ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
61
2018
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Dronsch Strecker Vogel1 41 JUDAS ZNT Heft 41 · 21. Jahrgang · 2018 ZNT Zeitschrift für Neues Testament Das Neue Testament in Universität, Kirche, Schule und Gesellschaft Kristina Dronsch, Christian Strecker, Manuel Vogel (Hrsg.) 41 JUDAS www.francke.de Das aktuelle Heft der ZNT befasst sich mit einer neutestamentlichen Figur, die der Jesus-Erzählung der Evangelien immer wieder ein breites öffentliches Interesse weit jenseits kirchlicher, schulischer und akademischer Milieus beschert. Die finstere und tragische Gestalt des Judas übt allem Anschein nach auch dort einen bleibenden Reiz aus, wo das Neue Testament sonst kaum oder gar nicht vorkommt. Judas animiert zur literarischen und künstlerischen Beschäftigung ebenso wie zum engagierten religiösen Streitgespräch. Die Beiträge des vorliegenden Heftes nähern sich der Figur des Judas an im Rückgriff auf die neutestamentlichen Texte, auf apokryphe Quellen sowie auf ihre schon im Neuen Testament anhebende und bis heute fortdauernde Rezeptionsgeschichte. Mit Beiträgen von Kristina Dronsch, Simon Gathercole, Martin Meiser, Paul Metzger, Ralf Miggelbrink, B.J. Oropeza, Günter Röhser und Fredrik Wagener Jan Heilmann, Matthias Klinghardt (Hrsg.) Das Neue Testament und sein Text im 2. Jahrhundert Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter (TANZ), Vol. 61 2018, 322 Seiten €[D] 118,00 ISBN 978-3-7720-8640-3 eISBN 978-3-7720-5640-6 Das Neue Testament ist das Ergebnis einer einheitlichen Redaktion in der Mitte des 2. Jahrhunderts. Die Beiträge dieses Bandes greifen diese These von David Trobisch auf und fragen, was sie für das Neue Testament, für seinen Text und für die neutestamentliche Theologie bedeutet. Wie lässt sich die These einer Endredaktion kritisieren, differenzieren, weiterdenken? Was besagt sie für die Datierung der neutestamentlichen Texte, welchen Einfluss hat sie auf die Vorstellungen zum gottesdienstlichen Gebrauch? In welchem Verhältnis steht die Endredaktion zu der Schriftensammlung, die für Marcion bezeugt ist? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Textkritik? Wie müssen die Varianten beurteilt, wie die frühe Geschichte der Textüberlieferung verstanden werden? Welche theologischen Implikationen hat die These der Endredaktion? Die Beiträge des Bandes machen das große Potential der Endredaktionsthese deutlich und zeigen, dass die Diskussion noch ganz am Anfang steht. Theologie \ neues testament NEU Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (07071) 9797-0 \ Fax +49 (07071) 97 97-11 \ info@francke.de \ www.francke.de Herausgegeben von Kristina Dronsch Christian Strecker Manuel Vogel in Verbindung mit Stefan Alkier Ute E. Eisen Richard B. Hays Werner Kahl Matthias Klinghardt Susanne Luther David Moffitt Tobias Nicklas Hanna Roose Günter Röhser Michael Sommer Angela Standhartinger Anschrift der Redaktion Prof. Dr. Manuel Vogel Friedrich-Schiller-Universität Theologische Fakultät Fürstengraben 6 07743 Jena Manuskripte Zuschriften, Beiträge und Rezensionsexemplare werden an die Adresse der Redaktion erbeten. Eine Verpflichtung zur Besprechung unverlangt eingesandter Bücher besteht nicht. ZNT Heft 41 · 21. Jahrgang · 2018 Impressum Bezugsbedingungen Die ZNT erscheint halbjährlich (April und Oktober) Einzelheft: € 28,zzgl. Versandkosten Abonnement jährlich (print): € 46,- Abonnement jährlich (print & online): € 55,- Abonnement (e-only): € 49,- Bestellungen nimmt Ihre Buchhandlung oder der Verlag entgegen: Narr Francke Attempto Verlag GmbH & Co. KG Postfach 25 60 D-72015 Tübingen Telefon: (0 70 71) 97 97-0 Fax (0 70 71) 97 97 11 E-Mail: info@francke.de Internet: www.francke.de Anzeigen Narr Francke Attempto Verlag GmbH & Co. KG Telefon: (0 70 71) 97 97-10 © 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH & Co. KG ISSN 1435-2249 Die in der Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieser Zeitschrift darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Fotokopie, Mikrofilm oder andere Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsanlagen, verwendbare Sprache übertragen werden. 41 JUDAS ZNT Heft 41 · 21. Jahrgang · 2018 ZNT Zeitschrift für Neues Testament Das Neue Testament in Universität, Kirche, Schule und Gesellschaft Kristina Dronsch, Christian Strecker, Manuel Vogel (Hrsg.) 41 JUDAS www.francke.de Das aktuelle Heft der ZNT befasst sich mit einer neutestamentlichen Figur, die der Jesus-Erzählung der Evangelien immer wieder ein breites öffentliches Interesse weit jenseits kirchlicher, schulischer und akademischer Milieus beschert. Die finstere und tragische Gestalt des Judas übt allem Anschein nach auch dort einen bleibenden Reiz aus, wo das Neue Testament sonst kaum oder gar nicht vorkommt. Judas animiert zur literarischen und künstlerischen Beschäftigung ebenso wie zum engagierten religiösen Streitgespräch. Die Beiträge des vorliegenden Heftes nähern sich der Figur des Judas an im Rückgriff auf die neutestamentlichen Texte, auf apokryphe Quellen sowie auf ihre schon im Neuen Testament anhebende und bis heute fortdauernde Rezeptionsgeschichte. Mit Beiträgen von Kristina Dronsch, Simon Gathercole, Martin Meiser, Paul Metzger, Ralf Miggelbrink, B.J. Oropeza, Günter Röhser und Fredrik Wagener Zeitschrift für Neues Testament Heft 41 21. Jahrgang (2018) Inhalt Editorial � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 3 NT aktuell Martin Meiser Mehr als ein Verräter Zum Forschungsstand um die neutestamentliche Figur Judas � � � � � � � � � � � 7 Zum Thema Simon Gathercole Das Judasevangelium � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 25 Fredrik Wagener Judas: Wenn der Verworfene zum Modell wird Zugänge zu einer narrativen Ethik im Johannesevangelium � � � � � � � � � � � 43 B. J. Oropeza Apostasie im Neuen Testament Auf den Spuren des Judas und anderer Abtrünniger in den Evangelien, den johanneischen Schriften und in der Apostelgeschichte � � � � � � � � � � � � 61 Kontroverse Manuel Vogel Judas: eine biblische Randfigur? Einleitung zur Kontroverse � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 79 Paul Metzger Judas Iskarioth - Eine zentrale Figur des Neuen Testaments � � � � � � � � � � 81 Kristina Dronsch Judas - die kleine Figur mit der großen Frage � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 89 2 Inhalt Hermeneutik und Vermittlung Ralf Miggelbrink Judas Iskarioth Zur theologischen Hermeneutik einer neutestamentlichen Gestalt � � � � � 97 Buchreport � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 113 Zeitschrift für Neues Testament Heft 41 21. Jahrgang (2018) Editorial Liebe Leserin, lieber Leser, das aktuelle Heft der ZNT befasst sich mit einer neutestamentlichen Figur, die der Jesus-Erzählung der Evangelien immer wieder ein breites öffentliches Interesse weit jenseits kirchlicher, schulischer und akademischer Milieus beschert� Die finstere und tragische Gestalt des Judas übt allem Anschein nach auch dort einen bleibenden Reiz aus, wo das Neue Testament sonst kaum oder gar nicht vorkommt� Judas animiert zur literarischen und künstlerischen Beschäftigung ebenso wie zum engagierten religiösen Streitgespräch� Die Beiträge des vorliegenden Heftes nähern sich der Figur des Judas an im Rückgriff auf die neutestamentlichen Texte, auf apokryphe Quellen sowie auf ihre schon im Neuen Testament anhebende und bis heute fortdauernde Rezeptionsgeschichte� Martin Meiser gibt unter der Rubrik „ NT aktuell“ eine kundige Einführung in den aktuellen Forschungsstand� Ein Durchgang durch neuere Publikationen zeigt die lebhafte Auseinandersetzung mit Judas in Literatur und Kunst wie auch in der wissenschaftlichen Diskussion� Der daran anschließende exegetische Teil unterscheidet zwischen den historisch erschließbaren Details zum Namen des Judas, seiner Stellung im Jüngerkreis, seiner Tat und seinem Ende einerseits und den Evangelien als den ältesten Quellen andererseits, die bereits „erste Deutungen“ darstellen� Das heißt: Die Auseinandersetzung mit Judas beginnt bereits in den ältesten erhaltenen Texten� Schon hier tritt die historische Gestalt hinter die Fragen zurück, die sie aufwirft� Die Rubrik „zum Thema“ wird eröffnet von Simon Gathercole mit einem Beitrag zum apokryphen Judasevangelium, dem in den Jahren nach seiner Entdeckung große öffentliche Aufmerksamkeit zuteilwurde� Muss nun, so wurde gefragt, angesichts der gänzlich anderen Rolle, die das Judasevangelium dem berüchtigten „Verräter“ zuschreibt, die Geschichte der frühen Jesusbewegung in Teilen neu geschrieben werden? Gathercole antwortet hierauf, indem er das 4 Editorial Judasevangelium als gnostische Schrift des zweiten Jahrhunderts vorstellt und damit mancherlei Sensationelles zu dem ins Verhältnis setzt, was historisch und theologiegeschichtlich über diesen Text zu sagen ist� Fredrik Wagener schließt mit einem Beitrag an, der anhand der Judas-Darstellung des Johannesevangeliums „Zugänge zu einer narrativen Ethik“ eröffnet� Gemeint ist, dass eine Erzählung im Leseprozess als „ethisches Spielfeld“ wahrgenommen werden kann, das dazu einlädt, „Verhaltensweisen und Einstellungen zu beobachten, mögliche Konsequenzen mitzuerleben, eigene Reaktionen und Emotionen festzustellen“ und „ethische Erfahrungen zu machen“� Anhand einer eingehenden narrativen Analyse der „Auftritte“ des Judas im Johannesevangelium erarbeitet Wagener „Schlaglichter ethischer Implikationen“, etwa zu Habgier und Großzügigkeit oder Gewalt und Gewaltlosigkeit� Judas bleibt dabei stets eine negative Identifikationsfigur und ein ethisches Negativbeispiel� Der Beitrag von B� J� Oropeza schließt hieran insofern an, als auch seine Sicht jeglicher Judas-Apologetik - das Judasevangelium ist ein frühes Beispiel für diese Apologeitk und dessen enthusiastische Aufnahme in der Öffentlichkeit ein modernes -, kritisch gegenüber steht. Oropeza weitet den Blick über Judas hinaus auf das Thema der Apostasie und befragt hierzu die synoptischen Evangelien, die johanneischen Schriften und die Apostelgeschichte� Differenziert kommt zur Darstellung, was aus Sicht der einzelnen Schriften Abfall vom Glauben verursacht und worin er besteht� Die von Manuel Vogel eingeleitete und von Paul Metzger und Kristina Dronsch bestrittene Kontroverse stellt zur Diskussion, ob Judas eine Randfigur der biblischen Erzählung ist� Die Beiträge votieren hierzu gegensätzlich, erschließen aber gleichwohl beide aus ihrer jeweiligen Sicht weitere wichtige und bedenkenswerte Facetten der Judasfigur� Der Beitrag zu „Hermeneutik und Vermittlung“ von Ralf Miggelbrink zeichnet sich dadurch aus, dass er einerseits nahe an den Judas-Texten der Evangelien bleibt, andererseits aber einen weiten hermeneutischen Horizont um die Texte aufspannt� Hierbei wird deutlich, wie fruchtbar die theologische Reflexion an die Judasfigur anknüpfen kann, wenn sie sich jenseits der oft vorherrschenden Engführung auf Freispruch oder Verurteilung bewegt� Judas steht dann etwa für „die Unausweichlichkeit der Angefochtenheit des von Jesus verkündeten Gottesreiches, die nicht missverstanden werden darf nach dem Modell einer abwehrbaren äußeren Gefahr“, für den schon in der frühen Gemeinde spürbaren Grundwiderspruch zwischen Ökonomieprinzip und freier Großzügigkeit Gottes, oder aber für das „menschliche Scheitern an der Wahrheit Jesu“, die sich nicht „durch Selbstbehauptung und Gewalt durchsetzt, sondern in einem gläubigen Vertrauen, das Scheitern und Tod in der Hoffnung auf den Gott des Lebens erleidet�“ Editorial 5 Der von Günter Röhser beigetragene Buchreport stellt eine Monographie vor, die sich mit Judas-Darstellungen im Film befasst� Damit wird abschließend ein wichtiger Akzent gesetzt, der beispielhaft die überaus reichhaltige künstlerische Rezeptionsgeschichte der Judasfigur dokumentiert� Wir wünschen Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, dass Sie mit dem vorliegenden Heft für Ihre eigene Beschäftigung mit Judas, wie auch für das in Schule und Gemeinde und darüber hinaus immer wieder aktuelle Thema „Judas“ vielfältige Anregungen erhalten� Kristina Dronsch Christian Strecker Manuel Vogel Zeitschrift für Neues Testament Heft 41 21. Jahrgang (2018) NT aktuell Mehr als ein Verräter Zum Forschungsstand um die neutestamentliche Figur Judas Martin Meiser Verrat und Verzweiflung, Vertrauen und Vertrauensbruch, Heuchelei und Denunziation, Arglosigkeit und Ausgeliefertsein, all das wird immer wieder an der Figur des Judas Iskarioth abgearbeitet, im realen Leben 1 wie in der Literatur 2 1 Vgl�, die Neuzeit betreffend, B� Lahann, Genosse Judas� Die zwei Leben des Ibrahim Böhme, Berlin 1992 (bezogen auf die Enttarnung Ibrahim Böhmes als inoffiziellen Mitarbeiters des Ministeriums für Staatssicherheit) sowie H� Schubert, Judasfrauen� Zehn Fallgeschichten weiblicher Denunziation im Dritten Reich, Frankfurt (Main) 1990� Für das Zeitalter der Reformation wäre Moritz von Sachsen zu nennen, der aufgrund seines zweimaligen Positionswechsels (hin zur Partei der Romtreuen und wieder zurück) als „Judas von Meißen“ in die Geschichtserinnerung einging� 2 J� Imbach, „Judas hat tausend Gesichter“� Zum Judasbild in der Gegenwartsliteratur, in: H� Wagner (Hg�), Judas Ischkariot, Menschliches oder heilsgeschichtliches Drama? , Frankfurt 1985, 91-142; B. Dieckmann, Judas als Sündenbock. Eine verhängnisvolle Geschichte von Angst und Vergeltung, München 1991; M. Krieg, G. Zangger-Derron: Judas. Ein literarisch-theologisches Lesebuch, Zürich 1996; G. Langenhorst, Jesus ging nach Hollywood. Die Wiederentdeckung Jesu in Literatur und Film der Gegenwart, Düsseldorf 1998; K.- J� Kuschel, Jesus im Spiegel der Weltliteratur� Eine Jahrhundertbilanz in Texten und Einführungen, Düsseldorf 1999; G. Langenhorst, Zeugen, Helfer und Täter - zu den Gestalten der Passionsgeschichte, in: H� Schmidinger (Hg�): Die Bibel in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, Bd. 2: Personen und Figuren, Mainz 1999, 504-524; H. Liron, Gegendarstellungen: Jesus und Judas als Romanfiguren, KuI 14, 1999, 148-160; M. Krieg, Schöner trauriger Judas. Typologie einer literarischen Figur, KuI 17, 2002, 76-85. 8 Martin Meiser und Kunst� 3 Die Verknüpfung seines Handelns mit dem Geschick Jesu sichert den Bekanntheitsgrad dieser Figur, die Lückenhaftigkeit der neutestamentlichen Texte gibt der Phantasie den Weg zur Ergänzung und Entfaltung frei� Der Name „Judas“ erinnert aber auch an Irritationen hinsichtlich des Gottes- und des Christusbildes� „Brauchte Gott den Verräter? “ 4 Brauchte er den Kreuzestod Jesu, um die Menschen zu erlösen? 5 Warum hat Gott nicht zugunsten von Jesus und von Judas eingegriffen? Wenn Gott die Tat vorher gewusst hat, warum hat er sie nicht verhindert? Hat Jesus seinen Jünger absichtlich ins Verderben geraten lassen? Mit Hilfe dieser Fragen kann moderne Literatur auch Kirchenwie Christentumskritik formulieren 6 , zumeist unter positiver Bewertung der Gestalt des Judas� Mit Hilfe einer positiv gedeuteten Judasfigur portraitieren jüdische Autoren ihr Jesusbild 7 und setzen sich kritisch mit dem Christentum auseinander� Aber auch innerchristliche Selbstkritik kann aus dem Motiv seiner Reue (Mt 27,3) gefolgert werden� 8 Neuere exegetische und theologische Literatur macht sich das altkirchlich häufige Verdammungsurteil über Judas zu Recht nicht zu eigen, weil es einen unberechtigten Eingriff des Menschen in eine Sphäre darstellt, die ihm verschlossen bleiben muss� An Mt 7,1 ist ebenfalls zu erinnern� Die neutestamentliche Zeichnung der Judasfigur setzte, wie vieles andere im Neuen Testament, aber auch eine antijüdische Wirkungsgeschichte aus sich heraus. Ab dem 4. Jh. steht Judas für die Juden; nicht selten wird seine Reue (Mt 27,3) positiv von ihrer angeblich fehlenden Einsicht abgesetzt� In mittelalterlicher Malerei wird Judas nicht nur mit hässlichen, sondern mit typisch jüdischen Gesichtszügen gezeichnet, vor allem mit der krummen Hakennase; das gelbe Gewand wird im 15� Jh� zur Darstellung des „typisch Jüdischen“� Die nationalsozialistische Propaganda knüpft unmittelbar an diese Portraitierung 3 G� Schiller, Ikonographie der christlichen Kunst, Bd� 2: Die Passion Christi, Gütersloh 1968; H. Jursch, Das Bild des Judas Ischarioth im Wandel der Zeiten, in: Akten des VII� internationalen Kongresses für Christliche Archäologie, Trier 1965, SAC 27, Rom 1969, 565-573; B. Monstadt, Judas beim Abendmahl: Figurenkonstellation und Bedeutung in Darstellungen von Giotto bis Andrea del Sarto, Beiträge zur Kunstwissenschaft 57, München 1995; I. Westerhoff-Sebald, Der moralisierte Judas. Mittelalterliche Legende, Typologie, Allegorie im Bild. Diss phil. Zürich 1996; A.-M. Reichel, Die Kleider der Passion. Für eine Ikonographie des Kostüms, Diss� phil� Berlin 1998� 4 So die Titelformulierung des Buches von W� Fenske, Brauchte Gott den Verräter? Die Gestalt des Judas in Theologie, Unterricht und Gottesdienst, Dienst am Wort 85, Göttingen 1999� Vgl� auch H� Levin Goldschmidt / M� Limbeck (Hrsg�), Heilvoller Verrat? Judas im Neuen Testament� Mit einem Geleitwort von Anton Vögtle, Stuttgart 1976� 5 Vgl� T� Moser, Gottesvergiftung, st 533, Frankfurt (Main) 1976, 20 f� 6 W� Jens, Der Fall Judas, Stuttgart 1975� 7 A� Oz, Judas� Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler, Frankfurt (Main) 3 2015� 8 K� Marti, abendland, in: ders�: abendland� Gedichte (1980), Hamburg / Zürich 1993, 18� Mehr als ein Verräter 9 des Judas an� 9 Heute verantwortlich von Judas zu reden setzt den Einbezug auch dieser Dimension des Themas voraus� Im Gegensatz zu diesen Thematisierungen, die auf existentiell belastendes verweisen, ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung um die Judasgestalt 10 eher ruhig; auch die früheren Zweifel an der Historizität der Gestalt 11 sind heute kaum mehr von Bedeutung� Das ist kein Effekt einer Selbstverschließung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vor den genannten existentiellen Fragen, sondern der Eigenart der Texte geschuldet, die historisch nicht viel hergeben, exegetisch nur wenig Dissens hervorrufen� 9 M� Kübler, Das abendländische Judasbild und seine antisemitische Instrumentalisierung im Nationalsozialismus (Schriften der Hans Ehrenberg-Gesellschaft 15), Frankfurt (Main) 2007, passim� 10 W� Vogler, Judas Iskarioth� Untersuchungen zu Tradition und Redaktion von Texten des Neuen Testaments und außerkanonischer Schriften, ThA 42, Berlin 1983; K. Lüthi, Art. Judas I� Das Judasbild vom Neuen Testament bis zur Gegenwart, in: TRE 17, 1986, 296-304; H�-J� Klauck, Judas - ein Jünger des Herrn, QD 111, Freiburg 1987; G. Schwarz, Jesus und Judas� Aramaistische Untersuchungen zur Jesus-Judas-Überlieferung der Evangelien und der Apostelgeschichte, BWANT 123, Stuttgart u. a. 1988; R. E. Brown, The Death of the Messiah� From Gethsemane to the Grave� A Commentary on the Passion Narratives in the Four Gospels, The Anchor Bible Reference Library, Vol� II, New York u. a. 1994, 1394-1418 (Exkurs Judas); C. Böttrich, Judas Iskarioth zwischen Historie und Legende, in: Gedenket an das Wort, FS W. Vogler, Leipzig 1999, 34-55; W. Fenske, Brauchte Gott den Verräter? Die Gestalt des Judas in Theologie, Unterricht und Gottesdienst, Dienst am Wort 85, Göttingen 1999; U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus, 4. Teilband, Mt 26-28 (EKK I / 4), Düsseldorf / Zürich / Neukirchen 2002 (Exkurs Judas, auch reichhaltig zur Wirkungsgeschichte: S. 245-263); M. Meiser, Judas Iskariot. Einer von uns, BG 10, Leipzig 2004; H� E� Lona, Judas Iskariot - Legende und Wahrheit, Freiburg 2007� 11 G� Schläger, Die Ungeschichtlichkeit des Verräters Judas, ZNW 15 (1914), 50-59; M. Plath, Warum hat die urchristliche Gemeinde auf die Überlieferung der Judaserzählungen Wert gelegt? , ZNW 17 (1916), 178-188 (185); H. Levin Goldschmidt, Das Judasbild im Neuen Testament aus jüdischer Sicht, in: ders./ Limbeck, Verrat? , 9-36, 26. Für heute vgl. H. Maccoby, Judas Iscariot and the Myth of Jewish Evil, New York u. a. 1992, 150-153. Prof. Dr. Martin Meiser, geb� 1957 in Bamberg, Assistent in Erlangen (1991-2001) und Mainz (2001-2005), Lehrstuhlvertreter in Münster (2005-2007), seit 2007 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Biblische Theologie an der Universität des Saarlandes, Saarbrücken� Mitarbeit an Septuaginta Deutsch (Samuelbücher) und am Novum Testamentum Patristicum (Galaterbrief); Erarbeitung von Kommentaren zum Galaterbrief und zum Markusevangelium� 10 Martin Meiser 1. Was lässt sich historisch erschließen? Als Quellen stehen uns nur die neutestamentlichen Texte zur Verfügung, die allerdings kritisch befragt werden müssen� Das sog� Judasevangelium 12 ist eine Schrift des 2� Jh�s und ist aufschlussreich für das Denken einiger Gruppen in dieser Zeit, trägt aber zur historischen Erschließung der Person des Judas nichts bei� 1.1. Name und Beiname des Judas Der Name Judas weist zurück auf Juda, den vierten der von Lea geborenen Söhne Jakobs (Gen 29,35), und ist - ähnlich wie der Name Saul - in frühjüdischer Zeit durchaus beliebt (vgl. 1Makk 3,1; Josephus, Bell II 118; Mk 6,3), obwohl von Juda nicht nur Gutes zu berichten ist (Gen 37, 25-26; Gen 38). Mit dazu beigetragen haben mag der sog� Jakobssegen über Juda Gen 49,10 f�: „Es wird das Zepter von Juda nicht weichen noch der Stab des Herrschers von seinen Füßen, bis dass der Held komme, und ihm werden die Völker anhangen�“ Dieser Text wurde in Qumran (4Q252 Frgm� 1 Kol� V) messianisch gedeutet� Über Herkunft und Deutung des Beinamens „Iskariot“ ist nach wie vor keine Klarheit zu gewinnen� 13 Noch am ehesten Einigkeit ist darüber zu erzielen, dass von den verschiedenen Formen (Iskariot Mk 3,19; Iskariotes; Skariot Mk 3,19 D) die Namensform Iskariot aufgrund ihrer semitischen Prägung am ehesten als ursprünglich anzusehen ist. Mk 14,43 kennt den Beinamen nicht; insofern ist die vorösterliche Herkunft nicht zweifelsfrei zu sichern� Die Deutung als „Mann der Lüge“ wäre aus seiner Tat heraus expliziert; der Beiname wäre damit erst nachösterlich entstanden� Allerdings bestehen philologische Bedenken: Es gibt zwar das Substantiv „der Falsche“, der „Lügner“ ( ’isch qari’ ) doch nicht das Substantiv s e kariot („Auslieferung“) oder q e riot („Lüge“); somit bliebe wiederum die Endung - ot ungeklärt� Ferner wäre angesichts der Aramäisch-Kenntnisse des Markus zu fragen, warum er den Beinamen nicht übersetzt� Die Deutung „Zelot“ kann den Anlaut in dem Beinamen nicht erklären� Auch hätte sich von dieser Deutung keine Spur in den diversen polemischen Debatten um Jesus und Judas erhalten� Die geographische Deutung „Mann aus Kirjoth“ hat als Bedenken gegen sich, dass der betreffende Ort im Alten Testament ( Jos 15,25), danach aber nicht mehr erwähnt wird, es somit unsicher ist, ob der Ort in der Zeit Jesu noch existiert hat� Der in Jer 48,24 genannten Ort „Karioth“ in Moab 12 Vgl� dazu den Beitrag von S� Gathercole in diesem Heft� 13 So auch Lona, Judas, 57; W. Klassen, Judas, Betrayer or Friend of Jesus? , Minneapolis (1996) 2 2005, 34; M. Wolter, Das Lukasevangelium (HNT 5), Tübingen 2008, 244, der dann doch, m� E� zu Recht, zur Deutung auf den Herkunftsort tendiert� Mehr als ein Verräter 11 wird immerhin von Eusebius von Caesarea erwähnt� 14 Die aus dem aramäischen herrührende Deutung „Mann aus Jerusalem (von aram� qit’a = Stadt) 15 hat gegen sich, dass Markus sie trotz seiner Aramäisch-Kenntnisse nicht verstanden hätte� Im Hinblick auf den (manchmal überpointiert wahrgenommenen) Gegensatz zwischen Galiläa und Judäa im Markusevangelium muss betont werden: Speziell als Judäer kommt Judas in den Blick� 1.2. Judas im Zwölferkreis Judas gilt von Anfang an als Mitglied des Zwölferkreises, den Jesus zur Sammlung des endzeitlich erneuerten Gottesvolkes Israel als Multiplikatoren seines Wirkens berufen hat. In den Auflistungen der Jünger Jesu (Mk 3,17-19; Mt 10,2-4; Lk 6,14-16; Apg 1,13 f.) wird Judas immer an letzter Stelle genannt und, anders als andere Jünger, stets durch den Hinweis auf seine Tat näher charakterisiert� Dass er innerhalb des Jüngerkreises die Funktion des Kassenverwalters innegehabt haben soll ( Joh 12,6), ist angesichts von Lk 10,4 („Tragt keine Tasche …“) kaum historisch zu sichern; Joh 12,6 ist aus dem Bemühen heraus formuliert, ihn von Anfang an als moralisch verdorben darzustellen; Mt 26,15 („Was wollt ihr mir geben …“) wies dazu die Richtung� 1.3. Die Tat des Judas Über die Tat des Judas ist letzte Gewissheit nicht zu gewinnen� Das griechische Verbum, mit dem sie immer bezeichnet wird ( paradidōmi ), heißt erst einmal nicht „verraten“, sondern „ausliefern“ (z� B� an ein Gericht, an die nächsthöhere Instanz)� Dieses Verbum wird im Übrigen auch von der Hingabe Jesu durch Gott (Röm 4,25; 8,32) wie von der Selbsthingabe Jesu (Gal 2,20; Eph 5,2.25) verwendet, aber auch (Mk 13,9) von der „Auslieferung“ von Christinnen und Christen an jüdische und römische Behörden (ähnlich auch Apg 8,3; 12,4; 21,11), zumeist aufgrund der Initiative aus dem privaten Umfeld� Das Handeln des Judas hat möglicherweise der Tempelpolizei und ihrem Verhaftungskommando den geräuschlosen Zugriff auf Jesus erleichtert� Der Kommandotrupp war so klein, dass die Jünger fliehen konnten und Petrus sogar sich in die Nähe des hohepriesterlichen Dienstsitzes wagte� Aber warum hat Judas das getan? Sein Verhalten lässt eine Distanzierung erkennen, aber in welche Richtung? Diskutiert wurden bisher u� a� folgende Möglichkeiten: 14 Eusebius von Caesarea, Onomasticon, GCS 11 / 1, 120� Theodoret von Kyros, in Ier�, PG 81, 721 B kommt bei der Behandlung von Jer 48,18-25 auf die Frage, ob Judas aus diesem Ort stammt, nicht zu sprechen� 15 So Schwarz, Jesus und Judas, 8-12. 12 Martin Meiser 1� Judas sah, u� a� aufgrund der Leidensankündigungen Jesu, dass seine eigene Erlösungshoffnung mit der Botschaft Jesu nicht zu vereinbaren war� 16 2� Judas hatte bis kurz vor seinem Übergang zu den Gegnern auf den Erweis der Messianität Jesu gehofft (etwa beim Einzug in Jerusalem? ), doch diese Hoffnung sah er enttäuscht; deshalb ging er zu den Gegnern über, um bei der Beseitigung Jesu zu helfen� 3� Judas bejahte bis zuletzt den Messiasanspruch Jesu und wollte noch in der Situation der Gefangennahme Jesus dazu nötigen, sich als Messias zu offenbaren; in Unkenntnis dieser Motivation hat die Urgemeinde Judas zu dem „Verräter“ gestempelt� 4� Judas konnte nicht gutheißen, dass Jesus nichts gegen die überschwängliche Verehrung seitens seiner Anhänger unternahm� 5� Judas wurde von Jesus damit beauftragt, ein Treffen mit den Jerusalemer Autoritäten zu arrangieren, und hoffte, dass sich Jesus mit ihnen über die Notwendigkeit der Erneuerung des Gottesvolkes und über die Vorgehensweise verständigen könnte� Als sie Jesus stattdessen an Pilatus auslieferten und dieser ihn zum Tode verurteilte, nahm sich Judas aus Verzweiflung und ungebrochener Liebe zu Jesus das Leben� 17 Fast alle der hier vorgestellten Konstruktionen haben zwei grundlegende methodische Schwächen: 1� Zumeist werden ohne kritische Prüfung einzelne Jesusworte, die die Konstruktion tragen sollen, als authentisch erklärt, u� a� die Leidensankündigungen (Mk 8,31-33 parr. etc.). Dagegen muss betont werden: Historisch ist es nicht möglich, eine „innere Entwicklung“ Jesu von erfolgreichen Anfängen in Galiläa hin zu konfliktgeladenen Phasen seines Wirkens zu konstruieren� So lässt sich auch für das Verhältnis zwischen Jesus und Judas keine Entwicklung nachzeichnen� 2� Die Möglichkeiten einer Distanznahme seitens des Judas sind, beachtet man religionsgeschichtlich die (nicht unbegrenzte) Pluralität des Judentums zur Zeit Jesu, durchaus vielfältig� Hat Judas Jesu jüdische Lebenspraxis als unvereinbar mit dem Willen Gottes empfunden? 18 Hatte Judas mit der Zeit ein anderes Verständnis von Erlösung gewonnen (in welche Richtung auch immer! ) 16 So wieder Lona, Judas, 69� 17 Klassen, Judas, 66-70; 202-207. Er hält Joh 13,27 („Was du tust, das tue bald“) für eine Äußerung des historischen Jesus� 18 Eine solche mögliche Begründung darf nicht verwechselt werden mit der historisch überholten und vor allem theologisch fragwürdigen pauschalen Kontrastierung Jesu gegenüber dem Judentum seiner Zeit� Der Konflikt zwischen Judas und Jesus muss als innerjüdisch möglicher Konflikt gedacht werden� Mehr als ein Verräter 13 als Jesus, von daher seinen Selbstanspruch angezweifelt und ihn deshalb den jüdischen Behörden als Verführer ausgeliefert? 19 Man muss sich das historische Szenario dessen vor Augen halten, wie Jesus überhaupt gewaltsam zu Tode kommen konnte� Gerade angesichts der an den jüdischen Hochfesten häufig aufgeheizten antirömischen Stimmung konnte die Hinrichtung eines Mannes sinnvoll sein, dessen Botschaft von der kommenden Gottesherrschaft politischer Nebentöne verdächtig war� Auch eine Tempeluntergangsprophetie (Mk 14,58) mag als destabilisierend empfunden worden sein� Der römische Präfekt, und nur er (vgl� Joh 18,31), hatte das Todesurteil auszusprechen, doch konnten sich, aus Sorge für das Land (! ), auch Mitglieder des Synhedrions dazu verstehen (die Mitwirkung des ganzen Gremiums ist historisch unwahrscheinlich), Jesus mit Antrag auf Anordnung und Vollzug der Todesstrafe dem Präfekten zu überstellen� Immerhin kam bei der Aktion gegen Jesus von Nazareth nur dieser selbst zu Tode, während Josephus mehrfach davon berichtet, dass auch die Anhänger eines von dem Römern gefangen gesetzten Messiasprätendenten zu Hunderten oder zu Tausenden umkamen� 20 In dieses Szenario könnte auch das Handeln des Judas integriert werden� Seine mögliche Mitbeteiligung an der Verhaftung Jesu 21 setzt voraus, dass er zum Zeitpunkt seiner Verhandlungen mit den jüdischen Oberen von diesen nicht (mehr) seinerseits als zelotische Gefahr empfunden wurde� Denkbar ist von daher, dass Judas ähnlich wie die Jerusalemer Führungsschichten in dem Selbstanspruch Jesu 22 bzw� in dem Verhalten seiner Anhänger den Anlass für eine mögliche Eskalation der jüdischen Volksstimmung vermutete� Diese Konstruktion 23 könnte wenigstens die offensichtlich äußerlich gesehen reibungslose Zusammenarbeit zwischen Judas und einigen Mitgliedern des jüdischen Sanhedrin erklären� Freilich bleibt auch diese Konstruktion nur ein Versuch, Judas und seine Tat zu verstehen� Ein gesichertes Wissen ist nicht zu erzielen� 19 So J� Klausner, Jesus von Nazareth, Berlin 2 1934, 71� 20 Ähnliches wird später auch von Jesus ben Ananias berichtet - ihn ließ der Präfekt allerdings als verrückten Einzelgänger laufen ( Josephus, bell� VI, 300-309). 21 Der Gang des Judas zu den Hohenpriestern bleibt historisch völlig im Dunkeln, vermutlich wurde er aus der Anwesenheit des Judas bei den Gegnern Jesu während seiner Verhaftung erschlossen ( J� Gnilka, Das Matthäusevangelium, II� Teil� Kommentar zu Kap. 14,1-28,20 und Einleitungsfragen [HThK I / 2], Freiburg 1988, 392)� 22 Dass Judas den Selbstanspruch Jesu, dass sich in seinem eigenen Wirken die Gottesherrschaft Bahn breche, nicht verstanden oder bewusst missdeutet haben soll, ist m� E� unwahrscheinlich und eine unnötige zusätzliche Hypothese� 23 Die hier vorgelegte Hypothese kommt der unter Nr� 4 genannten Konstruktion am nächsten; sie berührt sich ebenfalls mit populären Auffassungen, die auf diese Weise die eigenen Anfragen an das Christentum formulieren� Meine Aufstellungen sind allerdings unabhängig von diesen Auffassungen entstanden� 14 Martin Meiser 1.4. Das Ende des Judas Über das Lebensende des Judas liegen im Neuen Testament zwei Berichte vor, deren Gemeinsamkeit nur darin besteht, dass der Tod des Judas mit einem bestimmten Grundstück in Verbindung gebracht wird. Mt 27,3-10 erzählt von der Reue des Judas, seinem Suizid am Vorabend des Todes Jesu und dem Kauf des Grundstücks durch die jüdischen Eliten, Apg 1,15-20 von einem tödlichen Sturz auf dem von ihm selbst gekauften Grundstück - der Kauf muss, beachtet man jüdische Vorschriften zu den Festtagen, nach dem Sabbat erfolgt sein� Über den weiteren Lebensweg des Judas nach den Geschehnissen um den Tod Jesu wusste man offenbar bereits sehr früh nichts mehr, aber man machte sich Gedanken� Man kann mit Horacio Lona beide Erzählungen auch als Teil der Wirkungsgeschichte der Judasfigur verstehen, nach dem Motto: „Wer den Herrn ausgeliefert hat, verdient eine grausame Bestrafung�“ 24 2. Erste Deutungen durch die Evangelisten Für die Evangelisten war Judas tendenziell allgegenwärtig in der eigenen kirchlichen Situation� Ihr Judasbild ist selbst bereits Teil der beginnenden Wirkungsgeschichte dieser Gestalt� 2.1. Das Evangelium nach Markus Weithin anerkannt für das Markusevangelium ist, dass die Zusammenordnung von Mk 14,1 f.3-9.10 f. zu einem Triptychon auf die ordnende Hand des Evangelisten geht� Das Verhalten des Judas ist das Gegenteil zu dem Verhalten der liebenden Frau� Durch das Handeln des Judas wird das Passionsgeschehen in Gang gesetzt. Die Todesbeschlüsse gegen Jesus Mk 11,18; 12,12; 14,2 können jetzt verwirklicht werden durch das Handeln eines Jüngers, der eigentlich „mit ihm sein“ (Mk 3,14) sollte� 25 Dass Judas von sich aus um Geld nachgefragt hätte, steht nicht da und darf nicht in die Darstellung des Markusevangeliums eingetragen werden� 26 Die Bemerkung über den günstigen Zeitpunkt nimmt Bezug auf die Überlegungen der Hohepriester (Mk 14,2), „Unruhe im Volk“ zu vermeiden� Markus hat auch in der Szene von der Aufdeckung des Verrates Akzente gesetzt� V� 18 knüpft an Ps 40,10 LXX an: der mein Brot isst, hat sich gegen mich erhoben� Der genannte Psalm, auch in 1 QH XIII 23 f� zitiert, ist einer der Texte, die in der Forschung der Tradition des „leidenden Gerechten“ zugeschrieben werden, der Bedrängnis von seinen Gemeinden erdulden muss� So wie es ihm 24 Lona, Judas, 35� 25 Auf den Gegensatz zwischen Mk 3,14 und 14,10 f� verweist auch L� Hartman, Mark for the Nations� A Commentary, Eugene 2010, 575� 26 So auch M� E� Boring, Mark� A Commentary (NTL), Louisville / London 2006, 385� Mehr als ein Verräter 15 geht, so ergeht es Christus und auch den Seinen: Vermeintlich Gleichgesinnte brechen die Treue� Die Frage der anderen Jünger „doch nicht etwa ich? “ (Mk 14,18) ist nicht die historische Erinnerung an das, was sich damals vor Jesu Tod wirklich zugetragen hat, sondern ist die Frage des Christen, der darüber erschrickt, dass möglicherweise sein eigenes Verhalten fatale Folgen für andere nach sich ziehen kann� 27 Jesu abschließendes Wort Mk 14,21 formuliert das Paradox von göttlicher Souveränität und menschlicher Verantwortlichkeit 28 : Jesu Leiden geschieht dem Willen Gottes gemäß; trotzdem ist das Verhalten des Judas damit nicht gerechtfertigt oder gar einer „höheren Sinndeutung“ eingeordnet� Dem Wort mag auch unmittelbar aktuelle Bedeutung in der in Mk 13,9�12 vorausgesetzten Situation zukommen 29 : Viele Anhängerinnen und Anhänger Jesu haben sich nicht gewehrt, als sie ausgeliefert wurden, sondern das Erdulden der Auslieferung als Beweis für die Standhaftigkeit ihres Glaubens aufgefasst� Das rechtfertigt aber keineswegs, wenn jemand aus der Gemeinde zur mittelbaren oder unmittelbaren Ursache einer solchen Auslieferung wird� Anders als in der griechischen Tragödie wird in Mk 14,21 an Judas nicht die Fraglichkeit des menschlichen Seins als solche aufgedeckt� Vielmehr wird eine Antwort gegeben, die die weitere Nachfrage nach dem Ausgleich zwischen göttlichem und menschlichem Handeln eher abschneidet denn zulässt - Mk 14,21 ist insofern die Geburtsstunde der Problematik der biblischen Judastexte� In der Szene der Gefangennahme mag der Kuss des Judas - historisch ist nichts Sicheres auszumachen, da das Motiv auch durch Spr 27,6b bzw� 2Sam 20,9 f� veranlasst sein kann - die Gemeinde an den „Heiligen Kuss“ (1Thess 5,26 u. ö.) erinnert haben; jedenfalls wird die Gemeinde gewarnt, dass es auch in ihr falsche Freundschaft geben kann� Die Anrede „Rabbi“ (Mk 14,45) zeigt, wenn durch einen Jünger gebraucht, mangelndes Verstehen an (vgl. Mk 9,5; 11,21). Jesus müsste für Judas mehr sein, nämlich der „Christus“ (vgl� Mk 8,29)� 2.2. Das Evangelium nach Matthäus Die Judasfigur im Matthäusevangelium ist auf dem Hintergrund des Bildes Jesu in diesem Evangelium zu betrachten� Der Evangelist Matthäus interpretiert Jesu Passion als Passion des gehorsamen Gottessohnes, der gleichwohl seine Souveränität nicht eingebüßt hat� 30 Das wird schon in der Einleitung Mt 26,1 f� deutlich: Der Evangelist verwandelt eine auktoriale Passage der Markusvorlage 27 Klauck, Judas, 57� 28 Boring, Mark, 390� 29 A� Y� Collins, Mark� A Commentary (Hermeneia), Minneapolis 2007, 652� 30 So auch M� Konradt, Das Evangelium nach Matthäus übersetzt und erklärt (NTD 1), Göttingen 2015, 396� 16 Martin Meiser in eine weitere Leidensankündigung Jesu� Das zeigt sich aber auch in mehreren Zügen der Umarbeitung� In der Verhandlungsszene trägt Matthäus den Vorwurf der Habgier ein (Mt 26,15)� Es geht weniger um ein Charakterportrait als darum, den Lesern den Unterschied zwischen richtigem (Mt 6,24; 19,21) und falschem Verhalten klarzumachen; Dtn 27,25 mag für Matthäus ebenfalls im Hintergrund gestanden haben� In dem Angebot des Judas, Jesus auszuliefern, beginnt die Erfüllung der Voraussage Jesu in Mt 26,2� Für das Verständnis der „30 Silberlinge“ (Mt 26,15) sind weniger damalige Grundstückspreise im Umfeld Jerusalems (über sie haben wir keinerlei Nachrichten) als biblische Zusammenhänge leitend� Sach 11,12LXX nennt den Preis, den die desinteressierten, auf den Bruch zwischen Jerusalem und Samaria zusteuernden Eliten Israels dem guten Hirten zu zahlen bereit sind, als dieser seinen Dienst quittieren will - dabei wusste sich der Hirte im Dienst des Gottes Israels stehend! Zusätzlich kann man auf Ex 21,32 verweisen, wo dieser Betrag „als Schadensersatzleistung für den Besitzer eines - durch ein Rind ums Leben gekommenen - Sklaven“ 31 genannt wird� Die Geringschätzung Jesu durch die Hohenpriester wird somit deutlich� Die meisten Leser werden diesen Betrag als eher gering eingeschätzt haben, gleichgültig, ob man an Denare, Doppeldrachmen oder Schekel der Tempelwährung denkt� 32 In Mt 26,21-25 betont Matthäus gegenüber der Markusvorlage erneut die Souveränität des ins Leiden gehenden Jesus� Die anderen Jünger in Mt 26,22 sind mit ihrer verunsicherten Betrübnis Rollenangebote für die Leser, über sich selbst und ihr eigenes Verhalten nachzudenken� 33 In V� 23 verlegt Matthäus den Vorgang „der mit mir die Hand in die Schüssel taucht“ (nach mehrheitlicher Deutung) von der Gegenwart in die Vergangenheit und lässt ihn zum Erkennungszeichen werden, das Jesu wunderbares Vorherwissen betont - wichtig ist das gegenüber aufkommender Christentumskritik� Für Mt 26,24 gilt ähnlich wie für Mk 14,21, dass die Einbindung des Todes Jesu in den Heilswillen die Verantwortung und Schuld der beteiligten Menschen nicht aufhebt� 34 Die über den Weheruf gegebene Verwandtschaft dieses Textes mit Mt 18,7-9 kann den Gedanken der ewigen Verdammnis nahelegen 35 , muss es aber nicht� 36 Die Frage des Judas, „Bin ich’s, Rabbi“ (Mt 26,25a) 37 , dient nicht einer Charakterzeichnung 31 Konradt, Matthäus, 402� 32 Luz, Matthäus, 70� 33 A� a� O�, 88� 34 Konradt, Matthäus, 404� 35 Luz, Matthäus, 89� 36 Gnilka, Matthäusevangelium, 397� 37 Durch diese Anrede wird Judas von den anderen Jüngern, die Jesus korrekt als „Herr“ ansprechen (als Anrede an Jesus wird „Rabbi“ nur Judas in den Mund gelegt, vgl� Mt 26,49� Mehr als ein Verräter 17 des Judas, sondern dazu, das überlegene Wissen Jesu herauszustellen� 38 Gleichzeitig verschärft die Formulierung den Gegensatz zu den anderen Jüngern, die Jesus mit „Herr“ angeredet hatten� Es sollte allerdings beachtet werden, dass Jesu häufige Warnungen vor dem Endgericht gerade auch den Jüngern in ihrer Gesamtheit gelten, nicht nur denen, die in irgendeiner Weise abtrünnig geworden sind (dem entspricht auch V� 22, s� o�)� Jesu Antwort ist nicht als Distanzierung, sondern als Bestätigung gemeint, durch die jetzt auch den anderen Jüngern klar ist, wer der Verräter sein wird� In der Szene der Gefangennahme trägt Matthäus das Motiv der Warnung vor der Heuchelei ein� Während Markus von einer Reaktion Jesu auf den Kuss des Judas nichts berichtet, ergänzen Matthäus und Lukas in je eigener Weise, mit aller Freiheit der Gestaltung� Die Anrede „Freund“ in Mt 26,50 nimmt nicht die in christlichen Gruppen übliche Anrede „Bruder“ auf; ihr eignet, wie die Parallelen Mt 20,13; 22,12 nahelegen, ein drohend-ironischer Unterton. Die folgende Äußerung Jesu „warum bist du gekommen? “ will nicht anzeigen, dass Jesus von dem, was auf ihn zukommt, nichts weiß (vgl. dagegen Mt 26,22-25 sowie Mt 26,1 f�, s� o�), ist aber auch nicht elliptisch aufzufassen („Wozu du gekommen bist, weiß ich / steht in der Schrift o� ä�“), sondern als rhetorische Frage gemeint� Sie soll die Heuchelei des Judas entlarven: „Bist du wirklich nur gekommen, um mich so mit einem Kuss zu begrüßen“? 39 Die Erzählung vom Ende des Judas Mt 27,3-10 ist nur bedingt an Judas selbst interessiert. Mt 27,3-10 will weniger Judas ent lasten als die jüdischen Eliten be lasten, die dessen Unschuldszeugnis zugunsten Jesu ebensowenig als Anlass zur Selbstbesinnung nehmen wie das der Frau des Pilatus (Mt 27,19 f�)� 40 Anders als Judas sind sie, die das Unglück noch verhindern könnten, nicht zur Einsicht willens� 41 Ihr Vorgehen wirkt umso zynischer, als sie das Unschuldszeugnis des Judas nicht einmal bestreiten� 42 Dass die Reue des Judas von der fehlenden Reue der jüdischen Eliten insgesamt unterschieden werden konnte, hatte, wie auch die Judasgestalt selbst, leider auch eine antijüdische Wirkungsgeschichte: Die Juden wurden in ihrem Verhalten mit Judas gleichgesetzt oder sogar noch Matthäus bezeichnet in Mt 23,8 die Anrede als bei den von ihm abgelehnten Schriftgelehrten üblich; vgl. Luz, Matthäus, 90). 38 Gnilka, Matthäusevangelium, 397� 39 Im Ergebnis ähnlich Konradt, Matthäus, 416: „Jesus durchschaut Judas; sein Kuss dient dem Verrat�“ 40 So auch Gnilka, Matthäusevangelium, 397� 41 Konradt, Matthäus, 427 f� 42 Luz, Matthäus, 235� Das Negativportrait wird für den Leser auch dadurch verstärkt, dass sie wissen, so Mt 27,6, plötzlich wissen, dass das von Judas in den Tempelschatz gelegte Geld „Blutgeld“ ist (Luz, 239)� 18 Martin Meiser schlimmer dargestellt� 43 Der Suizid des Judas ist die Vollstreckung des Strafgerichtes (vgl� Dtn 27,25) und soll den Leser warnen� 2.3. Das Evangelium nach Lukas und die Apostelgeschichte In Lk 6,16, und nur hier, wird Judas als prodotēs (= Verräter) eingeführt; dieser Sprachgebrauch ist bis heute landläufig bestimmend, obwohl das Verbum paradidōmi nicht „verraten“ heißt� Die wesentliche, Judas betreffende Änderung zu Beginn der Passionsgeschichte ist, dass Lukas vom Wirken des Satans spricht (Lk 22,3)� Man kann das Wirken des Satans mit dem Wirken der Dämonen in einem Besessenen vergleichen, sollte aber beachten, dass Judas damit keineswegs von jedem Schuldvorwurf entlastet werden könnte� 44 Lk 22,6 („und er stimmte zu“) wehrt diesem Missverständnis ausdrücklich� Der Satan kann in Judas nur wirken, weil sich Judas seinem Wirken geöffnet hat� Die Vorstellung, dass der Satan in einen bestimmten, identifizierbaren Menschen eingeht, ist zwar seit Lk 22,3 geläufig, aber im antiken Judentum keineswegs weit verbreitet� Die Parallele 4Q398 Frgm� 14 Kol� ii 4 f zeigt aber auch, dass der Mensch der Versuchung keineswegs ohnmächtig gegenübersteht� Auch die Lehre vom Satan ordnet sich im antiken Judentum durchaus in den Hauptstrom der Vorstellung von der Willensfreiheit ein, wie er in Dtn 30,11-16; Sir 15,11-20; 4Esra 7,118-131 gegeben ist. In der Perikope im Abendmahlssaal hat Lukas die Reihenfolge von Verratsansage und Einsetzung der Eucharistie umgekehrt� Mag Lukas auch nur aus erzählökonomischen Gründen umgestellt haben 45 , ergibt sich für den Leser dennoch: Auch Judas empfängt vom Heiligen Mahl� „Während Jesus seinen Leib dahingibt, wird er von einem der Jünger ‚übergeben’, der im Genuß des Segens der Dahingabe steht� So etwas kann nur vom Satan bewirkt sein (Lk 22,3)�“ 46 Der Satan holt sich seine Werkzeuge aus dem innersten Kreis der Gemeinde, und davor schützt nicht einmal die Gegenwart Jesu bei Mahl� Die Teilhabe am Mahl ist keine Heilsgarantie� Umstritten ist mit Blick auf Lk 22,23, ob das sinntragende Verbum syzēteo „streiten“ oder „sich befragen“ heißt� Im letzteren Fall wäre auch im Lukasevangelium das Erschrecken der Jünger über das thematisiert, was auch in der Gemeinde möglich ist� Im ersteren Fall wäre die Szene als Erschrecken des Evangelisten über die Selbstsicherheit der Jünger zu deuten, dass „an 43 Vgl. Luz, Matthäus, 252; Meiser, Judas, 131 f. 44 So auch H� Klein, Das Lukasevangelium übersetzt und erklärt (KEK I / 3), Göttingen 2006, 658); Wolter, Lukasevangelium, 693. 45 Wolter, Lukasevangelium, 709� 46 Klein, Lukasevangelium, 668� Mehr als ein Verräter 19 die Stelle des eigenen Betroffenseins die von sich wegweisende Diskussion - und das heißt: die den anderen verdächtigende Anklage - getreten ist“ 47 � In der Szene der Gefangennahme (Lk 22,47-53) hat Lukas gestrafft und wiederum eigene Akzente gesetzt� Schon die Einleitung stellt Judas „in den Mittelpunkt der Erzählung�“ 48 Die bei Lukas formulierte Frage „Judas 49 , mit einem Kuss übergibst du den Menschensohn? “ (V� 48) ist wohl weniger Zeichen seiner Überraschung noch auch der Liebe des Meisters 50 als vielmehr Verweis auf den Missbrauch des Freundschaftszeichens (vgl� 2Sam 20,9) 51 , ist, gerade angesichts der Voranstellung des Wortes philēma (Kuss) 52 , Zeichen dessen, dass Ungeheuerliches geschieht� 53 Ob es tatsächlich zu dem Kuss kommt, ist für Lukas angesichts dessen zweitrangig� In Lk 22,53 dürfte, wie die Parallelisierung der „Macht der Finsternis“ und des Satans in Apg 26,18 zeigt, mit den Worten „dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis“ wiederum auf das vom Satan bestimmte Handeln des Judas Bezug genommen sein� Jesu Leiden ist hinsichtlich seiner äußeren Ursache dem Wirken gottfeindlicher Mächte zuzuschreiben� 54 Jesu Tod gilt als ein vom Satan bzw� von Menschen gesetztes Faktum, das aber Gottes Plan mit der Welt nicht wirklich behindern kann - Jesu Auferweckung als göttliche Tat ist die Korrektur dessen, was Menschen getan haben (Apg 2,23 f.; Apg 3,14 f.; hier wird das Wirken des Satans nicht genannt, weil die Schuld der Jerusalemer am Tod Jesu betont werden soll)� Apg 1,15-26 begründet die Nachwahl des Matthias in den Zwölferkreis mit dem Ausscheiden des Judas; es war wohl erst Lukas, der beide Traditionen miteinander verbunden hat� Die Darstellung des Unfalltodes (Apg 1,18) verweist traditionsgeschichtlich auf Weish 4,19� Judas stirbt den Tod eines Gottesfeindes� 55 Sein Tod kann einerseits der Weiterentwicklung der Gemeinde nichts anhaben, wie dies auch von der Verfolgungstätigkeit des Paulus vor seiner Lebenswende 47 Vogler, Judas, 81� 48 Wolter, Lukasevangelium, 726� 49 Dass Judas hier ohne Beinamen steht, muss nicht unbedingt alte Tradition widerspiegeln (Vogler, Judas, 84), sondern kann sich auch der Glättung durch den Evangelisten verdanken� 50 Zu Recht skeptisch ist Klauck, Judas, 69; vgl. auch M. Limbeck, Das Judasbild im Neuen Testament aus christlicher Sicht, in: Goldschmidt / Limbeck, Verrat? , 37-101, 77, der auf die Differenz des Verhaltens Jesu in dieser Situation zu seiner sonstigen Zuwendung zu Sündern aufmerksam macht� 51 Josef Ernst, Lukas (RNT), Regensburg 6 1993, 465� 52 Wolter, Lukasevangelium, 726� 53 Klein, Lukasevangelium, 686� Das Stichwort „Menschensohn“ verbindet Lk 22,48 mit den Ankündigungen Jesu (Lk 9,44; 18,31-33), so Wolter, Lukasevangelium, 726. 54 G� Baumbach, Das Verständnis des Bösen in den synoptischen Evangelien (ThA 19), Berlin 1963, 190, macht auf die Differenz von Lk 22,53 zu Mk 14,41 aufmerksam� 55 Klauck, Judas, 104� 20 Martin Meiser und des Herodes Agrippa I. gilt (Apg 9,31; 12,20-24). Diese Gewissheit soll den durch Bedrängnisse um des Glaubens willen angefochtenen Leser trösten� Auch die Schriftzitate verweisen darauf, dass selbst ein negatives Geschehen in den Plan Gottes eingeordnet bleibt� Der Tod des Judas ist aber auch Beispiel für das Strafgericht Gottes 56 , und Apg 1,25 („er ging an den Ort, für den er bestimmt war“) enthält bei der vorherrschenden Deutung auf das eschatologische Verderben 57 eine Warnung 58 : Der dem Verräter gebührende Ort ist der Straftod, und so wie Judas wird es jedem ergehen, der in so gravierender Weise an der christlichen Gemeinde schuldig wird; vgl. Apg 5,1-11. 59 2.4. Das Evangelium nach Johannes Im Johannesevangelium wird Judas erstmals im Rahmen einer Äußerung Jesu über Unglauben innerhalb seines Jüngerkreises erwähnt ( Joh 6,64)� Dass Jesus um diesen Unglauben angesichts seines Leidensweges ( Joh 6,62) und um das spätere Handeln des Judas „weiß“, soll nicht seine besondere Wundermacht betonen, sondern das Missverständnis ausschließen, Jesus habe sich in der Auswahl seiner Jünger getäuscht� Entsprechende Vorhaltungen sind später bei dem Christentumskritiker Kelsos belegt� Dass Menschen überhaupt zum Glauben kommen können, gilt im Johannesevangelium einerseits als Werk Gottes ( Joh 6,37. 39. 44; 17,2); andererseits werden immer wieder Aufforderungen zum Glauben an die Menschen gerichtet ( Joh 6,29 u� a�)� Im Lichte dieser Stellen suchen Joh 6,37� 39� 44 das unbegreifliche Rätsel des Abfalls vom Glauben (vgl� Joh 2,19) und auch des in den Unglauben hineinführenden Zweifels von Gemeindegliedern ( Joh 6,65) zu benennen� Das bedeutet aber zugleich: Auch das Rätsel des Unglaubens in den eigenen Reihen diskreditiert nicht den Anspruch Jesu� Joh 6,65 will aber zusätzlich den Leser warnen: Erwählung bewahrt nicht vor Versagen� Der Mensch kann nicht selbst dafür garantieren, dass er am Glauben festhält� Insofern ist Judas zum einen der Prototyp des Ungläubigen, der aus 56 Ch� K� Barrett, A Critical and Exegetical Commentary on the Acts of the Apostles, Vol� I, Preliminary Introduction and Commentary on Acts I-XIV, ICC, Edinburgh 1994, 93� 57 Apg 1,25 kann aber auch auf das von Judas gekaufte Grundstück (Klauck, Judas, 109) oder die Hinwendung zu den Gegnern Jesu bezogen werden (so R� Pesch, Die Apostelgeschichte, Bd. I [Apg 1-12], EKK V / 1, Zürich / Einsiedeln / Köln 1986, 90 f�, für die vorlukanische Tradition)� 58 K� Paffenroth, Judas� Images of a Lost Disciple, Louisville, London 2001, 22� 59 K� Dorn, Judas, Judas Iskariot, einer der Zwölf� Der Judas der Evangelien unter der Perspektive der Rede von den zwölf Zeugen der Auferstehung in 1 Kor 15,3b-5, in: H. Wagner (Hg�), Judas, Menschliches oder heilsgeschichtliches Drama? , Frankfurt (Main) 1985, 39-89 (59 f.). Mehr als ein Verräter 21 den eigenen Reihen kommt� Zum anderen ist die aktive Feindschaft des Judas 60 für den Evangelisten nur als Ergebnis des Wirkens des Teufels denkbar� Dabei interessiert sich der Evangelist nicht für die Frage, ab wann Judas unter dem Einfluss des Teufels stand; zu Lk 22,3 und Joh 13,27 gleicht er nicht aus. Die Aussage „einer von euch ist ein Teufel“ ( Joh 6,70) ist als Warnung gedacht: Abfall vom Glauben ist eine ernste Bedrohung� Nicht die Jünger, sondern, vermittels des Erzählerkommentars, die Leser wissen, wer gemeint ist� 61 Dass Judas die gemeinsame Kasse des Jüngerkreises verwaltet haben soll ( Joh 12,6), ist kaum historisch wahrscheinlich zu machen� Die Aussage ist wohl aus Mt 26,15 herausgesponnen und soll die Habgier und die Heuchelei des Judas bloßstellen� Vermutlich wirkt sich hier die auch später in der Ketzerpolemik wirksame Vorstellung aus, dass ein Ketzer auch moralisch nicht integer sein darf� Der Evangelist geht nicht auf die naheliegende Frage ein, warum Jesus seinen zwölften Jünger überhaupt mit der Führung dieser Kasse betraut, wenn er doch um das Wirken des Teufels in ihm wusste� Bei Johannes gibt es zu Mk 14,10 parr� keine Parallele� Er kennt einzelne Motive, Judas betreffend, z� B� das Motiv der Habgier (zu Joh 12,6 vgl� Mt 26,15) und des Wirkens des Teufels (zu Joh 6,70 vgl� Lk 22,3)� Vielleicht hat er auch die Tradition von der Verhandlung des Judas mit den Hohenpriestern gekannt, sie aber verschwiegen: Das Passionsgeschehen kommt nicht durch Judas in Gang, sondern, auch in Einzelheiten ( Joh 13,27.30; 18,1-11), durch Jesus, der im Gehorsam gegenüber seinem Vater seine göttliche Sendung vollendet� Joh 13,2 und Joh 13,27 stehen in leichter Spannung zueinander; die Bezeichnungen für den Teufel divergieren ( Joh 13,2 diabolos , Joh 13,27 satanas ), ebenso die Angaben über den Zeitpunkt seines Wirkens; in Joh 13,2 wird vorweggenommen, was in Joh 13,27 erst erzählt wird� Man hat Joh 13,2 der kirchlichen Redaktion zugeordnet 62 ; mittlerweile ist aber umstritten, inwiefern diese kirchliche Redaktion jenseits von Joh 21 überhaupt greifbar ist� Auf der Ebene des Endtextes ist weniger die Frage nach dem Zeitpunkt als die Tatsache des teuflischen Wirkens als solche von Interesse: Jesus nimmt im Gehorsam gegenüber seinem Vater das Leiden auf sich, obwohl alles gegen ihn steht� Er hält das nunmehr beginnende Geschehen nicht auf� 63 60 Das ist noch eine Steigerung gegenüber dem bloßen „Weggehen“ der Jünger; vgl. L. Morris, The Gospel according to John� The English Text with Introduction, Exposition and Notes, NICNT, Grand Rapids 1971 = 4 1977, 390� 61 Darauf macht H� Thyen, Das Johannesevangelium (HNT 6), Tübingen 2 2015, 380 f� aufmerksam� 62 J� Becker, Das Evangelium nach Johannes, ÖTK 4 / 1�2, Gütersloh, Würzburg 3 1991, II 420; ähnlich R� Schnackenburg, Das Johannesevangelium, Bd� III, Kommentar zu Kap. 13-21 (HThK 4 / 3), Freiburg 1975, 18� 63 Vgl� U� Schnelle, Das Evangelium nach Johannes, ThHK 4, Leipzig 1998, 212 f� 22 Martin Meiser Ein zweites Mal wird Judas erwähnt, wenn der Evangelist auf die Heilswirkung der Fußwaschung zu sprechen kommt: Die Jünger bekommen Anteil an der Frucht des Sterbens Jesu, doch nicht alle� Aufgrund des Erzählerkommentars Joh 13,11, der wieder Jesu wunderbares Vorherwissen betont, weiß der Leser, auf wen dieser abschließende Satzteil von Joh 13,10 („doch nicht alle“) zielt� Die Jünger innerhalb der Erzählung wissen es nicht - das soll ähnlich wie in Mk 14,18 dazu führen, „daß jeder von ihnen sich fragen muß: Bin ich es etwa? “ 64 Johannes betont, dass Jesu Hingabe für Judas wirkungslos ist (13,10 f.); Judas hatte sich, anders als Petrus, der reinigenden Liebe Jesu nicht geöffnet 65 � So ist er der Sohn des Verderbens, der verloren ging (vgl� Joh 17,12) 66 � Johannes deutet die Vorstellung an, dass Judas auf ewig dem göttlichen Zorn ausgeliefert sei ( Joh 17,12)� Das ist keine theoretisch gemeinte Aussage über die Prädestination, sondern soll die Leser warnen� Dass Jesus im Voraus um die Tat des Judas weiß ( Joh 13,18), ist ein apologetisches Argument: Das Fehlverhalten des Jüngers widerlegt nicht den Wahrheitsanspruch Jesu� Gegenteilige Vorhaltungen sind ein Motiv der Christentumskritik bei Kelsos, der in der verfehlten Auswahl des Judas durch Jesus dessen Göttlichkeitsanspruch widerlegt sah� 67 Innerhalb von Joh 13,21-30 ist das Motiv der Erschütterung Jesu (es tritt auch in Joh 11,33; 12,27 auf, wenn von der Konfrontation Jesu mit der Macht des Todes bzw� seiner Passion die Rede ist) kein Widerspruch zur Handlungssouveränität Jesu, sondern verweist auf die Schwere des Vergehens seines Jüngers� Dass Jesus „Zeugnis“ ablegt, meint, dass er die Menschen durchschaut (vgl. Joh 2,25; 4,39; 7,7). Die Jünger aber wissen nicht, von wem Jesus redet. Petrus fragt den Lieblingsjünger, der als Symbol für den Anspruch der johanneischen Schule steht, „das Christusgeschehen in all seinen Dimensionen authentisch erkannt, geglaubt und bezeugt zu haben“ 68 � Dass der Lieblingsjünger die Antwort gibt, bezeugt den Anspruch der johanneischen Schule, bei den Gruppen der Jesusanhänger insgesamt (sie sind durch Petrus repräsentiert) reinigend zu wirken� Jesus bezeichnet den Verräter ( Joh 13,26), indem er ihm den Bissen reicht ( Joh 13,27) und ihn zu raschem Handeln auffordert� Jesu ist es, der das Passionsgeschehen in Gang setzt� Nunmehr ergreift der Satan von Judas Besitz� Natürlich ist es nicht der durch Jesus gegebene Bissen, durch den der Satan in Judas fährt, wohl aber ist die Enthüllung durch Jesus „Signalwirkung für den 64 Thyen, Johannesevangelium, 587� 65 R� E� Brown, The Gospel According to John (xiii-xxi), AncB 29 A, Garden City, New York 1970, II, 568� 66 Limbeck, Judasbild, 84, ähnlich Klauck, Judas, 82� 67 Kelsos, bei Origenes, Cels� 2,11� 68 Schnelle, Johannes, 301� Mehr als ein Verräter 23 Teufel, nun in seinem Werkzeug Judas sofort tätig zu werden“ 69 � Die Jünger hingegen verstehen nicht, dass jetzt die Zeit der Trennung von Jesus beginnt� Die Absprache des Judas ist impliziert in der Notiz, dass Judas „hinausgeht“� Der Vermerk „es war aber Nacht“ ist nicht als historisierende Erinnerung gemeint, sondern trägt in sich wohl einen Rückbezug auf Joh 9,4 „Es kommt die Nacht, da niemand wirken kann�“ Das Wirken des Offenbarers in der Welt geht jetzt zu Ende� Nacht ist es aber im übertragenen Sinn für Judas: Er entfernt sich von dem Licht (vgl� Joh 3,19)� 70 Nunmehr ist Jesus mit den Getreuen unter den Jüngern allein - nur ihnen gelten die Abschiedsreden, die die Situation der Kirche angesichts der leiblichen Abwesenheit Christi thematisieren� Narratologisch gesehen zeigt sich: Zeitlich parallel liegen die Vorbereitung dessen, was man Jesus antun wird, und Jesu Verkündigung dessen, was er für die Seinen tun wird ( Joh 13,31-14,31), ebenso das ‘Kommen’ des Fürsten dieser Welt (äußerlich ist wohl Judas Iskariot gemeint; Joh 14,30 f. will aber auch auf symbolischer Ebene das „Kommen“ der Bedrängnis für die nachösterliche Gemeinde besagen) und die Belehrung über das notwendige „Bleiben“ der Jünger� Die Szene der Gefangennahme Jesu ( Joh 18,1-11) ist wiederum sehr stark durch das Motiv der Handlungssouveränität Jesu betont� Judas führt einen aus römischen Soldaten und Mitgliedern der Tempelpolizei bestehenden Kommandotrupp an die Stelle, wo er Jesus vermutet, aber es ist nicht er, der das folgende Geschehen einleitet, sondern Jesus mit seiner Frage „Wen suchet ihr“� Die Frage soll nicht das Nichtwissen Jesu anzeigen, sondern aufgrund der Antwort die Selbstoffenbarung Jesu ermöglichen, „Ich bin es“ (vgl� dazu Joh 13,19 und Ex 3,14)� Judas ist nunmehr nur noch Statist in der Szene� Auf Jesu Antwort hin fallen seiner Gegner zu Boden� 71 Erst die erneute Initiative Jesu ermöglicht die Fortsetzung des Geschehens� Jesus fordert seine Gegner auf, nur ihn allein festzunehmen� Die Flucht der Jünger (Mk 14,50) wird in V� 8 in eine Anweisung Jesu an den Kommandotrupp umgewandelt, sie unbehelligt abziehen zu lassen� Die Anweisung bringt zugleich die Fürsorge für die Seinen zum Ausdruck (vgl� Joh 10,28)� Für den Evangelisten versteht sich von allein, dass Jesu Wort wirkt; eine Reaktion der Häscher wird nicht berichtet. 72 Über das irdische Lebensende des Judas berichtet der Evangelist nichts� Der Leser weiß, welches ewige Ende den Jünger erwartet ( Joh 17,12)� 69 Becker, Johannes II, 432� 70 Brown, John II, 579; für den Bezug auf Joh 3,19 vgl. auch Becker, Johannes II, 432� 71 Vgl� Ps 27,2: „Meine Bedränger und Feinde, sie müssen straucheln und fallen“� 72 Becker, Johannes II, 544� 24 Martin Meiser 3. Schluss Die voranstehenden Ausführungen verdeutlichen, dass die Wirkungsgeschichte der Judasgestalt schon im Neuen Testament beginnt� Historisch ist nur dreierlei klar: 1. Judas war von Anfang an Mitglied des Zwölferkreises; 2. sein Handeln trug dazu bei, dass Jesus gewaltsam zu Tode kam; 3. danach kehrte er nicht mehr in die Gemeinde zurück� Im Markusevangelium wird das Handeln des Judas aus der Erfahrung des Ausgeliefertwerdens in den eigenen Reihen (Mk 13,9�12) reflektiert, aber nicht weiter motiviert. Matthäus schließt in Mt 26,15 diese erzählerische Lücke; Habgier und Heuchelei (Mt 26,50) sind Züge, vor denen die Leser des Matthäus gewarnt werden sollen� Die Reue des Judas (Mt 27,3) wird als Kontrast zur willentlichen Starrköpfigkeit der jüdischen Eliten erzählt� Nicht innergemeindliche Probleme, sondern das Verhältnis zu den nicht an Jesus glaubenden Juden führen für dieses Judasbild die Feder� Lukas sieht in Judas die widergöttliche Macht am Wirken, auf die von außen betrachtet das Leiden Jesu zurückzuführen ist, das aber im Heilsplan Gottes angelegt verstanden werden muss� Der Judaskuss gilt dem Evangelisten als Symbol schlimmsten Vertrauensbruchs, das Ende des Judas als Tod des Gottesfeindes� Johannes thematisiert an der Judasgestalt schließlich das Problem des Abfalls in den eigenen Reihen (vgl� dazu 1�Joh 2,19)� Die wiederholte Betonung dessen, dass Jesus um den Unglauben des Jüngers weiß ( Joh 6,64�70), ist Warnung an die Leser, aber auch Apologetik nach außen, deren Sinnhaftigkeit angesichts späterer Christentumskritik augenfällig wird: Die Wahl eines Jüngers, dessen Handeln zum Gewalttod Jesu beiträgt, widerlegt Jesu Wahrheitsanspruch keineswegs� Zeitschrift für Neues Testament Heft 41 21. Jahrgang (2018) Zum Thema Das Judasevangelium Simon Gathercole Einleitung Als das Judasevangelium im Jahr 2006 erstmals bekannt wurde, erregte es sofort die Aufmerksamkeit der Fachwelt wie auch einer breiteren Öffentlichkeit� Nachdem ich zunächst nur gerüchteweise davon gehört hatte, machte ich erstmals nähere Bekanntschaft mit einem Evangelium unter dem Namen des Judas, als ich mir am 12� März 2006 eine Zeitung kaufte und mein Blick dabei auf ein Sensationsblatt fiel, das auf seiner Titelseite das Judasevangelium als „größte archäologische Entdeckung aller Zeiten“ ankündigte� 1 Einen Monat später erschien der Originaltext des Judasevangeliums mit englischer Übersetzung� Die Entzifferung des Textes war von einem internationalen Forscherteam besorgt worden, dem der schweizerische Koptologe Rodolphe Kasser, der Augsburger Patristiker Gregor Wurst und der amerikanische Gnosis-Forscher Marvin Meyer angehörten� Die Veröffentlichung dieses Evangeliums löste einen Sturm medialer Aufmerksamkeit aus� Die Journalisten versuchten die Wissenschaftler zu der Aussage zu bewegen, dass dieses Evangelium das traditionelle Bild des Christentums revolutionieren würde� Das National Geographic Magazin widmete sich dem Fund ausführlich und produzierte für seinen TV -Kanal eine Dokumentation, in der Jesus zugunsten eines Anscheins von Authentizität Worte des Judasevangeliums in aramäischer Übersetzung sprach� 1 The Mail vom Sonntag, den 12� März 2006� 26 Simon Gathercole Auch Wissenschaftler waren nicht davor gefeit, sensationelle Dinge über das Judasevangelium zu behaupten� Die Äußerung des amerikanischen Textkritikers Bart Ehrman, die Handschrift sei „eine der größten historischen Entdeckungen des 20� Jh�s“, ist allgemein genug, um unstrittig zu sein� 2 Sein Urteil jedoch, dass der Text „neue Wege zu unserem Verständnis Jesu und der von ihm gegründeten religiösen Bewegung eröffnen wird“, 3 ist, wie wir sehen werden, allenfalls eine Halbwahrheit� Seit seiner ersten Ankündigung im Jahr 2006 zieht der Text kontinuierlich das Interesse der Forschung auf sich, auch wenn sich die anfängliche Aufregung gelegt hat� Anfangs sind eine Anzahl von Büchern zum Judasevangelium erschienen� Der Band, dem wir die erste Übersetzung verdanken, enthält außerdem einige Aufsätze zur Interpretation des Textes und zu seinen historischen Ursprüngen� 4 Eine journalistische Darstellung der Fundgeschichte des Manuskripts und seines verschlungenen Weges von einem ägyptischen Grab bis zu seiner schlussendlichen Publikation wurde von National Geographic veröffentlicht, bei dem auch die Rechte am Manuskript liegen� 5 Beide Publikationen liegen auch auf Deutsch vor� 6 Tom Wright, der ehemalige Bischof von Durham, schrieb noch im selben Jahr ein kleines Buch darüber, dass das Judasevangelium nur ein weiteres Beispiel für die Unzuverlässigkeit gnostischer Jesusbilder sei, angesichts der Tatsache, dass diese Jesus von seinen jüdischen Ursprüngen abtrennen� 7 Hinzu kommen mindestens drei Konferenzen über die Schrift und Dutzende von Aufsätzen in Fachzeitschriften� Seit 2006 wurden außerdem neue Fragmente dieses Evangeliums gefunden und in das Puzzle des Manuskripts eingefügt� Irgendwann zwischen den 1970er Jahren, dem mutmaßlichen Zeitraum seiner Auffindung, und den frühen 2000er Jahren, als es ediert und übersetzt wurde, wurde das Manuskript zerstückelt, wohl deshalb, weil man sich vom Verkauf zahlreicher kleinerer Papyrusfragmente einen höheren Erlös versprach als von der Handschrift als ganzer, daher das Auftauchen neuer Fragmente� Obwohl dem Manuskript in unserer Zeit übel mitgespielt wurde (einer der Eigentümer bewahrte es in einer Gefriertruhe 2 R� Kasser / M� Meyer / G� Wurst (Hg�, mit einem ergänzenden Kommentar von B� D� Ehrman), The Gospel of Judas, Washington 2006, Umschlagtext� 3 B� D� Ehrman, Christianity Turned on its Head: The Alternative Vision of the Gospel of Judas, in: Kasser / Meyer / Wurst, Gospel, 77-120, 80. 4 Kasser / Meyer / Wurst, Gospel, 19-45. 5 H� Krosney, The Lost Gospel: The Quest for the Gospel of Judas Iscariot, Washington 2006� Vgl� auch die National Geographic DVD-Dokumentation zum Judasevangelium� 6 R. Kasser / M. Meyer / G. Wurst (Hg.), Das Evangelium nach Judas, Wiesbaden 2006; H� Krosney, Das verschollene Evangelium: Die abenteuerliche Entdeckung und Entschlüsselung des Evangeliums des Judas Iskarioth, Wiesbaden, 2006� 7 N� T� Wright, Jesus and the Gospel of Judas, London 2006� Das Judasevangelium 27 auf! ), ist es vergleichen mit anderen antiken Handschriften nicht allzu schlecht erhalten, und mit den neuerdings entdeckten Fragmenten besitzen wir wahrscheinlich 85 bis 90 Prozent des Gesamttextes� Unter den neueren Publikationen ist dementsprechend besonders auf eine aktualisierte Edition zu verweisen, die die im Laufe der Zeit aufgefundenen Fragmente berücksichtigt und dem koptischen Originaltext eine englische Übersetzung zur Seite stellt� 8 Die meiste öffentliche Aufmerksamkeit hat das Judasevangelium wegen seiner radikalen Reinterpretation des Verrates Jesu durch Judas auf sich gezogen� Dieser Verrat hat nach der Auffassung dieses neuen Evangeliums nicht die Verdammnis des Judas durch Gott nach sich gezogen, sondern es handelte sich um eine Tat, zu der Jesus seinen Segen gab� Jesus tut Judas kund, dass er verglichen mit den anderen Jüngern und dem Rest der Menschheit „sie alle übertreffen“ wird� „Denn du wirst den Menschen, der mich trägt, opfern“ (p� 56)� 9 Die Handschrift und ihre Herkunft Das erhaltene Manuskript des Judasevangeliums ist in der alten ägyptischen Sprache des Koptischen geschrieben, die von der Sprache herkommt, die in Hieroglyphen geschrieben wurde, die sich aber des griechischen Alphabets bedient, zuzüglich einiger Sonderzeichen� Das Evangelium umfasst 26 Papyrusseiten, die freilich sehr klein sind� Das Werk ist nicht länger als beispielsweise der Epheserbrief� Es handelt sich nicht um eine Rolle, sondern um einen Kodex, 8 L� Jennott, The Gospel of Judas: Coptic Text, Translation, and Historical Interpretation of „The Betrayer’s Gospel“, Tübingen 2011� 9 Übersetzung hier und nachfolgend aus: G� Wurst, Das Judasevangelium, in: C� Markschies / J� Schröter (Hg�), Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, I. Band: Evangelien und Verwandtes, Teilband 2, Tübingen 2012, 1220-1234. Dr. Simon Gathercole, geb� 1974, studierte Klassische Philologie und Theologie am King’s College (Cambridge) und erwarb einen PhD an der Universität Durham� Er ist Autor mehrerer Bücher aus dem Bereich des Neuen Testaments und der frühchristlichen Evangelien, darunter The Gospel of Judas (Oxford, 2007) und The Gospel of Thomas (Leiden, 2014)� Er war Herausgeber des Journal for the Study of the New Testament und ist nun Mitherausgeber der Zeitschrift Early Christianity � Gegenwärtig ist er Reader in New Testament an der Universität Cambridge und Director in Studies in Theology am Fitzwilliam College, Cambridge� 28 Simon Gathercole also ein gebundenes Buch ähnlich zu den Texten, die 1945-1946 in der Nähe von Nag Hammadi in Ägypten gefunden wurden (Die Handschrift wird üblicherweise als Codex Tchacos bezeichnet, nach dem Namen ihrer zeitweiligen Eigentümerin)� Der Papyrus, auf dem der Text geschrieben ist, wurde mit der Carbon-Methode auf das 3� oder 4� Jh� n� Chr� datiert und die Schreibweise datiert zweifelsfrei in die Antike, d� h�, es handelt sich nicht um eine moderne Fälschung wie im Falle des sogenannten „Evangeliums der Ehefrau Jesu“� Unser Exemplar des Judasevangeliums scheint nicht weit von seinem Fundort entstanden zu sein, etwa 100 km südlich von Kairo� Die Sprache zeigt Einflüsse des koptischen Dialekts dieser Region� 10 Dies gilt aber nur vom erhaltenen Manuskript� Tatsächlich ist das Judasevangelium wesentlich älter als die im 4� Jh� entstandene Handschrift� Die erhaltene koptische Version geht mit größter Wahrscheinlichkeit auf ein griechisches Original zurück, das ca� auf 140 bis 170 n� Chr� zu datieren ist� Der terminus ante quem ist gesichert durch die erste Erwähnung bei den Kirchenvätern� Irenäus bezieht sich in seinem Werk Adversus haereses auf eine Schrift gleichen Namens und auf dessen Trägerkreis: „Andere wiederum lassen den Kain von der oberen Macht abstammen und bekennen Esau, Kore, die Sodomiten und ähnliche als ihre Verwandten, die zwar von ihrem Schöpfer gehasst würden, aber doch nichts Schlimmes von ihm erlitten hätten� Denn die Sophia nahm das von ihnen, was ihr Eigentum war, zu sich� Das habe auch der Verräter Judas genau gewusst; er allein habe die Wahrheit erkannt und das Geheimnis des Verrates vollendet; er habe alles Irdische und Himmlische getrennt. Diese Dichtung nennen sie das Evangelium des Judas“ (Adv. haer. I,31,1-2). 11 Zweihundert Jahre später, im Jahr 370, finden wir die nächste Erwähnung des Judasevangeliums bei Bischof Epiphanius von Salamis� Seinem Panarion („Hauspotheke“ gegen die Häeresien) zufolge war das Judasevangelium ein „kurzes Werk“ ( syntagmation ), was dazu passt, dass es wesentlich kürzer ist als die synoptischen Evangelien� Er erwähnt auch den Namen der Gruppe, die sich dieses Evangeliums bedienten, angeblich die Kainiten, die ihren Namen von Kain herleiteten ( Panarion 38,1,5)� 12 Im 5� Jh� ist es Theodoret, der sich als letzter Kirchenvater mit dem Werk auseinandersetzt� Augenscheinlich argumentiert 10 Zu all dem vgl� R� Kasser, The Story of Codex Tchacos and the Gospel of Judas, in: Kasser / Meyer / Wurst, Gospel, 47-76. 11 Übersetzung: Des heiligen Irenäus fünf Bücher gegen die Häresien, Bd� 1� Aus dem Griechischen übersetzt von E� Klebba (BKV 1� Reihe), München 1912, 91� 12 Die Kainiten sind bereits aus Kirchenvätertexten des 3� Jh�s bekannt, aber obwohl ihr Name vielfach in modernen Irenäus-Editionen enthalten ist, geht er höchstwahrscheinlich nicht auf Irenäus selbst zurück� Das Judasevangelium 29 er gegen die Zuschreibung an den Jünger Judas mit dem Argument, dass dieser sich bereits kurz nach dem Verrat erhängt hat, mithin gar nicht in der Lage gewesen sei, ein Evangelium zu verfassen (Kompendium I,15)� Es ist gut möglich, dass das Judasevangelium, mit dem sich die Kirchenväter befasst haben, mit dem uns bekannten wesentlich identisch ist� Dafür spricht zumal dies, dass es den Vätern als Schrift von geringem Umfang bekannt ist� Andererseits gibt es auffällige Unterschiede zu den patristischen Darstellungen� Erkennbar hat das Judasevangelium kein Interesse an Kain, ganz im Gegenteil: In unserem koptischen Text ist Seth der Urahn der Gnostiker� Aber dessen ungeachtet ist ein Zusammenhang zwischen unserem (möglicherweise mit unterschiedlichen Werktiteln überlieferten) Judasevangelium und der (möglicherweise in Teilen entstellenden) Darstellung der Kirchenväter wahrscheinlich� Das Judasevangelium: Inhalt und Bedeutung Die neue Sicht auf Judas und den Verrat bildet nicht den Fokus des Evangeliums� Sein Interesse gilt vielmehr der verborgenen Offenbarung über das Wesen der Welt und der Erlösung, die Judas von Jesus zuteilwird� Das Hauptthema des Judasevangeliums ist gnōsis , das geheime Wissen, das die Wissenden erlöst von der Sklaverei dieser gegenwärtigen, missgestalteten Welt und sie zurückführt zu jenem spirituellen Licht, von welchem das eigene, wahre Selbst ausgegangen ist� Das Judasevangelium kann, soweit wir dies aus dem fragmentierten Zustand der Handschrift rekonstruieren können, grob in zwei Hauptteile untergliedert werden� Die erste Hälfte besteht aus einem Dialog zwischen Jesus und seinen sämtlichen Jüngern, und die zweite hauptsächlich aus einem Dialog mit Judas, einschließlich einer ausgedehnte Abhandlung Jesu über die erwähnte gnōsis , das geheime Wissen� Die beiden Hauptteile sind gerahmt von einem Prolog, der ein Summarium des Wirkens Jesu enthält, und ein Epilog, der den „Verrat“ Jesu durch Judas thematisiert� Am Ende der Handschrift ist der Werktitel notiert� Prolog (p. 33) Das Judasevangelium beginnt mit einer Ankündigung seines Inhalts: „Das geheime Wort der Offenbarung, mit welchem Jesus mit Judas Iskariot gesprochen hat, während acht Tagen, drei Tage, bevor er das Pascha gefeiert hat“ (p� 33)� Hier wird deutlich, um was für eine Schrift es sich handelt, um ein Evangelium, das in mancher Hinsicht dem Thomasevangelium und dem Evangelium der Maria gleicht� Es ist keine Erzählung vom öffentlichen Wirken Jesu, seinem Tod und seiner Auferstehung, wie wir sie von den vier neutestamentlichen Evangelien kennen� Vielmehr liegt eine geheime Offenbarung an ein Individuum vor� Die Offenbarung findet ihren Abschluss „drei Tage, bevor er das Pascha gefeiert 30 Simon Gathercole hat“, möglicherweise deshalb, weil in der traditionellen Darstellung der Passion die Verschwörung gegen Jesus zwei Tage vor dem Passafest in Gang kommt (Mk 14,1)� Summarium des Wirkens Jesu (p. 33) Die Einleitung des Evangeliums enthält sodann einen Abschnitt, der Jesu öffentliches Wirken beschreibt: „Als er auf der Erde erschienen war, hat er Zeichen und große Wunder getan für das Heil der Menschheit. Und da zwar einige auf dem Weg der Gerechtigkeit wan[delten] und andere in ihren Übertretungen wandelten, wurden die zwölf [ Jün]ger beru[fen]. Er fing an, mit ihnen über die innerweltlichen Geheimnisse zu sprechen sowie über die Dinge, die am Ende geschehen werden� Mehrmals aber zeigt er sich seinen Jüngern nicht, sondern … [als Kind] findest du ihn in ihrer Mitte.“ (p. 33). Abgesehen von dieser merkwürdigen Notiz über die Weise des Erscheinens Jesu ist dies eine recht konventionelle Beschreibung dessen, was Jesus während seines Wirkens getan hat� Das Evangelium führt uns dann aber unvermittelt auf weit weniger vertrautes Terrain� Teil 1: Dialog zwischen Jesus und den Jüngern (p. 33 - 34) Der Dialog zerfällt in drei Teile, von denen jeder an einem anderen Tag stattfindet� Am ersten Tag kommt Jesus zu den Jüngern, um die „Eucharistie“ zu feiern� Dies ist der erste Hinweis auf einige etwas anachronistische Elemente in diesem Evangelium, auch wenn die Stelle möglicherweise nur von einer „Danksagung“ der Jünger für ein Mahl handelt� Die noch größere Überraschung besteht aber jedenfalls in der Antwort Jesu an seine Jünger: „Und eines Tages war er in Judaea bei seinen Jüngern, und er fand sie, wie sie versammelt dasaßen und sich in der Frömmigkeit übten� Als er seine Jünger getroffen hatte, wie sie versammelt dasaßen und Dank sagt[en] über dem Brot, lachte er. Die Jünger [aber] sprachen [zu ihm]: ,Meister, warum lachst du über [unsre] Danksagung? Oder was haben wir getan? [Dies] ist es (doch), was sich ziemt (zu tun)! ‘ Er antwortete und sprach zu ihnen: ,Über euch lache ich nicht, ihr tut dies (ja) auch nicht a[uslachen Jesu, eu]rem (eigenen) Willen, sondern (weil) dadurch euer das Gott Lobpreis [empfangen wird]‘“ (p. 33-34). Das Lachen Jesu, ein Topos mittelalterlicher christlicher Debatten und ein Thema in Umberto Ecos Der Name der Rose , überrascht an dieser Stelle� Dabei lacht Jesus nicht über die Jünger selbst, sondern sein Spott gilt ihrem Handeln� Sie mögen der Ansicht sein, dass sie mit dieser Eucharistie dem wahren Gott dienen, tatsächlich begehen sie jedoch eine Form der Idolatrie� Hier stoßen wir auf die Das Judasevangelium 31 grundlegende Unterscheidung des Judasevangeliums zwischen dem Gott Jesu (der so überlegen ist, dass er nicht „Gott“ genannt werden kann) und dem Gott der Jünger� Auf der einen Seite gilt es die wahre, höchste Gottheit, die „großer unsichtbarer Geist“ genannt wird, und im Gegensatz dazu auch ein minderwertiges Wesen, der geringere, böse Demiurg Saklas (zu diesem später mehr)� Die Jünger wurden von verirrten himmlischen Mächten getäuscht, sodass sie diese falsche, böse Gottheit anbeten� Es bedarf keiner besonderen Vorstellungskraft, um der extratextuellen Referenz an dieser Stelle ansichtig zu werden� Eindeutig liegt hier eine Polemik gegen die etwa zeitgleich von dem paganen Philosophen Kelsos so genannten „Großkirche“ vor, gegen die Christenheit, die sich auf die zwölf Jünger gründete, und die für ihre Unterweisung in Anspruch nahm, dass sie auf die Lehre der Apostel zurückging� Dagegen vernehmen wir im Judasevangelium die Stimme einer dissidenten gnostischen Gruppe, die in einer unerbittlichen Opposition zur „Großkirche“ stand� Nach den Begebenheiten des ersten Tages verschwindet Jesus� Der zweite Tag beginnt damit, dass Jesus wieder erscheint, und er erklärt, dass er während seiner Abwesenheit von seinen Jüngern eine „große und heilige Generation“ besucht habe, offensichtlich eine Art von Wesen, die den götzendienerischen Jüngern weit überlegen sind� Die Jünger befragen ihn über diese Generation und wiederum lacht Jesus, nun über die Torheit ihres Versuchs, etwas zu ergründen, das unendlich weit jenseits ihres Fassungsvermögens liegt� Damit setzt sich die Polemik fort: Die Gnostiker sind diese überlegenen Wesen, die von den minderwertigen Falschgläubigen nicht erfasst werden können und für die Jesu Spott fast schon zu viel der Ehre ist� Am dritten Tag erhalten die Jünger den heftigsten Schlag� Sie berichten Jesus von einer gemeinschaftlichen Vision, in welcher Priester in einem Tempel Opfer darbringen: „Sie aber [sprachen: ,Wir haben] ein großes [Haus gesehen, in dem sich ein gro]ßer Altar [befindet, un]d zwölf Menschen - wir (würden) sagen, dass es Priester sind - und ein Name <…>. Ein Menge (Menschen) aber harrt aus an jenem Altar, [bis] die Priester [die Darbringung] der Opfer [vollendet haben]. Wir aber harten aus‘. J[esus sprach]: Von welcher [Art sind …? ] Sie aber [sagten: ] Einige nun fas[ten] zwei Wochen [lang. Andere] aber opfern ihre eigenen Kinder, andere ihre Frauen, sich segnend [und] in gegenseitiger Demut; andere schlafen mit Männern, andere sind dabei zu morden, wieder andere begehen viele Sünden und Ungerechtigkeiten�“ (p� 38)� Bei diesen Priestern handelt es sich eindeutig nicht um gewöhnliche treue Diener Gottes, da sie in der Vision des Mordes, homosexuellen Verhaltens, des Kinderopfers und anderer Handlungen schuldig sind, die sämtlich als gleich widerwärtig gelten� Jesus gibt dann eine Deutung dieser Vision: Die Priester sind 32 Simon Gathercole die Jünger selbst! Auch hier setzt sich der Angriff auf die nichtgnostische Kirche fort: Die Autoritäten der unerleuchteten Pseudo-Christen sind korrupte Priester, die die armen, unwissenden Massen in die Irre führen� Im Laufe dieser drei Tage angespannter Diskussionen zwischen Jesus und den Jüngern hat gleichwohl einer der Zwölf ein Verständnis für die esoterischen Lehren Jesu entwickelt� Judas hat erkannt, wer Jesus wirklich ist: „Judas sprach zu ihm: ,Ich weiß, wer du bist und von welchem Ort du gekommen bist� Du bist aus dem unsterblichen Äon der Barbêlô gekommen; und derjenige, der dich gesandt hat, ist es, dessen Namen auszusprechen ich nicht würdig bin�“ (p� 35) Jesus ist also nicht ein Sohn des Gottes, der in der Eucharistie verehrt wird, sondern ein Botschafter aus dem Äon der Barbêlô, gesandt von der höchsten Gottheit (Barbêlô ist eine weibliche oder androgyne Gottheit, eine aus der höchsten gnostischen Hierarchie, wenngleich nicht selbst die höchste Gottheit)� Da Judas sich würdig erwiesen hat, weitere gnōsis zu erhalten, nimmt Jesus ihn beiseite: „Da aber Jesus wusste, dass er an das übrige Erhabene dachte, sprach er zu ihm: ,Trenne dich von ihnen, und ich werde dir die Geheimnisse des Königreiches sagen, nicht damit du dorthin gehst, aber du wirst mehr seufzen� Denn ein anderer wird an deinem Platz sein, damit die zwölf [ Jünger] wieder vollendet werden durch ihren Gott.“ (p. 35-36). Diese Stelle knüpft an das traditionelle Bild des Judas an, einschließlich seines Kummers, von dem in Mt 27 die Rede ist und der Nachwahl eines Jüngers an seiner statt zu Beginn der Apostelgeschichte� Dass aber Jesus Judas herausgreift und ihn zum exklusiven Empfänger von Offenbarung macht, ist völlig neu� Teil 2: Dialog zwischen Jesus und Judas. Der Schöpfungsmythos. Judas wird nun von seiner hoffnungslosen Verbindung mit den Jüngern befreit� Obwohl er einst an der Eucharistie teilgenommen hat, hat er mehr und mehr seinen Irrtum eingesehen und sich von den anderen zurückgezogen� Es ist dieser zweite Teil der Schrift, die allem Anschein nach das Versprechen des Prologs einlöst, dass Judas von Jesus geheime Offenbarungen erhält� Bei diesen Offenbarungen geht es schwerpunktmäßig um die Geschehnisse der Schöpfung� Es handelt sich freilich nicht um eine Schöpfung vertrauten Zuschnitts, da wie gesagt eine scharfe Unterscheidung zwischen der höchsten Gottheit und dem Schöpfergott vorausgesetzt ist� Es handelt sich um einen gattungstypischen gnostischen Offenbarungsdialog, entsprechend der Beschreibung gnostischen Denkens durch die frühesten Kirchenväter wie auch durch pagane Philosophen: Der Schöpfer der Welt ist nicht nur, ja nicht einmal unfähig, sondern schlicht böse, und deshalb ist die Welt, die von diesem bösen Schöpfer geschaffen wur- Das Judasevangelium 33 de, ihrerseits böse� Das Drama dieser Schöpfung beginnt in der reinen, guten Sphäre� Die Geschichte nimmt ihren Anfang mit einer großen Wolke aus Licht, wahrscheinlich eine Repräsentation des „Großen Unsichtbaren Geistes“, und von dieser Wolke geht ein großer Engel aus, genannt „Autogenes“ (ein griechischer Name, der „selbsterzeugt“ bedeutet)� Er heißt „Licht-Gott“ und ist damit eine eigene Figur, die die höchste Realität des Heiligen repräsentiert� Dieser Autogenes erschafft nun seinerseits eine Anzahl von himmlischen „Lichtern“ (die Bezeichnung der Genesis für Sonne und Mond), Myriaden von Engeln zu seinen Diensten und, kennzeichnend für gnostische Schöpfungsmythen, die „Äonen“� Diese Äonen sind himmlische Sphären oder Zeitzonen mit einem Abwärtsdrall: Sie sind zugleich quasi-personale göttliche Wesen und zwölf von ihnen verbinden sich beispielsweise zur Bildung eines Nachkommen des Autogenes, des himmlischen Urmenschen „Adamas“� Dieser Adamas lässt weitere Kreaturen ins Sein treten und auch die Lichter generieren weitere Lichter� Diese verwickelte Ereignisfolge ist der erste Teil des „Mythos“ des Judasevangeliums: „[Komm,] damit ich dich belehre über die […] sie (pl) sehen wird das menschliche Ge[schlecht]. Denn es existiert ein großer und unendlicher Äon, dessen Maß (noch) kein Engelsgeschlecht gesehen hat, [in dem der] große unsichtbare [Geist ist,] den kein Engelsauge je gesehen und kein Herzensgedanke je erfasst hat und der mit keinem Namen je benannt worden ist. Und es offenbarte sich an jenem Ort eine Lichtwolke� Und er ( scil � der Geist) sprach: ,Es möge ein Engel entstehen zu meinem Beistand�‘ Und es kam ein großer Engel heraus aus der Wolke, der Autogenes, der Gott des Lichts und es entstanden seinetwegen vier weitere Engel aus einer anderen Wolke� Und sie entstanden zum Beistand des Engel Autogenes� Und der Autogenes sprach: ,Es möge A[damas] entstehen‘. Und es geschah, [wie er gesagt hatte]. Und er erschuf den ersten Erleuchter, um über ihn zu herrschen� Und er sprach: ,Es mögen Engel entstehen zu seiner Verehrung‘. Und es entstanden zehntausende ohne Zahl. Und er [sprach]: ,Es möge entstehen ein lichter Äon! ‘ Und er entstand� Er errichtete den zweiten Erleuchter, um über ihn zu herrschen, und zehntausende von Engeln ohne Zahl zur Verehrung� Und auf diese Weise hat er die übrigen Äonen des Lichts erschaffen und ließ sie über sie herrschen� Und er erschuf für sie zehntausende von Engeln ohne Zahl zu ihrer Unterstützung.“ (p. 47-48). Dieser Passus vermittelt einen Eindruck von der Offenbarung, die im Judasevangelium enthalten ist� Bis hierher sind wir auf zwei hauptsächliche Unterschiede zwischen dieser Schöpfungsdarstellung und derjenigen der Genesis gestoßen� Erstens konzentriert sich die Darstellung nicht auf das schöpferische Handeln einer einzelnen Figur, nämlich Gott� Sie gleicht eher einer Genealogie: A erschafft B, welcher C erschafft, und so weiter� Zweitens ist unser gnostischer Autor der Ansicht, dass der Verfasser der Genesis voreilig auf die Erschaffung 34 Simon Gathercole des materiellen Kosmos zu sprechen gekommen sei� Bereits vorher müsse es, wie einige von Platon beeinflusste Theologen meinten, eine ideale himmlische Welt gegeben haben, bevor die irdische Welt nach ihrem Bild geformt ins Dasein treten konnte� Aber es gibt noch weitere Abweichungen von der biblischen Version der Schöpfungsgeschichte� An einer Stelle innerhalb der Kaskade an Schöpfungsakten ist etwas schief gelaufen, ein gemeinsames Thema aller gnostischer Schöpfungsdarstellungen, entweder als eine Art Sündenfall, wahrscheinlicher aber eine alternative gnostische Erklärung des Bösen, nicht als singulärer Fall, sondern ein graduelles Schwächerwerden des Lichts, je größer der Abstand zur ursprünglichen Quelle der Lichtwolke wird� Nach den ersten Schöpfungsakten begegnen wir dem Kosmos - nicht die materielle Welt, denn wir befinden uns noch immer in den Sphären der himmlischen Formen der irdischen Welt, die nach diesen Formen gestaltet wird� Gleichwohl: Bereits dieses archetypische Urbild ist verdorben� Das Judasevangelium nennt den Kosmos „Verderben“ (p� 50)� Die Erschaffung der materiellen Welt und der Menschen ist deshalb nicht das Werk der obersten Gottheit� Vielmehr sind hierbei Akteure ganz anderer Art beteiligt: „[… D]anach sprach […]: ,Es mögen entstehen zwölf Engel [um zu] herrschen über das Chaos und die [Unterwelt]‘. Und siehe, es erschien ein [Engel] aus der Wolke, dessen Gesicht Feuer sprühte, seine Gestalt aber war von Blut be[fleckt], wobei er den Namen ,Nebro‘ trug, welchen man mit ,Abgefallener‘ übersetzt hat, andere aber mit ,Ialdabaôth‘� Und noch ein weiterer Engel namens Saklas kam aus der Wolke� Nebro also erschuf sechs Engel, und Saklas (tat ebenso? ), zum Beistand� Und diese brachten zwölf Engel in den Himmeln hervor, und sie empfingen jeder ihren Teil in den Himmeln�“ (p� 51)� Wir erfahren sodann, dass diese dämonische Figur namens Saklas derjenige war, der das erste Paar erschaffen hat: „Daraufhin sprach Saklas zu seinen Engeln: ,Lasst uns einen Menschen erschaffen nach dem Gleichnis und dem Bild�‘“ (p� 52)� Adam und Eva sind also nicht Geschöpfe des gutartigen höchsten Gottes wie in der Genesis� Sie haben in der Sequenz der Erschaffungen ihren Platz nach den Herrschern der Unterwelt und des Chaos, die alle von der bösen Gottheit Saklas (das aramäische sakla heißt „Dummkopf “) und seinen angelischen Lakaien hervorgebracht wurden� Wie in der Genesis bilden Adam und Eva den Abschluss der Schöpfungswerke, aber im Judasevangelium sind sie nicht die Krone der Schöpfung, sondern sie werden zuletzt geschaffen, weil sie der Abschaum sind� Um aber zu angenehmeren Dingen zurückzukehren: Nebenbei haben wir bereits die schöpferischen Aktivitäten des Adamas angesprochen� In der Genesis ist Adams wahrer Erbe Seth, durch den die Menschheit sich fortpflanzt� Das Judasevangelium 35 Adamas, das himmlische Gegenstück zu Adam, hat seinerseits einen himmlischen Sohn namens Seth, und im Judasevangelium wie auch anderswo in der gnostischen Tradition ist er der erste der großen, heiligen Generation, von der Jesus im ersten Teil des Evangeliums spricht� Die Nachkommen von Adamas und Seth sind nichts geringeres als das wahre himmlische Selbst der kleinen Gruppe der gnostischen Jünger� Die wahre, heilige Generation, die die korrupte „apostolische Kirche“ spirituell weit überragt, hat ihre wirkliche Identität in den urzeitlichen Geistern, die von Adamas abstammen� Dies ist das Hauptthema des Judasevangeliums: Dass die materielle geschaffene Welt böse ist und dass unser wahres, geistliches Selbst in diesem materiellen Körper gefangen ist, der eigentlich gar nicht zu uns gehört� „Erkenntnis“ ( gnōsis ) ist der Weg, den Körper zu transzendieren und mit der höchsten, guten Gottheit durch die mentale Aktivität zu kommunizieren, die sich über die materielle Sphäre empor zu schwingen vermag� Der Umstand, dem das Evangelium seine Berühmtheit verdankt, dass nämlich Judas Empfänger der Offenbarung ist, ist im Evangelium selbst nicht von entscheidender Bedeutung� Gleichwohl: Judas erweist sich als Priester des „Großen Unsichtbaren Geistes“ und er unterscheidet sich darin von den Jüngern, die korrupte Priester in jenem Tempel sind, den die Jünger in ihrer Vision am dritten Tag geschaut haben� Judas bringt das ultimative „Opfer“ dar, während die anderen Jünger diejenigen sind, die „dem Saklas Opfer darbringen“, so Jesus zu Judas: „Derjenige, der mich trägt, wird morgen gequält werden� Amen, ich sage euch: Nicht wird eine Hand eines sterblichen Menschen sich an mir vergehen (…)� Du aber wirst sie alle übertreffen� Denn du wirst den Menschen, der mich trägt, opfern“ (p� 56)� Bemerkenswert ist die strikte Unterscheidung zwischen dem „wirklichen“ Jesus und seinem physischen Körper, der ihn lediglich „trägt“, vergleichbar einem Fahrzeug� Diejenigen, die in die Kreuzigung Jesu involviert sind, unterliegen also einer Täuschung, wenn sie denken, dass sie Jesus Schaden zufügen, wo sie dieses doch tatsächlich keineswegs tun� Was allerdings geschieht, ist dies, dass Judas den Körper, der den Geist Jesu herumträgt, „opfert“, mit der Folge, dass Judas eine eminente Statussteigerung erfährt: Er ist nun den anderen elf Jüngern, die den Saklas verehren, weit überlegen� Einige Ausleger verstehen den Text sogar so, dass er zur großen Wolke aufsteigen wird wie ein wahrer Gnostiker� Diese Frage hat die Forschung zum Judasevangelium schon früh beschäftigt: Andere sehen in Judas im Gegenteil einen Dämon, der die niedrigsten Kreise des Infernos anführte� Es verhält sich wohl so, dass er eine Mittelposition zwischen den wahren Gnostikern und den inferioren Lakaien des Saklas innehat, die Jesus den „dreizehnten Äon“ nennt� 36 Simon Gathercole Epilog: Der Verrat (p. 58) Nach der schwer verständlichen Offenbarung an Judas und der abschließenden Anrede Jesu an ihn kehrt die Handlung zurück zu Ereignissen, die uns aus den kanonischen Evangelien vertrauter sind: Die Hohepriester waren empört darüber, dass er, Jesus, sich zum Gebet in sein Quartier zurückgezogen hatte� Einige der Schriftgelehrten lauerten ihm dort auf, um ihn beim Gebet zu verhaften� Sie fürchteten nämlich die Bevölkerung, die ihn durchweg für einen Propheten hielt� Und sie drangen bis zu Judas vor und sprachen ihn an: „Was tust du an diesem Ort? Du bist (doch) der Jünger Jesu! Er aber antwortete ihnen gemäß ihrem Willen� Judas aber empfing Geld und überlieferte ihn an sie�“ (p� 58)� So endet das Judasevangelium� Der Verrat selbst wird nur ganz kurz erwähnt, und das Ende ist dementsprechend abrupt� Die Hohepriester suchen nach einer Möglichkeit, Jesus zu verhaften, sind aber auch nervös wegen seiner Populatität bei den Leuten, die in ihm einen Propheten sehen� Sie wenden sich an Judas, der sich von ihnen bezahlen lässt und Jesus ausliefert� Ende der Geschichte� Das wirkt, wenn man mit den neutestamentlichen Evangelien und ihren ausführlichen Schilderungen von Kreuz und Auferstehung vertraut ist, merkwürdig� Aber diese evidente Antiklimax des Judasevangeliums macht deutlich, worum es nach den Worten des Prologs geht: Nicht um historische Ereignisse, sondern um „das geheime Wort der Offenbarung“� Titel (p. 58) Der Titel, „Das Evangelium des Judas“, ist keine moderne Erfindung, sondern derjenige Titel, der, wie in koptischen Texten weithin üblich, am Ende der Handschrift selbst notiert ist� Die „gute Nachricht“ bzw� das „Evangelium“ besteht nicht darin, das Jesus für unsere Sünden stirbt, sondern in der Zueignung der „Erkenntnis“, die an mehreren Stellen im Text erwähnt wird und die von Jesus an Judas besonders in der langen Unterweisung über das Wesen der Welt und der Erlösung gegeben wird� Mit der Wahl des Titels „Evangelium“ reiht sich das Werk unter kanonische wie nichtkanonische Schriften derselben Gattung ein� Wir wissen nicht, wieviele Jesus-Darstellungen vor dem Judasevangelium verfasst wurden, aber man kann wohl davon ausgehen, dass sein Verhältnis zu diesen anderen Texten recht unterschiedlich war� Es will erkennbar die kanonischen Evangelien weit hinter sich lassen, stand aber gewiss in freundlicheren Relationen mit anderen gnostischen Evangelien wie etwa dem Ägypterevangelium� Das Judasevangelium 37 Zur Bedeutung des Judasevangeliums Wir haben bereits die Aufregung angesprochen, die die Publikation des Judasevangeliums ausgelöst hat� Für viele ist es nicht einfach eine weitere gnostische Schrift, die in einem ägyptischen Kodex enthalten ist� Wir besitzen davon eine ganze Menge aus derselben Zeit und doch waren etwa der Zostrianos , die Hypsiphronē oder die Dreigestaltige Protennoia zu keiner Zeit Thema für aufsehenerregende Bücher, die über Wochen auf der Bestseller-Liste der New York Times standen� Fraglos hat das Judasevangelium in gewissem Maße das öffentliche Interesse erregt und zugleich auch nicht geringe Aufmerksamkeit in der Forschung auf sich gezogen� Gleichwohl ist so manche Behauptung seiner Bewunderer mit einer gewissen Vorsicht zu genießen� Wir werfen zunächst einen Blick auf Themen, für die das Judasevangelium direkt etwas austrägt, und wenden uns dann zurück bis in die Zeit Jesu� Das Judasevangelium und der Gnostizismus Eine der kompliziertesten Fragen in der Geschichte des frühen Christentums ist der gnostische Schöpfungsmythos, von dem wir weiter oben eine Momentaufnahme erhalten haben� Wo hat er seinen Ursprung? Ist er von Hause aus jüdisch, pagan oder christlich? Wie hat er sich entwickelt? Wir kennen diesen Mythos aus den erhaltenen Quellen in mehreren Versionen, in Irenäus’ Adversus haereses , in den verschiedenen Fassungen des Johannesapokryphons und in den bei Nag Hammadi neu entdeckten Texten wie etwa dem Eugnostosbrief oder dem Ägypterevangelium 13 � Nun betritt also das Judasevangelium die Szene: Diejenigen, die die Idee einer bereits vorchristlichen gnostischen Mythologie favorisieren wie etwa Marvin Meyer, sind besonders an der Frage interessiert, zu welchen Anteilen das Judasevangelium auf „jüdische gnostische Überlieferung“ zurückgeht 14 � Andererseits haftet das Interesse derjenigen Forscher, die von der Theorie ein vorchristlichen jüdischen Gnosis nicht überzeugt sind, mehr an einer Verortung des Judasevangeliums im Blick auf die Ausprägungen dieses Mythos, wie sie im 2� Jh� greifbar sind� „Gnostizismus“ und „Christentum“ im 2. Jh. Die Neubewertung des Gnostizismus in der vorigen Generation hat dezidiert die Position vertreten, dass Gnostiker genauso wie orthodoxe Christen waren, mit beiden Gruppen als Teil des großen Schmelztiegels frühchristlicher Glaubensweisen� Schwierig ist daran, dass allzu oft keine der beiden Seiten die jeweils 13 Vgl� hierzu die eindringliche Darstellung von A� Logan, Gnostic Truth and Christian Heresy: A Study in the History of Gnosticism (Edinburgh: T&T Clark, 1996)� 14 M. Meyer, ‘Introduction’, in Kasser et al., Gospel of Judas, pp. 1-16 (10). 38 Simon Gathercole andere als Teil derselben Bewegung anerkannt hat� Beispielsweise hat Irenäus die Gnostiker keinesfalls als Christen anerkannt und ebenso waren die Gnostiker nicht der Auffassung, dass sie zusammen mit den „Orthodoxen“ eine einzige (wenngleich unglückliche) Familie bildeten� Wenn man diese Gruppen sämtlich unter die eine Kategorie des Christlichen fasst, bedient man damit gegenwärtige ideologische Absichten (die freilich auch dort vorliegen, wo man auf einer Trennung beharrt), trägt aber wenig zum Verständnis des Phänomens bei� Dabei ist gerade das Judasevangelium ein interessantes Beispiel für die Tendenz, den hässlichen Graben zwischen Gnostikern und Orthodoxie im 2� Jh� zu betonen� Die „Großkirche“ wird, wie wir sahen, als korrupt verspottet� Es ist bemerkenswert, dass Jesus einen zentralen Platz im Evangelium einnimmt, zugleich aber von einer anderen Figur, genannt „Christus“ deutlich abgesetzt wird� Dieser Titel bezieht sich im Judasevangelium auf einen der von Saklas geschaffenen bösen Götter der Unterwelt� Die Referenzen Jesu als jüdischer Messias sind damit vom Tisch gewischt zugunsten seiner Rolle als gnostischer Offenbarer� Das Judasevangelium und das christliche Kerygma Dieses neue Evangelium nimmt, wie wir sahen, einen unkonventionellen Standpunkt gegenüber den traditionellen christlichen Positionen der ersten beiden Jahrhunderte ein� Dies wird beispielweise deutlich anhand der paulinischen Zusammenfassung des christlichen Kerygmas in 1Kor 15,3 f�, „dass Christus gestorben ist für unsre Sünden nach der Schrift, und dass er begraben worden ist, und dass er auferweckt worden ist am dritten Tage nach der Schrift“� Die entscheidenden Elemente des Evangeliums, die Paulus hier präsentiert, sind im Judasevangelium kaum mehr wiederzuerkennen� Jesus ist, wie wir sahen, vor allem nicht „der Christus“� Außerdem stirbt Jesus nicht wirklich, vielmehr ist sein Körper nur etwas, das nur lose mit ihm verbunden ist� Folglich kann er auch nicht auferweckt werden und für einen Gnostiker wie den Verfasser des Judasevangeliums ist der Gedanke, Jesus könnte erneut mit einem physischen Körper verbunden werden, nachdem sein vorheriger Körper gestorben ist, nicht im mindesten erstrebenswert� Was die heilvollen Ereignisse betrifft, die von Jesus „gemäß den Schriften“ ins Werk gesetzt wurden, so passen auch diese ganz und gar nicht zum Judasevangelium� Wie sich zeigte, macht dieses Evangelium Gebrauch vom Alten Testament, besonders von der Schöpfungserzählung in Genesis 1 f� Aber dieser „Gebrauch“ bedeutet, diese gegen den Strich zu lesen und sie im Wesentlichen neu zu schreiben� Unter den Nag-Hammadi-Texten gibt es eine auch im Berliner Kodex enthaltene Schrift mit dem Titel „Apokryphon (d� h� geheimes Buch) des Johannes“, das dem Judasevangelium theologisch sehr nahe steht� Dieses Apokryphon des Johannes macht ebenfalls ausführlich Gebrauch vom biblischen Buch Genesis, fügt aber bei der Schöpfungserzählung Das Judasevangelium 39 mehrfach die Bemerkung, „Es ist nicht so, wie Mose sagte“, ein� Der Verfasser des Judasevangeliums hätte dem völlig zugestimmt� In den kanonischen Evangelien finden wir die traditionelle christliche Botschaft von Jesu Tod und Auferstehung nach den Schriften klar widergespiegelt� Im Judasevangelium werden dagegen zentrale Elemente dieser Botschaft unterminiert� Hinweise auf das erste christliche Jahrhundert? Es ist in der Forschung zum Judasevangelium aktuell weithin anerkannt, dass die Chancen, diese Schrift könnte auf das 1� Jh� zurückgehen oder uns gar Nennenswertes darüber sagen, äußerst gering sind� Der praktisch flächendeckende Konsens geht dahin, dass das Judasevangelium in die Mitte des 2� Jh�s gehört� Hierfür sprechen aus Sicht der Mehrheit der Forschenden vor allem Motive wie „Äon“, sowie Figuren wie Barbêlô, Autogenes und Adamas, sämtlich wichtige Bestandteile der Gnosis des 2� Jh�s, jedoch unbekannt im 1� Jh� Zu den Indizien, die von der Forschung bereits namhaft gemacht wurden, lässt sich noch das Bild der Kirche ergänzen, wie es im Judasevangelium vorausgesetzt ist� Wir erwähnten bereits die Tempelvision, in der die Jünger ihrer selbst als verkommene Priester ansichtig werden� Hier werden die Autoritäten der entstehenden orthodoxen Kirche als Priester dargestellt, die in einem Tempel an einem Altar Opfer darbringen� Diese Zeichnung des christlichen Gottesdienstes ist vor dem Ende des 1� Jh�s schwer vorstellbar� In einem anfänglichen Stadium finden wir dies im 1� Klemensbrief und der Didache, christlichen Schriften vom Ende des 1� und beginnenden 2� Jh�s Gregor Wurst hat sich dafür ausgesprochen, dass die Trennung des Judas von den übrigen Jüngern und seine anschließende Ersetzung durch einen anderen zeigt, dass unser Verfasser die Darstellung der Apostelgeschichte von der Nachwahl des Matthias kannte, und er dürfte damit recht haben 15 � Noch deutlicher ist möglicherweise die Abhängigkeit des Judasevangeliums vom Matthäusevangelium� Allem Anschein nach hat die matthäische Bearbeitung des Markusstoffs am Ende des Werkes das Judasevangelium beeinflusst: „Einige der Schriftgelehrten lauerten ihm dort auf, um ihn beim Gebet zu verhaften� Sie fürchteten nämlich die Bevölkerung, die ihn durchweg für einen Propheten hielt.“ (p. 58; vgl. Mt 21,46). Ein anderer Hinweis liegt mit der der im Judasevangelium verwendeten Phrase „Weg der Gerechtigkeit“ vor, die im Neuen Testament nur in Mt 21,32 vorkommt� Weitere Beispiele wären zu 15 G� Wurst, ‘Irenaeus of Lyon and the Gospel of Judas’, in Kasser, et al� eds, The Gospel of Judas, pp. 121-135 (132-133). Die Parallelen beziehen sich auf Apg 1,21-26 und p. 36 des Kodex� 40 Simon Gathercole ergänzen� 16 Das Judasevangelium ist deshalb später als das Matthäusevangelium zu datieren, was die Sicht stützt, dass es sich um ein Werk des 2� Jh�s handelt� Hinweise auf Jesus? Vorausgesetzt, dass das Judasevangelium nicht im 1�, sondern im 2� Jh� entstanden ist, wird die Annahme schwierig, dass es Traditionen über Jesus enthalten könnte, die von den vier neutestamentlichen Evangelien unabhängig sind� Die Augenzeugen des irdischen Wirkens Jesu sind zur Zeit der Abfassung des Judasevangeliums längst tot� Die Distanz zwischen dieser Schrift und dem historischen Jesus wird dort besonders deutlich, wo sie Jesus vom Judentum abtrennt� Jesus erscheint in keiner Weise als Erfüllung jüdischer Heilserwartungen, noch ist Jesu Jude-Sein irgendwo integraler Bestandteil seiner Persönlichkeit� Tatsächlich zeigt seine Persönlichkeit noch nicht einmal menschliche Züge� Dies ist ein anderes theologisches Thema, an dem deutlich wird, dass sich der Jesus des Judasevangeliums weit von seinen jüdischen Wurzeln entfernt hat� Die uns bereits geläufige Bestimmung des Judas, den Mann zu opfern, der Jesus lediglich „herumträgt“, macht hinreichend deutlich, dass wir es im Judasevangelium mit einer nicht-humanen Christologie zu tun haben: Jesus ist kein wirklicher, jüdischer Mensch, sondern er bleibt ein reiner göttlicher Geist, der von menschlichem Fleisch in keiner Weise affiziert wird, auch dann nicht, als er auf Erden Offenbarung kundtut� Dementsprechend sagt das Judasevangelium auch nichts über die liebende Selbsthingabe Jesu am Kreuz� Tatsächlich ist dies etwas, das mir bei der Abfassung meines eigenen Buches über das Judasevangelium plötzlich klargeworden ist: In der ganzen Schrift geht es nicht an einer einzigen Stelle um Liebe, sei es göttliche oder menschliche� Fazit Das Judasevangelium bietet uns, wie wir sahen, einen faszinierenden Einblick in die turbulente Beziehung zwischen Christentum und Gnostizismus im 2� Jh� n� Chr� und seine Präsentation des gnostischen Schöpfungsmythos wird jene tapferen Seelen, die sich vorgenommen haben, seine Entwicklung zu erforschen, sicherlich vor zusätzliche Herausforderungen stellen� Man sollte freilich äußerst zurückhaltend gegenüber der Behauptung sein, dass es uns „neue Wege zu unserem Verständnis Jesu (…) eröffnen wird“� Wir finden hier wenig, das als historisch zuverlässig gelten kann� Nichts von dem, was im Judasevangelium neu ist, kann vernünftigerweise als historisch fundiert gelten� Schließlich ist es 16 Vgl� hierzu meine Überlegungen in Simon Gathercole, The Gospel of Judas (Oxford: Oxford University Press, 2007), 132-149. Das Judasevangelium 41 schwer vorstellbar, dass Leserinnen und Leser des 21� Jh� seine Vision von einem irgendwie lieblosen, seinem Körper enthobenen Jesus in irgend einer Weise theologisch attraktiv finden könnten� Weiterführende Lektüren H� Krosney, Das verschollene Evangelium: Die abenteuerliche Entdeckung und Entschlüsselung des Evangeliums des Judas Iskarioth, Wiesbaden 2006 (Die offizielle Darstellung des National Geographic Magazins über die Entdeckung und die Geschichte der Handschrift)� R� Kasser / M� Meyer / G� Wurst (Hg�), Das Evangelium nach Judas, Wiesbaden 2006 (Deutsche Übersetzung des Textes und Essays zu Fragen der Textinterpretation)� S� Gathercole, The Gospel of Judas, Oxford 2007 (Englische Übersetzung mit gemeinverständlicher Einleitung und Kommentar)� H�-G� Bethge / J� Brankaer, Codex Tchacos: Texte und Analysen, Berlin 2007 (Koptischer Text mit paralleler deutscher Übersetzung und ausführlichem wissenschaftlichem Kommentar)� Nag Hammadi Deutsch: Studienausgabe� Eingeleitet und übersetzt von Mitgliedern des Berliner Arbeitskreises für Koptisch-Gnostische Schriften, Berlin 2007 (Dem Judasevangelium verwandte Texte in deutscher Übersetzung)� C� Markschies, Die Gnosis, München 2011 (Eine kurze und erschwingliche Einführung zu den maßgeblichen Gestalten aus dem 2� Jh und aus späterer Zeit, die eine Theologie der Erlösung durch gnōsis bzw� Wissen propagiert haben)� B� Aland, Die Gnosis, Stuttgart 2014 (Eine weitere kurze Einführung in die Gnosis)� Zeitschrift für Neues Testament Heft 41 21. Jahrgang (2018) Judas: Wenn der Verworfene zum Modell wird Zugänge zu einer narrativen Ethik im Johannesevangelium Fredrik Wagener Wer ist Judas? Die Frage nach Judas’ Identität - danach, wer er war und was ihn bewegte - hat schon viele Menschen bewegt und viel Kreativität freigesetzt� Im Johannesevangelium ist Judas Iskariot wohl die tragischste Figur und zugleich für den Handlungsverlauf - abgesehen von Jesus - eine der bedeutsamsten� Im Sprachgebrauch ist Judas ein Synonym für ‚Verräter‘, eine Bezeichnung, die man anderen gibt, mit der man sich aber keinesfalls selbst bezeichnet oder gar identifiziert� Judas scheint als Figur, die auf der ‚Bühne‘ der Jesus-Erzählung auftritt, nur für eine Außenperspektive geeignet zu sein� Wie sollte er also zum Modell werden, wie die Überschrift es nahelegt? Der Ansatzpunkt dafür ist denkbar naheliegend in den Evangelien selbst zu finden� Als Jesus beim letzten Passahmahl vor seiner Kreuzigung im Kreis der Zwölf ankündigt, einer von diesen Vertrauten würde ihn an seine Feinde verraten, fragt jeder einzeln „Bin ich’s? “� 1 Eine Frage, die wir als Leser, mitlesen; eine Frage, die wir mitstellen: Könnte, würde, werde ich solch ein Verräter werden? Dies ist der Weg den narrative Ethik beschreitet� Ein Weg, der sich in die Erzählung hineinbegibt und ihr folgt - aber auch ein Weg, bei dem sich der Leser als Gegenüber zur Erzählung positioniert� Damit wird schon deutlich, dass dieser Ansatz den historischen oder auch impliziten Autor und Entstehungs- 1 Mk 14,19 parr� 44 Fredrik Wagener kontext des biblischen Textes ausklammert� Es geht bei der narrativen Ethik damit um zwei Perspektiven: Einerseits kommen die Normen und Bewertungen von Verhalten und Eigenschaften anhand der ‚Auftritte‘ von Judas in den Blick - also das, was die Erzählung präsentiert� So werden Figuren als Vorbilder zur Nachahmung oder als Mahnbilder (d� h� als Abschreckungsbeispiel) präsentiert� Andererseits geht es um ethische Impulse oder Reflexionen, die im Leseprozess wirksam werden - also das, was beim Lesen im Leser vorgeht� Der Leser ist eingeladen, die Erzählung als ethisches Spielfeld wahrzunehmen, Verhaltensweisen und Einstellungen zu beobachten, mögliche Konsequenzen mitzuerleben, eigene Reaktionen und Emotionen festzustellen, ethische Erfahrungen zu machen� Nach Paul Ricœur ereignen sich solche „Gedankenexperimente“ kontinuierlich beim Lesen und die Leser machen so „Forschungsreisen durch das Reich des Guten und Bösen“� 2 Figuren eröffnen dem Leser dabei im Besonderen die Möglichkeit sich selbst zu begegnen� Diese Perspektive kann und will nie erklären, was jeden Leser bewegt oder moralisch formt, sondern Horizonte aufzeigen, zwischen denen sich Ethik bewegt� Damit dieses Vorgehen nicht in einer Beliebigkeit der Assoziationen eines einzelnen Lesers mündet, gilt es, das methodische Vorgehen deutlich zu machen und abzusichern� Da hier weitgehend Ergebnisse dargestellt werden und auch die theoretische Diskussion ausgespart wird, sei dazu auf die Ausführungen in meiner Dissertation (Figuren als Handlungsmodelle, Mohr Siebeck 2015) verwiesen� Nun entstammt das eingangs präsentierte Beispiel, das eine Identifikation mit Judas auszulösen vermag (die Jüngerfrage „Bin ich’s“), gerade nicht dem Johannesevangelium� In der Darstellung der Szene dort ( Joh 13,21 ff�) bleibt offen, ob die Verlegenheit oder Bestürzung (gr� aporoumenos ) der Jünger sich eher auf eine Unsicherheit in Bezug auf das eigene Tun oder auf Angst und Misstrauen gegenüber den anderen bezieht� Aber damit hat bereits die exegetische Untersuchung einer Einzelszene begonnen, die hier zu Gunsten eines Überblicks (über die Figur Judas in den Evangelien und im Johannesevangelium) noch einmal zurück gestellt werden soll� In allen vier kanonischen Evangelien ist Judas ein Jünger aus dem engsten Jüngerkreis um Jesus (einer der Zwölf) und zugleich derjenige, der Jesus verrät� Die Synoptiker beschränken seine Auftritte auf die Nennung in der Zwölferliste, den ‚Verkauf ‘ von Jesus an die Hohepriester, die Ankündigung des Verrats durch Jesus beim Passamahl und den Verrat durch einen Kuss im Garten Gethsemane - sämtliche Auftritte liegen also zeitlich innerhalb der Passionspassage und hängen direkt mit dem Verrat zusammen� Im Joh variiert diese Darstellung� 2 P� Ricœur, Das Selbst als ein anderer, München 1996, S� 201� Judas: Wenn der Verworfene zum Modell wird 45 Im Gegensatz zu den Synoptikern spielt der johanneische Jesus das Verrats- und Aussonderungsmotiv mehrfach auch schon deutlich vor der Passionspassage ein, wobei der Erzähler dies zum Teil als auf Judas bezogen erklärt� Einen eigenen Schwerpunkt bekommt Judas in drei Szenen: In 12,4 f� stellt er eine kritische Anfrage gegen die Salbung Jesu durch Maria, in 13,21-30 kündigt Jesus Judas’ Überlieferung an und Judas verlässt die Jüngergemeinschaft, in 18,3-6 schließlich führt Judas die Soldaten zu Jesus, damit diese ihn gefangen nehmen� Zudem wird innerhalb der Szene des Bekenntnisses der Zwölf (6,67-71) sowie im Kontext der Fußwaschung unmittelbar vor der Überlieferungsankündigung (13,1-20) z. T. namentlich auf ihn verwiesen. Weiterhin bezieht sich der Ausdruck ‚Sohn des Verderbens‘ in Jesu Gebet (17,12) auf Judas� Eine letzte Anspielung auf Judas findet sich in 21,20 am Ende des Evangeliums in einem Rückverweis auf die Überlieferungsankündigung (13,21-30). Hingewiesen sei darauf, dass das griechische Wort paradidomi hier meist mit ‚überliefern‘ übersetzt wird, um das negativ konnotierte Wort ‚verraten‘ zu meiden� Im Folgenden wird die Figur Judas zweifach entfaltet� Zunächst erfolgt ein exegetischer Kommentar entlang der Auftritte von Judas� In einem Schnelldurchlauf werden die oben genannten Szenen besprochen, wobei einzelne Schlaglichter geworfen werden� In einem zweiten Schritt wird eine Auswahl ethischer Implikationen hervorgehoben� Judas im Johannesevangelium-- die Auftritte Der erste Auftritt von Judas Iskariot in 6,70 ist von besonderer Bedeutung, weil der sogenannte Primäreffekt die weitere Wahrnehmung einer Figur besonders prägt - so wie die letzte Nennung (Rezenzeffekt) besonders in Erinnerung bleibt� Unmittelbar vor dieser ersten Nennung verweist der Erzähler bereits darauf, dass Jesus wisse, wer ihn überliefern werde (6,64)� Dies ist insofern überraschend, als der Wechsel von den Ungläubigen - die das eigentliche Thema der Szene Dr. Fredrik Wagener, Jahrgang 1985, studierte Evangelische Theologie (sowie Mathematik und Erziehungswissenschaften) in Bielefeld und absolvierte eine Ausbildung zum Theaterpädagogen� Ab 2011 forschte er in Mainz im Rahmen des Zentrums für Ethik in Antike und Christentum an der Johannes Gutenberg-Universität zu den Charakteren und der Ethik des Johannesevangelium� 2015 wurde er in Mainz promoviert� Seit Abschluss seines Referendariats 2016 ist er als Lehrer an einem Mainzer Gymnasium tätig� 46 Fredrik Wagener sind - zum Überlieferer einen Gedankensprung voraussetzt� Damit ist bereits die Negativkonnotation des Verbs paradidomi (überliefern) eingeläutet: Unglaube und Überliefern gehören zusammen� Wer dieser Überliefernde ist, ist hier noch eine Leerstelle, die aber wenig später gefüllt wird� In 6,70 ist der Kontext Jesu Frage an die Zwölf, ob sie ihn - wie viele andere - auch verlassen wollen� Die Wortkombination ‚auch ihr‘ (gr�: kai hymeis ) wird später in Joh 13 mehrfach aufgegriffen� Sprachlich ist die Parallele in 9,27 im Mund des Blindgeborenen bemerkenswert� Nur in diesen beiden Versen taucht die Wortfolge ‚wollt auch ihr …? ‘ (gr� mē kai hymeis thelete ) auf� Jeweils bildet eine stark polarisierende Positionierung zu Jesus - durch Ablehnung oder Nachfolge - den inhaltlichen Kontext� Jesus fragt nach dem Abwenden aus seiner Jüngerschaft, der Blindgeborene nach dem Eintritt� Beides mal bleibt der status quo erhalten, wie das einleitende mē bereits impliziert� Zusammen gelesen spannen die beiden Fragen einen Dualismus auf, der eine Reaktion auf die Begegnung mit Jesus fordert: entweder Jünger werden oder weggehen� Eine dritte Option gibt es nach dieser Lesart nicht� So muss jede Figur - und jeder Leser - entscheiden, was er will (gr� thelō )� Allerdings scheint ein zeitliches Aufeinanderfolgen der Reaktionen nicht ausgeschlossen (vgl� Judas’ Hinausgehen in 13,30)� Erst das Ende der Erzählung macht eine Entscheidung endgültig� In 6,69 knüpft Jesus an Petrus’ Bekenntnis mit der Frage nach der Erwählung der Zwölf an� Sind die Zwölf im Gegensatz zu anderen bei Jesus geblieben, hebt Jesus ihren Status noch an, indem er sie als ‚erwählt‘ bezeichnet� Umso deutlicher ist der Kontrast, den Jesus aufmacht, indem er einen von den Zwölf als Teufel (gr� diabolos ) stigmatisiert� Durch die genaue Festlegung auf eine Figur wird eine Spannung zwischen dem Einen , dem Teufel, und den übrigen Elf aufgebaut� Während der Erzähler im Folgevers Judas als diesen Teufel für den Leser identifiziert, wissen die Jünger davon nichts� Für sie ist er einer von ihnen und gehört genauso dazu wie die übrigen� Damit prägt das Vorwissen des Lesers die Wahrnehmung anders, als diese innerhalb der erzählten Welt unter den Figuren herrscht� Der Erzähler begründet die Bezeichnung Jesu noch mit Judas’ Überlieferungsabsicht� Dabei lässt das griechische emellen offen, ob Judas eigenmächtig wählt, Jesus zu überliefern, oder fremdbestimmt dazu auserkoren wurde� Für letzteres spricht 6,65, wo nach dem ersten Verweis auf den Überlieferer die Entscheidung über Glaube oder Unglaube in Gottes Verantwortung gegeben wird� Aber auch wenn unsicher bleibt, inwiefern Judas selbst von dieser zukünftigen Handlung weiß, ist diese Handlung die für Judas zentrale� Bei jedem seiner Auftritte wird sie erwähnt� Wie auch Simon Petrus (in 1,42) wird Judas eingeführt, indem der Name seines Vaters (Simon) angefügt wird� Dies ist nur einer von vielen Anhaltspunkten Judas: Wenn der Verworfene zum Modell wird 47 für eine Parallelisierung� Markant ist in dieser Szene, dass Petrus die Zwölf mit seinem Bekenntnis vertritt, während Judas in dieser Gruppe stigmatisiert wird� Judas bleibt aber ausdrücklich „einer der Zwölf “ (6,71)� Diese ausdrückliche Integration wird neben Judas nur noch Thomas (20,24) zuteil� Inhaltlich teilt dieser abschließende Halbsatz dem Leser keine neue Information mit� Er unterstreicht an dieser Stelle jedoch den dramatischen Moment� Die bittere Erkenntnis, dass der Überlieferer zum engsten und sogar ausgewählten Vertrautenkreis Jesu gehört, steht am Ende der Szene� Judas’ erste Szene zeigt insgesamt eine Diskrepanz zwischen zwei Bewertungen auf und hierarchisiert diese� Zum einen die äußere Zugehörigkeit zum engsten Jüngerkreis, zum anderen die stärker gewichtete Verteufelung, die bereits mit dem Überlieferungsmotiv, dem (noch) nicht Sichtbaren, verbunden ist� Damit steht Judas von Beginn an zwischen zwei Extrempolen, in einem Widerspruch von Schein und Sein� Die Unterordnung des öffentlich Sichtbaren unter die Identität ist aber keine Absage an moralisches Handeln, sondern verschiebt das Bewertungskriterium auf die Person� Weitergeführt erhöht diese ‚Verschiebung‘ die Notwendigkeit der Reflexion für den Einzelnen, da es nicht genügt, sich irgendwo anzuschließen und sich gleich zu verhalten (wie Judas, der mit den anderen Elf bei Jesus bleibt), sondern jegliches Tun eigens und ehrlich motiviert sein muss� Judas’ zweite Nennung und der erste Auftritt, bei dem er in Aktion tritt, erfolgen in 12,1-8. Hier ergreift er erst- (und ein-)malig das Wort und wird durch den Erzähler markant negativ charakterisiert� Die Szene bildet den Abschluss der Erzählung von der Auferweckung des Lazarus� Jesus und seine Jünger sind erneut in Bethanien, wohl bei Lazarus, Maria und Martha� Martha bedient (12,2), wobei auffällig ist, dass der Vers mit einem Plural beginnt� Wer Jesus das Essen zubereitet, ist damit nicht eindeutig; eine (nach 11,17-45) plausible Deutung ist, dass Maria damit gemeint ist� Martha ordnet sich durch ihre Handlung den Anwesenden unter� Es entfaltet sich in der Figurenkonstellation folgende soziale Hierarchie� Martha nimmt die unterste Position ein (vgl� die Diener in Joh 2)� Jesus, dem das Mahl gilt, steht an der Spitze der Rangordnung - erzählerisch besitzt Jesus ohnehin die höchste Autorität unter allen Figuren� Marthas Bruder Lazarus wird im Gegensatz zu ihr mit den Gästen auf eine Stufe gestellt� Maria bleibt ungenannt und kann nur mutmaßlich mit Martha auf einer Stufe eingeordnet werden� Somit ist ein hierarchisches Setting am Anfang der Szene installiert� In diesem Setting setzt die Handlung ein� Maria salbt Jesu Füße und trocknet sie mit ihrem Haar - hierarchisch ist spätestens hier die Unterordnung klar� Besonders auffällig sind die sinnliche Ausschmückung, die Steigerung der persönlichen Geste durch mehr Verben als bei der ersten Nennung dieses Gesche- 48 Fredrik Wagener hens (in der Prolepse in 11,2) und die Betonung von Menge (ca� 327g) und Wert des Salböls� Durch den olfaktorischen Ausdruck wird der Leser stärker in die Situation hineingenommen� Für heutige Leser wirkt die Szene möglicherweise befremdlich, aber durch die ausgedrückte Wertschätzung Jesu ist sie in jedem Fall positiv� Mit Judas und seiner Anfrage (11,4 f�) kündigt sich ein Umbruch an� Er wird als Kontrastfigur zu Maria profiliert� Durch seine Negativzeichnung in seiner ersten Szene ist hier nun nichts Positives zu erwarten� Die Negativkonnotation wird explizit in Erinnerung gerufen, indem das Überlieferungsmotiv aus 6,71 erneut genannt wird� In der Hierarchie nimmt Judas (explizit als einer der Jünger bezeichnet) seine Position auf mittlerer Ebene innerhalb der Gästegruppe ein� Judas adressiert niemanden konkret� So scheinen nicht nur alle Anwesenden als implizite Adressaten angesprochen, sondern auch der Leser, der so zu Reflexion des Erzählten geleitet wird: Ist Marias Wertschätzung gegenüber Jesus uneingeschränkt positiv, wie die Darstellung es vermuten ließ? Judas formuliert eine Alternativhandlung und fragt, warum diese nicht gewählt wurde� Judas scheint auf eine gewohnte Sitte, das Almosengeben, Bezug zu nehmen� Somit setzt er der konkreten Handlung Marias an Jesus eine abstrakte allgemeine gute Tat entgegen� Durch die Formulierung im Passiv bleibt offen, ob Maria den Verkauf und die Almosenverteilung hätte unternehmen sollen - oder Jesus oder gar jemand Drittes? Liest man die Rückfrage nicht sachlich, sondern als Forderung einer Rechtfertigung, ergibt sich ein anderes Bild: In dem vom Duft angefüllten Haus ergreift Judas das Wort und wertet Marias Salbung ab� Er bringt sie, die sich bereits erniedrigte, subtil in die Rolle einer Angeklagten� Mit einem plausiblen Einwand ist sie und ihr Liebesdienst diffamiert und alle Anwesenden erwarten ihre Rechtfertigung (vgl� auch zur Situation die angeklagte Frau in 8,3 f�)� Ob nun abwertend oder neutral - was Judas anspricht, klingt einleuchtend� Der Leser ist jedoch vorgewarnt, dass er kritisch lesen soll� Wenn der negativ stigmatisierte Judas die Frage stellt, kann sie nicht rechtmäßig sein� Judas liefert aber auch ein neues Detail - den bislang unbekannten immensen Gegenwert der Salbe (ca� ein Jahreslohn eines Tagelöhners)� Zum einen steigert diese Information die Jesus entgegenbrachte Wertschätzung Marias� Sie hat ihm nicht nur etwas „Kostbares“ (12,3) gewidmet, sondern einen unglaublich großen Wert - mutmaßlich sogar ihren kostbarsten Besitz - an ihn verschenkt� Zwar kann über den Besitz der Betanischen Geschwister kaum eine Aussage getroffen werden, doch dass Martha das Bedienen übernimmt und keine Bediensteten wie bei der Hochzeit (2,1-11) oder dem königlichen Beamten (4,51) erkennbar sind, spricht gegen Reichtum� Diese Information sagt aber auch etwas über Judas aus� Er kann einschätzen, wieviel ein Verkauf der Salbe einbringen würde und auch die große Summe von 300 Denaren ist ihm nicht fremd� Oder ist die Nennung Judas: Wenn der Verworfene zum Modell wird 49 der Summe nur eine Übertreibung und soll das Ausmaß der Verschwendung verdeutlichen? Dann würde Judas’ Aussage aber ironisch und sein Anliegen, das Geld den Armen zu geben, wirkte lächerlich� Einen Transfer der moralisch guten Forderung auf Judas’ Charakter wird vom Erzähler in 12,6 unterbunden� Er deckt Judas’ Motivation auf und macht ihn somit zum Heuchler� Außerdem belegt er ihn mit einem weiteren negativen Merkmal. Judas ist ein Dieb (vgl. dazu 10,1-10, wo der Dieb der Gegenspieler zu Jesus, dem guten Hirten, ist)� Explizit wird ihm die Sorge um das Ergehen der Armen abgestritten� Dass er stattdessen das Geld für sich (oder für die Jünger) habe hinterziehen wollen, legt der Ausdruck Dieb nahe� Er sammelt auch Geld, wobei der griechische Text nicht eindeutig sagt, ob er Geld veruntreut oder in die Kasse einsammelt� Ferner wird Judas als ‚Kassenwart‘ der Jüngergruppe um Jesus vorgestellt� Wie die finanzielle Situation der Jünger vorzustellen ist, bleibt weitgehend unklar (vgl� auch 6,7)� Jesus wirkt jedenfalls am Umgang mit Geld unbeteiligt und überlässt diesen seinen Jüngern� Die Verknüpfung der Figur Judas mit dem Motiv ‚Geld‘ ist markant� Als Kassenträger, Geldsammler und Werteinschätzer ist er die Figur mit der stärksten Affinität zum Geld (auch wenn die synoptische Tradition der Bezahlung für die Überlieferung Jesu 3 im Johannesevangelium nicht erwähnt wird)� So kann Judas’ Negativzeichnung als Negativkonnotation für Finanzielles gelesen werden� Im Anschluss an die Erklärung durch den Erzähler weist Jesus - als höchste Autorität - Judas scharf zurecht (12,7)� Er verteidigt Maria, begründet ihr Tun und nivelliert Judas’ Alternativvorschlag� Die Hierarchie der Szene wird durch Jesu Eingreifen aufgehoben� Judas, der als Gast über Maria steht, stärkt seine Position durch die Rechtfertigungsforderung in 12,5� Sein scheinheiliger Vorschlag sichert ihm die Zustimmung der Anwesenden und festigt seine hierarchische Position� Jesus jedoch wertet Maria auf und durch die harsche Antwort an Judas diesen ab� Er durchbricht die konventionelle Hierarchie, auf der Judas Maria dominieren kann� Indem Jesus als Zweck der Salbung sein Begräbnis nennt, wird Maria auch Judas gegenübergestellt� So fungieren Maria und Judas als Kontrastfiguren in Musterrollen einer möglichen Vorbereitung auf Jesu Tod� Maria salbt ihn, Judas plant, ihn auszuliefern� Hinsichtlich einer ethischen Lesart ist natürlich auch Jesu Reaktion zu Judas’ Alternativvorschlag interessant� Diesem wird nicht prinzipiell widersprochen, er wird nur für unzeitig erklärt� Marias Handlung ist nur in einem bestimmten Zeitfenster möglich - dem von Jesu leibhaftiger Gegenwart� Die Präsenz von 3 Vgl� Mk 14,10 f parr� 50 Fredrik Wagener Armen wird über einen konkreten Zeitraum hinaus für immerwährend erklärt� Somit würde die daraus abgeleitete Forderung lauten: Solange Jesus da ist, ist ihm Gutes zu tun, sobald er nicht da ist, sind Arme zu versorgen� Jesu Satz lässt sich so aber nicht für den Leser pauschalisieren� Weder ruft Jesus zu weiteren ‚Liebestaten‘ an ihm auf, noch leitet Jesus aus der Möglichkeit des Almosengebens einen Aufruf dazu ab - die Entscheidung scheint er den Hörern (und Lesern) vielmehr selbst zu überlassen� Dabei greift Jesus in seinem Parallelismus das gleiche Verhältnis von Abstraktion und Konkretion auf, das bereits Judas in seiner Anfrage deutlich werden ließ� Der unspezifischen Größe der Armen stellt er sich als Individuum gegenüber� Die Bewusstmachung der abstrakten Formulierung ist wichtig, da konkrete Arme schließlich ja gerade nicht ewig leben, aber die soziale Gruppierung fortwährend besteht� Dieser Sammelbegriff wird Jesu Hinwendung zum Einzelnen, der kontinuierlich erzählt wurde, nicht gerecht� So scheint er sogar das Almosengeben als solches zu ironisieren� Wenn es Judas nur darum geht, Armen Geld zu geben und er keine konkrete Situation, kein konkretes Notleiden, nennen kann, ist dies zumindest nicht akut wichtig� Eine solche Lesart rückt das ‚Immer‘ der Möglichkeit der Armenversorgung nah an ein ‚Nie‘ der Notwendigkeit der Armenversorgung� Im Kontext von narrativer Ethik kann dies als Plädoyer dafür gelesen werden, dass ein allgemeines Prinzip ohne Anbindung einer konkreten Situation seine Gültigkeit insofern verliert, als seine Relevanz nachgeordnet wird� Im Sinne einer Metareflexion sei noch auf eine dritte Möglichkeit - jenseits von Marias Tun und Judas’ Vorschlag - hingewiesen: das Salböl bzw� dessen immensen Gegenwert für sich zu behalten� Was für Maria narrativ nicht erwogen wird, berichtet der Erzähler über Judas� Er möchte das Geld für sich haben� Seine Anfrage muss umgedreht werden: Was ist eine legitime Alternative zum Almosen geben? Diese Frage beantwortet diese Szene narrativ� Die Alternative zum Spenden ist nicht Luxus sondern eine Liebestat� Insgesamt bietet die Szene viele solcher Leerstellen, auch bzgl� des Verhaltens der Figuren und der Einstellungen von ihnen zueinander, z� B� sind Marias Reaktion und die der anderen Gäste auf Judas Wortmeldung ausgespart� So schafft die Szene einen Spielraum, sich als Leser in der Situation zu positionieren und mögliche Reaktionen abzuschätzen� Dadurch dient sie als ethisches Spielfeld, um eine Konfliktsituation mit Aggression, Rechtfertigungsforderung, Verteidigung, Gruppendynamik und Hierarchiegefälle zu erleben� Im Anschluss an die Lazarus-Episode (12,12) wird deutlich, dass mit Jesu Einzug in Jerusalem nun der Ort, an dem er sterben wird, erreicht ist� Nach einer letzten Rede dort (12,44-50) ist Jesus nur noch mit seinen Jüngern (mutmaßlich den Zwölf) zusammen� Judas: Wenn der Verworfene zum Modell wird 51 Die dritte Szene, in der Judas genannt wird, umfasst beinahe das gesamte Kapitel Joh 13� Insgesamt (und insbesondere im Vergleich mit der synoptischen Parallele) fällt auf, wie stark Judas’ Überlieferungstat und Aussonderung aus dem Jüngerkreis in diese Szene hineingewoben ist� Gleich zu Beginn wird die Begründung (und Motivation) aufgedeckt, warum Judas Jesus überliefert� Ein übernatürlicher Auslöser wird genannt� Der Teufel (gr� diabolos ), mit dem Judas in seiner ersten Szene gleichgesetzt wurde, tritt handelnd in Aktion� Allerdings kann diese Formulierung auch als sprachliches Bild für das Treffen einer bösen Entscheidung, das Fassen seines teuflischen Überlieferungsplanes, fungieren� Dass nicht nur Judas allgemein, sondern sein Herz betroffen ist, verstärkt seine Einordnung in die Sphäre des Bösen� Das Herz (gr� kardia ) ist als Zentrum des Inneren, von Leben und Gefühlswelt, Entscheidungen und geheimer Erkenntnis der entscheidende Kern des menschlichen Selbst� Wird so die Negativzeichnung weiter untermauert, bleibt allerdings offen, wie groß der Anteil an persönlicher Schuld und bewusstem Wissen sind� Die Handlung setzt in 13,4 ein� Jesus wäscht seinen Jüngern (und damit auch Judas) die Füße. Jesus selbst bringt sich in die Dienerposition (vgl. 2,1-11 und 12,2)� Diese symbolisch stark aufgeladene Szene wird von Jesus zweimal gedeutet� Zum einen erklärt er die Fußwaschung als Akt zur Anteilhabe an ihm (6-10), wobei Judas als nicht-rein von dieser Möglichkeit ausgeschlossen wird. Zum anderen deutet er sie als Beispielhandlung (13-18), wobei Judas trotz seiner Erwählung aus der Seligkeitsverheißung ausgeschlossen wird� Bei beiden Aussonderungen von Judas aus dem Jüngerkollektiv verschweigen sowohl Jesus als auch der Erzähler dessen Namen, sodass die Nennung nur implizit über das Überlieferungsmotiv erfolgt� An dieser Stelle wird nun erläutert, warum Jesus jemanden erwählt, von dem er weiß, dass er ihn überliefern wird und der sogar ein Teufel ist� Die Begründung ist die Erfüllung einer alttestamentlichen Prophezeiung� Dabei spielt das Psalmzitat (Ps 41,10) sowohl die psychisch-soziale Dimension der Überlieferung - den Vertrauensbruch des Brotessenden - als auch die physische Dimension ein - der Tritt als Zeichen der bevorstehenden Gewalt� 13,21 schildert eine Stimmungsänderung Jesu und setzt somit eine Zäsur� Da Gefühle im Johannesevangelium selten thematisiert werden, sticht diese besonders hervor: Das Folgende betrifft und erschüttert Jesus persönlich� Die weitere Abwertung der Figur Judas wird dramatisch inszeniert� Was der Leser längst weiß, teilt Jesus nun seinen Jüngern mit: Einer von den Zwölf wird ihn überliefern� Wie eingangs geschildert, erfolgt nun keine „Bin ich’s? “-Fragerunde der Jünger, aber die Identität des Einen beunruhigt die versammelten Jünger� Sie wenden sich aber nicht an Jesus, sondern kommunizieren - dramatisch wirkungsvoll - durch Blicke� Simon Petrus und der Jünger, den Jesus liebte, 52 Fredrik Wagener bewirken eine Auflösung der Spannung durch Jesus (- angemerkt sei, dass der Jünger, den Jesus liebte, hier erstmalig auftaucht und namentlich unbenannt bleibt)� Anstelle eines Namens antwortet Jesus mit einer geheimnisvollen Handlung, die den Überlieferer aufdecken soll� Judas bekommt von Jesus (gemäß 13,18) das Brot gereicht und wird zeitgleich vom Satan besetzt, der von da an in Judas ist� Als Referenz fällt dazu auf, dass später den anderen Jüngern der Paraklet verheißen wird, der in ihnen sein wird� Ferner gibt Jesus an anderer Stelle eine metaphysische Größe weiter - den heiligen Geist an die anderen Jünger (20,22)� So dient Judas auch hier als Kontrastfolie� Bemerkenswert ist bei der Geste, dass Jesus das Sataneinfahren durch seine Handlung auslöst� Eine Charakterisierung des Satans (gr� satanas ) ist jedoch schwierig, da er nur an dieser Stelle genannt wird� Als Gegenspieler Gottes gedacht würde er sich in die dualistische Konzeption des Johannesevangeliums einfügen� Weiß Judas (gemäß einer bildlichen Lesart von 13,2) bis zu diesem Zeitpunkt selbst noch nicht, dass er Jesus überliefern wird, so erscheint er als besonders tragische Figur� Dann bliebe er bis zu Jesu Offenbarung seiner Identität im Folgenden der zwar kriminelle (12,6), aber doch treue Nachfolger Jesu, den die Botschaft seiner Überlieferungs- und Verratstat und das Einfahren des Satans völlig überrascht� Diese Alternativlesart, die Judas als unschuldig und unwissend ansieht, lässt sich anhand der Negativzeichnung durch den Erzähler innertextlich kaum plausibilisieren, kann aber als Metabewertung vom Leser vollzogen werden� Jesu Geste wird von keinem der Jünger verstanden, sodass eine Reaktion von diesen ausbleibt� Der Appell Jesu zum schnellen Handeln treibt den Erzählverlauf voran und veranlasst Judas, die Szene zu verlassen und so durch die neue Figurenkonstellation den größten und intimsten Vertrauenskontext zwischen Jesus und den Jüngern bis zu Jesu Tod zu ermöglichen� Der Erzähler nutzt das Missverstehen der Jünger, um mit einem Einblick ins Innenleben der Jünger zwei Themen aus Judas’ zweiter Szene erneut einzuspielen: Judas’ Verbindung zum Geld und die Armenfürsorge� Aus der Perspektive anderer Jünger ist Judas’ Handeln naheliegender Weise auf seine Funktion als Kassenwart bezogen - Alternativen werden nicht genannt� Das Bild aus Szene 2 findet sich verstärkt: Wenn Judas etwas macht, hat es mit Geld zu tun� Dabei erwägen dir Jünger zwei Handlungsoptionen� Er soll entweder Festutensilien kaufen oder den Armen Geld geben� Wenn einige der Jünger Jesus eine solche Forderung zutrauen, ist damit die prinzipielle Ablehnung des Almosengebens zurückgewiesen� Vielmehr erscheinen die beiden Optionen (Almosen geben oder Einkauf) sogar als die einzigen, die die Jünger überhaupt erwägen� Bemerkenswert ist, dass die mildtätige Handlung im gesamten Johannesevangelium nicht zur Umsetzung kommt� Weder treten Arme auf noch werden sie konkret bedacht� Judas: Wenn der Verworfene zum Modell wird 53 Die Szene endet mit einer zeitlichen Einordnung in einem Nachsatz: es war aber Nacht� Dabei ist ‚Nacht‘ ein stark metaphorisch aufgeladener Begriff und ein Wertungswort� Im Joh werden ‚Licht‘ und ‚Finsternis‘ als Gegenpole aufgebaut� Die Nacht ist der Finsternis zugeordnet, der Sphäre des Unglaubens, der Gottesferne und Verlorenheit� 4 Damit ist Judas als schwarze Kontrastfolie vollständig - und das erstaunlicher Weise, bevor er Jesu Handlungsappell gefolgt ist, bevor er überhaupt etwas getan hat� Er ist verloren, stigmatisiert und verurteilt, ohne dass dies an vollzogenen Handlungen begründet würde� In seiner Abwesenheit gibt es einen Verweis auf Judas - und zwar in Jesu Gebet in 17,12� Jesus spricht dort von dem Einzigen, den er verloren habe, dem Sohn des Verderbens (gr� apōleia )� Dieser Ausdruck fügt sich in die Negativcharakterisierungen von Judas ein� Dabei kann das griechische Wort auch ‚Verlorenheit‘ oder ‚Zerstörung‘ bedeuten� Letztere Deutung fragt nach einem Ziel, für das sowohl Jesus als auch Judas selbst in Frage kommen� Da innerhalb der narrativen Entwicklung Jesu Ergehen als Verherrlichung und Vollendung geschildert wird, verweist der Ausdruck wohl eher auf Judas’ eigenen Untergang, der sich im Überlieferungsgeschehen manifestiert, das sich an Jesu Gebet anschließt� In derselben Nacht wie Szene 3 stoßen Jesus und seine Jünger außerhalb eines Gartens am Bach Kidron auf Judas und eine Schar Soldaten� Die (durch Erzähler und Jesus) mehrfach angekündigte Handlung der Überlieferung setzt ein� Wie gewohnt wird Judas durch das Verb paradidōmi (überliefern) charakterisiert� Hier erscheint es erstmalig ohne ein Modalverb im Indikativ Präsens� Judas ist nicht mehr der, der Jesus überliefern wird, will oder soll� Jetzt führt er seinen Plan bzw� seine Bestimmung aus� Judas aktive Handlung beschränkt sich aber darauf, eine Kohorte Soldaten und zudem Diener der Hohepriester und Pharisäer zu Jesu Aufenthaltsort zu führen� Dabei spielen die mitgeführten Lichtquellen erneut die Licht-Finsternis- Metaphorik ein, auf die derjenige angewiesen ist, der in der Finsternis wandelt (8,12)� Der Singular in 18,3b („kommt“) unterstreicht dabei sein federführendes Handeln und kontrastiert ihn zugleich mit Jesu Kommen (18,1; ebenfalls Singular)� Aber Jesus und Judas treten sich nicht als gleichwertige Kontrahenten gegenüber� In Anzahl, Bewaffnung und Gewaltpotential steht Judas’ Seite der Jesu als unüberwindbar gegenüber� Doch mit dieser Aufstellung endet Judas’ Aktion, er bleibt erstaunlich passiv� Im weiteren Verlauf agieren die Soldaten und Jesus unabhängig von Judas� Mit seinem Hervortreten übernimmt Jesus die für Judas verheißene Überlieferung� Jesus gerät nicht in die Hände seiner Gegenspieler, sondern begibt sich hinein� 4 Vgl. u. a. Joh 1,5; 8,12; 11,10. 54 Fredrik Wagener Jesu Frage an die Hinzugekommenen (18,4b) wirkt berechnend� Sie zentriert die Szene um seine Person� War diese Szene als großer Auftritt für Judas angelegt, wendet Jesus die Darstellung. In seinem „Ich bin [es]“ (gr. egō eimi ) drückt er zugleich seinen Gottesanspruch aus (vgl� Ex 3,14) und erinnert den Leser an die sieben Ich-bin-Worte� Im Anschluss erfolgt Judas’ letzte Nennung im Evangelium� Wieder wird seine primäre Eigenschaft genannt: Er überliefert Jesus� Die gerade geschilderten Ereignisse zeigen jedoch das Gegenteil: Jesus überliefert sich selbst! Das letzte Judas zugeordnete Prädikat ist ein statisches� Judas verharrt unbeweglich an seiner persönlichen Endposition, das Plusquamperfekt weist auf das Resultat� Diese Figur stagniert hier� Wird Glauben durch Verben der Bewegung wie ‚nachfolgen‘ und ‚gehen‘ ausgedrückt, entspricht dies dem genauen Gegenteil� Ferner positioniert es Judas eindeutig unter den Gegenspielern Jesu, die dessen Tod herbeiführen werden� Während Jesu Gefangennahme sich vollzieht und die Jünger fliehen, wird Judas nicht mehr erwähnt, er bleibt auf der Seite der Soldaten und Feinde Jesu stehen - vielleicht sogar über die Erzählte Zeit der Szene hinaus� Sein Ende wird dem Ersinnen des Lesers überlassen� Auch wenn Judas nicht mehr auftritt, muss noch die letzte Szene des Evangeliums genannt werden� Dort (21,20) wird auf diesen in einer Analepse verwiesen, die aus dem Erzählzusammenhang nicht notwendig ist� Explizit wird an die Situation in 13,25 erinnert, in der der Jünger, den Jesus liebte, nach dem Überlieferer fragt� Dabei variiert die Frage im Wortlaut und ergänzt den Ausdruck zur eindeutigen Identifikation von Judas: der, der dich überliefert (gr� paradidōmi )� Für Judas bedeutet diese Einspielung im letzten Kapitel, dass er als Kontrastfigur zu den nun Jesus nachfolgenden Jüngern herangezogen wird� War er mit seinem Verschwinden nach 18,6 vielleicht in Vergessenheit geraten, wird die Erinnerung an ihn noch einmal reaktiviert� Wenn es um Fragen der Nachfolge geht, ist er die bestmögliche Konkretion von falschem Handeln, das eben nicht in der Gegenwart Jesu endet� Außerdem wird die Kontrastierung zwischen Judas und dem Geliebten Jünger verstärkt, denn bei dessen Erst- und Letztnennung wird auf Judas verwiesen� Dabei ist das verbindende Element zwischen beiden die Überlieferung Jesu� Dies ist die Tat, die Judas auszeichnet und nach welcher der Jünger, den Jesus liebte, fragt� Ob dieser letzte Hinweis die Einordnung der Figur Judas verändert, muss der Leser entscheiden� Zum einen wird einer möglichen Positivbewertung der Figur Judas die Basis entzogen, indem am Ende noch einmal seine Stigmatisierung betont wird: Er ist derjenige, der Jesus überlieferte, was ihn zum Teufel und Sohn der Verlorenheit macht, der in der Finsternis der Nacht bleibt und letztendlich dem Kollektiv der Jünger nicht angehört� Zum anderen ist aber Jesus Judas: Wenn der Verworfene zum Modell wird 55 auferstanden und sein Tod ist als Verherrlichung dargestellt worden� In unmittelbarem Umfeld des Verweises auf Judas wird dieser als lebendige, sprechende und handelnde Figur gezeigt� Judas’ Überlieferung ist ein notwendiger Baustein in Gottes Plan, welcher in einem guten Ende mündet� Wie schon in der von Judas miterlebten Auferweckung des Lazarus ist in der Auferweckung Jesu der Tod, zu dem Judas Jesus überlieferte, überwunden und außer Kraft gesetzt� Damit wird die gesamte Negativzeichnung des vorausgehenden Evangeliums aufgehoben� Im Spannungsfeld dieser Extrempositionen ist der Leser zur Metabewertung herausgefordert� Schlaglichter ethischer Implikationen Die Figur Judas wird im Johannesevangelium (nach Jesus) mit den meisten expliziten Charakterisierungen versehen� Diese zeichnen ein durchgängig negatives Bild von seiner Identität� Am markantesten ist die Bezeichnung, die wie ein Name - und sogar häufiger noch als sein Name - als Hinweis auf Judas verwendet wird: der Überliefernde (gr� paradidōmi )� Dieser Ausdruck beschreibt nicht nur eine Handlung, sondern macht auch Judas’ Identität aus und kennzeichnet seine Beziehung zu Jesus� Judas wird zum Auslöser oder gar Verantwortlichen für Jesu Kreuzigung� Judas ist derjenige, der Jesus in die Hände seiner Gegner spielt, der die Begegnung im Garten herbeiführt und dessen Ankunft dort die Überlieferung markiert� Es gibt jedoch keine konkrete Überlieferungshandlung: kein Fingerzeig, keine wörtliche Rede, erst recht kein Kuss� 5 Nachdem Judas im Garten bei Jesus angelangt ist, nimmt ihm dieser jegliches Tun ab� Darin lässt sich eine mögliche Entmachtung von Judas sehen, vielleicht sogar eine Entschuldung� Er bereitet die Situation zwar vor, vollzieht sie aber dank Jesus nicht� Stattdessen wird Jesu Selbsthingabe betont� Er ist souverän in seinem Tun, insbesondere in seinem Sterben (vgl� 10,18)� Jesu Vormachtstellung und Judas’ Handlungsfreiheit sind zwei Seiten derselben Medaille� Die vollkommene Freiwilligkeit Jesu, sich in die Situation der Gefangennahme und Kreuzigung hineinzubegeben, hebt nicht Judas’ Verantwortung für seinen Beitrag dazu auf� Inwiefern Judas Jesus überliefern möchte, also sich dazu entschließt, bleibt sprachlich und erzählerisch unsicher� Denn seine Rolle ist auch als übernatürliche Führung, gewissermaßen als Determination, verstehbar� So stehen in der Bezeichnung als Überliefernder verschiedene widersprechende Deutungen nebeneinander, die den Leser herausfordern� 5 Vgl. Mk 14,44-46 parr. 56 Fredrik Wagener Ein Themenfeld, das im Johannesevangelium insgesamt wenig zur Sprache kommt, wird durch die Figur Judas beleuchtet: Geld� Innerhalb des Jüngerkollektivs ist er der, der die Geldtasche hat, Geld in diese sammelt (oder aus dieser veruntreut), der den Gegenwert von Marias Salböl einschätzt und von anderen Jüngern auf die Funktion als Kassenwart reduziert wird� Wieviel Geld Jesus und die Jünger besitzen, bleibt dabei unklar. Nahrungsmittelkauf (4,8; 6,5; 13,29) und Almosengeben (13,29) werden zwar genannt, aber Umfang und Häufigkeit werden aus den Angaben nicht deutlich� Da Judas auch als Dieb bezeichnet wird, ist naheliegend, dass der im griechischen mehrdeutige Textbefund in 12,6 meint, dass er sich an der Jüngerkasse bereichert� Was trägt nun die Figur Judas für eine moralische Einschätzung von Geldgeschäften aus? Jesus selbst nimmt diese als Normalität wahr, offensichtlich duldet er die Jünger-Kasse und hat die Hoheit über den Haushalt inne (vgl� 13,29)� Eine prinzipielle Verurteilung von Besitz, Wohlstand oder Umgang mit Geld kann somit nicht erschlossen werden� Dennoch spiegelt sich in der Figur Judas eine Warnung vor dem Umgang mit Geld im Sinne einer Sensibilisierung� Der Kassenwart ist gleichzeitig Dieb und Verräter� Geld wird für Judas zum Antrieb für Heuchelei, sein Ausbrechen aus der Gemeinschaft mit seiner Funktion als Kassenverwalter assoziiert� Die zeitliche Reihenfolge ist dabei auch bemerkenswert� Für Judas ist das Vergreifen an fremdem Eigentum (sein diebisches Verhalten) kein Finalpunkt, sondern ein Übergangsstadium, welches weit Schlimmeres nach sich zieht - Jesu Auslieferung in den Tod� Im Sinne eines ‚Wehret den Anfängen‘ ist Judas’ negatives Verhalten in einen Steigerungsprozess eingebettet und dem Leser als warnendes Beispiel vor Augen geführt� So vollführt Judas eine Negativentfaltung des Themas ‚Finanzen‘, die dem Leser als Prüfstein dienen kann� Wozu verwendet er Geld - um anderen Gutes zu tun, für den persönlichen Luxus oder für wohltätige Zwecke? Zu was treibt Geld ihn an - motiviert Geld ihn zur Unehrlichkeit? Somit erfolgt keine Abwertung von Judas wegen seines Bezugs zum Geld� Vielmehr verläuft die Konnotationskette in entgegengesetzter Richtung� In der Leserreflexion kann durch Judas’ negative Charakterisierung finanzieller Besitz und die Anregung zu Geldgeschäften (kaufen und verkaufen) als kritisiert wahrgenommen werden� Dies geschieht durch die Figur Judas im Johannesevangelium viel subtiler als in synoptischen Parallelen mit dem dortigen Ethos der Besitzlosigkeit� 6 Als Diabolos (Teufel) ist Judas mit dem eindeutig Bösen identifiziert� Die etymologische Bedeutung des ‚Durcheinanderwerfers‘ wird nicht nur theologisch in Judas’ Überlieferung dargelegt, sondern auch ethisch� In Szene 2 wird Judas zu einem Beispiel für die Verdrehung einer moralisch guten Konvention� Dort 6 Vgl. z. B. Mt 6,19; Mk 6,8 f parr.; 10,21-27 parr.; 11,15-17 parr.; Lk 6,20; 10,4; 12,15-21. Judas: Wenn der Verworfene zum Modell wird 57 wird die Aufforderung zur Mildtätigkeit gegenüber Armen nicht prinzipiell kritisiert, sondern nur in der Situation als unangebracht abgetan� Judas will einen falschen Dualismus (zwischen Liebe zu Jesus und Liebe zu den Armen) erzeugen� Jedoch hat beides seinen Raum in der Nachfolge� Judas bringt die Dinge durcheinander: Er verwendet das Gute als ‚Waffe‘ gegen die Gute (Maria)� Damit wird dies als mögliche Argumentation, die auch dem Leser begegnen kann, 7 vorgestellt und zugleich kritisiert� Szene 2 bietet noch weitere ethische Implikationen� So werden Judas und Maria als Kontrastfiguren zueinander aufgebaut, sodass sie als Personifikationen von Tugenden bzw� Lastern erscheinen� Wahre Jüngerschaft zeichnet sich demnach nicht durch Gruppenzugehörigkeit aus, die Judas dort attestiert wird, sondern durch die Haltung und die Taten, die Maria vorlegt� Doch in der Gegenüberstellung von Judas und Maria werden noch grundsätzlichere Einstellungen kontrastiert� Judas repräsentiert die Habgier, Maria die Großzügigkeit� Indem Jesus Judas zurückweist, durchbricht er die Hierarchie� So wird Großzügigkeit als vorbildliches Motiv zur Anschauung gebracht� Die Umordnung der Hierarchie spielt eine weitere Gegenüberstellung ein� Maria äußert Demut in ihrer Salbung der Füße Jesu (nicht des Kopf wie bei Königssalbungen durch Propheten)� Judas hingegen erhebt sich über Maria und meint, für ihr Verhalten Rechtfertigung einfordern zu dürfen� Mit Jesu Einwand wird auch diese Hierarchie aufgesprengt� Hochmut (in Gestalt von Judas) wird der (in Maria personifizierten) Demut untergeordnet� In Szene 4 erscheinen Waffen als mit Judas assoziiert� Insbesondere da zumindest grammatikalisch Judas (und nicht die Soldaten) die Waffen trägt, signalisiert er die Bereitschaft, seine Ziele mit Gewalt durchzusetzen� Judas baut eine Bedrohung auf, setzt die Waffen aber nicht ein (sodass er zumindest nicht gewalttätig wird)� In seiner freiwilligen Auslieferung gegenüber Judas tritt Jesus für Gewaltverzicht ein (vgl� auch seinen Einwand gegen Petrus’ Handeln in 18,11)� Dabei gibt sich Jesus nicht der Gewalt hin und lässt sie über sich ergehen, sondern spricht diese an und verhindert sie� Die Waffen, die Judas mit sich führt, kommen nicht zum Einsatz� Gewalt wird als Mittel zur Durchsetzung von Interessen abgelehnt� Gerade weil Judas derjenige ist, der die Waffen trägt, werden diese zusätzlich negativ belegt� Was ‚der Böse‘ mit sich herumträgt, ist auch moralisch verwerflich� Dabei ist zweitrangig, ob (oder wozu) die Waffen verwendet werden: Schon die Bereitschaft zur Gewalt ist falsch� Das Bild von Judas bleibt durchgängig negativ, eine Entwicklungslinie vom positiven, glaubenden Zwölferjünger zum negativen, unehrenhaften Verräter 7 Vgl� dahingehend die gewissermaßen synoptische Parallele der Versuchung Jesu (Mt 4,1-11; Lk 4,1-13). 58 Fredrik Wagener ist im Erzählverlauf nicht zu entdecken� Sowohl der Erzähler als auch Jesus 8 zeichnen ein durchgängig finsteres Bild� Dieses negativ gezeichnete Figurenkonzept von Judas bietet keinen Raum zur Identifikation� Was können Leser aus der Figur Judas dann lernen? Er fungiert als abschreckendes Beispiel und weist den Leser darauf hin, sich in Verhalten und vor allem in Einstellungen von diesem abzugrenzen� Er ist als Negativfigur ein ‚Anti-Vorbild‘, ein Mahnbild, dem nicht entsprochen oder nachgeeifert werden soll� Gegentugenden zur Figur Judas können Glaube, Genügsamkeit und Aufrichtigkeit sein� Sehen Leser Judas innerhalb der verwendeten Finsternis-Metaphorik als Repräsentanten für Ungläubige oder nicht wahrhaftige Jünger, können die Bewertung durch Jesus und den Erzähler auch ein Verhalten gegenüber Menschen legitimieren, die der Leser in seinem eigenen Umfeld diesem Bereich zuordnet� Tatsächlich ist eine Ablehnung von Menschen, die sich von der Gemeinschaft abgewendet haben, anhand von Judas einfach zu rechtfertigen und in der Bezeichnung als ‚Kinder der Finsternis‘ vielleicht gar geboten� Eine solche Ablehnungs- und Ausgrenzungsethik spiegelt sich vielfach in der Figur Judas� Einen solchen Ansatz darf der Leser - insbesondere wenn er sich nicht auf Verhaltensweisen, sondern Personen richtet - durchaus hinterfragen� Das Verhalten, das in den Verben zum Ausdruck kommt, zu denen Judas das Subjekt ist, spiegelt die kontinuierliche Abwertung, die er erfährt, nicht wider� An äußerlichem Tun ist nur das Führen der Soldaten zu Jesus negativ� Innerhalb der erzählten Welt ist Judas bis dahin nicht als böse zu erkennen� So entsteht eine Diskrepanz zwischen den Zuschreibungen durch den Erzähler und Jesus einerseits und den Rückschlüssen aus Judas’ Handlungen andererseits� Diese Diskrepanz regt den Leser zu einer Metabewertung an� So kann die Figur Judas aus der unbarmherzigen und ungerechten Abwertung, die ihm scheinbar schuldlos widerfährt, Empathie gewinnen� Hier kann sich der Leser emanzipieren und für Judas eintreten� Gerade die Ungerechtigkeit, dass der Erzähler und Jesus Judas keine Chance bieten, wirkt fruchtbar� Zwar bleibt Judas innerhalb der Erzählung verloren und endet außerhalb der Jüngerschaft, der Leser kann seine Geschichte aber frei weiterdenken� Verstärkt wird dies in einer Reflexion von Judas’ Funktion im Plot des Johannesevangeliums� Judas’ Überlieferung ist darin eine dramaturgische Unabdingbarkeit� So wirkt der Fall Judas in der Metareflexion des Lesers anregend, als Schicksal einer diskriminierten Person, eines Opfers von Vorurteilen, eines Beispiels von Chancenlosigkeit� Dieser Impuls kann außerhalb der Erzählung Leser dazu animieren, in einem ersten Schritt für Judas einzutreten und zumindest Chancengleichheit und die Möglichkeit 8 Obwohl Jesus Judas bewusst erwählt hat, spricht er über ihn zahlreiche Verurteilungen aus: Unglaube (6,64), Verteufelung (6,70), Unreinheit (13,10) und Verlorenheit (17,12)� Judas: Wenn der Verworfene zum Modell wird 59 zur Rehabilitation zu verlangen und in einem zweiten Schritt, diese Forderung in ihre eigenen Lebensbezüge hineinzutragen� Wenn so ein prinzipielles Eintreten gegen Vorabkategorisierungen erwächst, hat die Lektüre des Johannesevangeliums ein ethisches Ziel erreicht, was weit über die Erzählung als solche hinausgeht� Wenn hiesige Ausführungen im Rückblick eher finster wirken, korreliert das mit der Judasdarstellung� Mit und an ihm wurden die Abgründe theologischer Verwerfung, menschlicher Ablehnung und moralischer Verurteilung aufgetan und durchschritten� Obwohl Judas selbst nur in vier Szenen namentlich genannt wird und dabei kaum handelt, vernetzen ihn intratextuelle Bezüge mit Negativwertungen im gesamten Evangelium� Im wörtlichen Sinne ist die Erzählung für ihn kein Evangelium (gr� eu-a[n]ggelion = gute Nachricht)� Für Judas gibt es keine gute Botschaft� Der Erzähler schöpft ein erstaunliches Repertoire aus, um Judas zu stigmatisieren und den Leser gegen ihn einzunehmen� Auf der ästhetischen, sittlichen und empathischen Ebene wird Judas dem Leser entfremdet� Der Erzähler nutzt die Negativzeichnung von Judas, um zu verschiedenen ethischen Themen eine moralische Position einzuspielen� Entlang der Figur Judas verläuft eine Trennlinie, welcher Verhaltensweisen und Haltungen als Laster zugeordnet oder an welcher Tugenden oder Werte als Gegenpole entdeckt werden können� So fungiert Judas als moralischer Trigger, als Abwertungsschlüssel, der sittliche Fehler markiert und dem Leser eine Korrekturfolie für den eigenen Lebenswandel bietet� Judas steht bis zuletzt - schon rein sprachlich, was in möglichen Übersetzungen deutlich wird - in einem Spannungsfeld zwischen Determination und Willensfreiheit, die den Leser in die Reflexion drängt� Judas’ grundlegende Verurteilung kann zwar bedrohlich wirken, vermag aber auch den Leser zum Protest zu animieren� Der Leser steht gegenüber Judas in der Spannung, dem Urteil des Erzählers zu folgen, der Judas keine Chance lässt, oder gegen diese Vorverurteilung aufzubegehren� Steht damit am Ende ein Freispruch für Judas? Wird der Stigmatisierte zum Helden erhoben, das dunkle Kapitel ‚Judas‘ im Joh überstrahlt, die Finsternis einfach als Licht neudefiniert? Wohl kaum� Ob tragisch oder gerechtfertigt: Judas bleibt verworfen, bleibt verurteilt� Doch im Verstehen muss der Leser als ethisches Subjekt selbst entscheiden: Ihm bleibt überlassen, ob eine solche Verurteilung - wenn schon im Joh, dann zumindest nicht in seiner eigenen Lebensrealität - das letzte Wort behält� Zeitschrift für Neues Testament Heft 41 21. Jahrgang (2018) Apostasie im Neuen Testament Auf den Spuren des Judas und anderer Abtrünniger in den Evangelien, den johanneischen Schriften und in der Apostelgeschichte B. J. Oropeza Einführung Dieser Beitrag basiert auf meiner Monographie, die dieselben biblischen Schriften umfasst, die im Untertitel genannt sind� 1 Bevor ich beginne, möchte ich kurz etwas dazu sagen, warum Judas Iskartioth weithin als faszinierend wahrgenommen wird und warum es gegenwärtig eine Tendenz gibt, ihn von jedweder Mitschuld am Tod Jesu freizusprechen� In der Forschung wurde das Interesse an Judas befeuert durch die Entdeckung des Judasevangeliums, einer Schrift der Sethianischen Gnosis des 2� Jh�s, die Judas in einem wesentlich vorteilhafteren Licht erscheinen lässt als die kanonischen Evangelien� Dieses Wohlwollen scheint dort seine moderne Entsprechung zu haben, wo Forscher das griechische paradidōmi , das in den Evangelien die Tat des Judas bezeichnet, nicht mit „verraten“, sondern mit „überliefern“ übersetzen wollen (vgl. Mk 3,19; Lk 9,44; 24,7�20)� 2 Diese Nuance, dass Judas Jesus den Autoritäten „überliefert“ hat, versucht das Vergehen, dessen sich Judas schuldig gemacht hat, zu mildern� Andere Forscher machen deutlich, dass paradidōmi durchaus mit „verraten“ übersetzt 1 B� J� Oropeza, In the Footsteps of Judas and Other Defectors: The Gospels, Acts, and Johannine Letters� Apostasy in the New Testament Communities, Bd� 1, Eugene 2011� 2 Vgl� etwa W� Klassen, The Authenticity of Judas’ Participation in the Arrest of Jesus, in: B� Chilton / C� A� Evans (Hg�), Authenticating the Activities of Jesus (NTTS 28 / 2), Leiden 2002, 389-410, 409; ders., Judas: Betrayer or Friend of Jesus? , Minneapolis 1996, 47-58. 62 B. J. Oropeza werden kann� 3 In einem früheren Aufsatz habe ich ausgeführt, dass Judas in den neutestamentlichen Texten tatsächlich als Verräter und Apostat erscheint, u� a� mit dem Hinweis, dass er in Lk 6,16 mit dem nominalen prodotēs eindeutig als „Verräter“ bezeichnet wird� Auch sein weiteres Geschick, das ihn zusätzlich in einem negativen Licht erscheinen lässt, wird von Auslegern, die versuchen Judas zu entlasten, oft ignoriert, etwa wenn Jesus in den synoptischen Evangelien sagt: „Der Menschensohn geht zwar dahin, wie über ihn geschrieben steht, doch wehe dem Menschen, durch den der Menschensohn ausgeliefert wird� Für diesen Menschen wäre es besser, wenn er nicht geboren wäre“ (Mk 14,21; vgl. Mt 26,24; Lk 22,22). 4 Die Untersuchung dieser Texte samt Judas’ tragischem Ende in Apg 1,15-21, wo er das Feld räumen und durch einen anderen Jünger ersetzt werden muss, ließ mich zu dem Schluss kommen, dass man sich das Jenseitsgeschick dieses Jüngers der neutestamentlichen Darstellung zufolge nicht sehr vielversprechend vorstellen darf� Ich habe allerdings auch betont, dass Judas mit seinem Verrat und seinem Abfall keinesfalls repräsentativ ist für „ den Juden“, der sich vom christlichen Glauben abwendet, wie in der Kirchengeschichte fatalerweise wiederholt behauptet wurde� Vielmehr betrachteten die frühen judenchristlichen Autoren Judas als einen der ihren � Er gilt mithin bei anderen frühen Christen als früh christlicher Apostat� 5 Dies ist ein bleibend wichtiger Punkt, denn es sind mindestens drei Tendenzen zu verzeichnen, die gegenwärtige Interpretationen der Judasgestalt beeinflussen und dem Unterfangen Vorschub leisten, alternative Judas-Darstellungen ins Spiel zu bringen, die ihn von Fehlverhalten freisprechen wollen� Die erste hat mit dem antisemitischen Erbe aus der Geschichte des Christentums zu tun, das Judas mit dem jüdischen Volk identifizierte, mit schrecklichen Folgen� Wenn nun der gegenwärtige Trend, Judas neu zu erfinden, unbewusst ein positiveres christliches Bild vom Judentum anstrebt, dann sitzt dieses Bestreben noch immer demselben fundamentalen Irrtum auf, der darin besteht, Judas mit den Juden gleichzusetzen� 3 Vgl� etwa F� A� Gosling, „Oh Judas! What Have You Done? “, EQ 71 / 1999, 117-25, der die Belege zu paradidōmi in der klassischen Literatur, der LXX und Josephus untersucht und zeigt, dass in vielen Fällen mit „verraten“ zu übersetzen ist� 4 B� J� Oropeza, Judas’ Death and Final Destiny in the Gospels and Earliest Christian Writings, Neotest 44 / 2010, 342-361. Ähnlich, jedoch weniger ausführlich, ders., In the Footsteps of Judas, 143-150. Zu meiner Auslegung dieses synoptischen Logions erwarte ich noch eine Publikation, die hierauf wie auch auf meine weiter ausgreifende These zu Judas direkt antworten wird� 5 Ich verstehe unter einem Apostaten / einer Apostatin jemanden, der oder die sich von einer Glaubens- und Lebensweise abgewendet hat, der er oder sie früher anhing; vgl. hierzu weiter Oropeza, Footsteps, 1-5. Apostasie im Neuen Testament 63 Die zweite Tendenz hat mit dem Bestreben zu tun, marginale religiöse Stimmen, oftmals gnostische, gegen die Übermacht des „orthodoxen“ Standpunktes zur Geltung zu bringen, der in den kanonischen Evangelien und dem Konzil von Nicäa zum Tragen kommt� 6 Das Judasevangelium kann dann als Stimme einer Minderheit mit Judas als dem exemplarischen Jünger Jesu verstanden werden, im Gegensatz zu den „niederträchtigen“ Jüngern, die den orthodoxen Glauben repräsentieren� Die Erforschung weniger bekannter „Christentümer“ ist gewiss nützlich und zugegebenermaßen ist es nicht möglich, all unseren Denkvoraussetzungen zu entkommen� Gleichwohl sollten wir nicht darauf verfallen, eine Hermeneutik des Verdachts anzuwenden, die uns zu den Anachronismus verleitet, Gemengelagen des 2� und 3� Jh�s auf Texte des 1� Jh�s anzuwenden, die bewährte Interpretationen auf der Grundlage guter und älterer innerer und äußerer Argumente für sich haben� Die dritte Tendenz hat es allgemeiner mit dem Tatbestand des Abfalls zu tun, von dem der „Zeitgeist“, wie ich sagen würde, seine eigene Auffassung hat: In der westlichen Welt wird Gottes Liebe, Barmherzigkeit und Gnade so sehr betont, dass Gottes Heiligkeit und sein Gericht über die Sünder außer Acht bleiben, mit der Folge, dass der Gedanke ewiger Bestrafung durch Gott bestritten wird� Und doch müssen wir uns damit auseinandersetzen, dass jemandes Taten oder Unterlassungen andere verletzen und eben auch mit möglichen zeitlichen und ewigen Konsequenzen, so unbequem dem westlichen Denken solche Vor- 6 Vgl� etwa B� D� Ehrman, Lost Christianities: The Battles for Scripture and the Faiths We Never Knew, Oxford 2003� B. J. Oropeza, Ph� D� in New Testament Theology (Durham, UK , 1998)� Er lehrte Biblical Studies an der George Fox University und ist nun Professor für Biblical and Religious Studies an der Azusa Pacific University� 2008 gründete er die Intertextuality in the New Testament Section der Society of Biblical Literature ( SBL ), die er sechs Jahre leitete� Er gehört zum editorial board der Reihe Rhetoric of Religious Antiquity ( SBL Press) und ist Mitglied des SBL -Seminars Scripture and Paul � Zu seinen zahlreichen Publikationen zählt ein Kommentar zum 1� Korintherbrief von 2017 (New Covenant Commentary), ein Kommentar zum 2� Korintherbrief ( Exploring Second Corinthians: Death and Life, Hardship and Rivalry ) von 2016, das Textbuch Exploring Intertextuality: Diverse Strategies for the New Testament Interpretation of Texts von 2016 sowie die Monographie Paul and Apostasy: Eschatology, Perseverance and Falling Away in the Corinthian Congregation von 2000� 64 B. J. Oropeza stellungen auch sein mögen, besonders dort, wo eine Lebensweise vorherrscht, die der überkommenen Interpretation bestimmter biblischer Texte widerspricht� Ist es naiv und zu optimistisch, wenn ich hoffe, dass Exegeten in ehrlicher Absicht zu begründeten biblischen Einsichten vorzudringen, auch wenn sie sie persönlich nicht mögen? Nach diesen Bemerkungen über die drei genannten Tendenzen wende ich mich nun dem Thema der Apostasie zu, dem Phänomen der Abtrünnigkeit bzw� des Abfalls� Eine erschöpfende Darstellung zum Neuen Testament insgesamt von Matthäus bis zur Offenbarung liegt in einem dreibändigen Werk vor, das ich im Untertitel „Apostasie in den neutestamentlichen Gemeinden“ genannt habe� 7 Der vorliegende Beitrag legt seinen Fokus auf den ersten Band, In the Footsteps of Judas and Other Defectors , der, was Judas betrifft, der wichtigste ist� Freilich wird beim Lesen schnell deutlich, dass jener berühmte Verrat nur eine von vielen Facetten von Apostasie ist� Mit meiner Darstellung verfolge ich ein vierfaches Ziel: (1) Ich versuche ein Bild von der Gemeinde (bzw� den Gemeinden) hinter der jeweiligen Schrift zu gewinnen� (2) Sodann geht es mir um die Eigenart derjenigen Apostasie, die die jeweilige Gemeinde betrifft bzw� vor der sie warnt� (3) Gefragt wird dann nach den (potentiellen) Konsequenzen einer vollzogenen Apostasie� Schließlich stelle ich (4) einen Vergleich zwischen den einzelnen Perspektiven auf Apostasie an, die die jeweiligen Gemeinden erkennen lassen, um eine Schlussfolgerungen zu diesem Thema zu ziehen� Anders als in meinem Buch enthält dieser Beitrag keinen umfangreichen Fußnotenapparat zur weiteren Fundierung meiner eigenen Auffassung und zur Diskussion mir anderen Positionen� Wir beginnen mit dem Markusevangelium, das üblicherweise als das älteste der vier kanonischen Evangelien angesehen wird� Apostasie im Markusevangelium Die Gemeinde des Markusevangeliums vermute ich in Rom, und ich setze voraus, dass sie unter der neronischen Verfolgung gelitten hat (Irenäus, Adv� haer� 3,1,1; Eusebius h. e. 2,15,1-2; 3,39,14-16; 6,14,5-7). 8 Infolge dessen haben einige 7 B� J� Oropeza, Jews, Gentiles, and the Opponents of Paul: The Pauline Letters� Apostasy in the New Testament Communities, Bd. 2, Eugene 2012; B. J. Oropeza, Churches under Siege of Persecution and Assimilation: The General Epistles and Revelation� Apostasy in the New Testament Communities, Bd� 3, Eugene 2012� Zu Bd� 1 s� o�, Anm 1� Für weitere Aufsätze zu anderen Aspekten von Apostasie verweise ich auf meine Website https: / / azusa� academia�edu/ BjOropeza� 8 Zum Markusevangelium als eine gegen das Römische Imperium gerichtete Schrift vgl� A� Winn, The Purpose of Mark’s Gospel (WUNT II 245), Tübingen 2008, Kap. 4-5; B. J. Incigneri, The Gospel to the Romans: The Setting and Rhetoric of Mark’s Gospel, Leiden 2003� Apostasie im Neuen Testament 65 Gläubige ihre Identität als Nachfolger Jesu geleugnet und andere Gemeindemitglieder haben die Identität und den Aufenthaltsort von Mitgläubigen verraten� 9 Der Gemeinde war Apostasie also wohl nichts Unbekanntes� Das Markusevangelium ermahnt die Getreuen und die Treulosen, von Jesu Leben und Lehre zu lernen� Durch die Erzählung des Evangeliums erfährt die Gemeinde, dass geistliche Verstocktheit die Gefahr des Abfalls birgt� Die Volksmenge und die religiösen Autoritäten in der Zeit Jesu verwerfen seine Lehren, und als Konsequenz ihrer Weigerung zu „sehen“ und zu „hören“ betäubt Gott, so erfahren wir, ihre geistliche Auffassungsgabe in der Art einer lex talionis , ähnlich wie er zu Beginn des Jesajabuches Israels Abfall zu anderen Göttern ahndet (Mk 4,10-12; Jes 6,9 f�)� Diese Verhärtung der Herzen erreicht ihren Höhepunkt, wenn die religiösen Autoritäten und die von ihnen beeinflusste Volksmenge auf Jesu Tod in Jerusalem hinwirken� Die Verstocktheit der religiösen Autoritäten führt dazu, dass sie den Geist Gottes lästern, als sie die Zeichen und Wunder Jesu verächtlich einer dämonischen Macht zuschreiben und nicht Gott (Mk 3,22-30). Auch Jesu eigene Familie ist verstockt, aber sie lästern nicht den Geist� Stattdessen halten sich Jesus für verrückt (3,21.31-35). Diese negative Sicht auf Jesu Familie rührt möglicherweise daher, dass in der Gemeindesituation Gläubige von Familienmitgliedern verraten und vom rechten Weg abgebracht wurden (vgl� 13,12)� Andererseits können Einzelne aus der Masse der Outsider zu Insidern werden, wenn sie tiefer in die Lehren und Gleichnisse Jesu eindringen, sich danach richten, umkehren und Jesus folgen� Insider wiederum können geistlicher Verstocktheit anheimfallen, wie es von Jesu eigenen Jüngern erzählt wird (6,52; 8,17 f.). Ihr Mangel an Einsicht, Wachsamkeit und Gebet zieht schließlich ihre eigene Abtrünnigkeit nach sich, nachdem Jesus von Judas an die Autoritäten ausgeliefert wurde� Sie verlassen Jesus, als er festgenommen wird und Petrus bestreitet ihn überhaupt zu kennen (14,27; 49 f.,66-72; vgl. 14,37 f.). Für diese Nachfolger Jesu gibt es am Ende des Markusevangelium einen kleinen Hoffnungsschimmer (16,7; 14,28), 10 nicht aber für Judas� Anders als Petrus bleibt Judas, wie der Text impliziert, verstockt bis ans Ende und geht dem göttlichen Gericht entgegen (14,21; vgl. 14,44 f). Die 9 See M� F� Van Iersel, Failed Followers in Mark: Mark 13: 12 as a Key for the Identification of the Intended Readers, CBQ 58 / 1996, 244-63; G. W. H. Lampe, St. Peter’s Denial and the Treatment of the Lapsi, in: D� Neiman / M� Schatkin (Hg�), The Heritage of the Early Church in Honor of Georges Vasilievich Florovsky on the Occasion of His Eightieth Birthday, Charlottesville 1973, 113-33; T. Radcliffe, The Coming of the Son of Man. Mark’s Gospel and the Subversion of the Apocalyptic Imagination, in: Β. Davies (Hg.), Language, Meaning and God. Essays in Honour of Herbert McCabe Ο. Ρ., London 1987, 167-89. 10 Weiteres zur markinischen Gemeinde bei D� N� Peterson, The Origins of Mark: The Markan Community in Current Debate, Leiden 2000; C. C. Black, Mark: Images of an Apostolic Interpreter, Columbia 1994, Kap. 3-5. 66 B. J. Oropeza Abgefallenen aus der markinischen Gemeinde konnten aus der Erzählung des Evangeliums lernen, dass ihre Apostasie nicht unvergebbar war� Es handelt sich mithin nicht zwingend um dasselbe wie das Lästern des Geistes Gottes� Fehltritte in der markinischen Gemeinde gleichen möglicherweise denen der Jesusjünger, die nur zeitweise verstockt waren� Es mag spirituelle Kurzsichtigkeit gewesen sein, die sie dazu verleitet hat, Jesus zu verlassen; eine Wiederannahme war aber möglich, wenn sie bereuten und nicht länger halsstarrig blieben� Apostasie hat im Markusevangelium etwas zu tun mit Verfolgung und Leid� Die Jünger fallen von Jesus ab aus Furcht, für die Jesusnachfolge Repressionen zu erleiden� Hierauf bezieht sich der zweite Saat-Typus im Sämanngleichnis: Es sind diejenigen, die das Evangelium enthusiastisch aufnehmen, aber in der Verfolgungssituation abfallen (4,5 f�16 f)� Die markinische Erzählung macht Gebrauch von einer Sprache eines neuen Exodus aus der prophetischen Tradition Israels, um den Weg der Gläubigen zu beschreiben� 11 Die folgen Jesus auf seinem eigenen Weg, der, wie Jesus seinen Jüngern in 8,34-38 mitteilt, Leiden und schließlich das Kreuz mit sich bringt. In der Situation der drohenden Verfolgung müssen sie ihr Kreuz auf sich nehmen, ohne Rücksicht auf ihr physisches Leben� Gläubige, die versuchen, ihr irdisches Leben zu retten, werden das ewige Leben einbüßen, und wenn sie sich des Bekenntnisses zu Jesus in dieser Weltzeit schämen, wird sich im neuen Äon Jesus ihrer schämen und sie verstoßen� Die letzte Konsequenz von Apostasie ist der Ausschluss vom Leben in der kommenden Welt� Die Feuer der Gehenna werden ihre Strafe sein� Gläubige wie Ungläubige dürfen keinesfalls Christen, seien es Kinder oder Erwachsene, zum Abfall bewegen� Tun sie es doch, wird es ihnen schlimmer ergehen als Ertrinkenden (9,42)� In hyperbolischer Sprache wird gefordert, Körperglieder, die für Sünde und Abfall missbraucht zu werden drohen, besser abzuschlagen als in die Gehenna geworfen zu werden (9,43-47). Diese Bildsprache reagiert möglicherweise auf Erfahrungen von Verrat aus erster Hand: Kinder, die abfallen, weil ihre Eltern abtrünnig wurden, oder aber Folter- und Feuerqualen von der Hand ihrer Peiniger� Freilich ist Verfolgung nicht die einzige mögliche Ursache für Apostasie: Nach Mk 9,42-50 muss jede Sünde, die zum Abfall führt, geahndet werden, und der dritte Saat-Typus des Sämann-Gleichnisses (4,7�18 f) steht für Reichtum und weltliche Belange, die zu geistlichem Versagen führen können� Das deutlichste Beispiel hierfür ist Judas, der Jesus nicht aus Furcht vor Verfolgung verraten hat, sondern für Geld (14,10 f)� 11 Vgl� Cf� R� E� Watts, Isaiah’s New Exodus and Mark (WUNT II 88), Tübingen 1997); U. Mauser, Christ in the Wilderness: The Wilderness Theme in the Second Gospel and its Basis in the Biblical Tradition, London 1963; Joel Marcus, Mark 9-16 (AncB), New Haven 2009, 589-92. Apostasie im Neuen Testament 67 Apostasie im Matthäusevangelium Die matthäische Gemeinde muss man sich wohl als eine Mehrzahl von Gemeinden vorstellen, die vorwiegend judenchristlich waren und gegen Ende des 1� Jh�s im Raum zwischen dem syrischen Antiochien und Galiläa lebten� 12 Sie befinden sich im Konflikt mit den Autoritäten der lokalen Synagogen pharisäischer Richtung� Möglicherweise nehmen diese Gruppen von Jesusgläubigen bereits nicht mehr an den Synagogengottesdiensten teil (vgl. Mt 4,23; 9,35; 10,17; 12,9; 13,54), doch ist dies nicht für alle matthäischen Gruppen in dieser Region gleichermaßen deutlich (vgl. 23,1-3). Einige befinden sich möglicherweise noch in einem Ablösungsprozess� Das Wort Jesu über die Offenbarung Gottes für die Jünger und die einfachen Leute, die den Pharisäern und Schriftgelehrten dagegen verborgen bleibt (vgl. Mt 11,27-30), bietet eine apologetische Erklärung dafür, warum die Elite und ihre Anhänger die Botschaft Jesu vom Reich Gottes ablehnen� Die Gegner der matthäischen Gemeinde, zumal die Pharisäer, haben wie dämonisch Besessene, die nach ihrer Befreiung von den Dämonen wieder zurückgefallen sind und denen es nun siebenmal schlimmer ergeht, ihre Herzen verhärtet bis dahin, dass sie den Geist gelästert haben (12,22-32.43-45). Ähnlich wie bei Markus ist bei Matthäus die Menge, die Jesus zuhört, verhärtet und muss mittels Gleichnissen belehrt werden, aber anders als bei Markus ist ihr mangelndes Empfinden mehr eine Wirkung ihres eigenen Handelns als ein Ausdruck des göttlichen Gerichts (13,13-15). Andererseits erscheinen die Jünger als solche, die mit spiritueller Einsicht begabt und von Jesus mit spiritueller Autorität ausgestattet sind (13,16 f; 18,15-20). Ihre Verantwortung für die „Herde“ Israel und für die Ausgrenzung devianter Gruppenmitglieder diente möglicherweise der Legitimierung der Leiter der matthäischen Gemeinde als autoritative Sachwalter der Lehre Jesu� Die sind außerdem verantwortlich dafür, dass die schwächeren Glieder der Gemeinde nicht verachtet werden� Ein Habitus der Selbstgefälligkeit, Überheblichkeit oder der Vernachlässigung oder der Misshandlung von Mitgläubigen zieht nicht nur den möglichen Ausschluss des betreffenden Gemeindeleiters vom Reich der Himmel nach sich, sondern eine solche Haltung kann außerdem die „Kleinen“ zum Abfall verleiten (18,1-14). Wenn Gleichnisse wie die vom Unkraut unter dem Weizen, vom Fischnetz, vom Hochzeitsmahl oder von den anvertrauten Talenten Verhältnisse der Gemeinde 12 Zum mutmaßlichen galiläischen Umfeld vgl� J� A� Overman, Matthew’s Gospel and Formative Judaism: The Social World of the Matthean Community, Minneapolis 1990, 159-160, der Tiberias oder Sepphoris als Ort der matthäischen Gemeinde(n) vorschlägt. Graham N� Stanton, A Gospel for a New People: Studies in Matthew, Louisville 1993, 378, sieht die Gemeinde in Syrien� Für einen Überblick über die verschiedenen Lokalisierungsvorschläge vgl. D. C. Allison / W. D. Davies, Matthew 1-7 (ICC), London 2004, 138-47. 68 B. J. Oropeza ansprechen, dann sind die matthäischen Gruppen ein Mischgebilde aus treuen und untreuen Mitgliedern (Mt 13; 22,1-14; 25,14-30). Hinzu kommt, dass die Gemeinde möglicherweise von Falschpropheten beeinflusst wurden, die den Namen Jesu gebrauchen, ihm aber nicht in der Weise der matthäischen Gruppen angehören, und dass die Gläubigen in je höherem Maße mit diesen Leuten zu tun bekommen, desto näher das Ende der Zeit herbeikommt (7,15-23; 24,11.24). Die Glaubens- und Lebensweise der Gemeinden ist augenscheinlich davon geprägt, dass sie Jesus als messianischen Sohn Davids verehren und in ihm den verheißenen Gottesknecht Jesajas sehen (vgl� Jes 52 f�)� Sie verstehen sich als Juden und halten die Tora dadurch, dass sie die Worte Jesu befolgen, die neben vielem anderen zum Beachten seiner Lehre aufrufen und dazu, Gott zu lieben und den nächsten wie sich selbst (Mt 5-7; 22,36-40). Für die Jünger heißt gerecht zu sein und gerecht zu handeln Gottes Willen zu tun, wie er untrennbar mit Jesu Lehre und Torainterpretation verbunden ist� Das Verletzen der Gebote Jesu heißt, vom Reich der Himmel ausgeschlossen zu werden (z. B. 5,17-20; vgl� 7,12�23)� Die Gefahr des Abfalls ist also dort am größten, wo Jesu Worte und seine Gesetzesauslegung missachtet werden. In der Bergpredigt (Mt 5-7) werden die Jünger unter Hinweis auf göttliche Strafen davor gewarnt, ihre „Würze“ zu verlieren, ihre gerechten Taten, die ein Zeugnis für Außenstehende sind� Sie sollen lernen, dass der Zorn wider den Bruder oder die Schwester so schwer wiegt wie Mord und der begehrliche Blick so schwer wie Ehebruch� Beide Sünden können geradewegs in die Gehenna führen� Die Art und Weise, wie Nachfolger Christi verurteilen und ihnen Vergebung verweigern, wird auf sie selbst zurückfallen und diejenigen, die nicht die Früchte der Gerechtigkeit bringen oder Gottes Willen tun, müssen damit rechnen, dass Jesus am Tag des Gerichts erklärt, dass er sie nicht kennt� Die Nachfolger Jesu müssen sich deshalb von seinen Worten in ihrem Handeln bestimmen lassen, sie sollen darum bitten, vor Versuchung bewahrt zu bleiben und ihnen wird die Anstrengung abverlangt, den schmalen Pfad der Gerechtigkeit zu gehen, denn der breite Weg führt in das eschatologische Verderben� Falsche Propheten, die im Namen Jesu Wunder tun, sind die deutlichsten Beispiele für diejenigen, die den falschen Weg gewählt haben� Auf dem Ölberg, wo Jesus die Zerstörung des Jerusalemer Tempels vorhersagt und über die Ereignisse vor seinem zweiten Kommen spricht, warnt er vor falschen Propheten, die viele Christen irreführen werden und vor überhandnehmender Gesetzlosigkeit und vor Hass sogar unter den Christusnachfolgern� Gott wird die Gemeinde der Erwählten vor dem völligen Untergang bewahren, doch viele werden abtrünnig werden (24,10-13.22-26). Die Erwählung der Gemeinde als kollektive Größe ist allem Anschein nach keine Garantie für die endgültige Errettung jedes Individuums, das zu dieser Gemeinde gehört� Vergehen wie Trunksucht oder Ehebruch führt zur Verurteilung, Apostasie im Neuen Testament 69 weshalb die Christusnachfolger wachsam und auf die Wiederkunft Jesu vorbereitet sein müssen, damit sie nicht, wenn er wiederkommt, bei lasterhaftem Tun überrascht und dafür bestraft werden (24,42-51; vgl. 5,28-30; 18,8 f). Auch Verfolgung kann zum Abfall führen, deshalb obliegt es den Gläubigen, sich vor anderen beständig zu Christus bekennen und zum Martyrium bereit zu sein� Die Rettung des irdischen Lebens zieht den Verlust des ewigen nach sich und Christus zu verleugnen heißt, von Christus am Tag des Gerichts verleugnet zu werden (10,32-39; 16,24-27). Christusnachfolger sollen nicht sein wie solche, die ihr Haus auf Sand bauen, das Sturm und Fluten nicht standhält und sie sollen nicht dem zweiten Saat-Typus im Sämann-Gleichnis entsprechen, indem sie in Zeiten der Verfolgung abtrünnig werden (7,24-28; 13,5 f.20 f). Die Konsequenzen der Verletzung der Gebote Jesu und des Abfalls im Matthäusevangelium sind vielfältig, aber die meisten können auf den Apostaten zugspitzt werden, der am Gerichtstag von Christus zurückgewiesen wird und zum realisierten Gottesreich nicht zugelassen wird� Apostaten, falsche Propheten und die böse Welt, die den Gläubigen Stolpersteine in den Weg legen, müssen die Gehenna und äußerste Finsternis erleiden (z. B. 5,19 f.22.29 f; 7,21-23; 10,28; 18,9; 22,12 f.; 25,30). Allerdings gibt es für den Apostaten eine Möglichkeit der Wiederaufnahme, die im Bild des Erbarmens Gottes für die irrenden Schafe begründet ist (18,12-14). Auch die erneute Annahme des Petrus und der Jünger, nachdem sie Jesus verlassen haben, ist bei Matthäus stärker ausgeprägt als bei Markus und anders als bei Markus sind die Jünger im Matthäusevangelium der spirituellen Einsicht fähig� Sogar Judas zeigt Reue angesichts seines Verrats (27,1-5; vgl. 26,24), im Unterschied zu der Zeichnung des Judas bei Markus, dessen mögliche Reue durchs nichts angedeutet wird� Sein Geschick bleibt freilich undeutlich angesichts seiner Selbsttötung, v� a� aber im Blick auf die Warnung Jesu an den Verräter in 26,24� Apostasie im lukanischen Doppelwerk Wir kommen nun zu einer ganzen Reihe wichtiger Beobachtungen zum Thema der Apostasie im Lukasevangelium und in der Apostelgeschichte� Lukas legt Theophilus und mit ihm einem größeren christlichen Publikum wohl teilweise von gehobenem Stand dar, dass Gottes heilvoller Plan in Erfüllung der Schriften Israels die Erlösung gebracht hat und dass dieser Plan auch das Hinzukommen der Heiden zu Gottes Volk Israel umfasst (vgl. Lk 4,14-30; Apg 2,22-24; 4,28-30). 13 Hierbei sind Unglaube und Abfall unausweichlich (Lk 17,1; 22,22), 13 J� T� Squires, The Plan of God in Luke-Acts (SNTS�MS 76), Cambridge 1993); C. H. Cosgrove, The Divine DEI in Luke-Acts: Investigations into the Lukan Understanding of God’s 70 B. J. Oropeza aber Gott vermag selbst damit seine Ziele voranzubringen� Eine Anzahl jüdischer Gruppen und einige nichtjüdische Kreise lehnen die apostolische Botschaft ab, aber dies eröffnet neue Möglichkeiten für andere Nichtjuden und Gottesfürchtige, zum Glauben zu kommen� Auch Juden kommen zum Glauben an Jesus als den Messias, darunter Hellenisten und sogar Pharisäer (vgl. Apg 2,41; 6,1-6; 15,1-5; 21,20). Auch Ausgestoßene und an den Rand Gedrängte, von denen das Lukasevangelium erzählt, werden zu Nachfolgern Jesu� Jesus wird von den Autoritäten in Jerusalem angeklagt, durch seine Lehren zur Apostasie zu verleiten (Lk 23,2� 5� 14)� Ebenso denken auch einige jüdische Gläubige, dass Paulus den Abfall von Mose lehrt (Apg 21,21)� Beide werden jedoch in der lukanischen Erzählung von diesem Vorwurf freigesprochen: Jesus wird als der wahre Prophet Gottes dargestellt und Paulus als treuer Bote Gottes und Christi� Unter den Gläubigen der frühesten Zeit gibt es Konflikte zwischen palästinischen und hellenistischen Juden (Apg 6 f�), wie auch zwischen pharisäischen Gläubigen und den Akteuren der paulinischen Mission (Apg 15,1-5). Streitpunkte sind Fragen des Mosegesetzes, v� a� Beschneidung und Tischgemeinschaft mit Gläubigen aus den Völkern� Das Jerusalemer Treffen in Apg 15 sollte das Blatt wenden, jedoch mit mäßigem Erfolg� Toraobservante jüdische Gläubige verstehen das paulinische Evangelium für die Völker als Apostasie� Diese Konflikte sind für unser Thema von Belang, v� a� deshalb, weil sie uns die Unterschiedlichkeit der Glaubensweisen innerhalb der frühesten christlichen Gemeinden vor Augen führen� Es verhält sich keineswegs so, dass alle dasselbe geglaubt und praktiziert haben� Das heißt: Ihre Auffassung davon, was eigentlich Apostasie ist, variierte, ebenso, wer wen als Apostat bezeichnete� Während die lukanische Darstellung pharisäische Gemeindeglieder als „Gläubige“ gelten lässt, nennt Paulus diese oder eng verwandte Gruppen in Gal 2,4 „Falschbrüder“� Frühe christliche Gemeinden in der Apostelgeschichte sind sich über die Erlösung, die Gott denen, die dem Messias Jesus nachfolgen, zuteilwerden lässt, einig� Aber nicht alle stimmen darin überein, welchen Stellenwert das Mosegesetz einerseits und die Gemeinschaft mit den Gläubigen aus den Völkern andererseits in Gottes Plan haben� Die Gegner Jesu und des neuen Weges sind freilich nicht identisch mit denjenigen, die Gottes heilvollen Plan ablehnen� Jesus warnt seine Nachfolger, dass Versuchung Abfall bewirken kann� Das Sämanngleichnis zeigt, dass die Jesusnachfolger Versuchungen durchstehen müssen (Lk 8,6.13; vgl. 11,4; 18,8; Providence, NT 26 / 1984, 168-190; zum Gedanken der Schrifterfüllung im lukanischen Doppelwerk vgl� D� W� Pao, Acts and the Isaianic New Exodus (WUNT II 130) Tübingen 2000; F. Bovon, Luke the Theologian: Fifty-Five Years of Research (1950-2005), Waco 2006, 87-121.525-31. Apostasie im Neuen Testament 71 22,40�46)� Während im Markusevangelium ein enger Zusammenhang besteht zwischen Abfall und Verfolgung und bei Matthäus zwischen Apostasie und der Geringachtung der Lehre Jesu, geht es bei Lukas um das Ausharren in Versuchungen, die vielfach in Gestalt von Reichtum und Habsucht über die Gläubigen kommen� Judas verrät Jesus für eine Summe Geldes, Ananias und Saphira ereilt das göttliche Gericht, weil sie heimlich ihren Besitz zurückhalten, der Magier Simon versucht Petrus zu bestechen, um in den Besitz pneumatischer Macht zu kommen und die Christusnachfolger müssen ihre Aufmerksamkeit darauf verwenden, sich nicht in den täglichen Besorgungen zu verlieren und so des ewigen Lebens verlustig zu gehen (Lk 22,2-6; Apg 5,1-10; 8,4-24; vgl. Lk 8,7.14; 17,27-33). Dieser lukanische Akzent verrät möglicherweise etwas vom gehobenen sozialen Stand des Theophilus, mit der Absicht, ihn dazu anzureizen, den Armen zu geben und sich einen Schatz im Himmel zu schaffen anstatt einen irdischen zu horten� Die mancherlei Geschichten von Reichtum und Armut haben möglicherweise einen entsprechenden Einfluss auch auf die weiteren Erstadressaten des Evangeliums� Abfall ist außerdem möglich durch sittenlose Lebensweise und das Verbreiten von Irrlehren� Deshalb werden die Gläubigen zu steter Wachsamkeit aufgerufen (Lk 12,40-48; 21,34-36). Die Gefahr des Abfalls und der Irreführung besteht auch dort, wo Leiter der Gemeinde ihrer Verantwortung nicht gerecht werden� Jesus warnt seine Jünger, dass ihr Verhalten an den Rand gedrängte Gläubige zum Abfall verleiten könnte und Paulus spricht an die ephesinische Gemeinde die Warnung aus, dass in ihren eigenen Reihen Irrlehrer auftreten und der Gemeinde schaden werden (Lk 17,1-4; Apg 20,28-30). Abtrünnigkeit aufgrund von Verfolgung stellt Lukas dagegen nicht als besondere Gefahr dar� Stattdessen führt er Jesus und die Jünger als Beispiele für Beharrungsvermögen vor Augen� Eine Ausnahme ist die Verleugnung Jesu durch Petrus (Lk 22,54-62; vgl. v.31-34), sowie die Möglichkeit, dass Gläubige den heiligen Geist lästern� Anders als die anderen synoptischen Evangelien kann diese unvergebbare Sünde eher von Christen als von ihren Gegnern begangen werden (Lk 12,5-12). Einige synoptische Jesuslogien erscheinen im Lukasevangelium an zwei Stellen, etwa die Mahnung an die Jünger, sich Jesu nicht zu schämen bzw. ihn vor den Menschen nicht zu verleugnen (9,26; 12,9), und hierbei spielt Abfall durch Verfolgung dann doch eine Rolle (vgl. 9,23 f.; 12,8-11). Die Apostelgeschichte kommt hierauf im Zusammenhang des Selbstzeugnisses des Paulus zu sprechen, er habe die hellenistischen Gläubigen verfolgt, um sie zur Lästerung zu zwingen (Apg 26,11), wobei offen bleibt, wie erfolgreich er damit war� Die Konsequenzen von Apostasie umfassen göttliche Strafen, Verlust ewigen Lebens und Erleiden der Gehenna (Lk 9,24; 12,5.9; 17,33). Es wird im Lukasevangelium allerdings nicht völlig deutlich, ob diese Strafen auf die Wiederkunft Jesu 72 B. J. Oropeza terminiert sind� Das Gericht kann auch unmittelbar nach dem Tod stattfinden (Lk 16,19-31; 23,43). Wer eine christliche Leitungsposition innehat und dennoch abfällt, wird „viele Schläge erhalten“, d� h� strenger bestraft werden als andere (Lk 12,47 f�)� Der Abfall des Judas wird zum drastischsten Beispiel des ewigen Gerichts über christliche Leiter und sonstige Christusnachfolger� Bei Lukas ist er nicht der reuevolle Verräter, wie ihn Matthäus präsentiert und er endet auch nicht durch Selbsttötung� Es ist vielmehr ein redlicher Christusnachfolger, der zum Apostaten wird, von dem der Satan Besitz ergreift und dessen Leib zerbirst als Folge seines Verrats (Apg 1,15-25; vgl. 22,22). Nach dem Judasevangelium, das mit der Darstellung des von Judas’ Tod in der Apostelgeschichte vertraut zu sein scheint, ist auch die Interpretation möglich, dass sein Tod durch Steinigung erfolgte� Dass er nach seinem Tod durch Matthias ersetzt wird, kann auch heißen: Es war nicht mehr damit zu rechnen, dass er dereinst als einer der Zwölf im Reich Gottes herrschen würde� Er geht „an seinen Platz“ (Apg 1,25), womit möglicherweise sein Ort in der jenseitigen Verdammnis gemeint ist� Ebenso kommen Ananias und Saphira durch ein Gottesurteil zu Tode wegen ihrer Sünde, den Geist Gottes belogen zu haben (Apg 5,1-10). Sie stehen beispielhaft für die Weise Gottes, jemanden aus der Gemeinde Christi auszustoßen� Gleichwohl wird den Christus-Nachfolgern zugesichert, dass Umkehr durch die Vermittlung Christi die völlige Wiederannahme von Abgefallenen ermöglicht� Petrus und der jüngere Sohn im Gleichnis vom verlorenen Sohn sind zwei Beispiele (Lk 15, 22,55-62; vgl. 22,31 f.). Theophilus samt den anderen Adressaten waren damit unterrichtet über Beharrlichkeit und Apostasie� Der unabgeschlossene Erzählverlauf am Ende von Apg 28 las sich für nichtjüdische Gläubige als Bekräftigung, dass sie nun zum Volk Gottes gehörten und zugleich waren sie herausgefordert, die apostolische Mission des Paulus fortzusetzen� Ebenso zielte das Ende darauf, dass jüdische Adressaten zum Glauben kommen und sich nicht wie die in Jesaja 6 Genannten verhalten sollten, die sich gegen Gott auflehnten und spirituell blind wurden� Schließlich konnte auch die offene Erzählung vom Geschick des Simon Magus aus den Reihen der samaritanischen Gläubigen und vom Jenseitsgeschick von Ananias und Saphira speziell die wohlhabenden Christusnachfolger dazu animieren, sich über ihr Streben nach materiellen Dingen bis hin zu dem Versuch, Gottes Geist zu manipulieren, klarzuwerden� Apostasie im Neuen Testament 73 Apostasie im Johannesevangelium und in den Johannesbriefen Ich setze voraus, dass das vierte Evangelium und die Johannesbriefe zusammen gelesen werden sollten, 14 und dass eine Lektüre des Evangeliums auf zwei Ebenen dabei helfen kann, die Situation der johanneischen Gemeinde besser zu verstehen� 15 Diese Gemeinde hat ihren Ursprung mutmaßlich in Palästina, wurde aus der Synagoge ausgeschlossen ( Joh 9,22; 16,1-4) und siedelte nach Ephesus über� Am neuen Ort schlossen sich Nichtjuden den jüdischen Gläubigen an� Zu einer Lagerbildung kam es in der Frage des Wesens Christi� Dies führte dazu, dass eine Anzahl von Mitgliedern sich von der Gruppe abwandte (1Joh 2,19)� Sie leugneten, so der Presbyter Johannes, dass Jesus der Christus ist (1Joh 2,22 f�)� Diese Erfahrungen haben anscheinend die Sicht der johanneischen Gemeinde auf Apostasie geformt und außerdem die negative Meinung des vierten Evangeliums über Judäer geprägt, die Jesus ablehnen� Im Johannesevangelium gelten die Judäer als spirituell erblindet, ähnlich wie in Jes 6 ( Joh 12,37-41). Trotz des Anscheins eines von göttlicher Souveränität bestimmten unausweichlichen Laufs der Dinge, weiß der Verfasser gleichermaßen etwas von Gottes Initiative und des Menschen Verantwortlichkeit� Im Johannesevangelium und seine jesajanischen Echos ist Gott in gewisser Weise an der Verhärtung „der Juden“ beteiligt, sei es direkt oder durch den Widersacher� Ihre Blindheit ist ein Resultat des göttlichen Gerichts, das wegen ihrer früheren Ablehnung der Offenbarung Gottes durch Jesus und ihre eigenen Schriften über sie gekommen ist (vgl� Joh 5 f�)� Zwar sind einige „Juden“ gläubig, doch eine große Anzahl verfällt dem Unglauben gegenüber Jesu Selbstoffenbarung über seine Präexistenz, seine Einheit mit dem Vater und die Ereignisse vor seinem nahen Tod ( Joh 6,59-66; 8,30-58). Für die johanneische Gemeinde heißt Jesus als Christus anzuerkennen seine Präexistenz und sein göttliches Wesen anzuerkennen (z. B. Joh 1,1-18; 5,18; 20,28; 1Joh 5,20). Unter den Abtrünnigen ist eine Gruppe Judäer, unbesonnene Überläufer, die sich feindselig gegen Jesus stellen und ihn zweimal sogar stei- 14 Zur Auffassung, dass Evangelium und Briefe vom selben Autor stammen, wobei das Evangelium in mehreren Phasen abgefasst wurden und die Briefe einige Zeit vor der Endgestalt des Evangeliums vgl� M� Hengel, The Johannine Question, Philadelphia 1989, v� a� 48.176-77. Für die weitere Diskussion zur Verfasserfrage der Briefe vgl. R. E. Brown, The Epistles of John (AncB), New Haven 1982, 14-35. 15 Vgl. etwa R. E. Brown, Introduction to the New Testament, New York 1997, 373-76; P� N� Anderson, Antichristic Errors: Proselytization Back into Jewish Religious Certainty - The Threat of Schismatic Abandonment, in: J� H� Ellens (Hg�), Text and Community: Essays in Memory of Bruce M. Metzger, Bd. 1., Sheffield 2007, 217-240; J. L. Martyn, History and Theology in the Fourth Gospel, Nashville 1979� 74 B. J. Oropeza nigen wollen, weil sie in seinen Äußerungen einen blasphemischen Anspruch sehen ( Joh 8,30-58; 10,30-33). Auf einer sekundären Ebene lassen sich hierin Abtrünnige der johanneischen Gemeinde erblicken� Außerdem scheint es im Johannesevangelium eine weitere Gruppe von „Juden“ zu geben, die „heimliche Gläubige“ sind� Sie ziehen es vor, in der Synagoge zu bleiben, anstatt die Härten des offenen Bekenntnisses zu Jesus auf sich zu nehmen (z� B� 12,42 f)� Wenn Jesus aber gekreuzigt und erhöht ist, werden „alle“ zu ihm gezogen und ihm vom Vater gegeben werden, Juden wie Nichtjuden, entsprechend der jesajanischen Prophetie ( Joh 12,32; vgl. 6,44; Jes 54-56). Im Unterschied zu den religiösen Autoritäten der Synagoge, die die Nachfolger Jesu ausschließen, wird derjenige, der zu Jesus kommt und sich ihm beständig anvertraut, von ihm nicht verstoßen werden ( Joh 6,37)� Als vollkommener Hirte wird Jesus seine Herde vor äußerem Schaden bewahren (10,1-30; vgl� 18,8 f)� Die johanneische Literatur betont die Gewissheit der Errettung der Gläubigen, um einer weiteren Abspaltung von der Gruppe vorzubeugen (z� B� Joh 20,31; 1Joh 5,13). Einige Apostaten aus der ephesinischen Zeit der johanneischen Gemeinde sorgen noch immer für Unruhe unter den Mitgliedern der Gruppe (1Joh 2,18�26), und falsche Propheten im Geist des Antichrists sind eine weitere mögliche Bedrohung am Horizont (1Joh 4,1-6; 2Joh 7-9). Wir wissen freilich nichts darüber, wie die Abtrünnigen über ihre eigene Beziehung zu Gott und Jesus gedacht haben� Möglicherweise haben sie nach wie vor Jesus als den Christus bekannt, jedoch nicht die Auffassung der Gemeinde von Jesus als eines präexistenten, gottgleichen Wesens geteilt� Apostaten werden in diesen Schriften üblicherweise als Falschgläubige bezeichnet ( Joh 6,64 f�70 f�)� Im 1� Johannesbrief gelten Abtrünnige aus den eigenen Reihen als solche, die niemals wirklich zur spirituellen Gefolgschaft der Gruppe gehört haben (1Joh 2,19), und Diotrephes, der eine mit der johanneischen Gemeinde in Verbindung stehende Autorität zu sein scheint, wird als jemand dargestellt, der der Gemeinde schwer schadet (3Joh 9-11). Das Hauptanliegen der Briefe besteht darin, die Unterscheidungsgabe der Gläubigen zu stärken und sie ihres Heils zu versichern� Unglaube ist das Gegenteil davon� Diejenigen, die am Glauben festhalten, haben ewiges Leben, und diejenigen, die nicht von ihrer sündigen Lebensweise abstehen, bleiben im Tod (1Joh 3,14)� Im vierten Evangelium erscheinen Apostaten aus den Reihen jüdischer Gläubiger als solche, die seine Worte nicht hinreichend verstanden und ihnen nicht geglaubt haben� Judas ist der Apostat schlechthin� Er war immer schon ein Pseudo-Jünger, ein Kind des Teufels, „Sohn des Verderbens“ ( Joh 6,70 f.; 13,2; 17,12). Wenn gilt, dass in den johanneischen Schriften Apostaten Falschgläubige sind, dann gibt es hiervon wichtige Ausnahmen� Das Bleiben in Christus schließt auch in dem Apostasie im Neuen Testament 75 Maße Beständigkeit ein, wie diejenigen, die jetzt in Christus bleiben, dies auch kontinuierlich tun müssen oder aber riskieren, von Christus getrennt zu sein und dem Verderben anheimzufallen ( Joh 15,1-6). Ein Präludium hierzu könnte in der Warnung Jesu liegen, die er an den von ihm geheilten Mann am Teich Bethesda ausspricht ( Joh 5,14), oder im Wort vom Dieb in der Rede vom Guten Hirten (10,10a)� Im Horizont des Gerichts steht nicht nur Jesu Mahnrede, an ihm als dem wahren Weinstock zu bleiben, sondern auch die Warnung an die Gläubigen, dass diejenigen beim zweiten Kommen Jesu beschämt werden, die nicht in ihm bleiben (1Joh 2,28)� Wenn sie Irrlehrern zum Opfer fallen, werden die Leiter samt ihrer Gemeinde des eschatologischen Lohnes verlustig gehen (2Joh 8)� Alle diese Warnungen gelten redlichen Gläubigen und wie in den synoptischen Evangelien erklärt Jesus seinen Anhängern, dass Abfall in der Verfolgung den Verlust ewigen Lebens bedeutet, denn wer sein Leben liebt, wird es verlieren ( Joh 12,25)� Aus Sicht der johanneischen Gemeinde sollen freilich nicht alle Sünden gleich behandelt werden� Sie unterscheidet zwischen Apostasie als Sünde zum Tod, wer aber eine Sünde „nicht zum Tod“ begeht, d� h�, wer sündigt, aber nicht abfällt, für dessen Wiederannahme soll man beten (1Joh 5,16 f)� Dass diese Gläubigen wie zum „Leben“ gebracht werden müssen, eröffnet innerhalb des johanneischen Denkens die Möglichkeit, dass angesichts bestimmter Sünden unterhalb der Apostasie der Glaube echter Christen deutlich hervortritt, nämlich bei solchen Sünden, an denen sich entscheidet, ob sich jemand an die Lebensweise der umgebenden Mehrheitsgesellschaft anpasst, johanneisch gesprochen an die „Welt“ (z. B. 1Joh 2,15-17; vgl. 3,1-10; 5,21; Joh 5,40). Der johanneische Autor wahrt die klare Grenzlinie zwischen Gruppenmitgliedern und Außenstehenden� Was uns also in der johanneischen Literatur begegnet, ist nicht eine einzige Perspektive auf Apostasie, sondern derer zwei� Wer falschen Lehren anheimfällt, war niemals ein echter Gläubiger, aber echte Gläubige können allem Anschein nach echte Apostaten werden durch Irreführung, Verfolgung und bestimmte Arten von Sünden� Diese Spannung lässt sich vielleicht plausibel damit erklären, dass Gegner mittels Statusabwertung etikettiert werden� Dies funktioniert so, dass diejenigen, die bisher mit der jeweiligen Gemeinschaft identifiziert wurden, nun als Outsider denunziert werden, die niemals etwas mit der Gemeinde zu tun hatten und deren frühere Partizipation als Fassade abgetan wird� 16 Formal ähnelt die johanneische Sicht auf solche, die von der Gemeinde abtrünnig geworden sind, den matthäischen falschen Propheten, die behaupten, 16 Vgl� L� Pietersen, Despicable Deviants: Labelling Theory and the Polemic of the Pastorals, Sociology of Religion 58 / 1997, 343-523, v. a. 347-50. 76 B. J. Oropeza sie würden Christus nachfolgen� Die Eigenart von Apostasie bei Johannes und Matthäus besteht wesentlich in Irreführung und falschen Glaubensüberzeugungen� Beide Evangelien rechnen dabei mit der Möglichkeit, dass aus redlichen Christus-Anhängern Apostaten werden, weil die der Irreführung erliegen oder aus anderen Gründen� Bei Matthäus ist dies stärker noch als bei Johannes der Fall� Kennzeichnend für Johannes ist, dass die Apostaten die Gemeinde verlassen haben, auch wenn sie möglicherweise versuchen, weiterhin die Gemeinde zu beeinflussen, mit Diotrephes als Sonderfall� Bei Matthäus sind die falschen Propheten nicht eo ipso Apostaten, sondern Blender, die in der matthäischen Gemeinde noch immer eine Rolle spielen� Und während sich bei Matthäus die falschen Propheten ungerechten und gesetzwidrigen Verhaltens schuldig machen, das der Torainterpretation Jesu zuwider läuft, besteht bei Johannes der Hauptstreitpunkt mit den Apostaten darin, dass sie Jesus nicht als Messias anerkennen, zumindest nicht nach den Vorgaben der johanneischen Gemeinde� Die falschen Propheten bei Matthäus bekennen Jesus als den Christus, aber sie leben nicht so, dass sie ihr Bekenntnis in Ehren halten� Die johanneischen Schriften stimmen mit den Synoptikern darin überein, dass Apostaten dem eschatologischen Gericht unterliegen� Johannes hat mit Markus gemeinsam, dass er keine Schilderung von Judas Tod enthält, und er bleibt bis zum Schluss verhärtet� Ein eklatanter Unterschied zu den Synoptikern liegt darin, dass Judas nach Johannes zu keiner Zeit ein wahrer Nachfolger Jesu war� Bei Johannes gibt es keine Wiederannahme für Judas, wozu sich fügt, dass der 1� Johannesbrief zwar dazu ermutigt, für diejenigen zu beten, die Sünden „nicht zum Tode“ begangen haben, dass er aber keine Fürbitte für Apostaten empfiehlt� Abschließende Beobachtungen zu Apostasie in den Evangelien, den johanneischen Schriften und der Apostelgeschichte Apostasie bei den Synoptikern, bei Johannes und in der Apostelgeschichte hat fünf Aspekte, die einander teilweise überlagern� Erstens spiegelt sich in allen vier Evangelien die Erfahrung, dass Verfolgung die Gläubigen zum Abfall treibt� Die Abschwächung dieses Moments durch den Verfasser des lukanischen Doppelwerkes ist möglicherweise auf dem Hintergrund seiner idealisierenden Darstellung des Paulus und anderer Apostel zu verstehen� Paulus selbst hat jedenfalls eine robuste Konstitution, die es ihm erlaubt, an seiner Mission trotz Verfolgung und anderen Ungemachs festzuhalten (z. B. Röm 1,16, 8,34-38, 2Kor 11,23-12,10). Seine ernste Besorgnis über die Gemeinde in Thessalonich gibt freilich auch einen kleinen Einblick in ganz andere Stimmungslagen (1Thess 3,5)� Apostasie im Neuen Testament 77 Bei Markus spielen Erfahrungen von Leid und Verfolgung eine wichtige Rolle, wohl im Kontext der besonderen Situation der Gemeinde in Rom� Zweitens sind in den vier Evangelien Unglaube und spirituelle Verhärtung entscheidende Faktoren, wobei der Abfall Israels aus Jesaja 6 den Hintergrund bildet� Bei Markus sind auch Jesu Familie und die Jünger von Verstockung betroffen� Hier schlagen sich möglicherweise Fälle von Verrat aus dem engsten persönlichen Umfeld nieder, die sich in Verfolgungssituationen ereignet haben� Der johanneische Autor hebt Unglauben unter „Juden“ hervor, die einst Gläubige waren und nun der johanneischen Gemeinde den Rücken gekehrt haben� Drittens wird Apostasie mit Irrlehren und mit Personen in Verbindung gebracht, die ihre leitende Stellung in der Gemeinde missbrauchen� Matthäus warnt seine Gemeinden vor falschen Propheten wie auch vor korrupten Leitern und vor Lehrern, deren Lebensweise ihre Lehre Lügen straft� In der Apostelgeschichte gerät Paulus in Konflikte mit anderen christusgläubigen Juden, für die seine Lehren zum Abfall führen� Johannes spricht von Betrügern und Irrlehren, die die Gläubigen vom Weg abzubringen drohen� Viertens kann eine Lebensweise, die rücksichtslos zu Lasten anderer geht, Apostasie gleichkommen� Wer Jesu Torainterpretation missachtet, gilt im Matthäusevangelium als Gesetzesübertreter� In Erwartung des zweiten Kommens Jesu werden die Gläubigen vor dem göttlichen Strafgericht über ungerechtes Tun gewarnt� Der 1� Johannesbrief insistiert darauf, dass die Gläubigen sich vor Sünde und Weltförmigkeit gleichermaßen in acht nehmen sollen� Schließlich geht es fünftens um Besitzgier und grenzenlose Geschäftigkeit, Versuchungen, die im Sämanngleichnis zur Sprache kommen, und mannigfach im lukanischen Doppelwerk� Der tiefe Fall des Judas hat nicht zuletzt etwas mit Geld zu tun! Weitere Facetten unseres Themas wären bei Paulus, in der übrigen Briefliteratur und in der Johannesoffenbarung zu entdecken, womit aber das für diesen Beitrag abgesteckte Feld überschritten wäre� 17 17 Für eine ausführlichere Zusammenfassung zum Thema im Blick auf das Neue Testament insgesamt sei auf meinen dritten Band (Churches under Siege of Persecution), 234-248 verwiesen� Zeitschrift für Neues Testament Heft 41 21. Jahrgang (2018) Kontroverse Judas: eine biblische Randfigur? Einleitung zur Kontroverse Manuel Vogel Judas ist schon lange eine kontroverse Figur zwischen Judas-Anklägern und Judas-Verteidigern� Je finsterer die Geschichte des „Verräters“, wie er bei Lukas heißt (Lk 6,16), nacherzählt wird, desto eifriger werden Gegenstimmen laut, die die Tat des Judas erklären wollen und um Verständnis nicht nur für die Tat, sondern auch für den Täter werben� Das Thema der Kontroverse des akteullen Heftes der ZNT stellt den Versuch dar, von dieser engagierten Diskussion - jedenfalls zunächst - etwas wegzuführen zugunsten der formalen Frage, ob Judas eine biblische Randfigur ist oder nicht� Das in dieser Kontroverse erörterte Thema ist freilich alles andere als eine Formsache� Vielmehr zeigt sich beim Lesen der beiden Beiträge von Paul Metzger und Kristina Dronsch alsbald, dass es ins Zentrum der Fragen führt, die an der Judasfigur aufbrechen� Der kontroverse Zug der gestellten Titelfrage lässt sich so konkretisieren: Welche Perspektive - diejenige auf Judas als Haupt- oder als Randfigur der biblischen Erzählung - kann auf welche Einsichten verweisen? Welche Sicht erschließt uns die Judasfigur mit welchen Beobachtungen, Argumenten und weiterführenden Fragen? Paul Metzger argumentiert bündig und textnah dafür, dass Judas gar nicht anders denn als eine Hauptfigur der Evangelien begriffen werden kann, der auf unterschiedlichen Ebenen großes Gewicht beizumessen ist� Metzger macht hierfür historische, theologische, literarische und kulturelle Gründe geltend� 80 Manuel Vogel Namentlich auf kultureller Ebene wird die lebendige und intensive Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte der Judasfigur bis in Milieus gegenwärtiger Popkultur und Fantasy-Literatur deutlich� Die von ihm gewählten Beispiele zeigen ganz nebenbei, dass die Auseinandersetzung mit Judas in Hard-Rock, Heavy-Metal und Fantasy-Comic keineswegs oberflächlich oder undifferenziert ausfällt, sondern die Judasgeschichte tiefgründig und anspielungsreich weitererzählt� Für Kristina Dronsch ist Judas nun aber bereits historisch ein „Fliegengewicht“, über das die Evangelien nur spärlich Informationen geben� Ebenso gebe es „kein tragendes Judas-Narrativ, von dem die Erzählungen des Neuen Testaments irgendwie zehren“� Die Judasfigur dürfe keinesfalls überhöht werden, dergestalt, dass ihr ein Verdienst als Wegbereiter der Passion, gar auch noch der Auferstehung, zugeschrieben wird� Alles, was passiert ist, hätte auch ohne Judas passieren können� Dass Judas damit seine Stellung als Hauptfigur einbüßt, bedeutet freilich nicht, dass er damit an Bedeutung verlöre, im Gegenteil: Erst wenn man Judas nicht größer macht, als ihn die Evangelien darstellen, wird man seiner ansichtig, nämlich als „einen der Zwölf “, als einen, der an Jesu Tisch mitisst, als Teil einer Gemeinschaft, die durch seine Tat im Innersten affiziert wird� Kristina Dronsch führt Judas vor als kleine Figur in einer großen Geschichte, als kleinen Teil eines großen Ganzen� Paul Metzger zeigt dagegen, wie sich dieses große Ganze in der Judasfigur bündelt wie in einem Brennglas, optisch gesprochen: in einem Vergrößerungsglas� Judas ist dann der „Antagonist“, ohne den keine Erzählung auskommt, und der ihr allererst zu ihrer Dramatik verhilft, bei Kristina Drosch dagegen lediglich der „Parasit“, dessen Rolle die Dramatik der Erzählung freilich eher noch steigert� In beiden Perspektiven, die in dieser Kontroverse dankenswert klar und unterscheidbar vertreten werden, tritt uns mithin auf je eigene Weise die Judasfigur entgegen und verwickelt uns in ein altes Gespräch, das zu keinem Ende zu kommen scheint� Zeitschrift für Neues Testament Heft 41 21. Jahrgang (2018) Judas Iskarioth-- Eine zentrale Figur des Neuen Testaments Paul Metzger Judas Iskarioth ist eine zentrale Figur des Neuen Testaments� Historisch handelt er im Kontext der letzten Tage Jesu auf Erden� Theologisch bereitet er damit den entscheidenden Wendepunkt der Heilsgeschichte vor und personifiziert die Frage nach dem Bösen und der Prädestination Gottes� Literarisch bekommt er deshalb in den Evangelien eine zentrale Stellung als Handlungsträger� Kulturell entfaltet er dann eine Wirkung, die kaum ein anderer Apostel aufweisen kann� Es kann demnach auf mindestens vier Ebenen gezeigt werden, dass Judas keine Randfigur des Neuen Testaments, sondern geradezu eine der ganz wesentlichen Figuren der Geschichte Jesu darstellt� 1. Historisches Argument Die Überlieferung der Evangelien hat kein gesteigertes Interesse daran, historisch exakt nachzuzeichnen, wer dieser Apostel Judas Iskarioth wirklich war und was ihn bewegte� Für die Evangelien steht fest, dass er ein Verräter ist, der Jesus ausliefern will (Mk 14,42)� Diese Tat ist dabei eindeutig negativ bewertet� Während im Markusevangelium Judas nur zweimal erwähnt wird und auch seine Tat eher unaufgeregt erzählt wird, steigert sich die negative Bewertung des Judas in den anderen kanonischen Evangelien (Mt 26,15; Joh 12,6). Historisch ist hier allerdings wenig zu gewinnen� Glaubwürdig ist lediglich die Erinnerung, dass Judas eine Rolle in den letzten Tagen Jesu gespielt hat� Da durchaus anzunehmen ist, dass Jesus seinen Tod am Kreuz - im Gegensatz zur Darstellung im Johannesevangelium ( Joh 19,30) - nicht als krönenden Ab- 82 Paul Metzger schluss seines irdischen Wirkens betrachtet hat (Mk 14,36; 15,34), scheint es unwahrscheinlich, dass Jesus von Judas verlangt hat, ihn auszuliefern, wie dies Joh 13,27 nahelegen könnte� Allerdings ist die Vermutung nicht von der Hand zu weisen, dass Judas mit seinem Handeln die letzte Eskalation zwischen Jesus und der römischen Besatzungsmacht provozieren wollte� Prominent ist diese Überlegung von Johann Wolfgang von Goethe in „Dichtung und Wahrheit“ angestellt worden� Genauso kann Judas aber auch im Laufe der Begleitung Jesu zur Überzeugung gelangt sein, dass Jesus vielleicht wirklich eine Gefahr für den fragilen status quo der damaligen Gesellschaftsordnung darstellen könnte� Eine Tat der puren Bosheit muss sein Wirken jedenfalls nicht darstellen� Grundsätzlich gilt: Die historische Forschung kommt hier an ihre Grenzen� Über die pure Spekulation, an der sich im Laufe der langen Wirkungsgeschichte der biblischen Texte sehr viele Denker beteiligt haben, kommt man letztlich nicht hinaus, wenn man über die Motivation des Judas nachdenkt� Sicher dürfte deshalb lediglich sein, dass er im Zusammenhang der Festnahme Jesu eine entscheidende, wenn auch unrühmliche Rolle gespielt hat� Weil diese Festnahme aber die notwendige Vorstufe zum Prozess Jesu und letztlich zu Tod und Auferstehung darstellt, spielt Judas - gewollt oder ungewollt - faktisch eine historisch ganz zentrale Rolle in der Passionsgeschichte� Historisch gesehen ist er ein Initiator des Todes Jesu� 2. Theologisches Argument Theologisch bereitet Judas den Höhepunkt der Heilsgeschichte Gottes vor� Der Kreuzestod und die Auferweckung Jesu durch Gott sind die zentralen Eckdaten der christlichen Religion� Historisch mögen diese Geschehnisse kontingent sein, theologisch sind sie aber enorm wichtig� Dadurch, dass Gott gerade diesen Jesus, der den Sklaventod am Kreuz gestorben ist, auferweckt, offenbart er sein eigenes Wesen� Gott ist derjenige, der sich denjenigen zuwendet, die aus menschlicher Sicht ausgestoßen sind� Das Kreuz steht in der christlichen Tradition seit Paulus für die tiefste Erniedrigung des Menschen� Gott bleibt selbst dies nicht fremd, sondern Gott geht diesen Weg bis zum bitteren Ende mit� Wenn also das Kreuz somit in das Zentrum der christlichen Theologie rückt, dann kann derjenige auch theologisch nicht am Rande stehen, der dabei „geholfen“ hat, Jesus ans Kreuz zu bringen� Von daher kommt Judas zweitens eine zentrale theologische Rolle zu� Die theologische Frage, die sich an ihn heftet, ist erstens die Frage nach dem Bösen. Lk 22,3; Joh 6,70; 13,2 bringen Judas explizit mit dem Teufel in Verbindung und erklären dadurch dessen Motivation zum Bösen� Theologisch wird demnach die Figur des Judas eingezeichnet in den Kampf Gottes gegen das Böse� Für Lukas und Johannes ist dabei klar, dass Jesus den Kampf gegen den Teufel Judas Iskarioth-- Eine zentrale Figur des Neuen Testaments 83 gewonnen hat, dieser aber immer noch die Gemeinde permanent bedroht� Ganz analog zur Denkfigur der Johannesoffenbarung, wonach der Kampf im Himmel zwar bereits entschieden ist, der Teufel die Gemeinde in der Welt aber deshalb umso mehr bedroht (Apk 12,10-12), betonen die Evangelisten, dass der Teufel selbst aus der von Jesus persönlich erwählten Gruppe der Jünger sein böses Werkzeug bestimmen kann� Das Böse stellt also eine beständige Bedrohung dar, der man sich erwehren und vor der man sich schützen muss� Selbst im Kreis der engsten Nachfolger Jesu besteht dazu eine gewisse Notwendigkeit� Dass aber das Böse letztlich nicht siegen kann, zeigt die Überwindung des Teufels, die bereits im Leben Jesu zu Tage tritt (Mt 4,1-11; Lk 10,18), endgültig aber in der Auferweckung Jesu bestätigt wird� Denn wenn das Böse in Gestalt des Judas Jesus in letzter Konsequenz ans Kreuz gebracht hat, dann hat Gott über Tod und Teufel in der Auferweckung triumphiert� Das Böse (und seine Personifikation im Teufel) hat dann letztlich verloren� Es ist aber kein theologisches Randphänomen, sondern stellt eine Alternative im entscheidenden Kampf des Lebens eines jeden Menschen dar� Für Judas als Werkzeug des Bösen heißt das, dass er keine Randfigur sein kann, sondern eine theologisch äußerst prominente und wichtige Inkarnation des Bösen darstellt� Deshalb bekommt er literarisch auch weitere Rollen zugewiesen, die ihn in die dunkle Seite der Macht einzeichnen� Die zweite Frage, die sich mit Judas in theologischer Hinsicht verbindet, ist die der Vorherbestimmung� Erstens streckt sich diese Frage in Hinsicht auf die Christologie aus� Schon die Alte Kirche diskutiert darüber, wieso Jesus sich den Verräter als Jünger heranzieht� Hätte Jesus als Gottessohn nicht wissen müssen, wen er da beruft? Oder hat Jesus den Verräter bewusst berufen, weil er seiner Sendung ans Kreuz folgen wollte (so legt es z� B� Joh 13 nahe)� Musste Judas ihn verraten, weil dies in Gottes Heilsplan so vorherbestimmt war? Brauchte Gott ihn als den Verräter? Und ist Judas unter dieser Prämisse überhaupt schuldig oder lediglich Werkzeug Gottes, nur Mittel zum Zweck? Demnach also eigentlich unschuldig? Müsste er nicht vielleicht sogar zum Heiligen erhoben werden, Pfr. Dr. theol. Paul Metzger, Studium der Evangelischen Theologie in Bethel / Bielefeld, Marburg, Rom und Heidelberg, Promotion im Neuen Testament, Mainz 2004, Catholica-Referent am Konfessionskundlichen Institut des Evangelischen Bundes in Bensheim 2009-2016, Lehrbeauftragter für Neues Testament und Bibeldidaktik an der Universität Koblenz-Landau, seit 2017 Pfarrer der Evangelischen Kirche der Pfalz� 84 Paul Metzger weil er Gottes Heilswerk in Gang setzt� Damit ist bereits der Bereich der zweiten Frageperspektive erreicht: In anthropologischer Perspektive muss man fragen: Wie steht es mit dem freien Willen des Judas? Hatte er eine Wahl? Hat er sich bewusst für das Böse entschieden? Lag es in der Natur des Judas, Verräter zu sein, oder hat er sich dafür entschieden? Kann ein Mensch sich überhaupt frei entscheiden? Oder ist Gott am Ende dafür verantwortlich? Ist Gott schuld am Bösen? Es ist von daher kein Wunder, dass schon die antiken Kirchenlehrer hier letztlich die Frage der Theodizee aufbrechen sehen� Theologisch stellt die Figur des Judas also die wesentlichen Fragen von Heil und Unheil, von Freiheit und Verantwortung, von Prädestination und Willen, von der Rechtfertigung Gottes� Hat Gott seinen eigenen Sohn verraten? Die skizzierten Fragen dringen in theologische Kernthemen ein und zeigen daher, dass die Figur des Judas eine zentral wichtige Funktion in theologischer Hinsicht hat� 3. Literarisches Argument Nicht nur statistisch lässt sich zeigen, dass Judas ein ganz besonderer Apostel ist� Namentlich wird er in 27 Versen genannt� Nur wenige Apostel (z� B� Petrus) werden im Neuen Testament häufiger erwähnt als er� Seine zentrale literarische Rolle wird also bereits durch die Häufigkeit seines Auftretens belegt� Offensichtlich haben die Evangelisten ein gesteigertes Interesse an ihm� Mehr Interesse jedenfalls als sie es für eine Randfigur normalerweise erübrigen� Wichtig ist dabei allerdings das, was mit seiner literarischen Zeichnung transportiert werden soll� Betont wird durchweg, dass Judas „einer der Zwölf “ ( Joh 6,71) ist� Das heißt, dass er kein irregulärer Apostel ist, sondern „ordnungsgemäß“ von Jesus berufen wurde� Deshalb ist erzählerisch notwendig, dass Jesus permanent Herr des Geschehens bleibt und selbst den Verräter bewusst beruft ( Joh 6,70)� Es muss so sein� Ansonsten hätte Jesus bei dessen Berufung zumindest keine Menschenkenntnis an den Tag gelegt, was dem Gottessohn von Seiten der Evangelisten natürlich nicht unterstellt werden soll� Auf literarischer Ebene entscheidend ist allerdings das sich in der Statistik spiegelnde Argument, dass jede gute Geschichte nicht nur einen Protagonisten, sondern auch einen Antagonisten haben muss� Nichts ist so interessant wie der Bösewicht in der Geschichte� Für die Evangelien besteht hier eine gewisse Schwierigkeit� Erstens: In den Evangelien tauchen eine Vielzahl von Gegnern Jesu auf� Der klare Antagonist fehlt� Zweitens: Jesus kommt im Zuge eines Prozesses zu Tode� Wieder ist kein eindeutiger Antagonist auszumachen� Drittens: Als besonders abscheulich und hinterhältig, dafür aber umso interessanter, ist der Antagonist, der sich nicht gleich zu erkennen gibt, sondern der im Verlauf Judas Iskarioth-- Eine zentrale Figur des Neuen Testaments 85 der Geschichte enttarnt wird oder seine Maske fallen lässt� Eine überraschende Wendung steigert die Spannung� Diese Beobachtung lassen auf der literarischen Ebene deutlich werden, dass Judas die einzige Figur in den Evangelien ist, die sich als Antagonist hervorragend eignet� Ihm kommt als Gegenspieler, als Verräter Jesu, eine für die Geschichte zentrale Rolle zu� Genauso wie z� B� der Bösewicht in James-Bond-Filmen immer die zweite Hauptrolle einnimmt, so lässt sich auch Judas im Blick auf die Evangelien eine ganz zentrale Rolle zuweisen� 4. Wirkungsgeschichtliches Argument Kulturell ist die Figur des Judas so wirkungsvoll, dass selbst der Name allein einem Kind heute wegen Kindeswohlgefährdung nicht zugemutet werden darf� Allein der Name gilt bereits als Beschimpfung: „Du Judas! “ Welcher Apostel ist so berühmt? Gibt es einen anderen Apostel, nach dem ein Kuss benannt ist: Judaskuss? Welcher Apostel bekommt in der ikonographischen Darstellung zuverlässig und regelmäßig einen Sonderplatz? Welcher Apostel hat so viele psychologische und soziologische Deutungsversuche evoziert wie Judas? Gibt es eine andere biblische Figur, die Superman oder Batman als „Phantom Stranger“ auf den rechten Weg weist? Welcher Apostel hat die zweifelhafte Ehre, in Dante Alighieris „Göttlicher Komödie“ den Prototyp des Verräters darstellen zu dürfen? Keine andere biblische Figur kann hier mithalten, nur Brutus und Cassius sind vergleichbar� Welcher Apostel hat eine so breite literarische Wirkungsgeschichte entfaltet? Über die Alte Kirche bis zu Goethe, von Friedrich Gottfried Klopstock über Luise Rinser zu Lot Vekemans Judas-Monolog, der gegenwärtig auf großes Interesse stößt� Noch bekannter ist die Verteidigungsrede von Walter Jens, die der Schauspieler Ben Becker gegenwärtig mit großem Erfolg live aufführt� Welcher Apostel ist also so interessant, dass er auf Tour gehen kann? Angesichts des gegenwärtig säkularen Zeitalters ist erstaunlich und spricht für die Attraktivität der Thematik, dass sogar Zusatztermine aufgrund der großen Nachfrage terminiert werden müssen� Offensichtlich fasziniert das Publikum die Sichtweise, die Walter Jens vertritt: Judas „war kein Teufel� Der Verrat geschah auf Gottes Befehl� Um Jesu willen - im Dienste der Sonne, des Tages, des Lichts - hatte Judas Schatten zu sein, Dunkelheit und Nacht. […] Lässt sich ein Martyrium denken, ein Akt der Selbstverleugnung, der heroischer wäre als dieser? “ 1 Judas als tragischer Held, ein Severus Snape der Geschichte Jesu - darin liegt die Größe dieser Figur� Solche Heldenbzw� Antihelden-Gestalten kann sich auch der Film nicht entgehen lassen� Deshalb folgt Hollywood dieser Spur und stellt Judas nicht nur in 1 Walter Jens, Der Fall Judas, Ludwigsfelde 8 2016, 10� 86 Paul Metzger den klassischen Bibelverfilmungen als Verräter dar, sondern gewinnt ihm auch in neueren Filmen eine tragisch-heroische Seite ab� Berühmt, diskutiert und erfolgreich wurde z� B� der Roman „Die letzte Versuchung Christi“ von Nikos Kazantzakis, der durch Martin Scorsese auf die Leinwand gebracht wurde� Harvey Keitel spielt dabei die deutlich interessanteste Figur des Judas� Er ist es, der von Jesus gedrängt wird, ihn zu verraten, und der schließlich dafür sorgt, dass der Satan entlarvt wird und Jesus sein Schicksal doch annehmen kann� Judas ist demnach auf doppelte Weise wichtig für das Heilsgeschehen� Aber nicht nur Hollywood interessiert sich für Judas� Auch im DC -Comic- Universum streift Judas seit 1952 erfolgreich in einer eigenen Serie als „Phantom Stranger“ umher und betreut gefallene Seelen im Himmel und auf Erden� In „Superman Taschenbuch Extra 10“ von 1984 hilft Judas sogar Superman, im „Universum des Wahnsinns“ zu bestehen� In seiner neuesten Inkarnation von Dan Didio (und anderen) trägt der geheimnisvolle Fremde die 30 Silberstücke, die bei Mt 26,15 erwähnt werden, an einer Kette um den Hals� Bei jeder guten Tat fällt ein Silberstück ab, was impliziert, dass der Stranger (also Judas) - ähnlich wie der Teufel bei Origenes - irgendwann Erlösung finden wird� Diese Erlösung lässt ihm der Nobelpreisträger für Literatur von 2016 nicht zuteilwerden� Bob Dylan ist sich in seinem Song „Masters of War“ (1963) sicher, dass diese „wie Judas lügen und betrügen (Like Judas of old / You lie and deceive / A world war can be won / You want me to believe)� Dies hat zur Folge, dass ihnen nicht einmal Jesus vergeben würde (That even Jesus would never / Forgive what you do)� Dieses negative Judasbild wird allerdings im Hard-Rock bzw� Heavy-Metal umgekehrt rezipiert� Gerade weil Judas als gefallener Sünder angesehen wird, kann er für andere, die sich auch nicht auf der Sonnenseite des Lebens sehen, attraktiv sein� In „Judas be my guide“ von der britischen Rockband Iron Maiden wird er deshalb z� B� als Führer durch die Dunkelheit angesprochen� Überhaupt scheint der Heavy-Metal eine gewisse Vorliebe für Judas zu haben� So nannte sich eine britische Band nach einer an Judas angelehnten Figur aus dem Lied „The Ballad of Frankie Lee and Judas Priest“ von Bob Dylan� Um die popkulturelle Bedeutung des Judas also zu ermessen, muss man fragen: Gibt es eine Heavy- Metal-Band mit einem Apostelnamen, die größeren Erfolg hat als „Judas Priest“? Die dunkle Seite des Judas spielt daneben auch in den klassischen Passionsvertonungen ( Johann Sebastian Bach) eine wichtige Rolle und reicht sogar in Bereiche, in denen man Judas nicht direkt vermuten würde� Als Musicalfigur spielt Judas z� B� eine große, wieder tragisch-heroische Rolle in „Jesus Christ Superstar“ von Andrew Lloyd Webber� Von Bach bis Webber, von Dylan bis Judas Priest, von der hohen Literatur bis zu Comic und Film� Alle Beispiele belegen die enorme Wirkungskraft der Judas Iskarioth-- Eine zentrale Figur des Neuen Testaments 87 Figur des Judas� Kein anderer Jünger Jesu kann in dieser Komplexität und widersprüchlichen Aufnahme der Figur in Theologie-, Kunst-, Literatur- und Musikgeschichte mit Judas mithalten� Gerade weil die Faszination des Bösen Judas umgibt, scheint er besonders attraktiv� Dies macht ihn zu einer wesentlich interessanteren Projektionsfläche als sie andere Apostel bieten� Seine Deutung kann daher - fast muss man konstatieren: erstaunlicherweise - immens schillern� Einige fühlen sich in ihn ein und erkennen den guten Kern im bösen Menschen� Andere urteilen über ihn und sehen in ihm den Prototyp des Sünders und Verräters� 5. Fazit Die These des Anfangs ist hinreichend belegt: Judas Iskarioth ist eine zentrale Figur des Neuen Testaments� Obwohl sich die historische Forschung nur sehr bescheiden zu ihm äußern kann, ist klar, dass er in den letzten Tagen des irdischen Jesus eine Rolle im Rahmen seiner Festnahme und seines Prozesses spielte� Damit ist er ein notwendiges Element in der Heilsgeschichte Gottes� Theologisch stellt sich die Frage nach seinem freien Willen im Bezug zur Prädestination Gottes� Außerdem wirft er die Frage nach dem Bösen an sich auf, die sich in den Evangelien durch seine Beziehung zum Teufel spiegelt� Literarisch ist er der einzig personell deutlich greifbare Antagonist Jesu, spielt demnach eine immens wichtige Rolle für die Geschichte� Und letztlich ist seine Wirkungsgeschichte so weit verzweigt, so unterschiedlich, aber so einzigartig breit, dass der Einfluss des Judas auf die allgemeine Kulturgeschichte kaum unterschätzt werden kann� Judas Iskarioth als Rand- oder Nebenfigur des Neuen Testament zu bezeichnen, würde all diese Beobachtungen negieren oder deutlich unterbewerten� Judas Iskarioth ist also vielmehr in mehrfacher Hinsicht eine der Hauptfiguren des Neuen Testaments� Literatur Wolfgang Fenske, Brauchte Gott den Verräter? Die Gestalt des Judas in Theologie, Unterricht und Gottesdienst, Göttingen 2000� Martin Meiser, Judas Iskariot� Einer von uns, BG 10, Leipzig 2004� Mirjam Zimmermann / Ruben Zimmermann, Judas, in: Handbuch Bibeldidaktik, Tübingen 2013, 357-360. 88 Paul Metzger Nachweise Dan Didio (u� a�), Phantom Stranger - Ein Fremder unter uns, Stuttgart 2014� Bob Dylan, Masters of War, The Freewheelin’ Bob Dylan, Columbia Records, 1963� Bob Dylan, The Ballad of Frankie Lee and Judas Priest, John Wesley Harding, Columbia Records 1967� Bruce Dickenson / Dave Murray (Iron Maiden), Judas, be my guide, Fear of the Dark, EMI 1992� Walter Jens, Der Fall Judas, Ludwigsfelde 8 2016� Paul Kupperberg (u� a�), Das Universum des Wahnsinns, Superman Extra, Stuttgart 1984� Zeitschrift für Neues Testament Heft 41 21. Jahrgang (2018) Judas-- die kleine Figur mit der großen Frage Kristina Dronsch Die Tendenz ist nicht zu leugnen und mit Blick auf die Wirkungsgeschichte evident: Judas scheint keine Randfigur zu sein� Judas - der Verräter - hat nicht nur Konjunktur, sondern wirkt� Als Judas beschimpft zu werden, kann Karrieren zerstören und bis heute wird in Deutschland der Name „Judas“ als alleiniger Vorname von den deutschen Standesämtern nicht anerkannt, weil die negative Konnotation, die dieser Name hervorruft, dem potenziellen Namensträger nicht zumutbar wäre� Doch nicht allein historisch ist Judas nur ein Fliegengewicht, über den sich fast nicht mehr sagen lässt, als dass er einer von den zwölf Aposteln war und Jesus ausgeliefert hat� Auch ein Gang durch die biblischen Textwelten wird zutage fördern, dass Judas nicht als einer der biblischen Hauptdarsteller angesehen werden kann� Vielmehr liegt die Größe der narrativen Figur „Judas“ nicht in der Figur selbst begründet, sondern in der Größe der Frage, die diese Figur aufwirft� Judas-- die kleine Figur in der großen Erzählung Der Theologe Edward Schillebeeckx lässt sein Buch „Menschen“ mit folgenden Worten beginnen: „Menschen sind die Worte, mit denen Gott seine Geschichte erzählt�“ So verstanden spricht die Theologie von Gott und Mensch und ihrer Beziehung zueinander� Konkret lesbar wird diese Geschichte in den biblischen Texten� Wer die Bibel aufschlägt, wird allein beim oberflächlichen Durchblättern gewahr, dass in den Schriften Israels und auch in den neutestamentlichen Erzählungen es immer schon Menschen waren, mit denen Gott seine Geschichte erzählt sein lässt� Von Adam und Eva, über Mose bis David, weiter zu den Propheten und dann hinein in das Neue Testament mit den Jüngern, der Frau, 90 Kristina Dronsch die Jesus salbt, dem blinden Bartimäus, den Pharisäern und bis zu Zachäus� Damit gehört auch die Geschichte von Judas in die große Geschichte, die von Gott und Mensch erzählt� Sie ist eine Geschichte unter vielen� Und wer etwas über Judas erfahren will in den Schriften des Neuen Testaments, wird vergeblich eine große Geschichte suchen� Es gibt kein tragendes Judas-Narrativ, von dem die Erzählungen des Neuen Testaments irgendwie zehren� Die Nichterwähnung des Judas in den paulinischen Briefen mag dies noch einmal unterstreichen� Vielmehr erschließt sich die Figur des Judas gerade vom anderen Ende her: Die kleine Geschichte von Judas, wie sie in den neutestamentlichen Erzähltexten zu finden ist, zeigt sich tief verwoben mit der großen Geschichte Gottes mit den Menschen, wie sie schon in den Schriften Israels thematisiert wird� Wohlgemerkt, es geht dabei um Geschichte im Sinne von Erzählung� Eine Erzählung hat bestimmte Fähigkeiten� Zu ihrer wichtigsten zählt: Sie verausgabt sich nicht� Das Kennzeichen der biblischen Geschichten ist somit, dass sie ihre Kraft bewahren� Das ist der grundlegende Unterschied zu einer Information: Die Information lebt ganz für den Augenblick der Informationspreisgabe� Ihre Kraft entfaltet die Information also zur Gänze in dem Moment, in dem sie die Information preisgibt� Was wir nun im Neuen Testament über Judas erfahren, ist eingebunden in die neutestamentliche Erzählwelt� Wer die Erzählungen zu Judas liest, merkt sofort, wie wenig Information sie übermitteln� Das Markusevangelium beispielsweise versorgt uns mit der spärlichen Information, dass Judas einer von den Zwölf war und Jesus verraten hat� Mehr nicht� Das Johannesevangelium und das Lukasevangelium fügen demgegenüber noch die Information hinzu, dass der Satan in Judas fuhr (vgl� Lk 22,3 sowie Joh 13,2�26 f�)� Durch diese spärlich gegebene Information öffnen sich die neutestamentlichen Erzählungen über Judas für neue Epochen, die in der Auslegung einer alten Erzählung etwas über sich selbst begreifen wollen� D� h�, die Erzählungen zu Judas, wie wir sie im Neuen Testament finden, bewahren als Erzählungen ihr Potenzial an Auslegungen, die in historisch versetzten Epochen entstehen - das macht die Qualität von Erzählung aus� Insofern lebt die kleine Figur Judas vor allem von der Fähigkeit, ihn immer wieder neu auszulegen - die Geschichte von und mit Judas weiterzuerzählen� Doch nicht als isolierte Judas-Geschichte, sondern als eine Geschichte Gottes mit den Menschen� Es ist eine Geschichte, die sich durch zwei Pole markiert entfaltet: Auf der einen Seite steht Gottes bedingungslose Treue zu den Menschen und auf der anderen Seite steht das menschliche Handeln, das sich immer wieder als gegen Gott und seine Barmherzigkeit gewandt zeigt� Die Treue Gottes bildet die Kontinuität all der menschlichen Geschichten, die sich in den biblischen Erzählungen finden lassen� Erlesbar wird diese Treue Gottes von der Schöpfung, über Abraham bis Jesus� Sie gilt auch da, wo menschliche Verfehlungen diese Treue Gottes unterlaufen� So wie Kain, der seinen Judas-- die kleine Figur mit der großen Frage 91 Bruder tötet oder David, der das von Gott geschenkte Königtum missbraucht und zum Mörder des Uria wird, oder wie das Volk Israel, das um das goldene Kalb tanzt� Von Anfang an zeigt sich die Geschichte Gottes mit den Menschen als eine Geschichte, die menschliche Schuld und Verfehlung kennt� Deshalb ist die Figur Judas allenfalls diejenige, der man in den Evangelien die Schuld zuschieben kann� Diese Funktion teilt er jedoch durchaus mit anderen Figuren aus den biblischen Schriften� Aber eines ist Judas gewiss nicht: er ist nicht der souverän Handelnde anstelle Gottes� Wie sehr das Geschick der Figur Judas als verwoben mit der Geschichte Gottes zu verstehen ist, zeigt jedes der Evangelien auf seine eigene Art und Weise� Dennoch lässt sich dabei eine Grundstruktur erkennen, die paradoxe Züge hat� Einerseits die Unvermeidlichkeit der Passion Jesu aus der Perspektive der Geschichte Gottes und anderseits die Schuld dessen, der sie auslöst: „Der Menschensohn geht zwar hin, wie von ihm geschrieben steht; weh aber dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird“ (Mk 14,21; vgl. Mt 26,24; Lk 22,22)� Es ist das planvoll verstandene Handeln Gottes, in das hinein das verräterische Handeln der Figur des Judas sich entfaltet, somit ist Judas nicht mehr und nicht weniger als die kleine Figur in der großen Geschichte Gottes mit den Menschen� Von daher verbieten sich Überhöhungen der Figur des Judas, nach der es sein Verdienst sei, den Weg für Passion und Auferstehung freigemacht zu haben oder seinen Verrat als eine Art Freundschaftsdienst verstanden wissen wollen, der mit Jesu Einverständnis geschah� Judas-- ein Einzelner, weil es viele sind Die Figur Judas wird in den neutestamentlichen Evangelien nicht als Einzelfigur in Szene gesetzt, sondern vielmehr als einer von den Zwölf� Die Zwölf sind narrativ bei den Evangelien immer eng an Jesus gebunden - sind sozusagen ganz nah dran am Geschehen rund um Jesus� Von den Zwölf wird geradezu im Dr. Kristina Dronsch, geboren 1971, Studium der Theologie in Deutschland und der Schweiz, arbeitet als Dozentin für Neues Testament, Exegese und Ethik am Wichernkolleg in Berlin� Forschungsschwerpunkte: Neutestamentliche Hermeneutik, Markusevangelium und Johannesevangelium� 92 Kristina Dronsch Sinne eines institutionellen Aktes gesagt, dass Jesus sie macht (vgl. Mk 3,14.16; gr� poiein )� Sie sind als Gemeinschaft da, um mit Jesus zu sein (vgl� Mk 3,14)� Im Zuge dessen wird Judas als einer von den Zwölf eingeführt, nicht ohne zu verschweigen, dass er es sein wird, der Jesus verrät (vgl. Mk 3,19; Mt 10,4; Lk 6,16). Vor allem in den Abendmahlsszenen der Synoptiker wird Judas als einer von den Zwölf dargestellt� D� h�, das Motiv des Verrats wird aufs Engste an die Zwölf gebunden und ist gerade kein Alleinstellungsmerkmal von Judas, der damit der Gemeinschaft der Zwölf enthoben wäre� Sehr deutlich hat das Markusevangelium diesen Zusammenhang herausgestellt: In der Passionserzählung werden die Zwölf vier Mal erwähnt - jedes Mal im Zusammenhang des Verrats (vgl� Mk 14,10� 17� 20�43)� Wie stark der Erzähler des Markusevangeliums gerade nicht die Einzelfigur Judas als Verräter vor Augen hatte, sondern die Gemeinschaft der Zwölf, zu denen eben auch Judas gehörte, wird vor dem Hintergrund, dass im gesamten Markusevangelium überhaupt nur sieben Mal von den Zwölfen die Rede ist, eindrücklich unterstrichen� Als Jesus versammelt mit dieser Gemeinschaft seinen Verrat ankündigt (vgl� Mk 14,18), reagiert jeder aus dieser Gemeinschaft mit der Frage „Bin ich es? “ (vgl� Mk 14,19)� Diese Gemeinschaft der Zwölf fragt nicht nach der Identität des Verräters - die der Erzählerkommentar den LeserInnen ja schon bei der Berufung der Zwölf mitgeteilt hat (vgl. Mk 3,19; Mt 10,4; Lk 6,16), sondern gibt mit dieser Frage zu verstehen, dass potenziell jeder aus dieser Gemeinschaft Judas ist� Das Gemeinsame dieser Gemeinschaft, die hier um Jesus versammelt ist, ist zuallererst das Gemeine, das Gewöhnliche� Die hier zur Sprache kommende Sozialität ist keine, in der es um herausragende Eigenschaften oder kollektive Werte einer besonderen In-Group um Jesus geht und von denen sich Judas mit seinem Verrat sodann absetzt, sondern diese Gemeinschaft kennzeichnet sich als Ganze durch das menschlich Gewöhnliche, das die Möglichkeit des Verrats gerade einschließt� Sowohl die erzählerischen Bestrebungen in den Evangelien, Judas fortschreitend negativer darzustellen, als auch die Erzählstrategie, einen großen Gegenspieler Gottes auf die Bühne zu bitten - nämlich Satan (vgl. Lk 22,3; Joh 13,26 f.) -, sind als narrative Schadensbegrenzungen für diese Gemeinschaft um Jesus zu verstehen� Beide Male wird die Gemeinschaft um Jesus entlastet und die In-Group als Ganze entschuldigt, denn die Gemeinschaft der Zwölf teilt als conditio communis das Gewöhnliche miteinander, das den Verrat nicht aussondern einschließt und sich in der Frage „Bin ich es? “ kondensiert� Das Matthäusevangelium weitet deshalb ganz im Sinne dieser conditio communis mit seinen Ausführungen in der Passionserzählung den Kreis der Verräter aus� Das Gemeine wird über den Verrat hin ausgeweitet als die potenzielle Möglichkeit verräterischer Ausübung menschlicher Macht, die der menschlichen Gemeinschaft als solcher innewohnt: Judas, als einer von den Zwölf, verrät ihn Judas-- die kleine Figur mit der großen Frage 93 mit einem trügerischen Kuss (vgl� Mt 26,48 ff�)� Der Hohe Rat versucht mittels Falschaussagen, Jesus ein Verbrechen anzuhängen, das seine Hinrichtung begründet (vgl� Mt 26,59)� Als dieser Plan misslingt, tritt der Hohepriester auf und nutzt seine Macht, um Jesu Worte als Gotteslästerung zu interpretieren� Petrus verrät Jesus, in dem er ihn dreimal verleugnet (vgl. Mt 26,69-75). Pilatus, obwohl er durch einen Traum von Jesus Unschuld informiert wurde, lässt wissentlich die Kreuzigung zu (vgl. Mt 27,11-24 ff.). Die römischen Soldaten foltern und verspotten Jesus, bevor sie ihn ans Kreuz schlagen (vgl. Mt 27,27-36). Im Matthäusevangelium ist es bezeichnenderweise Judas, der Verräter, der diese conditio communis menschlichen Handelns aufdeckt: als Judas „sah“ (vgl� Mt 27,3), dass Jesus zum Tode verurteilt war, bereut er sein Tun mit den Worten: „Ich habe Unrecht getan, dass ich unschuldiges Blut verraten habe“ (Mt 27,4) - der Verräter Judas wird zum Zeugen der Unschuld Jesu, indem er das Gemeine menschlicher Machtausübung gegen Jesus „sieht“� Das Handeln des Judas ist somit kein irgendwie exzeptionelles Handeln, dem eine Ziel- und Zweckgerichtetheit in herausragendem Maße zuzuschreiben ist� Im Horizont gemeinschaftlichen Daseins zeigt die Figur des Judas auf, was diesem Gemeinen und Gewöhnlichen auf menschlicher Seite zuzurechnen ist: verräterisches und betrügerisches Handeln� Die Tat des Judas ist nicht als Tat eines Einzelnen entscheidend, sondern weil sie sich in keiner Weise von den Taten der anderen unterscheidet� Anders gewendet: Die Existenz des Verrats ist keine, die einem herausragenden Individuum Judas einzig anhaftet und somit einem Einzelnen zuzuschreiben wäre, sondern ist als das Gemeine und Gewöhnliche in der Gemeinschaft nicht nur der Zwölf verankert� Judas-- der Parasit am Tische Jesu Was auch immer zu der Figur Judas sonst noch zu sagen ist, greifbar wird sie als einer von den Zwölf, mit der Besonderheit, dass die „schlechte Presse“ ihn in der Rezeptionsgeschichte immer begleitet hat� Diese schlechte Presse ist aufgrund der sozialen Stellung, die er als einer von den Zwölf einnimmt, begründet, keineswegs jedoch in Judas selbst zu suchen� Sie ist näherhin als eine parasitäre Stellung zu beschreiben� Das griechische Wort parasitos bezeichnet von seiner Etymologie her jemanden, der sich aus einer Nebenposition heraus (gr� para ) ernährt (von gr� sitos )� In der klassischen Antike wurden zunächst die Inhaber eines religiösen Amtes mit diesem Ausdruck belegt; das war insbesondere bei den in Attika beheimateten Kulten der Fall� Als Vertreter ihrer Polis hatten die Parasiten das Opfermahl mit den Göttern zu verspeisen� Parasiten sind somit niemals welche, die aus einer Hauptrolle heraus agieren, sondern eingebunden 94 Kristina Dronsch sind in eine Nebenrolle, deren Funktion aber eine grundlegende ist� Judas ist deshalb vor allem als der Parasit - der Mit-Esser am Tische Jesu zu verstehen� „Einer unter euch, der mit mir isst, wird mich verraten“ - lässt der markinische Jesus die versammelten Jünger beim letzten Mahl wissen (Mk 14,18)� So betonen die Evangelien alle, dass es Judas als einer von den Zwölfen ist, der beim letzten Mahl mit Jesus seinen Bissen in die Schüssel taucht (vgl. Mk 14,20; Mt 26,23; Lk 22,21 f.; Joh 13,26). Michel Serres’ Buch Der Parasit zeigt auf, dass parasitäre Nebenrollen ein allgemeines und letztlich unvermeidbares Phänomen sind - sie sind niemals etwas Besonderes� Auf jedem sozialen Ordnungsniveau existieren Parasiten, die von Serres als die Rückkehr des Ausgeschlossenen ins Innere beschrieben werden� Überall dort, wo ein ordnungsbildender Ausschluss stattfindet, können sie vorkommen� Demnach ist die parasitäre Störung der Normalfall, infolgedessen verlieren unterkomplexe Reinheitsvorstellungen ihre Überzeugungskraft� Die Figur des Parasiten erweist sich so als ein Sinnbild für die Verschränkung von Ordnung und Unordnung� In der integren Gemeinschaft der Zwölf symbolisiert die Figur „Judas“ die „Störung“ innerhalb des Ordnungszusammenhangs der Gemeinschaft um Jesus� Judas ist der Parasit, der aus der Perspektive der Logik der eingeschlossene ausgeschlossene Dritte ist� Die parasitäre Störung, die mit Judas hervorgebracht wird, bringt eine gewisse Paradoxalität zur Sprache, die der Nebenrolle des Parasiten innewohnt: Zum einen ist festzuhalten, dass Judas im Rahmen seiner parasitären Nebenrolle für den Handlungsverlauf der Passion, wie sie erzählerisch in den Evangelien dargestellt wird, in keinem Fall zwingend notwendig ist� Alles hätte sich auch ohne die Figur des Judas ereignen können� Zum anderen: Als nicht vorgesehener Verräter nährt sich Judas von der bestehenden Tischgemeinschaft - und lässt damit ihre Grenzen brüchig werden� Was mit dem Auftreten von Judas sich verändert, ist vor allem die Gemeinschaft, die nicht mehr als eine geschlossene harmonische und nur vom Guten bewegte In-Group um Jesus zu verstehen ist� Was bleibt? -… Die große Frage Die Figur des Judas führt heraus aus der Erzählwelt hin zu den Leserinnen und Lesern� Anhand seiner Geschichte eröffnen die Evangelien in ihrer narrativen Gestaltung Einsichten in die komplexe Wirklichkeit menschlichen Schuldigwerdens� In der je unterschiedlichen Ausgestaltung der Judas-Geschichte offenbaren die Texte des Neuen Testaments, dass diesem Schuldigwerden nicht auszuweichen ist und dass es keine letztgültige Antwort darauf gibt� Insofern leistet die Figur des Judas der theologischen Frage nach dem Menschsein in all seiner Verstricktheit Vorschub� Wir mögen uns mit weißer Weste auf der großen Judas-- die kleine Figur mit der großen Frage 95 Bühne des Lebens darstellen, aber allein schon in unserem Angewiesensein auf die weiße Weste zeigen wir, dass wir dem Schuldigsein nicht entrinnen können� Am dramatischsten hat dies das Markusevangelium narrativ in Szene gesetzt� Keiner von den Zwölf kann während des letzten gemeinsamen Mahls mit Jesus ausschließen, der Verräter zu sein� Einer nach dem anderen von den Zwölfen fragt: „Bin ich es? “ (Mk 14,19; vgl. auch Mt 26,22; Lk 22,23 und Joh 13,22). Von der Möglichkeit des Schuldigwerdens ist keiner enthoben, auch keiner aus dem engsten Vertrautenkreis Jesu� Und so antwortet Jesus: „Einer von den Zwölfen, der mit mir seinen Bissen in die Schüssel taucht“ (Mk 14,20)� Deshalb ist und bleibt Judas eine Figur, die die Leserinnen und Leser verstrickt sein lässt in die Frage nach dem Schuldigwerden� Doch Judas ist bei weitem nicht die einzige Figur in den biblischen Erzählungen, die das Thema der Schuld in die Welt der Lesenden hereinträgt� Deshalb ist es interessant sich anzuschauen, wie dieses Verstricktwerden in die Frage nach dem Schuldigwerden narrativ geschieht� Denn es kann auf sehr unterschiedliche Weise realisiert werden, wie ein Vergleich mit der Nathan-Parabel aus 1 Sam 2,12-14 zeigt. Die kurze Parabel, die anlässlich der Begegnung des Propheten Nathan mit dem König David erzählt wird, ist kunstvoll gestaltet und handelt von einem reichen und einem armen Mann, die in derselben Stadt wohnen� Als der reiche Mann Besuch bekommt, nimmt er das einzige Schaf des armen Mannes, das dieser wie sein eigenes Kind geliebt und aufgezogen hatte, und bereitet es seinem Gast als Mahl zu� Nachdem David das moralische Statement abgeben hat, mit dem er das Handeln des reichen Mannes verurteilt, sagt der Autor der Erzählung - Nathan - dem König David auf den Kopf zu: „Du bist der Mann“� Im Modus der selbsterkennenden Feststellung werden hier die Leserinnen und Leser über die Identifikation mit der Davidfigur in das Thema Schuldigwerden verstrickt� In der Identifikation mit dem Täter David sollen sie alternative Handlungsmöglichkeiten entwerfen� Anders bei Judas: Hier ist es der Modus der Frage, der die Leserinnen und Leser verstrickt sein lässt in die nicht auszuschließende menschliche Möglichkeit des Schuldigwerdens� Ob in den Worten des Matthäusevangeliums „Bin ich’s, Rabbi? “ (Mt 26,25) oder in den Worten des Markusevangeliums „Bin ich’s? “ (Mk 14,19) oder in den Worten des Johannesevangeliums „Herr, wer ist’s? “ ( Joh 13,25), oder wenn im Lukasevangelium der Erzähler mitteilt, dass die Jünger untereinander sich fragen, wer von ihnen der Verräter sei (vgl� Lk 22,23) - es ist der Modus der Frage, mit dem das Thema des Schuldigwerdens auf den Plan tritt� Eine Frage wartet immer auf eine Antwort, sie adressiert sich stets neu an alle Antwortwilligen� Sie hält die Unabgeschlossenheit der Antwort als sich stets wiederholende Frage wach� Somit ist Judas als die kleine Figur mit der großen Frage zu verstehen, die eine anthropologische Möglichkeit zur Sprache bringt - das Schuldigwerden� 96 Kristina Dronsch Judas lässt uns nicht los, weil wir die Frage nach der menschlichen Schuld nicht loswerden� Wir bleiben in die Frage nach Schuld verstrickt� Das gehört zu unserem Menschsein� Dennoch ist und bleibt Judas in der neutestamentlichen Erzählung eine Randfigur� Er ist der Parasit am Tische Jesu, der die Frage wach hält: Bin ich es? Zum Weiterlesen Eckart Reinmuth: Anthropologie im Neuen Testament (utb 2768), Tübingen 2005 (bes� 125-135). Michel Serres: Der Parasit (stw 677), Frankfurt / M� 1981� Zeitschrift für Neues Testament Heft 41 21. Jahrgang (2018) Hermeneutik und Vermittlung Judas Iskarioth Zur theologischen Hermeneutik einer neutestamentlichen Gestalt Ralf Miggelbrink 1. Judas, eine für die Passionsgeschichte sachlogisch nicht notwendige Figur Die synoptischen Evangelien nennen Judas als einen der in den Zwölferkreis Berufenen (Mt 10,4; Mk 3,19; Lk 6,16). Judas ermöglicht durch sein Insider-Wissen die diskrete nächtliche Verhaftung Jesu an abgelegenem Ort� Mk gestaltet den Verrat am nüchternsten: Der Verräter geht zu den Hohen Priestern� Diese freuen sich und stellen ihm Geld in Aussicht� Judas sinnt auf eine Gelegenheit, Jesus auszuliefern (Mk 14,10 f�)� Im Anschluss an die Getsemani-Perikope erscheint Judas dann als Vorläufer einer „mit Schwertern und Knüppeln“ bewaffneten Rotte (14,43), der Jesus durch Begrüßung mit einem Kuss (14,45) seinen Häschern anzeigt� Die knappen Sachverhaltsschilderungen bei Mk geben der Ereignisfolge etwas Drängendes� Durch die Eröffnung der Verrat-Szene mit den Worten „Noch während er redete …“ werden Getsemani-Perikope und Verrats- Perikope überlappend verknüpft� Die gewaltsam vorandrängende äußere Handlung scheint innere Zweifel des Verräters zu verdrängen� Der Kontrast zwischen innerem Ringen und äußerer Gewalt und die Pervertierung des Liebessymbols zum Verratsmedium betonen die innere Distanz des Judas zu Jesus� Lukas macht das zwischen beiden Männern herrschende Unverständnis explizit mit der Frage Jesu: „Judas, mit einem Kuss verrätst du den Menschensohn? “ (Lk 22,48)� 98 Ralf Miggelbrink Dieser knappe Kern der Judas-Tradition ist für den sachlogischen Ablauf der Passionsgeschichte ebenso unnötig wie sie für das innere Verständnis der handelnden Personen verstörend wirkt� Jesus an diskretem Ort aufzuspüren dürfte der römischen Besatzungsmacht auch ohne die Kollaboration eines Jüngers möglich gewesen sein� Der Jüngerverrat aber wirft die verstörende Frage auf: Wie konnte aus dem inneren Bereich des menschgewordenen Gottes einer zum Werkzeug seiner Auslieferung werden? Matthäus spielt zur Beantwortung dieser Frage mit dem Prädestinationsgedanken: Obwohl zum Zeitpunkt des Abendmahls der matthäische Judas bereits den Verrat mit den Hohen Priestern abgesprochen hat (Mt 26,14 f�), beteiligt sich Judas an dem aufgeregten Fragen der Jünger, nachdem über sie das Orakel gesprochen wurde: „Der die Hand mit mir in die Schüssel getaucht hat, wird mich verraten“ (Mt 26,23)� Dabei wird er von Jesus als Verräter enttarnt, ohne dass die Abendmahlsgruppe daraus eine sachlogisch verständliche Konsequenz zöge� Über der ganzen Szene wird weiteres Nachfragen gebannt durch die ebenso fatalistische wie vieldeutige Formel „Der Menschensohn geht hinweg …“ (26,24), deren indikativisches hypagei die Einheitsübersetzung recht frei interpretiert mit den eher an einen Western erinnernden Worten „Der Menschensohn muss seinen Weg gehen …“� Matthäus beantwortet in seiner Passionserzählung bereits die Frage, ob durch einen prädestinierten Tod die an dessen Durchführung Beteiligten nicht exkulpiert wären: „Zwar muss der Menschensohn hinweggehen, aber wehe dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird …“ (Mt 26,24)� Der Autor des Johannesevangeliums ergänzt diese denkerisch überaus unbefriedigende Lösung, indem er neben Judas und Gott als dem Lenker der Geschichte den Teufel als dritten Agenten einführt: Der Satan inspiriert zum Verrat ( Joh 13,2) und geht in Judas ein ( eisēlthen ) ( Joh 13,27)� Diese Machtübernahme des Satans aber erfolgt nach einer Ankündigung Jesu, so dass der Gottessohn auch hier als der eigentliche Regisseur seines eigenen Verratenwerdens erscheint� Hier ist der Haftpunkt für alle Traditionen, die Judas als prädestiniertes Werkzeug der von Gott selbst ins Werk gesetzten Opferung Jesu von Nazareth zur Erlösung der Menschheit sehen� 2. Die theologische Aussage der Judasgestalt Das Johannesevangelium führt vor, wie sich die Passionsgeschichte unter Rückgriff auf einen Erzbösewicht erzählen lässt� Für Johannes sind „die Juden“ die eigentlichen Drahtzieher der Passion� Diese folgenschwere Schuldzuweisung ist keine historische Information: Die römische Besatzungsmacht alleine hatte die Judas Iskarioth 99 rechtlichen und militärischen Möglichkeiten zur Verhaftung und Hinrichtung Jesu� 1 Die Jerusalemer Tempelautoritäten hatte ein Interesse am Tod Jesu und entsprechende Einflussmöglichkeiten� 2 Jedoch auch, wenn man einer gewissen „Volksmenge“ ebenfalls eine Rolle bei der Verurteilung Jesu zusprechen will 3 , so kann die Schuld „der Juden“ historisch in keiner Weise plausibel gemacht werden� Das „parting of the ways“ zwischen den Anhängern des Nazareners und den Juden, die ihn ablehnen, dauert bis in das 4� Jh� n� Chr� 4 „ Die Juden“ im Johannesevangelium sind deshalb weder eine andere gens noch eine andere religio � Der Jude Johannes verwendet den Begriff im Interesse seiner eigenen innerjüdischen Polemik gegen die jüdischen Opponenten des Nazareners� Die Einführung der Judasgestalt konterkariert die hinter beiden Schuldzuschreibungen stehende Logik: Wie sehr es auch Pontius Pilatus und seine Militärmacht gewesen sein mag und wie sehr die ersten Christen den Verächtern ihres neuen „Weges“ (Apg 9,2; 19,2; u. ö.) als „den Juden“ (Apg 9,23; u. ö.) die Schuld zuschreiben mochten, mit der Judasgestalt ist der Stachel im Fleisch der Christengemeinde selbst ausgemacht: Judas gehörte unzweifelhaft dem symbolischen Zwölferkreis des erneuerten Israel an, er nimmt am Abendmahl teil, er begrüßt seinen Rabbi mit dem für die Jesusgruppe kennzeichnenden Kuss (1Kor 16,20)� Damit wird er zum Vermittler einer wichtigen Einsicht: Wenn mit der Jesus-Gruppe und ihrem Wirken das Reich Gottes anbricht und Gottes Wirken geschichtlich offenbar wird, so bedeutet dies nicht, dass das Böse keinen Zugang zur Jesus-Gruppe hätte und dass die Frontlinie zwischen dem inneren 1 G� Theissen / A� Merz, Der historische Jesus� Ein Lehrbuch, Göttingen 4 2011, 339-402. 2 Theissen / Merz, Jesus, 403-408. 3 A�a�O�, S� 407 f� 4 M� Tiwald, Das Frühjudentum und die Anfänge des Christentums� Ein Studienbuch, Stuttgart 2016, 33-48. Prof. Dr. Ralf Miggelbrink, geboren 1959 im westlichen Münsterland, 1989 in Münster mit einer Arbeit über Karl Rahner zum Dr� theol� promoviert, 1999 an der Universität Innsbruck aufgrund einer bibeltheologischen Arbeit über den Zorn Gottes habilitiert und zum Universitätsdozenten ernannt, seit 2000 Professor für Systematische (katholische) Theologie an der Universität Duisburg-Essen, Mitbegründer und Mitglied des Interkonfessionellen Theologischen Arbeitskreises (ITA), zahlreiche Buch- und Aufsatzveröffentlichungen (Bibeltheologie, Sakramententheologie, Ekklesiologie, Ökumenische Theologie)� 100 Ralf Miggelbrink Kreis der „ Gemeinde der Heiligen“ (1Kor 14,33) einerseits und den Sadduzäern, Pharisäern, Zeloten und Römern außerhalb dieser Gemeinde gezogen werden könnte� Die provozierende Einsicht, dass der Verrat inmitten der eucharistischen Gemeinschaft nistet, beunruhigt Christen zutiefst: Das gesamte Mittelalter steht vor dem großen Problem der manducatio impiorum : Wie verhindert man, dass die Gegenwart Christi in den eucharistischen Gaben entweiht wird durch unwürdige Kommunikanten? Bereits die Traditio apostolica des Hippolytus von Rom zielt auf eine Beantwortung dieser Frage unter Rückgriff auf unterschiedliche (berufliche) Tätigkeiten, die eo ipso vom Empfang der Taufe ausschließen 5 � Eine sich dem Hochmittelalter nahelegende Antwort referiert auf Gruppenidentitäten: An den Außenseiten der Kathedralen finden sich Darstellungen der an der Kirche zerbrechenden Abständigen und Außenstehenden, allen voran der Juden� Schon der Name Judas legt es nahe, den Verräter als Repräsentanten der Juden zu deuten� Dabei gehört Judas eindeutig zur Jesus-Gruppe� Ab den blutigen Kreuzzügen gegen Katharer und Albigenser nimmt das Ringen der christlichen Gemeinden um ihre eigene innere Reinheit von Verrätern und heimlichen Abtrünnigen jene eliminatorische Schussfahrt auf, die paradoxerweise erst durch die Formalisierung und juristische Rationalisierung der Verfolgung in der Regie der römischen Inquisition gebremst wird� 6 Als ein neuzeitlicher Mythos ist heute das Narrativ entlarvt, es sei eben das formalisierte und rationalisierte neuzeitliche Staats- und Rechtswesen gewesen, das der Verfolgungswut der christlichen Kirchen gegenüber vermeintlichen Abweichlern ein Ende gesetzt habe� 7 Nie waren Verfolgungen von Außenseitergruppen blutiger als in der Neuzeit, nie wurde konsequenter und kompromissloser die Zugehörigkeit zu bestimmten Merkmalsgruppen zum Kriterium für Versuche restloser Ausrottung� Die Judasgestalt erscheint vor diesem christlich-postchristlichen Rezeptionskontext wie eine Illustration zu Mt 13,24-30: Jesus war macht- und tatenlos seinem Verräter gegenüber, obwohl er wusste, dass Judas ihn verraten würde� Die menschliche Geschichte ist nicht der Ort, an dem das Gute definitiv vom Bösen getrennt und das Böse ausgemacht und im „letzten Gefecht“ vernichtet werden könnte� Es gehört seit Jesus zum Wesen von Gemeinde und Kirche 5 Hippolytus von Rom, Traditio apostolica, 16� 6 J� Lauster, Grausame Vernunft: Die Inquisition, in: ders�, Die Verzauberung der Welt� Eine Kulturgeschichte des Christentums, München 2014, 200-205. 7 R� Miggelbrink, Confessional Wars and Religious Violence in Christianity from a Theological Viewpoint, in: W� Palaver / H� Rudolph / D� Regensburger (Hg�), The European Wars of Religion� An Interdisciplinary Reassessement of Sources, Interpretations, and Myths, London 2016, 205-216. Judas Iskarioth 101 als corpus permixtum 8 zu existieren und der Gegenwart des Verrates in den eigenen Reihen macht- und tatenlos ausgeliefert zu sein� Jeder Versuch, diese Bestimmung der Gemeinde Jesu Christi abzuwenden, führt zum Selbstverrat der Gemeinde� Wie ist diese Behauptung zu verstehen? Judas ist die in der Jesus-Überlieferung selbst verankerte Einsicht in die Unausweichlichkeit der Angefochtenheit des von Jesus verkündeten Gottesreiches, die nicht missverstanden werden darf nach dem Modell einer abwehrbaren äußeren Gefahr: Das Reich Gottes wird von innen her durch seine Jünger und seine Kirche gefährdet� Es basiert auf der inneren Wandlung und Bekehrung der Jünger, die weder erzwingbar noch als politischer Gruppenprozess steuerbar ist� Das Reich Gottes ist errichtet auf der labilen Basis der freien Hinwendung von Menschen, deren Einsicht und Treue nur in Freiheit wachsen� 3. Judas und die Wehrlosigkeit der Christengemeinde In dem Maße, in dem das Christentum sich selbst als vernünftig begreift, in dem Maße fällt es ihm schwer, den Verrätern und Abtrünnigen in den eigenen Reihen mit Respekt zu begegnen� Seit den ersten christlichen Apologeten argumentieren Theologen für die Einsicht, dass zwischen dem christlichen Glauben an Jesus Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen und der menschlichen Vernunft kein Widerspruch besteht� Allerdings ziehen bereits die Kirchenväter die Konsequenz aus der Einsicht in die rationale Rechtfertigbarkeit des christlichen Glaubens, dass die Ablehnung des Christentums ihrerseits rational nicht rechtfertigbar wäre� Dem Nichtchristen wird bis ins 19� Jh� theologisch die rationale Würde abgesprochen� Der klassische fundamentaltheologische Weg der drei demonstrationes ( religiosa, christiana, catholica ) 9 hebt darauf ab, die Existenz Gottes, seine Offenbarung in Jesus Christus und seine durch die katholische Kirche vertretenen Ansprüche gegenüber jedem vernünftigen Menschen so zu begründen, dass diesen Geltungsansprüchen nicht vernünftig widersprochen werden könne� Wo die Rationalität des katholischen Glaubens derart hart vertreten wird, wird der Glaubensgehorsam des einzelnen gegenüber der Kirche zur ethischen Pflicht, der er sich nur durch Verleugnung der eigenen rationalen Natur entziehen kann� 8 Augustinus, De civitate Dei, 20, 9; A. B. Wugaa, The Church as Corpus Permixtum. Augustinian Ecclesiology in Response to the Donatist Concept of the Church, St� Paul (Minn) 2012� 9 Der auf Pierre Charron (1541-1603) zurückgehende Dreischritt des Beweisganges der Apologetik bildet bis heute ein Gliederungsprinzip der Fudamentaltheologie: C� Böttigheimer, Lehrbuch Fundamentaltheologie� Die Rationalität der Gottes-, Offenbarungs- und Kirchenfrage, Freiburg 2 2012, 72-78. 102 Ralf Miggelbrink Diese geradlinig rationalistische Argumentation verkennt, dass Menschen zum christlichen Glauben in konkreten Lebenssituationen gelangen, in denen es für sie kaum je abstrakt um die Vernünftigkeit des christlichen Glaubens geht, sondern, in denen die eigene Positionierung zu den Inhalten des christlichen Glaubens Handlungsentscheidungen umfasst� Zustimmung zum Glauben ereignet sich in Handlungsentscheidungen� Glauben ist lebensgeschichtlich verankert und deshalb nicht ausschließlich rational begründet, sondern eben auch gebunden an freie Selbstsetzungen� In solchen Akten der Selbstsetzung bestimmen Menschen sich nicht zunächst in ihrem Verhältnis zu den überlieferten dogmatischen Inhalten� In diesen Selbstsetzungen positionieren sich Menschen zu praktischen Fragen des alltäglichen Lebens� In diesen Akten der eigenen Selbstsetzung findet eine Integration von Momenten des Erkennens und des Wollens statt, bezogen auf die endlichen Situationen, in denen Menschen sich nun einmal befinden� Die innere Glaubenszustimmung (assensus fidei) wächst in biographisch situierten Akten der Selbstsetzungen, in denen Christen willentliche Hinwendungen zu dem in Jesus Christus offenbaren Gott und seiner Kirche vollziehen und dabei theologisch auch zu Glaubensaussagen kommen� Denken und Handeln bestimmen die Glaubensgenese des Einzelnen in enger Perichorese von Vernunft und Freiheit � Damit aber ist der Glaubensakt in seiner konkreten intellektuellen und praktischen Gestalt unausweichlich individuell und kontextuell� Dieser Situation führte etwa in der Reformation zu der These, sowohl der wahre Glaube als auch die wahre Kirche Jesu Christi seien so unsichtbar wie die innere Haltung eines Menschen letztlich eben unsichtbar ist� 10 Daraus aber ergibt sich, dass Christen in ihrer Gemeinde immer mit dem Risiko leben, dass in ihnen der christliche Glaube intellektuell und voluntativ von einzelnen innerhalb der Gemeinde verfehlt wird� Diese Selbstverfehlung des Christentums in den Akten, mit denen Christen ausgerechnet ihr Christsein zu vollziehen glauben oder behaupten, wird von der antihäretischen Polemik der Väterzeit bis zum Wirken der Glaubenskongregation als zu bekämpfende Gefährdung der Kirche und des Glaubens erkannt� Wie aber ist eine entsprechende Unterscheidung der Geister sinnvoll möglich, die denjenigen entlarvt, der sich im Herzen vom Glauben abwendet und intellektuell längst solchen Wegen folgt, die nicht vom Vorbild Jesu Christi inspiriert sind? Die ängstliche Behauptung der Traditionalisten, stets seien die Reformer und Erneuer die Verleumder und Verräter, passt nicht gut zu der Beobachtung, dass die Traditionen der Traditionalisten ja ihrerseits auch einmal aus Neuerungen hervorgegangen 10 Zur Problematik der unsichtbaren Kirche� J� Werbick, Kirche� Ein ekklesiologischer Entwurf für Studium und Praxis, Freiburg 1994, 34-38. Judas Iskarioth 103 sind, die in ihrer Zeit als gelungene Interpretationen des Christseins angenommen wurden, woraus angesichts der Veränderlichkeit der geschichtlichen Welt keineswegs folgt, dass sie auf alle Zeit und Ewigkeit die besten voluntativen und intellektuellen Aneignungen der christlichen Botschaft darstellen� 11 Das Fehlen klarer Grenzen und der eindeutigen Identifizierbarkeit der Verräter bewirkt eine konstitutive Wehrlosigkeit des Christentums, das seinen Verrätern immer ausgesetzt bleibt, weil es ohne dieses Ausgesetztsein seine eigene Bestimmung, Christsein in authentischen Akten der zeitgemäßen intellektuellen und tätigen Aneignung des Glaubens ermöglichend zu begleiten, nicht erreichen könnte� Dass Judas zum Zwölferkollegium gehört, also zur symbolischen Repräsentanz des erneuerten Stämmebundes Israels, ist in diesem Kontext ein starker Hinweis, dass es ohne Möglichkeit und Risiko des Verrates die freie Hinwendung zum Glauben nicht geben kann, die für das Christentum allerdings konstitutiv ist� Die Möglichkeit des Verrates von innen gehört zum Genom der christlichen Gemeinde� Dass der Verräter als Mitglied des Zwölferkollegiums nach dem Timotheusbrief zu den Amtsträgern gehört, die so etwas wie eine apostolische Sukzession begründen, eröffnet intertextuell die erschütternde Einsicht, dass selbst das höchste kirchliche Amt nicht vor dem tödlichen Verrat an Jesus Christus und seine Kirche schützt� 4. Judas, der verräterische Kassenwart Im Johannesevangelium findet sich der Hinweis, dass Judas „die Kasse hatte“ ( Joh 13,29)� Als Kassenwart der Jesus-Gruppe trifft er Absprachen mit Jesus� Das Motiv des Mannes, der mit Geld zu tun hat, findet in der matthäischen Judastradition eine Steigerung in dem Sondergut von den dreißig Silberstücken, die Judas als Lohn für seinen Verrat von den „Hohen Priestern“ nimmt (Mt 26,15) die er nach der Verurteilung Jesu zurückgeben will (Mt 27,9) und die er, nachdem die Rücknahme verweigert wurde, in den Tempel wirft (Mt 27,5), von wo die Hohen Priester das Geld nehmen, um „von dem Geld den Töpferacker zu kaufen als Begräbnisplatz für die Fremden�“ (Mt 27,7) Die ausführliche Erzählung der sachlogischen Marginalie vom Verräterlohn und seiner späteren Verwendung erheischt durchaus eine theologische Interpretation, insbesondere, da ja der Umgang mit Geld für die Jesus-Gruppe die Funktion eines identitity markers hatte (Mk 6,8)� 11 Zur Problematik: K� Rahner, Was ist Häresie, in: ders, Schriften zur Theologie, Bd� 5, Einsiedeln 1964, 527-576; ders., Häresien in der Kirche heute, in: ders, Schriften zur Theologie, Bd. 9, Einsiedeln 1970, 453-478. 104 Ralf Miggelbrink Der Geldverwalter wird zum Verräter� Hat diese Pointe mit der Anthropologie des Geldes zu tun? Geld wird definiert als Mittel der Erleichterung des Tausches� Diese besteht im Wesentlichen in der Erleichterung der Ermittlung von Äquivalenten � Die unterschiedlichsten Dinge, Schafe etwa und Ackerland, werden tauschbar, indem man sie auf den gemeinsamen Nenner des Geldes hin definiert� Dieser zivilisatorische Prozess geht einher mit einer Ausblendung grundlegender Momente des Tausches, die in menschlichen Kulturen eine wichtige Rolle spielen� Der Tausch als Austausch von Gaben begründet eine wechselseitige Verpflichtung von Geber und Nehmer der Gabe, die so in eine durch die Gabe begründete, soziale Beziehung eintreten� Je mehr dagegen der Tausch zum Äquivalententausch wird, zu Kauf und Bezahlung, umso weniger müssen sich Verkäufer und Käufer über den Kauf hinaus einander verpflichtet fühlen� Im Idealfall wird das durch den Tausch begründete Ungleichgewicht durch die gerechte Bezahlung präzise ausgeglichen� Geld ermöglicht so das ökonomische In-Beziehung-Treten unter Verzicht auf ein soziales In-Beziehung-Treten� 12 Beim unmittelbaren Austausch von Gaben bleibt stets ein unabgegoltenes Mehr an Gegebenem, das auf menschliche Weise verpflichtet, in weiteren Gabehandlungen das durch die Gabe irritierte Gleichgewicht zwischen Geber und Nehmer wieder herzustellen� So begründet die Gabe Beziehung, Gemeinschaft und eine Geneigtheit zu weiterem Austausch, eine „Ökonomie der Gaben“ 13 , deren Pointe gerade darin besteht, dass der Tausch der Dinge mit der Bezahlung nicht zu seinem Abschluss kommt, sondern Geber und Nehmer einander durch die Gabe verpflichtet bleiben� Die Speisung der Fünftausend thematisiert diese Gabe-Dynamik in der Überschwänglichkeit des galiläischen Anfanges (Mt 14,13-21), die konkrete Lebenswirklichkeit der wandernden Charismatikergruppe war jedoch anscheinend auf dem Weg nach Jerusalem auch durch Gabe- und Gemeinschaftsverweigerungen geprägt, wie Lukas über die Nichtaufnahme der Gruppe in einem samaritanischen Dorf zu berichten weiß (Lk 9,52-56). Judas als Kassenwart ist disponiert, der Anwalt des Äquivalententausches in der Gruppe zu sein� Er unterliegt dem Ökonomieprinzip � Für einen möglichst geringen Preis muss er viel und gut einkaufen� Die so erwirtschaftbaren Rücklagen dienen der ökonomischen Absicherung der Gruppe gegen etwaige Risiken� Es liegt auf der Hand, dass die Eigenlogik des ökonomischen Handelns zur ökonomischen Grundintuition der Jesus-Gruppe im Widerspruch steht� Die 12 J� Negel, Überfülle und Erlösung� Trinitätstheologische, soteriologische und eschatologische Implikationen des Gabediskurses, in: V� Hoffmann / U� Link-Wieczorek / C� Mandry (Hg�), Die Gabe� Zum Stand der interdisziplinären Diskussion, Freiburg / München, 257-286. 13 K� Wolf, Philosophie der Gabe� Meditationen über die Liebe in der französischen Gegenwartsphilosophie, Stuttgart 2006, 78-109. Judas Iskarioth 105 Grundintuition Jesu ist die Botschaft von der bedingungslosen Güte Gottes, die sich auch ökonomisch übersetzen lässt: Wo großzügig gegeben wird, da wird in Menschen der verbindende Geist der Großzügigkeit geweckt� Der verrückte Bauer, 14 der sein kostbares Saatgut wahllos verstreut, hat eine überreiche Ernte� Nicht das Sparsamkeitsprinzip des faulen und nichtsnutzigen Knechtes, der ängstlich sein Talent vergräbt, bringt den Erfolg, sondern die Risikofreudigkeit dessen, der freimütig austeilt und „erntet, wo er nicht gesät hat“ (Mt 25,24)� Wo hingegen ängstlich der Pfennig gedreht wird, drohen die für die Ökonomie lebenswichtigen Gabe- und Tauschprozesse zu erlahmen� Damit aber verliert das Geld seinen Wert, der ja aus dem Bedürfnis nach Austausch und Kauf resultiert� Der Kindervers „Taler, Taler, du musst wandern�“ ist in einem ökonomisch präzisen Sinne zutreffend: Nur das laufende Geld kann seinen Wert behalten� Der Kassenwart aber jedes Vereins tendiert zur Einfrierung der Ausgaben, weil sein Erfolg ja an der Größe seines Kassenvermögens gemessen wird� Mit dem Hinweis, Judas sei der Kassenwart der Jesus-Gruppe gewesen, thematisiert Johannes einen Grundwiderspruch innerhalb der christlichen Gemeinde� Sie steht zum einen in der Nachfolge dessen, der die Großzügigkeit Gottes verkündet und so die Großzügigkeit der Menschen weckt� Jesus will echte Gabeprozesse wecken und muss gerade deshalb selbst arm sein und auch seinen Jüngern die Armut empfehlen� Aber schon die Jesus-Gruppe selbst kommt nicht vollkommen ohne Geld aus, ja der vollkommene Verzicht auf Geld läuft auf sozialparasitäres Verhalten hinaus� So findet sich die Jesus-Gruppe bereits in einem Grundwiderspruch, der alles folgende christliche Leben prägt: Wie kann das ganze Leben die alles tragende und erfüllende Großzügigkeit Gottes bezeugen, wenn die Zeugen nicht nur verkündend von Gastmahl zu Gastmahl ziehen, Kranke heilend und von Sünden freisprechend, sondern wenn sie wie alle anderen Menschen auch mit ihren endlichen Ressourcen sparsam umgehen müssen? Jesus selbst gibt einen Hinweis: Markus gestaltet die Speisung der Fünftausend mit einem aufschlussreichen Zwiegespräch� Jesus lässt zunächst die eigenen Lebensmittelvorräte der Jüngergruppe zählen (Mk 6,38) und gibt dann erst die vor dem Hintergrund des Zählergebnisses (fünf Brote und zwei Fische) lächerlich inadäquate Anweisung zur Lagerung der Fünftausend in Mahlgruppen (Mk 6,39)� Markus stellt auf diese Weise die Erfahrung der Spannung zwischen ökonomischer Vernunft (zählen) und Reich-Gottes-inspirierter Zeichenhandlung in den Vordergrund� Das Speisungswunder ist das Wunder der alle sättigenden Gabe-Dynamik, die da in Gang kommt, wo einer das ökonomische 14 U. Busse, Der verrückte Bauer: Mk 4,3-8. Gotteserfahrung in der Jesustradition, Kairos 29 / 1987, 166-175. 106 Ralf Miggelbrink Sicherheitsdenken überwindet� Der markinische Jesus handelt nicht wie der matthäische Brotvermehrer im unbesiegbaren Bewusstsein seiner göttlichen Vollmacht� Er riskiert den Lebensmittelvorrat der Gruppe für eine Zeichenhandlung, die die Großzügigkeit seiner Gäste mobilisiert und so zur Offenbarungserfahrung wird: Gelebte Großzügigkeit setzt menschliche Gabe-Dynamik frei, von der alle leben können� Aber dieser Zusammenhang ist so unsichtbar wie unberechenbar� Der vorsichtige Kaufmann wird von einem so riskanten Gabehandeln unbedingt abraten und verwehrt sich damit den Zugang zur Gotteserfahrung der Jesus-Gruppe (Mt 19,22)� Judas kann gelesen werden als die Gestalt, in der der unvermeidliche Grundkonflikt der christlichen Gemeinde zum Austrag kommt� Sie bezeugt Gottes grenzenlose Lebensfülle als Grund einer gabefreudigen, Fülle für alle frei setzenden Dynamik� Dabei aber bleibt sie in einer Welt, die als Natur vom Gesetz des Mangels geprägt ist� Die Überwindung des Mangels in der Erfahrung gelingenden Gebens und Nehmens unter dem Faszinosum einer sich so erschließenden Lebensfülle Gottes bleibt immer gekettet an das harte Gesetz des Mangels, dem alle Naturwesen als solche unterstehen� Das ökonomische Denken steht in der Gefahr, im Gesetz des Mangels ökonomistisch das Grundgesetz jedweden Lebens überhaupt zu erblicken� So entsteht die Karikatur des Menschen als des hortenden Sparers, dessen Geld seinen Wert nicht behalten kann, weil der Wert des Geldes abhängt von wirtschaftlichen Tauschprozessen� Wenigstens einige Menschen müssen Geld ausgeben, damit andere sparen können� Freigiebigkeit und Sparen sind ökonomische Geschwister, die sich gleichwohl schlecht verstehen� Der kassenführende Jesus-Jünger löst den hier angedeuteten anthropologischen Grundkonflikt zugunsten des Geldes und des Sparens� Die dreißig Silberlinge aber, die er für seinen Verrat kassiert, sind für den Selbstmörder, der sein Leben verliert, so sinnlos wie die Kornspeicher des sterbenden reichen Bauern im Lukasevangelium (Lk 12,20)� 5. Judas, der verzweifelte Selbstmörder Das matthäischen Sondergut berichtet vom Tod des Judas (Mt 27,3-10). Die Verurteilung Jesu zum Tode ist nach Matthäus der Auslöser für Judas, den Judaslohn zurückgeben zu wollen (V� 3 f�)� Nach dem Text bereut Judas, „unschuldiges Blut“ verraten zu haben (V� 4)� Der Versuch, den Lohn des Verräters zu erstatten, kann weder die Verurteilung ungeschehen machen, noch die bevorstehende Hinrichtung aufhalten� Vielmehr geht es Judas um eine symbolische Distanzierung� Mit der Erstattung des Blutgeldes will Judas die symbolische Brücke zwischen sich selbst und dem Tod Jesu zerstören� Das Motiv der symbolischen Distanzierung von der Bluttat erinnert an die Händewaschung des Pilatus (Mt 27,24)� Schärfer Judas Iskarioth 107 als bei Pilatus qualifiziert Matthäus am Beispiel des Judas die Sinnlosigkeit der nachtäglichen Distanzierungsversuche des Täters� In einer nachgerade lakonischen Reihung von vier Verben innerhalb eines kurzen Satzes mit nur elf Worten wird eine drängende Abfolge von scheinbar ganz selbstverständlich aufeinander folgender Handlungen mehr benannt als beschrieben: Judas wirft ( ripsas ) die Silberstücke in das Innerste des Tempels ( eis ton naon ), geht hinweg (anechōrēsen) und weggehend ( apēlthōn ) erhängt er sich ( apēgxato ) (Mt 27,5)� Gnilka vermutet hinter dem Einwurf des Geldes in die cella des Tempels den Versuch eines rituellen Kaufrücktritts� 15 Aber die rechtlichen Möglichkeiten von einem Verrat analog zu einem Ackerkauf durch Rückgabe des Kaufpreises zurückzutreten, sind doch höchst unwahrscheinlich� Der Ackerkäufer konnte durch die Darbringung des Kaufpreises im Vorhof des Tempels den Versuch eines kultisch assistierten Kaufrücktritts unternehmen� Aber der Verräter? Der Einwurf des Geldes scheint eher psychischer und symbolischer Natur zu sein� Psychisch ist er wohl Ausdruck des verzweifelten Bemühens, das Geschehene ungeschehen zu machen� Symbolisch beinhaltet er eine tragische Bestätigung des Verrates: Der Verräter entweiht das Innerste des Tempels mit seinem Einwurf der Silberstücke, die ja vermutlich das Bildnis des Kaisers zeigten� Nicht etwa in den Vorhof ( proaulion ), sondern in das Innerste ( naon ) des Tempels als des Ortes der Deszendenz und Wirksamkeit Gottes wirft der Verräter seinen Lohn� So kann er keinen Rücktritt von dem Geschäft des Verrates erreichen, sondern so lässt er dem Verrat an Jesus den Verrat am Tempel folgen� Der Distanzierungsversuch läuft auf eine Bestätigung von Verrat und eigener Verworfenheit hinaus� Es bleibt kein Ort, an den Judas vor sich und seiner Schuld fliehen könnte� Der Selbstmord lässt konsequenterweise nur drei Worte auf sich warten (kai apelthōn apēgxato) � Mit dem Einwurf der Silberstücke in das Allerheiligste des Tempels werden die beiden konkurrierenden Sinnsysteme des Judas in ihrem unlöslichen Konflikt dargestellt: Das Geld wird auf dem Höhepunkt dieses Konfliktes noch einmal in seiner scheinbaren göttlichen Würde exponiert� In Wahrheit aber entweiht es den Tempel und hinterlässt bei dem, der sich darauf verlässt, tiefste Einsamkeit und Verzweiflung� Judas, der Kassenwart der Jesus-Gruppe, scheitert an genau der doppelten Loyalität, vor der Jesus stets gewarnt hat (Mt 6,24)� Die Haltlosigkeit seines Existenzkonzeptes lässt ihn abgleiten in die Existenzlosigkeit des Todes� 15 J� Gnilka, Das Matthäusevangelium (HThK I, 2), Freiburg 1988, 445 f� 108 Ralf Miggelbrink 6. Die Tragik der Judasgestalt Als Typos menschlichen Verhaltens gegenüber der Zumutung der Menschwerdung Gottes ist Judas die theologische Gestalt, die Aufschluss gibt über Reaktionsmöglichkeiten auf die Menschwerdung Gottes� Die erste Reaktionsmöglichkeit ist diejenige des berufenen Jüngers, der sich der Wirklichkeit Jesu öffnet, der dem Messias-Bekenntnis des Petrus zugestimmt haben mag (Mt 16,16) und auch in dessen Namen Petrus sagen kann: „Siehe, wir haben alles verlassen uns sind dir nachgefolgt …“ (Mt 19,27)� Diese erste Reaktionsmöglichkeit steht in der dramatischen Komposition der Synoptiker, je mehr der Weg Jesu sich gen Jerusalem wendet, unter Bestreitungs- und Bewährungsdruck� Die durch die Kornfelder streifende Jesus- Gruppe, deren Jünger unbekümmert Ähren abbrechen, um sich mit den Körnern zu stärken (Mt 12,1), trifft auf unerwartete theologische Anfragen: Sie ernten am Sabbat? Sie essen mit ungewaschenen Händen ? Sie missachten die Überlieferung der Alten ? (Mt 15,2) In der Anfeindung entwickeln die Jünger Erklärungsbedarf: „Erkläre uns das Gleichnis vom Unkraut auf dem Acker! “ (Mt 13,36)� Ja, sie beginnen Diskussionen über das Verhalten Jesu: „Wozu diese Verschwendung? “ (Mt 26,8)� Schließlich verlassen sie Jesus und fliehen (Mt 26,56)� Johannes inszeniert die sogenannte eucharistische Brotrede zum status confessionis ( Joh 6,51-65). Viele verlassen Jesus nach dieser Rede und Jesus fragt die Zwölf: „Wollt auch ihr weggehen? “ ( Joh 6,67)� Im Kontext katechetischer Auslegungen und Predigten ist die Nachfolge- Begeisterung der Jünger ein wohlfeiler Topos� Er verkennt die überdeutlichen Zeichen von Zweifeln, Diskussionen und Konflikten in der Jüngergruppe� Dabei sind diese Zweifel, Diskussionen und Konflikte angesichts des mit Leidensankündigungen gesäumten Weges nach Jerusalem in den schließlich tödlichen Konflikt mit der römischen Besatzungsmacht und den religiösen Eliten mehr als nachvollziehbar� Die Entdeckungen der Leben-Jesu-Forschung haben die zentrale Bedeutung der eschatologischen Naherwartung für Jesus von Nazareth zu Bewusstsein gebracht� 16 Jesus wollte das Reich Gottes für die Welt, nicht den eigenen Tod� Die jahrhundertelang bei der Deutung des Kreuzestodes zentrale Idee der notwendigen Sühne (Röm 3,26: hilastērion ) oder Genugtuung (satisfactio) trat in den Hintergrund� Die mit ihr verbundene Vorstellung des von Gott gewollten Todes seines Gesandten wurde energisch zurückgewiesen� Am Ende sei die Verkündigung Jesu an einer menschlichen Freiheit gescheitert, die sich ihr auch hätte öffnen können, die sie jedoch abgelehnt hat� Ebenso wenig wie es eine 16 E� Koziel, Apokalyptische Eschatologie als Zentrum der Botschaft Jesu und der frühen Christen� Ein Diskurs zwischen Exegese, Kulturphilosophie und Systematischer Theologie über die bleibende Bedeutung einer neuzeitlichen Denklinie, Frankfurt 2007, 82-100. Judas Iskarioth 109 Determination zur Sünde gibt, konnte es eine Determination Jesu von Nazareth zum Scheitern an der menschlichen Freiheit seiner Adressaten geben� Demgegenüber betonen die Synoptiker in ihrer Komposition der Evangelien die Zwangsläufigkeit , mit der der Weg Jesu auf wachsenden Zweifel, Diskussionen, Ablehnung, Widerstand und Verschwörungsbereitschaft trifft� Am Ende kooperieren nicht nur religiöse Eliten und Besatzungsmacht, um Jesus zu töten� Sie werden anlässlich der Verurteilung Jesu auch von der Bevölkerung Jerusalems unterstützt (Mk 15,13)� Zu diesem Zeitpunkt haben alle seine Jünger Jesus bereits verlassen (Mk 14,50)� Ihre Flucht gestaltet Markus als so beschämend ehrlos, dass weder Matthäus noch Lukas seinen Bericht vom nackt davonrennenden Jüngling (Mk 14,50 f�) übernehmen� Judas ist also beileibe nicht der einzige Verräter� Der Verrat folgt anscheinend einer anthropologischen Zwangsläufigkeit� Der von Augustinus in die christliche Anthropologie eingeführte Begriff einer genetisch bedingten Schwächung des menschlichen Willens, der menschlichen Erkenntniskraft und Freiheit, kurz die augustinische Erbsündentheologie, stößt hart auf die Autonomieansprüche der Neuzeit� Dabei wird verkannt, dass Autonomie eine Idee ist, unter der Menschen ihr Leben deuten, wo sie erkennen und bejahen, dass es ihnen gemäß ist, das Leben frei zu gestalten, indem sie sich ausrichten an dem, was sie als gut und wahr erkennen� Mitnichten aber ist Autonomie ein factum , eine empirische Tatsache� Gerade da, wo Menschen ihr Leben unter der Idee von Freiheit und Autonomie denken und zu leben versuchen, bemerken sie, wie viel nicht nur hinsichtlich der Äußerlichkeiten des Lebens, sondern wie viel gerade hinsichtlich ihres freien Entscheidens und Handelns in den dunklen Abgründen ihrer selbst wurzelt, statt in der lichten Klarheit von Erkenntnis und bewusster Entscheidung� Gerade unter der Idee der Autonomie werden Menschen schmerzhaft ihrer Heteronomien inne� Gerade wer sein Leben vernünftig gestalten will, wird schmerzhaft der Grenzen seiner Vernunft inne� Wer schließlich erkennt, dass der vernünftigen Erkenntnis des Guten immer ein Moment der freien Bejahung des Guten innewohnt, der begreift: Nicht nur ist unser Wollen des Guten mangelhaft und unsere Erkenntnis des Guten getrübt� Bei der Mangelhaftigkeit der beiden Vermögen von Wille und Erkenntnis bedingt der Mangel des einen den Mangel des anderen: Weil wir das Gute nicht eigentlich wollen, erkennen wir es nicht nüchtern und weil wir nur unklar erkennen, was gut ist, wollen wir das Gute nur bedingt� Wer so etwas wie eine Zwangsläufigkeit des Verrates Jesu sieht, muss keine göttliche Prädestination eines Individuums zum Bösen annehmen, nach der Judas von Gott zum Verräter an Jesus bestellt wurde, um so das Passionsgeschehen um der Erlösung der Menschheit willen in Gang zu setzen� Vielmehr manifestiert sich in Judas die zur Tat hindrängende kritische Auseinanderset- 110 Ralf Miggelbrink zung der Jünger mit dem Hiatus zwischen der Reich-Gottes-Botschaft auf der einen und den zunehmenden Anzeichen des absehbaren Scheiterns Jesu auf der anderen Seite� Das Erschrecken des Judas über die Verurteilung Jesu (Mt 27,3) könnte Spekulationen Raum geben, der Verräter habe gar nicht den Tod Jesu intendiert, sondern durch seinen Verrat die machtvolle Selbstmanifestation Jesu als der Messias zu provozieren versucht� Dann aber wäre Judas eine Gestalt des Scheiterns an der in Tod und Auferweckung offenbar werdenden Wahrheit des Messias, dass nämlich Gottes verwandelnde Macht und Herrlichkeit das Sterben des Menschen und Gottes Handeln an ihm voraussetzt� Judas wäre dann einer der vielfältigen Fälle des menschlichen Scheiterns an der Wahrheit Jesu� Dieses Scheitern gründet in einer auch genetisch kodierten Fremdheit des konkreten Menschen gegenüber Gott und der Wahrheit seines Gesalbten, die sich gerade nicht durch Selbstbehauptung und Gewalt durchsetzt, sondern in einem gläubigen Vertrauen, das Scheitern und Tod in der Hoffnung auf den Gott des Lebens erleidet� In der markinischen Komposition reicht der Kontext der Nachfolge logien , um Petrus argumentieren zu lassen: „Du weißt, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt�“ (Mk 10,28)� Matthäus macht in seiner Fassung dieser Überlieferung die damit implizierte Frage überdeutlich: „Was werden wir dafür bekommen? “ (Mt 19,27)� Im Horizont des drohenden Scheiterns wägen seine Jünger Risiko und Nutzen, Investition und Rendite der Nachfolge� Eine Variante dieser Frage ist diejenige nach etwaigen eigenen Beförderungsaussichten für das Reich Gottes: Wer wird der Größte sein im Himmelreich? (Mt 18,1)� Die Unangemessenheit der Frage nach den eigenen Erfolgsaussichten im Gottesreich bekommen die Jünger von Jesus mitgeteilt� Begriffen zu haben scheinen sie seine Auskünfte aber eben nicht� Bei allem offensichtlichen Erfolg der Jesus-Bewegung, deren Meister gar Wind und Wellen gebieten kann (Mk 4,41), bleiben die Erfolge Jesu an dessen Grundintuition gebunden, letztlich den eigenen Nutzen nicht zu suchen und den eigenen Tod nicht um jeden Preis zu meiden� Die österliche Predigt vom endgültigen Erfolg des Gottesreiches bleibt gebunden an die Geschichte vom katastrophalen Ende seines Boten und wirft für die Jünger Jesu damals wie heute die Frage auf: Was ist für uns drin im Gottesreich? Die christliche Kirche hat in ihrer theologischen Entwicklung die zentrale Bedeutung der Botschaft von der österlichen Auferstehung so stark in das Zentrum ihrer Verkündigung und Liturgie gestellt, dass es zeitweise notwendig erschien an das Leben vor dem Tod zu erinnern� Ganz unproblematisch wurden orakelnde Formeln wie die vom Jenseits zu zentralen Elementen der christlichen Verkündigung� Sie ent-dramatisieren, ja banalisierten, die christliche Grunderfahrung, dass die Verkündigung und Verbreitung des Gottes-Reiches seit Jesu Tod gebunden ist an die Erfahrung des Todes seiner Boten (apostoloi) und Zeugen Judas Iskarioth 111 (martyres) � Dieser Tod ist nicht nur der riskierte und schließlich erlittene Tod am Ende des Lebens, sondern die Erfahrungen des Scheiterns im Leben und das Durchleiden der Furcht vor diesem Scheitern� Diese Furcht vor dem Scheitern und dem Tod gehört zum genetisch kodierten Überlebensprogramm jedes biologischen Lebewesens� Ihre Überwindung ist nicht natürlich� Die Evangelien entfalten die Vielfalt der möglichen Alternativerfahrungen zur Angst vor dem Tod in den Auferstehungsgeschichten� Sie handeln von individuellen Erfahrungen, mit denen die Zeugen der Auferstehung zu individuellen Gewissheiten gelangten, die sie bezeugen können, die aber für das Erkennen und Handeln von Menschen nur da verwandelnde Kraft annehmen, wo sie individuell rezipiert und verstanden werden� Die individuelle Rezeption des alle verbindenden Auferstehungszeugnisses legt das Neue Testament mithilfe des Begriffes Geist aus� „Geist“ bezeichnet das intersubjektive Prinzip individueller Erkenntnis� Im Geist (en pneumati) erkennt der Einzelne die Wirklichkeit der Auferstehung als einer intersubjektiv bezeugten in ihrer individuellen Relevanz für das eigene Leben� Diese Individualitätsgebundenheit neutestamentlicher Intersubjektivität des Auferstehungszeugnisses wird durch eine weltbildhaft orakelnde Rede vom Jenseits nicht erreicht� Anders als der Glaube an ein Jenseits , in dem die Rechnungen des Gottesreiches endgültig aufgehen, stehen die Auferstehungszeugnisse für lebensnahe Erfahrungen der transformierenden Kraft des Gottesreiches in einer Gegenwart, die gleichwohl von Tod und Scheitern umfasst bleibt� Aber mit diesen vielfältigen lebensnahen Erfahrungen der Auferstehung wächst die christliche Glaubenszuversicht, dass die Gesetze der nach Überleben strebenden Lebewesen, dass dieses Leben dem Fleische nach ( kata sarka ) nicht die letzte bestimmende Wirklichkeit menschlicher Existenz ist, sondern dass von Gott her das Leben im Geist begonnen hat, dessen Kraft auch im individuellen Tod obsiegt und jetzt bereits erfahrbar zur eschatologisch bestimmenden Wirklichkeit des Lebens wird� 7. Der Ort, der Judas bestimmt war Als sich in der Jünger-Gemeinde in den vielen Geschichten von der einen Auferstehung die vielfältigen individuellen Auslegungen der einen Überzeugung von der Kraft des Reiches Gottes im Angesicht seiner Widerlegung durch den individuellen Tod durchzusetzen beginnen, ist Judas nicht mehr dabei� Sein Zweifeln, Diskutieren und Streiten hat ihn an den Punkt gebracht, an dem ihn der alle verbindende Geist nicht mehr erreicht� Er endet in der Einsamkeit des trostlosen Todes� Dass die Apostelgeschichte den Selbstmord des Judas umschreibt mit den Worten, Judas sei an den Ort gegangen, „der ihm bestimmt war“ (Apg 1,26) lässt die Hoffnung mitschwingen, dass auch die Verweigerung gegenüber der 112 Ralf Miggelbrink Auferstehungsbotschaft eine tragische heilsgeschichtliche Funktion enthalten könnte� Der Verweigerer illustriert mit seiner Verweigerung die Aussichts- und Hoffnungslosigkeit eines Menschen, der der Dynamik des Gottesreiches nicht trauen mag und dessen Sorge um das biologische Leben ihn als geistiges Wesen zu keinem befriedigenden Ziel führen kann� Buchreport Günter Röhser Carol A� Hebron Judas Iscariot: Damned or Redeemed. A Critical Examination of the Portrayal of Judas in Jesus Films (1902-2014) London u� a�: Bloomsbury T&T Clark 2016 (Scriptural Traces: Critical Perspectives on the Reception and Influence of the Bible 9 = Library of New Testament Studies 563) XV , 298 Seiten, gebunden ISBN 978-0-56766-829-5 114 Buchreport Das Buch von Carol Hebron beginnt mit der Eingangsszene aus dem Film „Sorry, Judas“ von Celia Lowenstein, in der die Karikatur des ideologisierten prototypischen „Juden“ (welcher identisch ist mit Judas) erscheint und dem Zuschauer die Frage stellt: „Jewish enough for you? “, und endet mit der Schlussszene desselben Films, in der Judas im Vatikan anruft und fragt, ob es nicht an der Zeit sei, ihm Danke zu sagen wegen seiner Unterstützerrolle für das Christentum� Damit ist gleichsam die Entwicklung beschrieben, die Hebron in ihrem Buch nachzeichnet, nämlich die Rehabilitation der Judasfigur in Jesusfilmen der letzten hundert Jahre, und zugleich ist das wichtigste theologische Thema benannt, das sich mit dieser Fragestellung verbindet, nämlich das Verhältnis zwischen Judas und dem Judentum in christlicher Wahrnehmung und Rezeption� Hebron beginnt damit, dass sie die Entwicklung der christlichen Wahrnehmung der Judasfigur, und damit des Verhältnisses zum Judentum, in drei Phasen beschreibt: von der Dämonisierung ( Judas und die Juden als Werkzeuge des Satans, ausgehend vom Neuen Testament) über die Isolierung (gesellschaftliche Ausgrenzung der Juden seit dem Mittelalter) bis zur Eliminierung (von Martin Luther bis zum Holocaust)� Die theologische Voraussetzung für den Antisemitismus ist dabei immer die christliche Enterbungs- und Substitutionslehre („Christian supersessionism“) gewesen: An die Stelle der Juden als auserwähltes Gottesvolk sei die Kirche (aus den Heiden) getreten� Im Anschluss an diese Einführung ins Thema erzählt Hebron dann in neun Kapiteln gewissermaßen eine gegenläufige Geschichte: die Entwicklung der Wahrnehmung der Judasfigur, und damit des Verhältnisses zum Judentum, im Jesusfilm des 20� und beginnenden 21� Jh�s von der traditionellen Antihaltung hin zu einer Neubestimmung und Erneuerung� Dazu werden 24 Jesusfilme ausgewählt und in ihrer jeweiligen Epoche dargestellt� Der Schwerpunkt der Analysen liegt dabei auf der Porträtierung der Judasfigur (in ihrem Verhältnis zu Jesus) und - aus naheliegenden Gründen - auf der Szene des Letzten Abendmahls und der Rolle des Judas in ihr (die Länge dieser Szene wird bei jedem Film vermerkt)� Weitere Schlüsselszenen liefern natürlich der sog� Verrat des Judas (eine Bezeichnung, die schon vom neutestamentlichen paradidōmi her in Frage zu stellen wäre [15]), der Judaskuss im Garten Gethsemane und der Selbstmord des Judas� Die übergreifenden Fragestellungen in allen Kapiteln lauten (siehe die Zwischenüberschriften in Kapitel 1): „How Is Judas Portrayed in Film? Film Studies“, „Why Does the Judas Character Change? Cultural Studies“, “What Are the Theological Implications of These Changes? Theological Studies”� Der hier sich zeigende “interdisciplinary approach” (33), der von filmwissenschaftlichen Analysen ausgehend theologische Fragestellungen bearbeitet, macht zweifellos Buchreport 115 den besonderen Reiz dieses Buches aus (vgl� 32 zur Filmanalyse als „theological method“ unter Bezugnahme auf Clive Marsh)� 1 Methodisch operationalisiert wird dieser Ansatz wie folgt: Jedes Kapitel bzw� jeder Zeitabschnitt beginnt in der Regel mit einer allgemeinen Einführung und endet mit einer Zusammenfassung� Innerhalb jedes Zeitabschnitts wird jeder einzelne ausgewählte Film nach dem gleichen Muster analysiert: Zunächst wird er durch drei „Linsen“ betrachtet, die ursprünglich von R� Stern, C� N� Jefford und G� Debona für die Analyse von Jesusdarstellungen im Film entwickelt wurden (25, 33)� „Lense One“ bietet allgemeine Hinweise zu den Entstehungsverhältnissen des jeweiligen Films und zu seinem Regisseur und fragt nach dem Inhalt der Filmhandlung im Verhältnis zu den Quellen (biblische, christliche, jüdische, apokryphe; andere Kunstwerke oder Filme als Inspirationsquellen). „Lense Two“ konzentriert sich auf die eigentliche Filmanalyse und untersucht jeweils detailliert die Inszenierung des Letzten Abendmahls� Von besonderem Interesse ist dabei das jeweilige (Teilnahme- oder Nicht-Teilnahme-)Verhalten des Jüngers Judas� „Lense Three“ fokussiert sich auf den soziokulturellen und zeitgeschichtlichen Kontext des jeweiligen Films� Auch wenn die gebotenen Informationen oftmals eher holzschnittartig und die Zusammenhänge nicht immer einsichtig sind, ist diese Fragestellung dennoch wichtig und wesentlich für die Erfassung der Botschaft (Fragen und Antworten, Zeitstimmung) eines Films� Es sind diese kontextuellen Aspekte, von denen die Verfasserin bekennt: „These questions kept me focused, stimulated and enthused with the topic“ (26; vgl. 148-151 als besonders eindrückliches Beispiel die versteckten Anspielungen in einem mexikanischen Jesusfilm von 1971 auf das Massaker von Tlatelolco aus dem Jahre 1968 und die politischen Verhältnisse in Mexiko)� An die „three lenses“ schließt sich jeweils ein Abschnitt „The Portrayal of Judas“ an, der den gesamten Film auf seine Judasdarstellung hin untersucht� Diese Abschnitte bilden zusammen mit der Analyse der Abendmahlsszenen das Kernstück des ganzen Buches� Aus der Untersuchung der handelnden Personen und ihres Verhaltens, ihrer Dialoge, ihrer Körpersprache, ihrer rituellen Praxis sowie des Settings, der Kostüme, der Maske, der Musik etc� werden Rückschlüsse auf die (theologische) Deutung und Bewertung der Judasfigur und des Judentums überhaupt gezogen� Das Buch schließt mit einem Blick auf die 10 Thesen der Seelisberger Konferenz von 1947 (Internationale Konferenz von Christen und Juden, deren 70� Jahrestag 2017 begangen wurde) und Beispielen 1 Es steht damit in einem Forschungskontext, der auch in der ZNT immer wieder Aufmerksamkeit gefunden hat; vgl. C. Urban in ZNT Heft 6, 3. Jg. 2000, 54-63; U. Böhm / G. Buschmann in ZNT Heft 10, 5. Jg. 2002, 69-77; R. Zwick in ZNT Heft 30, 15. Jg. 2012, 33-44 oder den Buchreport von P� Busch zu R� Jewetts „Saint Paul Returns to the Movies“ in ZNT Heft 14, 7� Jg� 2004, 65 f� 116 Buchreport dafür, wie sich diese in der Shoa-Theologie widerspiegeln und auf die Filmproduktion eingewirkt haben� Der chronologische Durchgang in den genannten Kapiteln erstreckt sich auf Filme der Jahre 1902 bis 2014 und ergibt ungefähr folgendes Bild: In der Stummfilm-Ära und der Zeit bis nach dem Zweiten Weltkrieg herrscht noch ganz eine traditionelle antisemitische Grundhaltung („Theology of Rejection“ [vgl. 231 ff]) mit einer wechselseitigen Verwerfung: Judas lehnt Jesus als Messias und die Teilnahme an der Eucharistie ab, wird im Gegenzug von der Eucharistie ausgeschlossen und erscheint als stereotyper Bösewicht und zusammen mit dem durch ihn repräsentierten Judentum ( Jude = Judas! ) als von Gott verworfen� Dennoch ist er die interessantere Gestalt: Während die Rolle Jesu noch festgelegt ist (77: „sacrosanct and governed by censorship codes“), fordern die relativ spärlichen Angaben in den Evangelien die Filmemacher dazu heraus, die Gestalt des Judas und die Motive seines „Verrats“ auszuschmücken und auszudeuten (ebd�: „open for interpretation and embellishment“) - worauf die Evangelien noch verzichtet haben� Dies ist ein Grundzug der gesamten Entwicklung und führt dazu, dass die Judasfigur der Filme von Anfang an - und in der Folge immer mehr - sich von derjenigen der Evangelien unterscheidet� Darin liegt die eigentliche theologische Herausforderung� Die Zeit bis zum Beginn der Sechzigerjahre ist dann eine Epoche des Übergangs: Man beginnt Judas differenzierter wahrzunehmen und kann ihn auch schon einmal von der Schuld am Tode Jesu entlasten� Diese trifft allerdings dann andere Vertreter des Judentums (z� B� den Hohepriester Kaiphas) mit voller Härte, sodass der zutiefst antijüdische Charakter des Jesusfilms immer noch nicht überwunden erscheint (vgl� 111)� Der Wandel zeigt sich aber z� B� daran, dass das Letzte Abendmahl jetzt nicht mehr quasi als römisch-katholische Messe - so z� B� schon in dem ersten der besprochenen Filme ( La Vie et la Passion de Jésus Christ von Ferdinand Zecca und Lucien Nonquet aus den Jahren 1902 bis 1905 [40]) -, sondern stärker als jüdisches Passamahl dargestellt werden kann (vgl. 97, 117 f�, 169, 174 f�, 212)� Das wichtigste Ereignis, das diesen Wandel beeinflusst hat, war der Holocaust / die Shoa (vgl� 14, 230, 245)� Der dadurch ausgelöste Schock führte ab den 60er Jahren zu einer neuen Darstellung des Judentums im Film, aber auch zu völlig neuen Deutungen der Judasgestalt (Hebron nennt das „Theology of Acceptance“ [241 ff]). Vor allem wird jetzt die Beteiligung und Verantwortung der Römer beim Prozess Jesu herausgestellt (vgl� 120) und auch die Gestalt des Judas ins Verhältnis zu den Römern gesetzt� „From the 1960s, Judas is no longer recognized by Jewish traits but by his zealous pursuit in ending Roman oppression“ (29)� So kann er zum Anwalt der Unterdrückten und zum Freiheitskämpfer, schließlich zum tragischen Helden werden, der den göttlichen Willen vollstreckt und dem Buchreport 117 darum kein Vorwurf, sondern eher Mitleid gilt (zum ersten Mal in I Beheld His Glory von 1952, wo die Passionsgeschichte aus der Sicht des - Cornelius genannten - römischen Zenturios aus Mk 15,39 erzählt wird; Judas als Zelot zum ersten Mal in Day of Triumph von 1954)� Da mittlerweile auch mit der Jesusgestalt experimentiert wird - herausragende Beispiele sind Pasolinis „ Evangelium nach Matthäus“ (131: „In fact, Pasolini created Jesus in his own image: Marxist, atheist, homosexual“), Jesus Christ Superstar (152: „a new type of Jesus, one who sings and who might be characterized as a ‚hippy‘“; vgl. 154: „a continuous changing between ancient and modern scenes“) und The Last Temptation of Christ (197: „the first film to deal with Jesus‘ sexuality - and bisexuality“ [Judas und Maria Magdalena]) -, entstehen völlig neue Deutungen und Konstellationen - jenseits des traditionellen, mit der Judasfigur verbundenen Antisemitismus (z� B� Judas als Afroamerikaner in Jesus Christ Superstar )� Diese entfernen sich immer weiter von traditionellen Deutungen des biblischen Stoffes (was nicht heißt, dass sie nicht auch antisemitische Restbestände enthalten können! ) und führen schließlich zu einer vollständigen Rehabilitierung des Jüngers Judas - wie etwa in Jesus Christ Superstar , in dem Musical-Film Godspell , in Franco Zeffirellis „Jesus of Nazareth“ oder in den Filmen des neuen Jahrtausends wie z� B� Color of the Cross (228: „Judas, like Jesus, is a mouthpiece for Black theology“) oder The Passion ( Judas tut, was er tun muss - deshalb wird ihm vergeben)� Während also das Bild des zwölften Jüngers in der biblisch-christlichen Überlieferung immer dunkler wird, hellt es sich in der Geschichte des neueren Jesusfilms immer weiter auf� Die Frage drängt sich nach der Lektüre auf: Wie soll man mit diesen theologischen „Ergebnissen“ umgehen? Die Vorstellung von Judas als Freiheitskämpfer (als Zelot, z� B� zusammen mit Barabbas [183 ff]) hat außer vielleicht am Namen (Sikarier? ) keinerlei Anhalt an den Texten� Auch der Einsatz des (falsch verstandenen) Prädestinationsgedankens (vgl� 204 ff) ist an dieser Stelle nicht „textgemäß“� Denn bei aller heilsgeschichtlichen Sinngebung des Passionsgeschehens lassen die neutestamentlichen Texte keinen Zweifel an der schuldhaften Verstrickung und Verantwortlichkeit des Judas, der keine Vergebung erlangt� Die Neueröffnung des „Falles Judas“ und seine Neudeutungen durch theologisch kreative Filmemacher und andere Kulturschaffende füllen also eine Lücke, die das neutestamentliche Zeugnis hinterlassen hat 2 - ja, für die es sich nicht einmal interessiert� Die Jesus- und Judas-Filmdarstellungen zeigen, dass man es dabei nicht belassen kann� Sie 2 Nicht unerwähnt soll bleiben, dass die Rehabilitierung des Judas als „instrument of salvation“ an das gnostische Judas-Evangelium aus dem 2� Jh� anknüpfen kann (s� dazu den Beitrag von S� Gathercole in diesem Heft)� Dort gilt - in Abgrenzung von der kanonischen und altkirchlichen Judasgestalt -: „Judas’ act of betrayal is in faithful obedience to Jesus’ will“ (6)� 118 Buchreport fordern uns vielmehr heraus, auch selbst theologisch kreativ zu werden, wenn wir mit Fällen wie demjenigen des Jüngers Judas zu tun bekommen� Gegenüber der wissenschaftlich reflektierten Theologie hat sich die Judas-Theologie der Jesusfilme längst verselbständigt und emanzipiert und folgt ihren eigenen Gesetzen und Interessen� Allerdings vollzieht sie damit - und das wäre gegenüber der Darstellung von Hebron dringend zu ergänzen! - eine Entwicklung nach, die innerhalb und außerhalb der Theologie bereits in der Zeit der Aufklärung begonnen hat und seitdem nicht zum Stillstand gekommen ist: Von Schleiermacher bis Barth und Gollwitzer, von Goethe bis Walter Jens und Hermann Levin Goldschmidt (vgl� TRE 17 [1988] 300-307) reichen die Versuche, mit der Gestalt des Judas zu Rande zu kommen - zum Teil auch, ihr positiv gerecht zu werden, sie zu „rehabilitieren“� Die Auseinandersetzung in den Filmen ist insofern nichts wirklich thematisch Neues - wenn auch die Antworten zum Teil andere sind� Carol Hebron ist ihrem Gegenstand jedenfalls in glänzender Weise gerecht geworden� Filme für andere zu beschreiben, die sie selbst nicht sehen, ist ja keine leichte Aufgabe� Hebron gelingt es, ihre Leserinnen und Leser auf spannende Weise in ihre eigene (wiederholte) Filmschau einzubeziehen� Dass die Fülle der Filme manchmal ermüdet (auch wenn man, anders als im Kino, immer wieder zurückblättern und nachlesen kann), ist unvermeidlich, macht aber das Ergebnis nur umso nachdrücklicher� Am wichtigsten erscheint mir der „kulturtheologische“ Ertrag des Werkes: Es gibt eine eigenständige Theologie von Kulturschaffenden (230: die Filme als „bearers of meaning and theology in their own right“ [Zitat Jon Rainey]) und diese ist legitim, solange sie sich auf die Quellen bezieht und grundlegenden Sachverstand walten lässt� Und ernsthafte und intensive Anstrengungen dieser Art sind in vielen Filmen deutlich zu erkennen� Diese sind deshalb als Gesprächspartner der Fachtheologie ernst zu nehmen - nicht zuletzt, weil sie eine größere öffentliche Reichweite besitzen als Letztere� Theologische Entwicklungen (im weitesten Sinne) spiegeln sich einerseits in ihnen wider, wie sie andererseits selbst einen Beitrag dazu leisten� Das Buch ist durch Verzeichnisse und Register (Abbildungen, Abkürzungen, Bibliographie, Filmographie, Stellen, Autoren, Sachen) vorzüglich erschlossen und auch als Nachschlagewerk sehr gut geeignet� 41 JUDAS ZNT Heft 41 · 21. Jahrgang · 2018 ZNT Zeitschrift für Neues Testament Das Neue Testament in Universität, Kirche, Schule und Gesellschaft Kristina Dronsch, Christian Strecker, Manuel Vogel (Hrsg.) 41 JUDAS www.francke.de Das aktuelle Heft der ZNT befasst sich mit einer neutestamentlichen Figur, die der Jesus-Erzählung der Evangelien immer wieder ein breites öffentliches Interesse weit jenseits kirchlicher, schulischer und akademischer Milieus beschert. Die finstere und tragische Gestalt des Judas übt allem Anschein nach auch dort einen bleibenden Reiz aus, wo das Neue Testament sonst kaum oder gar nicht vorkommt. Judas animiert zur literarischen und künstlerischen Beschäftigung ebenso wie zum engagierten religiösen Streitgespräch. Die Beiträge des vorliegenden Heftes nähern sich der Figur des Judas an im Rückgriff auf die neutestamentlichen Texte, auf apokryphe Quellen sowie auf ihre schon im Neuen Testament anhebende und bis heute fortdauernde Rezeptionsgeschichte. Mit Beiträgen von Kristina Dronsch, Simon Gathercole, Martin Meiser, Paul Metzger, Ralf Miggelbrink, B.J. Oropeza, Günter Röhser und Fredrik Wagener
