monotheismus oder den Hochmut falschen Heldentums, das das Martyrium geradezu herausfordert? Oder die Unfreiheit eines „So steht es geschrieben“? Unter Umständen eines Fundamentalismus? All das wurde und wird behauptet� Und wenn wir die ethisierende Kritik ausblenden und nur von dem wissenschaftlichen Umgang mit Texten her denken, wird die Kontextfigur noch wichtiger: kein Text ohne Kontexte, Prätexte und Intertext und Rezeption� 8 Wollen wir so exegetisch arbeiten, ohne Kontexte 9 , unter der Devise sola scriptura ? Und wo ist die Grenze zum Biblizismus? Auch von der Kirchengeschichte her ist die lutherische Devise bekanntermaßen fragwürdig, ist doch der neutestamentliche Kanon selbst ein Ergebnis der Akzeptanz in den Gemeinden und in einem mindestens teilweise zu rekonstruierenden historischen Prozess zustande gekommen, an dessen Ende eine kirchliche Entscheidung stand� Diese Flut unterschiedlicher und nicht mit einem einfachen Ja oder Nein zu beantwortender Fragen lässt sich in einer exegetisch-theologiegeschichtlichen Frage methodisch auf den Punkt bringen: Ist das „allein“ eine spezifische Denkform Luthers, der seiner Übersetzung von Röm 3,28: 8 Vgl� O� Wischmeyer, Kanon und Hermeneutik in Zeiten der Dekonstruktion� Was die neutestamentliche Wissenschaft gegenwärtig hermeneutisch leisten kann, in: E�-M� Becker / St� Scholz (Hg�), Kanon in Konstruktion und Dekonstruktion� Kanonisierungsprozesse religiöser Texte von der Antike bis zur Gegenwart� Ein Handbuch, Berlin / Boston 2012, 623-678. 9 Zur theologischen Dimension des Kontextbegriffs vgl� W� Härle, Dogmatik, Berlin / Boston 4 2012, 168-194. Sola scriptura, claritas scripturae und sacra scriptura sui ipsius interpres 233 234 Oda Wischmeyer Logizometha gar dikaiousthai pistei anthrōpon chōris ergōn nomou. ein „allein“ hinzufügte, wohl wissend, dass Paulus nicht exklusiv monon pistei formuliert hatte, und sich dafür mit einer langen Ausführung über die deutsche Sprache verteidigen musste? Vielleicht hätte zur Verteidigung seiner Übersetzung sachlich einfach der Hinweis auf Jak 2,24 gereicht, wo der Verfasser des Briefes die Position des Paulus zuspitzt, ohne sie zu verzerren: ex ergōn dikaioutai anthrōpos kai ouk ek pisteōs monon. Hier haben wir das „allein“ - und ironischerweise ist es ausgerechnet der Jakobusbriefautor, der als antiker Leser die Übersetzung Luthers rechtfertigt� Dass Luther das paulinische implizite „Allein“ in pistei in sola fide explizit machte, ist an diesem Punkt also sicher nicht Ausdruck einer Obsession, sondern Ergebnis eines hervorragenden Sprachgefühls und verstehender Exegese� Insoweit ist die „Allein“-Denkfigur Luthers verstehende Antwort auf Paulus� Das „allein“ fehlt übrigens in der Confessio Augustana 10 , ist aber dann in der Konkordienformel festgeschrieben� 11 Wenn man allerdings das sola fide beiseitelässt und exegetisch fragt, ob das Neue Testament die Devise „allein durch die Schrift“ kennt, läuft man ins Leere� Die „Schrift“, die Septuaginta, wird überall zitiert, ist aber zugleich durch Christus überboten� In den Evangelien ist Jesus nicht nur der bessere Schriftkenner 12 , sondern auch der vollmächtige Verkünder einer „besseren Gerechtigkeit“, die in den Antithesen der Bergpredigt auch als „neue Tora“ qualifiziert werden kann� Paulus stellt klar, dass nach dem Kommen Christi die Schrift neu gelesen werden muss und der Geist die entscheidende hermeneutische Größe ist (2Kor 3)� 13 Eine Vorstellung von „der Schrift allein“ ist nicht neutestamentlich� Die „Schrift“ ist da und wird seit dem Kommen Jesu neu interpretiert� Wollte ich geistreich pointieren, könnte ich durchaus sagen: Die „Schrift“ selbst steht nicht für das sola scriptura � Überhaupt spielt die Bezeichnung „allein, einzig“ als theologisches Argument keine bedeutende Rolle im Neuen Testament� Selbst monos -Qualifizierungen Gottes sind im Neuen Testament erstaunlich selten� 14 Die alleinige Position 10 CA 4� Vgl� G� Ebeling, „Sola scriptura“ und das Problem der Tradition, in: ders�, Wort Gottes und Tradition� Studien zu einer Hermeneutik der Konfessionen, Göttingen 2 1966, 91-143. 11 Formula Concordiae Epitome 1 (BEKL 4 1958, 767)� 12 L� Scornaienchi, Der umstrittene Jesus und seine Apologie� Die Streitgespräche im Markusevangelium (NTOA / StNTU 110)� 13 Vgl� dazu O� Wischmeyer, Paulus als Hermeneut der graphe, in: M� Witte/ J� C� Gertz (Hg�), Hermenutik des Alten Testaments (VWGTh 47), Leipzig 2017� 14 Mt 4,10; Joh 5,44; 17,3; Röm 16,27; 1Tim 1,17; Jud 25� Gottes wird mit dem klassischen heis aus Deuteronomium ausgedrückt� Es geht nicht um den Gegensatz: „allein“ oder „mit anderen / oder allen zusammen“ im Sinne der Monotheismus-, Polytheismusdebatte, sondern um das Bekenntnis Israels: „Einer ist Gott“� Als Neutestamentlerin kann ich dem sola scriptura daher nicht zu viel abgewinnen� Stattdessen wäre das solus Christus entscheidend, und zwar in einer erheblichen Spannung zu sola scriptura : Einerseits ist die Schrift nach der Überzeugung der neutestamentlichen Schriftsteller Zeuge Christi, auf der anderen Seite wird die Schrift aber erst von Christus her verständlich� Hier wird deutlich, in welch anderer religiöser Erfahrungswelt und theologischem Begründungskontext, nämlich einer in Lehrsätze gefassten, autoritativ festgeschriebenen Interpretation der „Schrift“, Luthers Devise ihren Sinn entfaltet� Sola scriptura im Neuen Testament zu suchen, würde nur Sinn ergeben, wenn wir nach einer biblizistischen Dogmatik suchen wollten� Treffen wir also bei dem „allein“ Luthers doch auf einen gewissen Rigorismus des Arguments? 15 So behauptet Peter Sloterdijk vehement� Nun ist Sloterdijk mit Sicherheit kein Kenner der Bibelwissenschaften 16 , aber er hat doch einen scharfen Blick für die Unbedingtheit von Luthers „allein“: Einhundert Jahre vor Descartes hatte Luther sein fundamentum inconcussum in der Treue zur Schrift gefunden� Für ihn war das Cogito des Rezipienten in Kraft getreten: „Ich lese, also bin ich�“ 17 Die wittenbergische Religion will in erster Linie Wehrlosigkeit vor dem geschriebenen Wort sein� Was Geschichte gemacht hat, ist Luthers Skriptualismus� Die bedingungslose Kapitulation vor der Schrift soll von da an Glaube heißen� Das Motto sola fide ist mit dem Prinzip sola scriptura gleichlautend� Glauben und Lesen sollen ein und dasselbe werden� Die weltgeschichtliche Wirkung des Mönchs von Wittenberg liegt in seiner Überzeugung, er selbst, das demütige Mönchlein, habe gewisse Abschnitte des Evangeliums eindringlicher gelesen, als eine tausendjährige Väterliteratur es vermochte� 18 Sicher ist, dass Sloterdijk das Martialische in dem „allein“ spürt� Das sola scriptura ist in der Tat Luthers persönliche Waffe im Kampf gegen die kirchlichen Autoritäten� So suggestiv Sloterdijks Rede vom Skriptualismus aber ist, so unbe- 15 Dass Luther allgemein zu einer vorher nicht gekannten thematischen theologischen Zentrierung neigt, betont Lohse in bezug auf die Rechtfertigung: „Es war das erste Mal in der gesamten Theologie- und Dogmengeschichte, daß sich für einen Theologen die entscheidende Wahrheit des christlichen Glaubens in solcher Weise auf einen bestimmten Artikel konzentrierte“ (Luthers Theologie, 275)� Den Hinweis auf Lohses Interpretation verdanke ich Ulrich Körtner, Wien� 16 Sloterdijk, Glaube� Was er über das Neue Testament sagt, ist an Naivität und Uninformiertheit nicht leicht zu übertreffen (29)� 17 A� a� O�, 28� 18 A� a� O�, 29� Sola scriptura, claritas scripturae und sacra scriptura sui ipsius interpres 235 236 Oda Wischmeyer friedigend bleibt doch die große geistesgeschichtliche Analyse� Sein letzter Satz impliziert schon, dass seine Interpretation des sola scriptura kaum mehr ist als eine geistreiche Kritik, die an den wichtigen Implikationen der Devise gerade vorbeigeht� Denn Luther ist in seinem intensiven Schriftstudium eben nicht dem Buchstaben, sondern dem Geist - um mit Paulus zu reden - begegnet, dem Evangelium von Jesus Christus, nicht einem heiligen und unfehlbaren Lehrtext� Der Text ist nur Aufbewahrungsort des Wortes� 19 In den Tischreden lesen wir, ihm habe „der heilige Geist die Schrift offenbart“, bezogen auf die Interpretation von Gottes Gerechtigkeit als Barmherzigkeit und Gnade� 20 Gerhard Gloege hat die Zusammenhänge vor dem Hintergrund der unterschiedlichen spätmittelalterlichen Positionen zur Bibel als nova lex - der Positionen der Ockhamisten, der Konziliaristen, des Marsilius von Padua, Wiclifs, der Waldenser u� a� - prägnant skizziert: Luther habe den spätmittelalterlichen Biblizimus, in dem die Bibel - „sola scriptura“ - moralisch-juristisches Formalprinzip [bleibt], das die Grundvoraussetzung kath(olischer) Gesetzlichkeit festigt, indem es deren konkrete Ausformung angreift“, in dreifacher Hinsicht überwunden: „a) Indem er fundamental doctrina als Verkündigung versteht, wird ihm das „Lehr- und Lesebuch“ (legibile) zum „Predigt-, Höre- und Streitbuch“ (doctrinale, audibile, pugnax WATR 2,2185)� b) Indem er kategorial Gesetz und Evangelium unterscheidet, qualifiziert er die B(ibel) zur Schrift, dh zur Gestalt der durch Töten lebendig machenden Gottesrede, die jede Programmatik ausschließt� c) Indem er existentiell die Schrift streng auf Begegnung (experiantia, conscientia) bezieht, werden die „Leseworte“ des Geschichtsbuches zu „lauter Lebeworten“ ( WA 31,1,67)� An die Stelle von ratio, lex, speculatio tritt der mit dem Evangelium identische Christus �“ 21 Luthers Devise sola scriptura war also nicht seine „Erfindung“, sondern wurde von ihm neu interpretiert� Es geht Luther gerade nicht um Biblizismus oder gar Skriptualismus, sondern um die Gewinnung der Botschaft von Christus aus der Bibel beider Testamente� Und damit sind wir plötzlich ganz nahe bei dem paulinischen Schriftverständnis, und ich muss die Meinung, von neutestamentlicher Seite könne man mit dem sola scriptura nicht viel anfangen, revidieren� Mit dem „allein“, so ist auf Sloterdijk zu antworten, schließt Luther die Bibel nicht zu, indem er die „bedingungslose Kapitulation vor der Schrift“ propagiert 22 - hier muss man doch nach der Bedeutung der Metapher fragen: Sind die Weltkriege die richtigen Metaphern- 19 Das betont A� Beutel, Erfahrene Bibel� Verständnis und Gebrauch des verbum Dei scriptum bei Luther, in: ders., Protestantische Konkretionen, Tübingen 1998, 66-103. 20 WATR 3,3232c� 21 G� Gloege, Art� Bibel III� Dogmatisch, in: RGG 3 Bd. 1, 1957, 1141-1147, 1143 f. Vgl. auch die ausgewogene Darstellung bei Lohse, Luthers Theologie, 22-54. 22 Sloterdijk, NZZ S� 30� spender? -, sondern öffnet sie für eine Lektüre ohne vorherige Sinnfeststellung� Das ist das Entscheidende an dem sola � Dies Bild würde noch konturierter, wenn es im Zusammenhang der spätmittelalterlichen Debatte um die Vorordnung „der biblischen Norm im Verhältnis zur kirchlichen Tradition“ im Einzelnen ausgearbeitet würde� 23 Bevor ich mich aber weiter in der unübersichtlichen und hoch kontroversen Welt der Lutherdeutungen und ihrer spätmittelalterlichen Hintergründe verliere, fasse ich für mich als Exegetin kurz zusammen: Luther arbeitete daran, durch die verschiedenen kirchenrechtlich und ekklesiologisch geprägten Modelle von Bibelhermeneutik 24 hindurch zu eigener Lektüre und eigener Bibelhermeneutik zu gelangen - von ihm selbst biographisch als grammatische Einsicht in die Genitivverbindung dikaiosynē theou gedeutet 25 , dogmatisch als neues Modell des Schriftverständnisses aus der Pneumatologie und der sog� Selbstsuffizienz der Schrift entwickelt und bibelwissenschaftlich in seinen Kommentaren und Predigten, vor allem aber in seiner Bibelübersetzung und in den Vorreden zu den einzelnen biblischen Büchern ausgearbeitet� Was jenseits aller Kontroversen um eine angemessene aktuelle Lutherinterpretation und um die anschließende Frage nach dem Schicksal des lutherischen „Schriftprinzips“ bestehen bleibt, ist Luthers Bibelzentriertheit, seine umfassende Bibelkenntnis, seine Liebe zur Bibel, seine Bibelübersetzung, die von Melanchthon besonders gelobt wurde 26 , seine nie erlahmende Dynamik in der Bibelauslegung und seine Zuversicht, in der Bibel die Botschaft des Evangeliums zu finden� All das sind Verhaltensweisen, die auch protestantische Exegeten und Exegetinnen des 21� Jahrhunderts antreiben können, für die die Institution eines kirchlichen Lehramtes ebenso vergangen sind 27 wie die politisch-kirchenrechtlich-religiösen Rahmenbedingungen, gegen die Luther seine Devise entwickelte� 23 Th� Kaufmann, Luthers Bibelhermeneutik anhand seiner Vorrede auf das Neue Testament und De servo arbitrio, in: Wischmeyer, Handbuch, 312-322, hier: 315. 24 Dazu H� Schüssler, Der Primat der Heiligen Schrift als theologisches und kanonistisches Problem im Spätmittelalter (VIEG 86), Mainz 1977� 25 Dazu einführend Lohse, Luthers Theologie, 97-110, bes. 104-107. Besonders wichtig sind zwei Sätze aus dem Selbstzeugnis von 1545: „bis ich auf den Zusammenhang der Worte achtete“� Hier geht es um Grammatik und Syntax sowie engeren Kontext� Und: „indem ich vor Durst brannte zu wissen, was der hl� Paulus wollte“ (Lat� Text WA 54, 185 f�)� Hier wird exemplarisch deutlich, wie Luther die Bibel studiert: mit „offenem“ Ergebnis und mit existentiellem Interesse� Das ist der Motor seiner Bibelstudien� 26 Melanchthon spricht von Luthers „Übersetzung des Alten und Neuen Testaments, die von solcher Klarheit ist, dass die deutsche Übersetzung als Kommentar dienen kann“ (nach H� Scheible, Melanchthon� Vermittler der Reformation, München 2016, 178)� 27 Vgl� aber noch die komplexe Stellungnahme der VELKD-Synode in Flensburg zur Entmythologisierung Bultmanns� Zur Stellungnahme und ihrer Nachgeschichte vgl� G� Bauer, Sola scriptura, claritas scripturae und sacra scriptura sui ipsius interpres 237 238 Oda Wischmeyer 3. „Die Schrift“ und die Exegese Damit sind wir bei der Exegese, bei unserer eigenen Tätigkeit und zugleich dem zweiten Aspekt von sola scriptura , nämlich der „Schrift“� Es geht bei sola scriptura ja nicht nur um das umstrittene sola , sondern vor allem um scriptura � Was erklären wir und worauf beziehen wir uns, wenn wir das Neue Testament im Rahmen der wissenschaftlichen Disziplin „Neutestamentliche Wissenschaft“ interpretieren? Sicher sind wir nicht der „Schrift“ im Sinne Luthers verpflichtet, sondern dem Kanon der neutestamentlichen Texte einerseits und der hebräischen und griechischen Bibel Israels andererseits, der Menge frühjüdischer und frühchristlicher Texte ebenso wie der frühkaiserzeitlichen ethischen und philosophischen Literatur� Aber die Zentrierung auf die Schriften des neutestamentlichen Kanons ist jedenfalls der deutschsprachigen Exegese doch weitgehend erhalten geblieben, und hier liegt ihre gesamttheologische Relevanz� Die Evangelien und die Paulusbriefe stellen auch dann oder vielleicht gerade dann eine bleibende theologische - d� h� inhaltliche - Herausforderung dar, wenn wir sie im Vergleich mit Cicero oder frühkaiserzeitlichen Autoren wie Plutarch oder Seneca lesen� Und der „Schriftcharakter“ im Sinne fundierender oder eminenter Texte gehört zur Rezeptionsgeschichte der neutestamentlichen Texte� Wie sehr die Exegese doch innerlich dem theologischen scriptura -Konzept verbunden bleibt, hat der plötzlich aufflammende heftige Streit um die Stellung des sog� Alten Testaments im Gesamtzusammenhang der christlichen zweiteiligen Bibel gezeigt� Die Debatte wurde von der systematischen Theologie angestoßen, aber die exegetischen Fachvertreter haben sich ebenfalls zu Wort gemeldet, und zwar nicht nur mit historischen, sondern auch mit systematisch gemeinten Beiträgen� 28 Wir können mit dem Selbstanspruch des Paulus streiten, aber gerade die Exegese bringt uns dazu, ihn ernstzunehmen, ohne ihn als normativ vorauszusetzen� Textauslegung ist dann normativ, wenn der auszulegende Text als Gesetzestext verstanden wird, der als solcher der Diskussion entzogen ist� Solche Auslegung dient der Anwendung� Unsere Exegese arbeitet nicht mit dem Norm- Auslegungsmodell: Sie versteht sich nicht als Auslegung biblischer Gesetzestexte für die kirchliche und individuelle Praxis, sondern als rekonstruierendes, kritisches und verstehendes Gespräch mit den Texten� Das gilt auch für feministische, postkoloniale und vergleichbare Exegesen� Diese Exegese lässt sich zwar ihren Bezugs- und Anwendungshorizont von gegenwärtigen Lebenswelten vorgeben und schränkt ihre Reichweite damit ein, ohne dass die Texte selbst aber Evangelikale Bewegung und evangelische Kirche in der Bundesrepublik Deutschland� Geschichte eines Grundsatzkonflikts (1945-1989) (AKZ�B 53), Göttingen 2012� 28 M� Witte/ J� C� Gertz (Hg�), Hermeneutik des Alten Testaments� normative Funktion hätten� Im Gegenteil: sie werden selbst eher kritisch anhand ethischer Kriterien befragt, können andererseits aber auch diese Kriterien unterstützen� Jedenfalls versteht die gegenwärtige protestantische Exegese die neutestamentlichen Texte nicht als normativ, sondern als historische Quellen und als Dokumente der „Religion der ersten Christen“ (G� Theißen)� Sie arbeitet historisch-kritisch, d� h� sie sucht unabhängig von der christlichen Überlieferung und Glaubenslehre nach dem historischen setting , dem sprachlich korrekten Verstehen und der Autorenintention in erzählenden und argumentierenden und belehrenden Texten des Neuen Testaments� Darüber hinaus haben sich viele weitere Zugänge eröffnet� Einige haben ihrerseits den Weg zur Methode gefunden� Wieweit die Begegnung mit den Texten zu Verständnis, zu Vertrauen und letztlich auch zur Identifikation mit bestimmten Aussagen, zu Zustimmung, zum Glauben, führt, ist in jedem methodischen Paradigma den Exegeten und Exegetinnen überlassen� Neben das klassische Modell Anselms von Canterbury von „Glauben und Verstehen“, das Rudolf Bultmann noch einmal unter ganz anderen hermeneutischen Voraussetzungen beschwor - Konrad Hammann formuliert zurecht: „Für ihn fielen das Verstehen der in den neutestamentlichen Texten zur Sprache kommenden Wahrheit des christlichen Glaubens und das (neue) Sich-selbst-Verstehen-Können des glaubenden Menschen letztlich zusammen“ 29 -, ist seit dem 19� Jahrhundert das inverse Modell von „Verstehen und Glauben“ getreten, ohne dass die Konsequenz Bultmanns noch zwingend wäre� Das Verstehen kann zu Zustimmung führen, aber auch zu Widerspruch, zu Distanzierung und Kritik oder zu bloßer Analyse� Das ist nicht die Freiheit, die Luther meinte 30 , aber doch die Freiheit, die sich im Rahmen der protestantischen Bibelwissenschaft entwickelte� 31 Ich kehre noch einmal zu Sloterdijk zurück� Er schreibt, wie schon zitiert: 29 K� Hammann, Rudolf Bultmann, Neues Testament und Mythologie (1941), in: Wischmeyer, Handbuch, 905-919, hier: 915 f. Die Nähe zum reformatorischen Schriftverständnis ist nicht zu übersehen� Vgl� das testimonium spiritus sancti internum Calvins (Inst I,7) : „Das „sola scriptura“ hat seinen Grund … darin, daß der Autor des Wortes, das mich von außen erreicht, mit dem Autor meines Glaubens, der dieses Wort annimmt, identisch ist“ (Ch� Link, Art� Testimonium spiritus sancti internum, in: RGG 4 8, 2005, 178)� 30 Vgl� B� Hägglund, Evidentia sacrae scripturae� Bemerkungen zum „Schriftprinzip“ bei Luther, in: Vierhundertfünfzig Jahre lutherische Reformation 1517-1967. Festschrift F. Lau, hg. von H. Junghans, I. Ludolphy, K. Meier, Berlin / Göttingen 1967, 60-96. 31 Diese „Befreiungsgeschichte“ der protestantischen Bibelhermeneutik fand in ständiger Auseinandersetzung mit der evangelischen Kirche statt, wie beispielhaft D� F� Strauß zeigt� Vgl� W� Zager, David Friedrich Strauß� Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet (1835), in: Wischmeyer, Handbuch, 803-818. Sola scriptura, claritas scripturae und sacra scriptura sui ipsius interpres 239 240 Oda Wischmeyer Die weltgeschichtliche Wirkung des Mönchs von Wittenberg liegt in seiner Überzeugung, er selbst, das demütige Mönchlein, habe gewisse Abschnitte des Evangeliums eindringlicher gelesen, als eine tausendjährige Väterliteratur es vermochte� Dieser Satz, nicht die gefällige Phrase vom Skriptualismus, enthält den eigentlichen Sprengsatz in Sloterdijks Beitrag und impliziert eine hermeneutische Einsicht in den Umgang des Bibelprofessors Luther mit der Schrift, die abschließend expliziert werden soll� Luther hat in der Tat - nicht gewisse Abschnitte des Evangeliums, sondern - die ganze Bibel eindringlicher gelesen als seine exegetischen Vorgänger� Kurz gefasst: er hat die Bibel ganz in den Mittelpunkt seiner Theologie gestellt, indem er durch die Texte hindurch Christus als Gegenstand der Schrift bestimmt und den Geist als hermeneutischen Schlüssel zum richtigen Verständnis der Schrift benennt� Dies Verstehen erfolgt nicht durch mystische Versenkung oder spirituelle Lektüre, so sehr Luther Beides kennt und schätzt, sondern durch die Anwendung der Sprachkenntnisse des Hebräischen, Griechischen, Lateinischen und Deutschen, sprich mittels Grammatik und Semantik, sowie der Rhetorik� Verstehen erfolgt nicht durch Versenkung, sondern durch Übersetzung� Die Vorreden zum Neuen Testament sind das beste Beispiel dafür� Viel missverstanden und wenig gewürdigt ist seine Vorrede zum Jakobusbrief� 32 Die Metapher von der strohernen Epistel hat alles Interesse auf sich gezogen und bis in jüngste Zeit öfter exegetisches Missfallen erregt� Dabei sollte gerade diese Vorrede als das verstanden werden, was sie ist: freie Exegese aus philologischer Genialität ebenso wie aus der Freiheit, die aus der sola scriptura -Devise erwuchs� Der Verfasser - so Luther - sei ein guter, aber beschränkter Mann gewesen: Aber dieser Jakobus tut nicht mehr, als daß er treibt zu dem Gesetz und seinen Werken, und wirft so unordentlich eins ins andere, daß mich dünket, es sei irgendein guter, frommer Mann gewesen, der etliche Sprüche von der Apostel Jüngern gefasset und also auf das Papier geworfen hat, oder ist vielleicht aus seiner Predigt von einem andern geschrieben� Ein Vergleich mit dem Dibeliuskommentar zum Jakobusbrief einerseits und den Vorgängerkommentaren von Huther und Beyschlag 33 zeigt, wie unglaublich modern Luthers Verständnis des Briefes war, wie weit die historische Exegese des 19� Jahrhunderts, die sich - anders als Luther! - zugleich an die dogmatische Vorgabe von der Einheit der Schrift gebunden fühlte, hinter der freien theo- 32 Bornkamm, Vorreden, 215 33 Vgl� O� Wischmeyer, Die Kommentierung des Jakobusbriefs, in: E�-M� Becker/ F� W� Horn/ D�-A� Koch (Hg�), Der Kritisch-exegetische Kommentar in seiner Geschichte, Göttingen, 2018� logischen Exegese Luthers zurückstand, und wirft ein scharfes Licht auf Luthers Interpretationsfähigkeiten jenseits des Gegensatzes von historischer und theologischer Exegese� Seine Exegese ist das Ergebnis seiner hermeneutischen Regel, die Schrift sei per sese certissima, facillissima, apertissima, sui ipsius interpres, omnium omnia probans, iudicans et illuminans 34 � Und das heißt eben nicht: Buchstabenglaube� Denn dann hätte Luther glauben müssen, der Jakobusbrief stamme von dem Bruder des Herrn, wie es emphatisch Willibald Beyschlag tat: Nach alledem steht allerdings nichts im Wege, sich der von Herder getheilten, von der modernen Kritik als ‚kindlich’ verspotteten Freude hinzugeben, dass wir einen eigenhändigen Brief eines leiblichen Bruders Jesu in unserm Kanon haben� 35 Bei der Devise: sacra scriptura sui ipsius interpres denkt man als Hermeneutiker eben auch nicht an Skriptualismus, sondern an die antike Regel: Homerum ex Homero interpretari , die schon die antiochenische Exegese leitete� Luther las die Bibel ohne ekklesiologisches Vorverständnis� Er wollte die Bibel aus ihren Texten heraus verstehen, nicht eine Lehre in den Texten bestätigt finden� Damit setzte er die Dynamik des Fragens in Gang, die uns heute noch antreibt� Wir arbeiten heute mit anderen Methoden als Luther� Aber die Regel, die Schrift interpretiere sich selbst, gibt im Grundsatz einer nicht-autoritativ vorgeprägten Auslegung freie Bahn� Luther wählte die christologische Deutung� Wir sind frei, unsere Deutungshorizonte zu wählen� 4. Der Exeget Luther und wir So viel zu sola scriptura aus exegetischer Sicht� Wie steht es mit der bibelhermeneutischen Perspektive? Die claritas scripturae scheint ihre eigenen Probleme zu haben� Wenn die Schrift klar ist, kann sie von jedermann gelesen werden, und nicht nur eine kirchlich-lehramtliche Interpretation, sondern auch jede Exegese ist überflüssig - so könnte man schlussfolgern� Sollten Exegeten es nicht lieber mit Erasmus halten, für den Vieles in der Schrift dunkel ist? 36 Erasmus als geistiger Erbe des Hieronymus - gern versetzt man sich als Exeget in das „Gehäuse des Hieronymus“, wie Dürer und andere Meister es imaginieren - gibt jedenfalls 34 Assertio omnium articulorum M. Lutheri per bullam Leonis X. novissimam damnatorum. 1520, WA 7, 97� 35 W� Beyschlag, Der Brief des Jakobus (KEK), Göttingen 6 1897, 40� Vgl� O� Wischmeyer, Die Kommentierung des Jakobusbriefs� 36 Einführung: S� Seidel Menchi, Desiderius Erasmus von Rotterdam� Bibelhermeneutik, in: Wischmeyer, Handbuch, 285-296. Sola scriptura, claritas scripturae und sacra scriptura sui ipsius interpres 241 242 Oda Wischmeyer den kirchlichen Autoritäten und den Professoren der Bibelwissenschaft viel Raum für ihre Arbeit� Nun war aber Luther seit 1512 bis zu seinem Tod 1546 selbst Professor der lectura in biblia der Universität Wittenberg 37 und hat einen erheblichen Teil seiner Lebensarbeit gerade dieser Bibelexegese gewidmet� Die Annahme, die claritas scripturae mache die Bibelprofessuren überflüssig, ist töricht� Claritas scripturae gehört vielmehr direkt zu Luthers Hermeneutik von der Schrift, die von niemandem „regiert“ wird 38 , sondern sich selbst auslegt und zugleich wohl wert ist, dass man ein Leben lang an ihr arbeitet� Wir Exegetinnen und Exegeten befinden uns an diesem Punkt in Luthers Nachfolge� Sola scriptura skriptualistisch verstanden würde in biblizistischen Fundamentalismus führen, wie er den sog� monotheistischen Religionen und damit auch christlichen Strömungen nicht fremd ist� Luthers sola scriptura hat dagegen in die Freiheit des Exegeten und der Exegetin - die bei Luther nicht im Blick war - geführt, die ihren textauslegenden Fähigkeiten folgen und ihre Exegese selbst verantworten� Hier wurde der Weg freigemacht zu wissenschaftlicher Bibelexegese, ohne dass ich vergessen wollte, dass Luther ihn nicht vorausgesehen und in dieser Weise auch nicht gewollt hat, dass er sehr lang war und bis in die Gegenwart kontrovers ist� Als Exegetin im Jahre 2016 bin ich weniger an der ekklesiologisch-schrifttheologisch gerichteten sola scriptura -Devise interessiert, so fundamental sie für unsere neutestamentliche Wissenschaft im Gesamtrahmen der Evangelischen Theologie bleibt, sondern an der genialen Bibelauslegung Martin Luthers, der Doktor der heiligen Schrift war und dessen grundsätzliches Vertrauen in die Bedeutung der Bibel Movens unserer exegetischen Arbeit im Kontext evangelischer Theologie bleibt� 37 U� Köpf, Martin Luthers theologischer Lehrstuhl, in: I� Dingel / G� Wartenberg (Hg�), Die theologische Fakultät Wittenberg 1502-1602 (LStRLO 5), Leipzig 2002, 71-86. 38 Dazu Lohse, Luthers Theologie, 211-213. Zeitschrift für Neues Testament Heft 39 / 40 20. Jahrgang (2017) Epilog Theologische, kulturelle, ästhetische und politische Perspektiven im Zeichen des reformatorischen sola scriptura heute: Drei Beispiele Stefan Alkier, Eckart Reinmuth, Manuel Vogel 1. Stefan Alkier: Die Nacht der Bibel-- sola scriptura in performance. Ein kurzer Bericht Es war als einmalige Aufführung gedacht� Im Jahr 2014 feierte die Goethe-Universität in Frankfurt am Main ihren 100� Geburtstag� Für europäische Verhältnisse ist sie eine junge Universität� Sie wurde gegründet als Bürgeruniversität, und in ihrer Gründungsphase wurde entschieden, keine theologischen Fakultäten einzurichten� 100 Jahre später sieht es anders aus: Es gibt eine evangelische und eine römisch-katholische Fakultät und auch islamische Theologie ist im Aufbau begriffen� Der Frankfurter Fachbereich für Evangelische Theologie gehört mit seinen rund 1500 Studierenden zu den größeren Fachbereichen und es wurde von der Universitätsleitung selbstverständlich erwartet, dass auch die theologischen Fachbereiche etwas zur öffentlichkeitswirksamen Gestaltung des Jubiläums beitrügen� Aus dem Fachbereich Evangelische Theologie wurden viele Beiträge vorgeschlagen und vom Festkomitee begrüßt� Theologie ist in Frankfurt nicht nur akzeptiert, sondern als interessante Partnerin inter- und transdisziplinärer Forschungs- und Lehrprojekte gefragt� Eines der vorgeschlagenen Projekte war die Nacht der Bibel� Und dank der Zusammenarbeit mit der Stiftung der Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau konnte diese Nacht der Bibel facettenreich mit zahlreichen Forschern, Künstlern und befreundeten Einrichtungen wie dem Frankfurter Bibelmuseum gestaltet werden� Die auf- 244 Stefan Alkier, Eckart Reinmuth, Manuel Vogel wendig gestaltete Nacht der Bibel fand dann auch in der Universitätsöffentlichkeit, aber auch weit darüber hinaus in den großen Zeitungen und auch in neuen Medien wie youtube ein hoch erfreuliches Echo� Im Zentrum der Veranstaltung gab es eine Aufführung meines Versuches, die Bibel als große Erzählung in Form einer Theaterlesung mit Musik zu gestalten� In dieser ersten Fassung war die Musik noch nicht in den Textverlauf eingebunden� Vielmehr gab es zwischen zwei großen Textblöcken dann etwa 30 Minuten Musik zu hören� Die Schauspieler lasen die biblischen Erzählsequenzen und auch die von mir verfassten verbindenden Texte mit einer solchen Intensität, dass wohl die meisten Zuschauer und Zuschauerinnen von der Kraft der biblischen Texte ergriffen wurden� Das Echo des Publikums jedenfalls, aber auch das der Musiker - Ron Spielman Band; Echoes of Scripture - und der Schauspieler - Angela Winkler und Jürgen Holtzt vom Berliner Schauspielhaus und Constanze Becker und Peter Schröder vom Frankfurter Schauspielhaus - war so bestärkend, dass ich ihre Anregung aufgriff und aus diesem Programm eine Theaterlesung mit integrierter Musik gestaltete, die seitdem mit großem Erfolg in Deutschland - u� a� in Bochum, Düsseldorf und Gevelsberg - und im deutschsprachigen Ausland - zuletzt in Wien, Wiener Neustadt und Krems mit weit geringerem Aufwand aber nicht weniger ergreifend in Kirchenräumen und Theatersälen aufgeführt wurde� Zum 500jährigen Reformationsjubiläum wird es in der Bochumer Pauluskirche eine Aufführung geben und für das nächste Jahr sind bereits Veranstaltungen in Dortmund, Stuttgart und Bonn verabredet� Das Trio „Echoes of Scripture“, das eigens für die Nacht der Bibel gegründet wurde und einen Buchtitel von Richard B� Hays als Bandnamen aufgriff, hat mittlerweile mit ihrer CD „Reverberation“ die komplette Musik zur Nacht der Bibel aufgenommen, und die Texte liegen nun auch als Hörbuch vor, gelesen von Barbara Auer, Peter Lohmeyer und Peter Schröder� Um alles auf eine CD zu bekommen, wurden für das Hörbuch die Musikstücke erheblich komprimiert� (Die Hörbuch CD mit dem Titel „Nacht der Bibel - Biblische Erzählsequenzen in Wort und Klang“ wie auch die reine Musik CD mit dem Titel „Echoes of Scripture - Reverberation“ können bei dem Bochumer Buchladen „Leseinsel“ per eMail an info@leseinsel-bo�de geordert werden�) Die Nacht der Bibel fand aber zudem auch das religionspädagogische Interesse von Religionslehrerinnen und -lehrern, sowie von Pfarrern und Pfarrerinnen� Zurzeit laufen mit großem Erfolg und erfreulichen Ergebnissen Pilotversuche, die Nacht der Bibel mit Schülerinnen und Schülern zu inszenieren und aufzuführen� Ein Buch zur Nacht der Bibel mit dem vollständigen Text, sowie theologischen, hermeneutischen, ästhetischen und didaktischen Erläuterungen ist aufgrund der großen Nachfrage von Pfarrerinnen und Lehrern in Arbeit� Epilog 245 Die Nacht der Bibel ist mein Versuch, sola scriptura nicht nur theoretisch zu denken, sondern den Kern der reformatorischen Entdeckung der Bibel als Lebensbuch erlebbar zu machen� Dafür habe ich eine Reihe von biblischen Texten in unterschiedlichen Übersetzungen ausgewählt und sie mit selbst geschriebenen informierenden, kommentierenden und interpretierenden Texten verbunden� Die ebenfalls von mir komponierte Musik versucht die Stimmungen der Texte, ihren Sound, aufzugreifen und ihnen als Hallraum zu dienen� Diese Intermedialität der Aufführung will auch unterhalten, aber sie ist vor allem Ausdruck meines Verständnisses von sola scriptura. Damit ist gerade nicht die Fixierung auf ein einziges Medium - Schrift - gemeint und auch nicht auf eine bestimmte Fassung der Schrift, sei es eine griechische, hebräische, lateinische oder deutsche Version� Das reformatorische sola scriptura ist im Kern kein Buchstabenfetischismus, sondern ein theologisches Zeichenkonzept, das mit verschiedenen Medien und Versionen immer neu gestaltet und aufgeführt werden will� Das theologisch normative Schriftkonzept lautet: Die Schrift ist ein zweiteiliges Buch, deren Bücher sich gegenseitig kommentieren und auch kritisieren� Es besteht notwendig und normierend aus Schriften des Neuen Testaments, die ihren Fixpunkt in einem ihnen vorgängigen und daher entzogenen Ereignis haben - nämlich die Auferweckung des gekreuzigten Jesus von Nazareth -, und den Schriften des Alten Testaments, die die Geschichte Gottes, des Schöpfers aller Welt und aller Völker erzählt, der sich in eine besondere Beziehung zum Volk Israel gesetzt hat, ohne die anderen Völker darüber zu vergessen� Dieser Gott ist es, der seiner Schöpfung und seinen Bünden die Treue hält trotz aller Gewalttaten und Rechtsbrüche, die seine Geschöpfe aus Fleisch und Blut einander aber auch damit Gott selbst antun� Dieser Gott ist es, der den Gekreuzigten vom Tode in sein eigenes ewiges Leben hinein auferweckt hat und damit einen neuen Anfang eröffnet hat, der allen verspricht, ebenso ein neues ewiges Leben zu erhalten, sofern sie Gott zutrauen, stärker als der Tod zu sein und sich glauben lassen, dass der Gott Israels Jesus, den von zwei kooperierenden Rechtssystemen Hingerichteten, bereits diese letztgültige Neuschöpfung hat zuteilwerden lassen� Diese große Geschichte von der Schöpfung, dem Sündenfall, den zahlreichen Neuanfängen durch die Treue des barmherzigen und gerechten Gottes Israels und des neuen Bundes vom Kreuz her mit der Verheißung der neuen Schöpfung lässt die ganze Welt und damit auch das eigene Leben neu sehen und ermöglicht ein Umdenken wie es Jesus in Mk 1,14 f� formuliert: „Nachdem Johannes gefangengesetzt worden war, kam Jesus nach Galiläa� Er verkündete das Evangelium, die Frohbotschaft Gottes und sagte: Erfüllt ist die Zeit und nahe gekommen ist das Reich Gottes� Denkt um und vertraut auf die Frohbotschaft! “ (Übers� S� Alkier) 246 Stefan Alkier, Eckart Reinmuth, Manuel Vogel Damit bietet diese große Geschichte einen einzigartigen Denkrahmen, wenn sie als Ganze wahrgenommen wird, oder um es mit Luther zu formulieren: „Du musst scripturam sacram nicht stueckweise ansehen, sed integram“ (WA 47; 681, 1 f�)� Alle Varianten der Schrift müssen sich daran messen lassen, ob sie das Ganze der Schrift zur Sprache bringen und insofern ist allein die Schrift die Norm aller ihrer Varianten und Interpretationen� Was dieses Ganze aber ausmacht, ist nur durch die Interpretation der Schrift als Ganzer im „Geist der Urteilsfähigkeit und der Leidenschaft“ (M� Luther, Assertio, Vorrede) zu bestimmen� Wird sie auf diese Weise erschlossen, ist sie ihr eigener Ausleger� Diese Selbstauslegung kann die Schrift erst als gelesene, interpretierte und aufgeführte Schrift bewerkstelligen� Die Aufgabe christlich-theologischer Fakultäten ist daher unterbestimmt, wenn man sich auf die historische Rekonstruktion der Genese der biblischen Schriften und des Kanons beschränkt� Wer nur und ausschließlich Historiker sein möchte ist eben kein Theologe� Die theologische Aufgabe hinsichtlich der Bibel - insbesondere, aber nicht nur für evangelische Theologie - ist es vielmehr, die Bibel als Buch des Umdenkens immer wieder in den gesellschaftlichen Diskurs als alternative Interpretation des ganzen Lebens- und Erfahrungszusammenhangs einzubringen und mit ihr individuelle und gesellschaftliche Modelle und Visionen eines liebevollen und solidarischen Miteinanders zu entwickeln, die aus der Fülle und Schönheit der Schöpfung und der Überwindung der Endgültigkeit des Todes argumentieren und gestalten wollen� Wenn die von mir gestaltete Nacht der Bibel die Kraft der biblischen Texte, ihr enormes kritisches, perspektivenreiches und prophetisches Potential erlebbar werden lässt, dann ist sie selbst eine Variante der Schrift - nicht mehr, aber auch nicht weniger: sola scriptura ! Epilog 247 2. Eckart Reinmuth: sola scriptura-- ein kurzer Bericht von vier Rostocker Projekten Verstehen wir sola scriptura nicht als ein lediglich historisches Losungswort, so wird mit diesen beiden Worten eine zumindest doppelte Herausforderung geltend gemacht: Zum einen die Aktualität der ganzen Bibel, zum anderen ihre gesellschaftliche Relevanz� Beides versuchen die von mir im Rahmen des Instituts für Text und Kultur der Universität Rostock (www�itk�uni-rostock�de) konzipierten und mit vielen Kooperationspartnern realisierten wissenschaftlichkulturellen Projekte einzulösen, die seit 2011 in der Rostocker Nikolaikirche zur Aufführung gelangen� Wir starteten mit einem Vortrags-, Ausstellungs- und Konzertprojekt zum Thema ‚Credo’ in Kooperation mit der Kunsthalle Rostock, der St�-Johannis-Kantorei und der Hochschule für Musik und Theater Rostock� Wer ‚glauben’ sagt, sagt auch ‚vertrauen’� Man kann den christlichen Glauben als Vertrauen in den Weg und die Geschichte Jesu Christi und so als Ausdruck dessen verstehen, was mit Vertrauen unter Menschen gemeint ist� Wo dieser Glaube sich zu artikulieren vermag, lädt er unterschiedslos alle Menschen ein, an seiner Praxis teilzuhaben� Die Ausstellung, in der Werke von Georges Rouault (1871-1958) sowie Georg Baselitz, Gotthard Graubner, Gerhard Richter und Günther Uecker gezeigt wurden, war sehr gut besucht und wurde deshalb verlängert� Bei den Konzerten unter der musikalischen Leitung von KMD Prof� Dr� h�c� Markus Johannes Langer am 31� Oktober, 6� und 13� November konnten zwei Auftragskompositionen zu Gehör gebracht werden� Zu den Vortragenden gehörte der spätere Bundespräsident Dr� h�c� Joachim Gauck� In Anknüpfung an das Credo-Projekt wurde im Herbst 2013 ein zweites theologisch-wissenschaftlich-kulturelles Programm unter dem Titel ‚In Principio� Im Anfang - 24 Variationen’ realisiert� Mit der Wendung ‚In Principio’ verbindet sich die Frage, was es heißt, einen Anfang zu denken - eine Frage, die eine sinnvolle Perspektive für unterschiedliche Dialogsituationen ergibt� Gelingen solche Dialoge, so steht tatsächlich kein abstrakter Streit um Anfänge, sei es des Lebens oder des Universums, zur Debatte, sondern die Frage, wie Leben und Wirklichkeit sinnhaft zu denken sind: Wie verstehen wir unsere Welt und ihre Rätsel in den Kontexten unseres Nichtwissens, wie interpretieren wir sie - nicht nur ‚theoretisch’, sondern mit unserer Art zu leben und zu handeln? Vortrags- und Konzerttermine in der Rostocker Nikolaikirche waren der 27�10�, 3�11� u� 10�11� Das Thema spannte einen weiten Horizont für aufschlussreiche Gastvorträge, zu denen namhafte Wissenschaftler eingeladen wurden� Wie beim Credo-Projekt sind seitens der St�-Johannis-Kantorei Kompositionsaufträge ausgesprochen worden� Eine thematische Ausstellung in der Rostocker Kunsthalle setzte erneut maßgebliche und erhellende Akzente und konnte zeigen, wie in 248 Stefan Alkier, Eckart Reinmuth, Manuel Vogel der Kunst mit der Thematisierung ‚des Anfangs’ zugleich Wirklichkeits‚bilder’ kommuniziert werden� Wer ‚den Anfang’ malt, sei es als Schöpfung oder Urknall, imaginiert seine (Sicht auf die) Gegenwart� 2015 folgte das Programm ‚In Aeternam - Variationen in Zeit und Ewigkeit’� Die Wendung in aeternam ist ergänzungsbedürftig; ihr fehlt mit dem grammatischen Objekt das eigentliche Zielwort� Diese Unvollständigkeit markiert eine Lücke, die zu füllen ist� Traditionell wird sie mit Worten wie vitam, pacem oder requiem , Leben, Frieden oder Ruhe ergänzt, und es geht dann um unverlierbares Leben, ewigen Frieden und endgültiges Aufgehobensein� Wir haben mit in aeternam eine unvollständige Formulierung gewählt, die zu füllen ist� Damit deutet sich an, dass es alltagssprachlich mit der Ewigkeit zunächst um ein menschliches Wünschen geht, um ‚unser’ Begehren nach Dauer und Bestand� Stets sind wir selber es, die dieses Begehren füllen� Hier zeigt sich eine unübersehbare gesellschaftliche Relevanz des Themas� Denn wir erleben ja nicht nur, wie die Zeit vergeht; wir wünschen uns auch, dass das, was wir als sinnhaft erleben, nicht ausgelöscht werde und nicht verloren geht� Das Thema, das mit in aeternam sein sprachliches Kürzel erhielt, ergab sich sinnfällig aus den vorangehenden Projekten: So, wie lebensnotwendiges Vertrauen sich auf einen Anfang bezieht, den es nicht selber schuf, baut es darauf, dass dieser Anfang sich als sicher, bleibend und zukunftsgewiss erweist� Aus dieser Logik folgte nach Credo und In Principio das dritte Großprojekt, und es lag nahe, dem auch in musikalischer Hinsicht Rechnung zu tragen� Am Anfang standen markante Psalmenvertonungen, in der Mitte eine Bearbeitung des Vater Unsers, das sich ja seiner Bitten mit dem Blick auf die jeder menschlichen Zeit überlegene Zukunft Gottes versichert, den Abschluss bildete am Ewigkeitssonntag ein Requiem, dem ja die Wendung in aeternam entnommen ist� Nach den wissenschaftlich-kulturellen Veranstaltungsreihen Credo (2011), In Principio (2013), In Aeternam (2015) soll im Jahr des Reformationsjubiläums 2017 ein weiteres Kooperationsprojekt zwischen dem Institut für Text und Kultur der Universität Rostock und der St�-Johanniskantorei Rostock in Zusammenarbeit mit weiteren Kulturträgern in der Hansestadt Rostock folgen� Das Projekt trägt den Titel Ex Auditu - aus dem Hören ; es wird die reformatorische Grundeinsicht, dass der Glaube sich nicht eigener Überlegung, sondern dem Hören auf das biblische Wort verdankt, mit künstlerischen und wissenschaftlichen Mitteln so reflektieren, dass die gesellschaftliche Gegenwartsrelevanz dieses reformatorischen Impulses verständlich und spürbar wird� Termine: 5�, 12� und 19�11�2017 (jeweils ca. 17-22 Uhr in der Rostocker Nikolaikirche). Epilog 249 I 7.30 Uhr: Dr. h. c. Joachim G AUCK: Vertrauen, nicht aufgeben I 9.00 Uhr: Wolfgang Amadeus M OZART: Credo (Krönungsmesse) Michael B AUMGARTL: Abraham - Zweifel und Glauben (Uraufführung) - I 8.00 Uhr: Eröffnung der Ausstellung C REDO (R OUAULT/ B ASELITZ/ G RAUBNER/ R ICHTER/ U ECKER ) - K UNSTHALLE Rostock I 7.30 Uhr: Prof. Dr. Eckart R EINMUTH: Vertrauen, nicht glauben Prof. Dr. Philipp S TOELLGER: Bezeugen, nicht behaupten I 9.00 Uhr: Karl S CHARNWEBER/ Eckart R EINMUTH: Credo. Fünf Stimmen nach Johannes - N IKOLAIKIRCHE Rostock I 7.30 Uhr: Prof. Dr. Hartmut M ÖLLER: Wer singt im Credo? traditio & innovatio in Bachs musikalischer Übersetzung I 9.00 Uhr: Johann Sebastian B ACH: Symbolum Nicenum (aus der h-Moll-Messe), Orchestersuite D-Dur BWV I 068; Birger P ETERSEN: Credo/ Versteinerung für Chor a cappella (Uraufführung) - N IKOLAIKIRCHE Rostock Musikalische Gesamtleitung: KMD Prof. Markus Johannes L ANGER Eintritt: I0 € (erm. 8 €)/ Konzert; im Paket 25 € (I9 €) Vorverkauf: Schuhhaus Höppner, Musikkontor, Pressezentrum N IKOLAIKIRCHE Rostock 3. Manuel Vogel: Sola scriptura als kritisches Prinzip-- Fünf Thesen 3.1. Das Wort „im Mund und im Herzen“: Das Schriftprinzip hängt nicht am Buch Die Bibel war bereits ein Buch, als sie noch eine Rolle war� Der Kodex ist eine christliche Erfindung, zumindest eine Erfindung aus christlicher Zeit, die Bibel hingegen gab es schon vorher� Multimedialität ist mithin kein Phänomen erst des digitalen Zeitalters, so wenig das digitale Zeitalter dasjenige, worauf die Formel sola scriptura verweist, destruiert� Die Bibel, die nach dieser Formel 250 Stefan Alkier, Eckart Reinmuth, Manuel Vogel „allein“ gelten soll (als ein Aspekt unter mehreren im Zusammenspiel mit den anderen sola -Formeln), war immer schon multimedial präsent� Auf ’s Ganze der Rezeptionsgeschichte gesehen war möglicherweise das aufgeschlagene Buch auf dem Tisch derer, die für sich selbst in der Stille lesen, eher die Ausnahme als die Regel� Die Bibel war gegenwärtig und wirksam in den liturgischen Lektionen, in den Kreuzwegbildern der Kirchenräume, bei denen, die lesen konnten, und ebenso bei den Leseunkundigen, die freilich „Ohren hatten zu hören“� Wer hier eigentlich im Vorteil ist, wäre zu diskutieren, denn wer nicht lesen kann, kann (und wird) das, was gilt, laut sich hersagen und es memorieren, es also nicht bei sich haben im Bücherschrank (auf den das auf ’s Lesen konditionierte Gehirn immer verweisen wird, wenn es sich etwas merken soll), sondern in sich wie das „Wort im Mund und im Herzen“ (Dtn 30,14)� Aus einer Vorlesung von Rudolf Bohren ist mir in Erinnerung, er habe als Konfirmand noch den ganzen Psalter auswendig lernen müssen, wie auch die anderen Bauernbuben von den Höfen an den Hängen, die auf ’s Feld mussten, wenn sie von der Schule kamen, oder in den Stall� „Bibel“ ist hier das Memorierte, Verinnerlichte, der schriftliche Anteil am Aneignungsprozess viel geringer als derjenige „im Mund und im Herzen“ (Kann man überhaupt vom Schreibtisch aus eine belastbare Antwort auf die synoptische Frage geben, wenn man die Studierzimmersituation ohne Federlesens auch für die frühchristlichen Entstehungsverhältnisse der Evangelien voraussetzt? )� 1 3.2. Das Schriftprinzip im christlich-jüdischen Dialog Es tut dem Christentum niemals gut, wenn es sich selbst als einen absoluten Anfang setzt und allenfalls von jüdischem „Erbe“ spricht - bekanntlich muss ja wer gestorben sein, bevor wer anderes das Erbe antritt -, oder von jüdischen „Quellen“ oder „Traditionen“, aus denen das frühe „Christentum“ (bei [Ps? ]Justin eine zutiefst polemische und unaufrichtige Neuprägung) „geschöpft“ habe� Eher schon verfängt die Rede von den jüdischen „Wurzeln“ des Christentums, denn dann ist wenigstens hinreichend klar, was das Christentum mit sich selbst an- 1 Vgl� hierzu folgende briefliche Mitteilung von Pfr� Tilman Krause, Jena: „Von 1998 bis 2010 war ich Tansaniasekretär des Ev�-Luth� Missionswerkes Leipzig (Leipziger Mission)� Auf einer Evangelisationsreise zu abgelegenen Nomadensiedlungen lernte ich den Evangelisten Isaya Ole Ntokote kennen, einen Laienprediger aus Kenia� Evangelist Isaya war unter den Ältesten im Norden Tansanias bekannt und genoss besondere Autorität in Streitfällen� Er konnte weder lesen noch schreiben und hatte doch das Neue Testament und viele Passagen des Alten Testaments in Kimaasai wortwörtlich im Kopf� Er bemerkte die Fehlstellen, wenn bei einer Schriftlesung von einem Gemeindeglied eine Zeile übersprungen wurde und er zitierte passende Textpassagen bei Bibelarbeiten und Auslegungsfragen� Er war mit dieser Gabe ergänzt durch seine Lebensweisheit ein begehrter Vermittler und Übersetzer zwischen traditionellem Leben der Viehnomaden und der Botschaft Jesu�“ Epilog 251 stellt, wenn es (wieder einmal) darauf verfallen sollte, diese Wurzeln abzuschneiden� Auch über das Schriftprinzip wäre mit Juden zu reden und über ihre Sicht auf die Tora, die Propheten und die Schriften� Viel bibelfundamentalistische Verbohrtheit und dogmatischer Starrsinn, die das Schriftprinzip als lebensferne Prinzipienreiterei in Verruf gebracht haben (etwas, das die Christenheit sich mühsam abgewöhnen muss[te] und sich, wie man leider sagen muss, gar zu leicht und gar zu gern auch wieder angewöhnt), diese wären gar nicht erst aufgekommen, hätten die Christen das Sprachspiel rabbinischer Toralektüren verstanden, das auch noch die letzte Kleinigkeit des täglichen Lebens im Pro und Contra des gelehrten Streits zwar mit aller Leidenschaft aus der Bibel begründet, die Lehrmeinungen jedoch stets nur referiert und niemals entscheidet� Dieser ernste und doch völlig spielerische Umgang mit dem biblischen Text als eines unerschöpflichen und offenen Verweiszusammenhangs bindet das biblische Wort unabdingbar an seine kontroverse und unabschließbare Interpretation� Im christlich-jüdischen Gespräch wäre dem Klischee von der buchstabentoten „Buchreligion“ vielfältig zu begegnen, etwa im Hinweis auf das Buch in der Hand derer, denen sonst nichts geblieben ist� Die syrische Baruchapokalypse, die auf die Tempelzerstörung des Jahres 70 n� Chr� zurückblickt, endet mit einem „Brief Baruchs an die neuneinhalb Stämme“ (syrBar 78-87), den der Prophet in der Erzählfiktion der Apokalypse in der Zeit des Babylonischen Exils schreibt� In 85,3 resümiert Baruch die gegenwärtige Exilssituation folgendermaßen: „Bei ihren Vätern sind versammelt jetzt aber die Gerechten, und die Propheten sind entschlafen� Auch wir verließen unser Land, und Zion ist uns weggenommen� Nichts haben wir jetzt mehr, nur den Allmächtigen noch und sein Gesetz“ (Übs� Klijn, JSHRZ V / 2, 182)� Was das Buch - hier: die Tora - wert ist, und was es leistet, sollen die sagen dürfen, die es bewohnen wie ein Haus, wenn alle anderen Häuser in Trümmern liegen� Dass „allein“ die Schrift gilt, wenn alles andere in Frage steht, ist auf andere Weise auch am Zusammenhang von Apokalyptik und Schriftauslegung ablesbar� „Apokalyptik“ bedeutet, Erfahrungen des Katastrophalen in eine postulierte transzendente Ordnung zu integrieren� Diese Orientierung an einer Ordnung bzw� in einem vor- und übergeordneten Sinnzusammenhang äußert sich nicht zuletzt darin, dass sich apokalyptisches Denken weithin als inspirierte Schriftauslegung versteht� Damit ist das Moment der radikalen Diskontinuität auf einer formalen Ebene relativiert, sofern das inhaltlich Neue apokalyptischer Erkenntnis aus der Neuinterpretation maßgeblicher Heiliger Schriften erwächst. Klar fassbar ist diese Denkfigur in Daniel 9,20-24. Dort erscheint Daniel der Engel Gabriel und enthüllt ihm den verborgenen Sinn eines Verses aus dem Buch Jeremia� Es handelt sich um die Stelle Jer 25,11 f�, wo der Prophet eine 70jährige Dauer des babylonischen Exils prophezeit� Daniel erfährt von Gabriel den wahren Sinn der Zahl siebzig: Gemeint sind eigentlich 252 Stefan Alkier, Eckart Reinmuth, Manuel Vogel siebzig Jahrwochen, d� h� 490 Jahre� Im Fortgang der Geschichte bleibt auch und gerade dann, wenn die Geschichte anders verläuft als erwartet, das maßgebliche Buch die orientierende Größe� 3.3. Begrenzter Textraum, entgrenzter Erzählraum: Zum Kanonbegriff Dass sich der Kanon verflüssigt und seine Ränder sich auflösen, erschließt sich schon dem oberflächlichen historischen Blick� Diachron und in ökumenischer Differenzierung stoßen wir auf unterschiedliche Sammlungen Heiliger Schriften� Auch in den beiden angeführten Textbeispielen hat der Rekurs auf maßgebliche Schriften unterschiedliche Referenten: Die syrische Baruchapokalypse bezieht sich auf die Tora, der Verfasser des Danielbuches auf das Jeremiabuch� Dass aber die Schriftensammlungen historisch gewachsen sind und untereinander variieren, ändert nichts an der Grundidee einer orientierenden textuellen Größe� Ihre doppelte Pointe ist die Begrenztheit ihres textuellen Raumes und die Entgrenzung ihres Erzählraumes� Der Kanon ignoriert nicht die Existenz unzähliger anderer Schriften oder verbietet gar ihre Benutzung� Vielmehr bietet er sich an als orientierende Mitte innerhalb einer Vielzahl von Text- und Weltbezügen, als einen umgrenzten textuellen Ort, an den man immer wieder zurückkehrt, immer ausschnitthaft, immer zu den Bedingungen sämtlicher multimedialer Möglichkeiten seiner Rezeption� Seine Erzählung ist zugleich ent grenzt, weil sie einerseits im Schöpfungsnarrativ vor den geschichtlichen Anfang zurückgreift und andererseits die Zukunft in den Möglichkeitsraum des Gotteshandelns einbezieht� Der Kanon ist ein textuelles Zuhause, das aber unbegrenzte Deutungsmöglichkeiten von Welt und Geschichte zulässt� So verstehe ich das jüdisch-christliche Schriftprinzip im Sinne des immerzu Anfänglichen jüdischchristlicher Weltorientierung� Der und die Einzelne wird als Subjekt der eigenen Bibellektüre Subjekt der eigenen Selbst- und Weltdeutung� Gleiches gilt für Gruppen, Kirchen, Gemeinschaften, etc� 3.4. Das reformatorische Schriftprinzip als kritische Instanz gegen den Autoritätsanspruch von Tradition Das reformatorische sola scriptura untersteht sich, eine Instanz gegen die Tradition aufzubieten und damit die Autorität ihrer Sachwalter herauszufordern� Die Machthaber der normativen Traditionsbestände werden damit auf eine übergeordnete Größe verpflichtet, die der Interpretation auch der Nichteliten und Nichtexperten zugänglich ist� Der Satz „Beweise mir aus der Bibel, die auch ich lese und interpretiere, dass du im Recht bist“, stellt eine radikale Infragestellung der Autoritätsansprüche der Machthaber und elitären Sachwalter der Tradition dar� Expertenmilieus werden auskunftspflichtig gegenüber den Nichtexperten, mit welchen Zielen und aufgrund welcher Legitimation sie warum woran ar- Epilog 253 beiten� An anderer Stelle habe ich dies so formuliert: „Formal betrachtet stellt das reformatorische Schriftprinzip bereits eine fundamental kritische Figur dar� Indem die Reformation die ,Schrift’ (gemeint ist die Bibel) normativ über die ,Tradition’ stellte (d� h� über die gesamte Jahrhunderte alte Lehrbildung der katholischen Kirche), behauptete sie die Notwendigkeit und das Vorhandensein einer kritischen Instanz gegenüber dem gesamten römisch-katholischen Apparat� Die Bibel, die historisch betrachtet von der christlichen Tradition gar nicht zu trennen ist, sondern ihren Anfang bildet, wurde damit zu einem kritischen Widerpart zur gesamten folgenden Geschichte des Christentums, die ja recht bald auch eine Geschichte des Wider- und Miteinanders von Kirche und Staat, von geistlicher und weltlicher Macht war� Die protestantische Auffassung, dass die Schrift über der Tradition steht, besagt insofern, dass das christliche Verhältnis zur Geschichte der eigenen Religion nur ein kritisches Verhältnis sein kann, und dass diese Geschichte von der Bibel her immer schon und immer wieder kritisiert werden darf und kritisiert werden muss� Das Schriftprinzip stellt durch sein bloßes Vorhandensein eine ganze Religion unter den Generalverdacht, sie könne ihre eigenen Anfänge je und je verfehlen� Jeder Anspruch auf Unfehlbarkeit wird damit bestritten� In Gestalt des Neuen Testaments als eines Schriftenkanons aus der Anfangszeit tritt der Beginn der Geschichte des Christentums der Gesamtheit dieser Geschichte als kritisches Prinzip gegenüber� Ob und wodurch dieser Rekurs gerechtfertigt ist, und ob er überhaupt funktioniert, spielt für diese formale Seite der Geltung der Bibel in den Kirchen der Reformation überhaupt keine Rolle� Selbst dann, wenn er sich als undurchführbar erweisen sollte, etwa wegen der kulturellen Differenz zwischen der Entstehungszeit der biblischen Schriften und der Gegenwart, oder weil sich herausstellen könnte, dass die im Neuen Testament dokumentierten frühchristlichen Diskurse für die Diskurse der Gegenwart nichts austragen, selbst dann bleibt der kritische Grundgedanke des Schriftprinzips gültig� Er ermächtigt zu einer mündigen und kritischen Haltung gegenüber jeder Form von Herrschaft (…)� Evangelischer Glaube umfasst“ mithin „auch die evangelische Freiheit zum zivilen Ungehorsam� Damit wird nicht einem politischen oder gar sachfremd politisierten Verständnis des Christlichen das Wort geredet� Vielmehr ist das reformatorische Schriftprinzip strukturell und aus sich heraus machtkritisch (…)� Dass evangelischer Glaube ,auf dem Boden der Schrift’ steht, bedeutet, dass er dem Terrain der ,Tradition’ exterritorial ist� Evangelischer Glaube steht nicht auf dem Boden des Staates, der Nation, des Volkes etc� Er hält sich dort auf, ist dort jedoch nicht zuhause� Sein Verhältnis zu alldem ist pragmatisch, distanziert und kritisch�“ 2 2 M� Vogel, Was hat ein Pfarrer auf einer Demonstration verloren? Thesen zu Bibel, Theologie und Kirche aus gegebenem Anlass, in: J� Eisenberg / L� Voigt / M� Vogel (Hg�), Anti- 254 Stefan Alkier, Eckart Reinmuth, Manuel Vogel 3.5. Lazarus, Mose und die Propheten: Zur Parteilichkeit der biblischen Hermeneutik Auch Rechtspopulisten und Kleriko-Faschisten beziehen und berufen sich auf die Bibel� Auch diese Lektüren verorten ihre Welt- und Geschichtsdeutung im biblischen Narrativ� Sie teilen freilich die gemeinsame Grundannahme, dass es statthaft und im Einklang mit einer behaupteten Natur-, Geschichts- und Weltordnung ist, Lebensrechte zu definieren� Man kann das Definieren von Lebensrechten als Kennzeichen des Faschismus ansehen, findet dasselbe Axiom aber etwa auch im globalen Neoliberalismus wieder� Stets geht es um das behauptete Lebensrecht der Stärkeren, und um den angeblich naturgegebenen, notwendigen Untergang der Schwachen, die als die angeblich Vielzuvielen in bestimmten geschichtlichen Zyklen zugunsten derjenigen, die zu überleben verdienen, das Feld räumen müssen� Aber der Messias wird das geknickte Rohr nicht zerbrechen und den glimmenden Docht nicht auslöschen� Deshalb sind solche Lektüren nicht christlich, sondern antichristlich� Was hier bibelhermeneutisch zur Debatte steht, wird im Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus (Lk 16,19-31) anschaulich: Die Bitte des Reichen aus der Unterwelt, Abraham möge Lazarus zu seinen fünf Brüdern senden, um sie zu warnen, wird von Abraham mit dem Hinweis auf „Mose und die Propheten“ abgelehnt� Dass etwas nicht stimmt, wenn vor der Tür des Reichen ein Armer im Elend lebt und elend stirbt, hätte der Reiche, so muss man Abraham wohl verstehen, mühelos aus „Mose und den Propheten“ lernen können, offenbar als ein Art Gesamtsinn der Bibel, der so offen zutage liegt, dass man ihn eigentlich nicht übersehen kann� Allem Anschein nach haben aber der Reiche und seine Brüder „Mose und die Propheten“ niemals so gelesen� Das Gleichnis formuliert hierzu eine klare Position: Es expediert eben diese Bibellektüren, die das Elend des Lazarus als gegeben hinnehmen, geradewegs in die Hölle� Zur formalen Bestimmtheit des Schriftprinzips (Thesen 1-4) kommt mithin eine materiale (These 5), die parteiliche Lektüren im Sinne des Gleichnisses nicht nur zulässt, sondern zwingend fordert� Mit konträren Lektüren befindet sich reformatorisches Schriftverständnis im ständigen und unabschließbaren Streit� faschismus als Feindbild� Der Prozess gegen den Pfarrer Lothar König, Hamburg 2014, 179-198; 181; 183. www.francke.de Dieses Sonderheft der ZNT nimmt sich im Reformationsjahr 2017 aus neutestamentlicher Sicht eines reformatorischen Kernthemas an: Sola Scriptura. In der Fülle der Publikationen zum Reformationsjahr besteht das Besondere dieses Heftes darin, dass es sich konsequent auf die exegetische Perspektive in protestantischer Tradition konzentriert und die Stimmen von 15 evangelischen Neutestamentlerinnen und Neutestamentlern um die Frage versammelt, welche Rolle dem protestantischen Schriftprinzip heute aus exegetischer und theologischer Sicht zukommt. Mit Beiträgen von Stefan Alkier, Eve-Marie Becker, Claire Clivaz, Jan Dochhorn, Kristina Dronsch, Matthias Klinghardt, Matthias Konradt, Karl-Wilhelm Niebuhr, Petr Pokorný, Eckart Reinmuth, Günter Röhser, Gerd Theißen, Manuel Vogel, Peter Wick und Oda Wischmeyer SOLA SCRIPTURA 39/ 40 ZNT Zeitschrift für Neues Testament Heft 39/ 40 · 20. Jahrgang · 2017 ZNT Zeitschrift für Neues Testament Das Neue Testament in Universität, Kirche, Schule und Gesellschaft Stefan Alkier, Eckart Reinmuth, Manuel Vogel (Hrsg.) 39/ 40 SOLA SCRIPTURA