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ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
1201
2019
2243-44 Dronsch Strecker Vogel
Inhalt Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 NT aktuell Stefan Alkier Mehr oder weniger plausible Hypothesen Theologiegeschichtliche Anmerkungen zur Genese und Konstruktion des „synoptischen Problems“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Zum Thema Matthias Klinghardt Überlieferungsgeschichte der kanonischen Evangelien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Francis Watson Braucht Lukas Q? Ein Plädoyer für die L/ M-Hypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Werner H. Kelber Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Kontroverse Manuel Vogel Wie sicher ist die Q-Hypothese? Einleitung in die Kontroverse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Werner Kahl Q als Fiktion Zur Plausibilität und Bedeutung des Synoptischen Integrationsmodells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Markus Tiwald Wie sicher ist die Q-Hypothese? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Hermeneutik und Vermittlung Hanna Roose Die Zwei-Quellen-Theorie in der Religionspädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Buchreport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Zeitschrift für Neues Testament 22. Jahrgang (2019) Heft 43 / 44 Editorial Liebe Leserin, lieber Leser, das Thema dieses neuesten Heftes der ZNT „Synoptische Hypothesen“ war, wie den Herausgebenden schnell klar wurde, nicht in einem Einzelheft unterzubringen. Wir haben deshalb die beiden Hefte des Jahrgangs 2019 wie seinerzeit schon bei „Sola Scriptura“ (ZNT 39/ 40) zu einem Doppelheft verbunden. Das Schwergewicht des Themas wird anhand der folgenden Äußerungen aus der Forschungsliteratur des 20. Jh.s greifbar: Im Jahr 1904 erschien „Das Marcusevangelium und seine Quellen. Ein Beitrag zur Lösung der Urmarcusfrage“ des Königsberger und Wiener Neutestamentlers Richard Adolf Hoffmann. Zur synoptischen Frage erklärt Hoffmann: „Ein gewisses Gefühl von Behaglichkeit pflegt den Theologen zu überkommen, wenn er der synoptischen Frage gedenkt. Endlich einmal ein gelöstes Problem nach den mannigfachen Irrgängen theologischer Forschung, ein ruhender Pol in der Erscheinungen Flucht“. 1 So urteilte auch Albert Schweitzer in seiner erstmals 1906 erschienenen „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ mit Bezug auf Heinrich Julius Holtzmann: Die Markushypothese mitsamt der Zweiquellentheorie „ist durch Holtzmann auf einen solchen Grad der Evidenz gebracht, dass sie nicht mehr eine Hypothese genannt werden kann“. 2 In das Jahr 1968 datiert die Einschätzung von Willi Marxsen: 1 R. A. Hoffmann, Das Marcusevangelium und seine Quellen. Ein Beitrag zur Lösung der Urmarcusfrage, Königsberg 1904, 1. 2 A. Schweitzer, Die Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen 9 1984 (zuerst 1906), 227. „Diese Zwei-Quellentheorie hat sich in der Forschung so sehr bewährt, dass man geneigt ist, die Bezeichnung ‚Theorie‘ (im Sinn von Hypothese) dafür aufzugeben. Man kann sie in der Tat als ein gesichertes Ergebnis ansehen“. 3 Wenn demgegenüber im Hefttitel sehr zurückhaltend von „synoptischen Hypothesen“ die Rede ist, ist damit bereits angedeutet, dass die von Hoffmann, Schweitzer und Marxsen geteilte Gewissheit inzwischen in ihren Grundfesten erschüttert ist. Die Zweiquellen-Hypothese, die das 20. Jh. hindurch als gesichert galt und abseits der Spezialdiskurse auch heute noch zumeist unhinterfragt angewendet wird, sieht sich seit einiger Zeit von unterschiedlicher Seite tiefgreifend und fundiert in Frage gestellt. Wer diese Diskussionslage zum Anlass nimmt, sich ein wenig in die Probleme der synoptischen Frage einzuarbeiten, wird sich nicht nur recht bald in den Debatten 19. Jh.s wiederfinden, die den Siegeszug der Zweiquellen-Hypothese angebahnt haben, sondern überhaupt feststellen, dass das Thema eine außergewöhnliche forschungsgeschichtliche Tiefe aufweist. Folgerichtig setzen wir den primär forschungsgeschichtlich ausgerichteten Beitrag von Stefan Alkier unter der Rubrik „NT aktuell“ an den Anfang des Heftes. Alkier versteht es, ein Thema von fragloser Brisanz und Aktualität so zu erschließen, dass die Ära der historisch-kritischen Exegese in einen weiten, bis in die Zeit der Alten Kirche reichenden forschungsgeschichtlichen Horizont eingebettet wird. Die drei Beiträge unter der Rubrik „Zum Thema“ machen durch ihre bloße Zusammenstellung die eklatante Disparatheit der gegenwärtigen Diskussionslage deutlich: Mit Matthias Klinghardt kommt der wichtigste Vertreter der Markion-Priorität zu Wort. Auf deren Grundlage hat er ein höchst anspruchsvolles Überlieferungsmodell entwickelt, das nicht nur das synoptische Problem einer neuen Lösung zuführt, sondern zugleich eine überlieferungsgeschichtliche Gesamtsicht auf das Phänomen des neutestamentlichen Kanons eröffnet. Wenn demgegenüber Francis Watson die Frage stellt „Braucht Lukas Q? “, um diese Frage von der Warte der Farrer-Goulder-Hypothese zu verneinen, bewegt er sich in den engeren Grenzen des synoptischen Problems, die abseits der Markion-Priorität bis heute die Diskussion weitestgehend fokussieren. Der ausführliche Beitrag von Werner Kelber unterscheidet sich von den beiden anderen darin, dass er nicht nur nicht von rein literarischen Abhängigkeitsverhältnissen zwischen den Evangelien ausgeht, sondern diese Abhängigkeitsverhältnisse unter Berufung auf eine inzwischen umfangreiche Mündlichkeitsforschung im Grundsatz bestreitet. Folgt man Kelber und den von ihm reichhaltig referierten früheren Arbeiten v. a. aus Frankreich und Amerika, von denen die deutsch- 3 W. Marxsen, Einleitung in das Neue Testament, Gütersloh 1963, 106. Die drei Hinweise verdanken wir Matthias Klinghardt. 4 Editorial Editorial 5 sprachige Forschung bisher weitgehend unberührt geblieben ist, erscheinen die synoptischen Evangelien als mehr oder weniger zufällige Momente in einem von Mündlichkeit und Erinnerung geprägten und auch in den frühen Stadien der Verschriftlichung noch unkontrollierbar fluiden Traditionsstrom, der der literarischen Denkweise der Synoptikerforschung überhaupt nicht zugänglich ist. Die Kontroverse dieses Heftes stellt die Frage „Wie sicher ist die Q-Hypothese? “. Mit Werner Kahl, der wie Francis Watson die Farrer-Goulder-Hypothese vertritt, und Markus Tiwald, der jüngst einen Kommentar zu Logienquelle vorgelegt hat, wird diese Kontroverse von zwei ausgewiesenen Vertretern ihrer jeweiligen Positionen bestritten, die ihre Sicht auf dem aktuellen Stand der Forschung darzustellen und gegen Kritik zu verteidigen in der Lage sind. Hanna Roose untersucht unter der Rubrik „Hermeneutik und Vermittlung“, wie die Zweiquellen-Hypothese in Schulbüchern zur Geltung kommt. Der Beitrag macht deutlich, welche besonderen pädagogischen und didaktischen Herausforderungen hier auf dem Spiele stehen, und wie die untersuchten Lehrwerke diesen Herausforderungen gerecht werden oder dahinter zurückbleiben. Der von Manuel Vogel verfasste Buchreport stellt einen Sammelband vor, der aus einer Konferenz im dänischen Roskilde im Jahr 2015 hervorgegangen ist und den gegenwärtigen Stand der Diskussion des synoptischen Problems gut abbildet. Jeder Beitrag wird in einer Ausführlichkeit referiert, die es erlaubt, die einzelnen Positionen und Argumente detailliert nachzuvollziehen und damit die eigene Meinungs- und Urteilsbildung ergänzend zu den Beiträgen des Heftes zusätzlich zu befördern. Nun wünschen wir unseren Leserinnen und Lesern eine anregende Lektüre und dem aktuellen Heft der ZNT interessierte Leserinnen und Leser. Kristina Dronsch Christian Strecker Manuel Vogel 5 Zeitschrift für Neues Testament 22. Jahrgang (2019) Heft 43 / 44 NT aktuell Mehr oder weniger plausible Hypothesen Theologiegeschichtliche Anmerkungen zur Genese und Konstruktion des „synoptischen Problems“ Stefan Alkier Einleitung Die Frage nach den literarischen Abhängigkeitsverhältnissen der neutestamentlichen Evangelien - insbesondere der Synoptiker - ist in Bewegung geraten. Galt noch zu Beginn des Jahrtausends die damals noch sogenannte „Zwei-Quellen- Theorie “ als quasifaktische Lösung des synoptischen Problems, so haben insbesondere Ansätze 1 aus den USA und Großbritannien, aber auch hierzulande, dafür gesorgt, dass der rein hypothetische Charakter aller literaturgeschichtlichen Rekonstruktionen der Evangelienschreibung zunehmend ins exegetische Bewusstsein tritt. Von der Zwei-Quellen-„ Theorie “ als gesicherter Ausgangsbasis der Synoptikerforschung kann längst nicht mehr die Rede sein, besser sollte man auch hier in sach- 1 Vgl. Gospel Interpretation and the Q-Hypothesis, hg. von M. Müller / H. Omerzu, London 2018, mit Beiträgen u. a. von J.S. Kloppenborg, C.M. Tuckett, F. Watson, M. Goodacre, W. Kahl. Mein eigener Beitrag in diesem Band liegt dem hier vorgelegten Artikel zugrunde. Vgl. auch noch G. Strecker (Hg.), Minor Agreements. Symposion Göttingen 1991/ 1993; J.J. Griesbach: Synoptic and Text-Critical Studies 1776-1976, hg. von B. Orchard / T.R.W. Longstaff, SNTS MS 34, Cambridge, 1976. 8 Stefan Alkier lich angemessener Bescheidenheit von der Zwei-Quellen- Hypothese sprechen, die in Konkurrenz zu anderen bedenkenswerten Hypothesen steht. Einerseits verunsichert diese Situation, andererseits eröffnet sie die Chance, ehrlich und kritisch Probleme der Einleitungsfragen neu zu diskutieren und Hypothesen als das zu diskutieren, was sie sind: Hypothesen. Auf keinen Fall wird mehr ein wissenschaftlich verantwortliches Proseminar bzw. ein dafür produziertes Lehrbuch die Zwei-Quellen-Hypothese als faktische Lösung und alle anderen Modelle als „überholt“ darstellen können. Aber auch die alternativen innersynoptischen und außersynoptischen Benutzungshypothesen können mit ihren eigenen Problemen nicht als „Lösung“, sondern ebenfalls lediglich als mehr oder weniger plausible Hypothesen gelten. Im akademischen Unterricht sollten deshalb ab sofort stets mindestens zwei im Ansatz verschiedene Modelle der literarischen Genese der Evangelien gelehrt und ihre Stärken und Schwächen gegeneinander abgewogen werden. Aber wie kam es überhaupt zum sogenannten „synoptischen Problem“, von dem man erst am Ende des 18. Jh.s zu sprechen begann? Haben nicht schon immer aufmerksame Leser die Differenzen und Gemeinsamkeiten der maßgeblichen vier Evangelien bemerkt und diskutiert, wie man es doch schon bei Origenes und Augustin lesen kann? Meine forschungsgeschichtliche Skizze wird ausgewählte Aspekte und Problemkonstellationen aufzeigen, in denen über die Verhältnisse der Evangelien diskutiert wurde. Dabei lege ich den Schwerpunkt auf die ersten fünf Jahrhunderte christlicher Zeitrechnung und dann wieder auf den Zeitraum vom 17. bis zum 19. Jh., in dem die maßgeblichen Hypothesen entstehen, die die heutige Diskussion noch immer prägen. Auf das Ganze gesehen liegt der wohl bemerkenswerteste Unterschied zwischen den Fragestellungen und Lösungsansätzen von der Alten Kirche bis zur Reformationszeit einerseits und der Entwicklung seit dem 17. Jh. andererseits in der unterschiedlichen Funktion des historischen Interesses: War die historische Frage nach Verfasser, Rezipienten und dem Verhältnis der Evangelien untereinander bis zur Reformationszeit eher apologetisch motiviert, so wird sie seit dem 17. Jh. zunehmend hermeneutisch 2 gewendet - und in zunehmend überzogener Weise als die Bedingung der Möglichkeit des Verstehens der Evangelien überhaupt bewertet. Die gegenwärtige offene internationale Debatte hinsichtlich der Entstehung der Evangelien und ihrer literaturgeschichtlichen Abhängigkeiten bietet auch die Chance, die Möglichkeiten, Notwendigkeiten, Unsicherheiten, Bedingungen und Grenzen historischen Verstehens neu zu erörtern und abzuwägen. 3 2 Vgl. S. Alkier, Art. Hermeneutik, www.wibilex.de. 3 Vgl. E. Reinmuth, Neutestamentliche Historik - Probleme und Perspektiven, ThLZ.F. 8, Leipzig 2003. Mehr oder weniger plausible Hypothesen 9 Prof. Dr. Stefan Alkier ist seit 2001 Professor für Neues Testament und Geschichte der Alten Kirche am Fachbereich Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt/ Main. 2009 erschien im Francke-Verlag als NET 12 seine Monographie: Die Realität der Auferweckung in, mit und nach den Schriften des Neuen Testaments. 2010 erschien dort sein Lehrbuch: Neues Testament, UTB Basics. Er war von Heft 1 bis Heft 39 der ZNT geschäftsführender Herausgeber und gibt den neutestamentlichen Teil des bibelwissenschaftlichen Internetlexikons www.wibilex.de heraus. Letzte Veröffentlichungen: S. Alkier/ H. Leppin (Hg.): Juden - Heiden - Christen? , Tübingen 2018; S. Alkier (Hg.): Sola Scriptura 1517-2017, Tübingen 2019. 1. Lukas, Markion und Tatian Die Thematisierung der Entstehung der Evangelien, der Verfasserfragen und ihrer Verhältnisse untereinander ist in der Alten Kirche primär der Apologie und weniger dem Verstehen der Texte geschuldet. Durch den Erweis direkter (Mt und Joh) bzw. indirekter (Mk und Lk) apostolischer Verfasserschaft sollte deren Glaubwürdigkeit verbürgt werden. Das damit zugleich bearbeitete Problem besteht in der Frage, ob die Unterschiede der Evangelien als Widersprüche gelten müssen, die ihre Glaubhaftigkeit in Abrede stellen, oder ob es möglich ist, die Polyphonie 4 der Evangelien als harmonisch vermittelbare Diversität zu würdigen. Der erste Kronzeuge für die Verunsicherung durch die Verschiedenheit der Erzählungen ist der Historiker unter den Evangelisten: Lukas schreibt in seinem Proömium im Stile der antiken Geschichtsschreibung: „Schon viele haben es unternommen, über das, was unter uns geschehen und in Erfüllung gegangen ist, einen Bericht abzufassen nach der Überlieferung derer, die von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes waren. So beschloss auch ich, nachdem ich allem von Anfang an sorgfältig nachgegangen war, es der Reihe nach für dich aufzuschreiben, verehrter Theophilus, damit du die Zuverlässigkeit der Lehren erkennst, in denen du unterrichtet wurdest“. (Lk 1,1-4) 4 Vgl. S. Alkier, Unerhörte Stimmen - Bachtins Konzept der Dialogizität als Interpretationsmodell biblischer Polyphonie, in: M. Köhlmoos / M. Wriedt (Hg.): Kleine Schriften des Fachbereichs Evangelische Theologie Bd. 3 - Wahrheit und Positionalität, Leipzig 2012, 45-70. 10 Stefan Alkier Die Strategie, die Lukas gegen die Verunsicherung wählt, die durch eine Vielzahl von einander abweichender Erzählungen der Ereignisse erzeugt wird, besteht nicht darin, diese differierenden Stimmen miteinander zu harmonisieren, sondern sie kritisch zu benutzen, um eine eigene zuverlässige Erzählung zu produzieren. Lukas ist Zeuge einer Benutzungsstrategie, die aus einem Plural einen Singular machen möchte. Wir wissen, dass er damit gescheitert ist, denn es wurden nach ihm noch viel mehr Evangelien produziert als diejenigen Erzählungen, die er mündlich oder schriftlich selbst gekannt hat. Ob er nur ihren Inhalt zur Kenntnis genommen hat und sein ganzes Evangelium eigenständig formulierte, oder ob er auch Bruchstücke oder sogar seinen Aufriss aus ihnen übernommen hat, können wir nicht wissen, sondern nur mit Modellen hypothetisch rekonstruieren. Denn nur unter Voraussetzung der beiden gegenwärtig um den Vorrang streitenden Benutzungshypothesen, deren eine innersynoptisch angelegt ist (Mk - Mt - Lk) und deren andere eine innersynoptische mit einer außersynoptischen Benutzungshypothese kombiniert - also die Zwei-Quellen-Hypothese (2QH), lassen sich die Übereinstimmungen zwischen Mk und Lk und die zwischen Mt und Lk bzw. „Q“ und Lukas als Implantationen in das Lukasevangelium modellhaft denken. Auf eine Ebene historischer Fakten wird man hinsichtlich der Abhängigkeitsverhältnisse aber kaum kommen können. Selbst die Markuspriorität, so plausibel sie auch den meisten Exegeten der Gegenwart erscheinen mag, ist schließlich ebenso wenig ein gesichertes Datum wie die Existenz einer Logienquelle (Q). Die Markuspriorität kommt wie die hypothetisch angenommene Logienquelle „Q“ auch nicht über den Status einer modellbezogenen Hypothese hinaus. Denken wir aber einen Moment lang im Rahmen der Benutzungshypothese von Anton Friedrich Büsching, 5 einem Vorläufer der so genannten Griesbach-Hypothese aus dem 18. Jh., die Markus abhängig von Matthäus und Lukas am Werke sieht, aber - anders als später Griesbach, dessen Hypothese weiter unten vorgestellt wird - von der Lukaspriorität ausgeht, dann wissen wir in keiner Weise, ob Lukas aus den Erzählungen der Ereignisse zitiert hat, die er kannte. Was wir aber aus Lk 1,1-4 sicher erfahren ist, dass die Lukas bekannten Erzählungen nicht übereinstimmten und ihre Verschiedenheit Lukas zufolge eine Unsicherheit erzeugt, gegen die er mit seiner geprüften Erzählung einschreitet, um Sicherheit durch das Abfassen einer eigenen geprüften, stimmigen Erzählung zu schaffen. Der römische Kaufmann und Reeder Markion (ca 85-160) geht - so die geläufige Hypothese - anders vor als Lukas. Er wählt aus dem großen Angebot 5 Vgl. dazu A.F. Büsching, Die vier Evangelisten, mit ihren eigenen Worten zusammengesetzt, auch mit hinlänglichen Erklärungen versehen, Hamburg 1766. Mehr oder weniger plausible Hypothesen 11 der Erzählungen eine aus - das Lukasevangelium, das er als einzig gültige Erzählung des Evangeliums Jesu Christi gelten lässt. In gewisser Hinsicht folgt Markion also dem Anspruch des Lukasevangeliums, die eine, geprüfte, zuverlässige Geschichte zu erzählen. Er belässt es aber nicht bei der Festlegung auf das eine - lukanische - Evangelium, sondern verändert es so, wie er es theologisch braucht. Ganz anders argumentiert Matthias Klinghardt 6 mit seiner Hypothese, das Lukasevangelium sei ein überarbeitetes Evangelium des Markion und nicht, wie zumeist angenommen, das Evangelium des Markion ein gekürztes Lukasevangelium; sicherlich auch eine interessante Hypothese, die zumindest zeigt, auf welchen tönernen Füßen die ganze Frage nach der Genese der Evangelien und ihrer literaturgeschichtlichen Beziehungen untereinander steht. Der Syrer Tatian (110-185) wählt eine dritte Strategie, die eine Auswahl trifft und den Plural der ausgewählten Evangelien in eine Evangelienharmonie überführt. Dabei hält er sich vornehmlich an die Evangelien des Matthäus, Lukas, Markus und Johannes, lässt aber auch Episoden anderer Evangelien in sein Diatessaron einfließen, das zu dem einen Evangelienbuch der syrischen Kirchen wurde. 7 Diese drei unterschiedlichen Strategien - Neuproduktion, Auswahl, Harmonisierung - arbeiten sich allesamt an der als problematisch empfundenen Polyphonie verschiedener Evangelienerzählungen ab und führen zu höchst unterschiedlichen Ergebnissen, die aber ihr Ziel der Etablierung einer einzigen, Wahrheit garantierenden Evangelienschrift allesamt verfehlen. Aus der angestrebten Klarheit und Sicherheit, die auf die Einheit unter den Christianern zielten, erwuchsen noch mehr widersprüchliche und gegeneinander feindselige Ausprägungen christlicher Gemeinschaften - ein gefundenes Fressen für die Polemik gegen die christliche Lehre von solchen, die sie als dummen und schädlichen Aberglauben einschätzten. 2. Origenes contra Celsus Die überlieferte Polemik, gegen die sich im Imperium Romanum schon im 1. Jh. n. Chr. und dann zunehmend im 2. und 3. Jh. ausbreitenden Versammlungen der Christusanhänger diffamierte deren Vorstellungen als wirren Aberglauben. 6 M. Klinghardt, Das älteste Evangelium und die Entstehung der kanonischen Evangelien I: Untersuchung, II. Rekonstruktion, Übersetzung, Varianten, TANZ 60/ 1-2, Tübingen 2015. 7 Vgl. dazu: A.A. Hobson, The Diatessaron of Tatian and the Synoptic Problem, Chicago 1904; H. Koester, Ancient Christian Gospels: Their History and Development. Philadelphia / London 1990, 422-428. 12 Stefan Alkier Der berühmte Brief des Plinius (ca. 61-115) an Kaiser Trajan (Regierungszeit 98-117) zeigt zudem, dass man sich zunächst nicht die Mühe machte, die Schriften dieses Aberglaubens zu studieren, sondern ihre Lehren mündlich und wenn nötig auch durch Folter erfahren wollte. 8 Aber noch im 2. Jh. n. Chr. beginnt auch eine gelehrte Auseinandersetzung, die die Schriften, auf die sich die Christianer beziehen, zur Kenntnis nimmt und sie in polemischer Absicht kritisiert. Die erhaltenen Schriften Justins bezeugen, dass das Für und Wider der christlichen Lehre auch zu einem Streit der Intellektuellen wird, in dem Justin mittels einer Strategie der Harmonisierung vornehmlich der drei Evangelien des Mt, Lk und Mk auf den Einwand der Widersprüchlichkeit reagiert und mit dieser Strategie seinen Schüler Tatian zu dessen Diatessaron anleitete, das Tatian dann aber wohl eigenständig und mit mehr Evangelien, als es Justin lieb sein konnte, erarbeitete. Auch der griechische Philosoph Kelsos (lat. Celsus ) aus der 2. Hälfte des 2. Jh.s n. Chr. wollte mit seiner Schrift „Wahre Lehre“ - die erste bekannte literarische Auseinandersetzung mit christlichem Gedankengut - die Irrationalität der christlichen Lehre erweisen. Eines der Hauptargumente seiner Polemik war die Widersprüchlichkeit nicht nur der verschiedenen Schriften, sondern auch die fehlende Übereinstimmung verschiedener Textfassungen, die kursierten. Diese literar- und textkritischen Argumente des Kelsos bezeugen dessen intensives Studium christlicher Schriften. Seine Argumente waren gerade deshalb eine große Herausforderung, weil sie nicht nur auf Hörensagen beruhten, sondern auf der Basis eines eigenen Quellenstudiums vorgetragen wurden. Erst Origenes 9 fand die intellektuelle Kraft, eine ausführliche Entgegnung auf die gelehrte Polemik des Kelsos zu verfassen, die mit dazu beitrug, dass Origenes eine tragfähige Hermeneutik der Interpretation der Schriften erarbeitete, die bis heute nicht nur in den orthodoxen Kirchen rezipiert wird. Origenes leugnet die mit Widersprüchen behaftete Diversität christlicher Schriften nicht, sondern versucht durch methodische, hermeneutische und normative Überlegungen die Komplexität zu reduzieren, ohne den Plural zwanghaft in einen Singular zu überführen. Das Ergebnis ist ein qualifizierter Plural, der mittels einer Hermeneutik des mehrfachen Schriftsinns beherrschbar wird. Diese Arbeit der Komplexitätsreduktion führt er kanontheologisch, textkritisch, komparativ und hermeneutisch durch. 8 Plinius, Epistulae, X, 96.9. 9 Vgl. zu Origenes D.L. Dungan, A History of the Synoptic Problem. The Canon, the Text, the Composition and the Interpretation of the Gospels, The Anchor Yale Bible Reference Library, New Haven / London 2009, 65-88. Mehr oder weniger plausible Hypothesen 13 Origenes beschränkt die Vielfalt der kursierenden Evangelien auf vier, denen er normativen Charakter zuspricht. Seiner ersten Homilie zum Lukasevangelium stellt er voran: „Die Kirche hat vier Evangelien, die Häresie viele“. 10 Sein explizites Argument der Auswahl ist der durch Tradition etablierte Gebrauch dieser vier Evangelien: „Auf Grund der Überlieferung habe ich bezüglich der vier Evangelien, welche allein ohne Widerspruch in der Kirche Gottes, soweit sie sich unter dem Himmel ausbreitet, angenommen werden, erfahren: Zuerst wurde das Evangelium nach Matthäus, dem früheren Zöllner und späteren Apostel Jesu Christi, für die Gläubigen aus dem Judentum in hebräischer Sprache geschrieben, als zweites das Evangelium nach Markus, den Petrus hierfür unterwiesen hatte […]. Als drittes wurde geschrieben das Evangelium nach Lukas, der es nach Approbation durch Paulus an die Gläubigen aus der Heidenwelt richtete, zuletzt das Evangelium nach Johannes“. 11 Da diese vier Evangelien aber in verschiedenen Versionen im Umlauf sind, bemüht er Verfahren der Textkritik, um diese Unsicherheit der Lesarten zumindest zu beschränken. 12 Origenes immense Arbeit am Buchstaben führt ihn weder zu einer Harmonisierung der referentiellen Differenzen der Evangelien noch zu einer Hypothese über literarische Abhängigkeiten untereinander. Vielmehr bemüht er ein pneumatologisch-auktoriales Erklärungsmodell: Der Wahrheitsgarant der Evangelien ist der Heilige Geist, der Widersprüche zwischen den Evangelien auf der Ebene historischer Referenz als didaktisches Mittel, als Schulung der aufmerksamen Lektüre eingesetzt habe. Seine Leitthese lautet: Was offensichtlich in einen referentiellen Widerspruch geraten lässt, muss symbolisch interpretiert werden. 13 10 Origenes, In Lucam Homiliae. Homilien zum Lukasevangelium, Lat., Gr., Dt., 1. Tlb., übers. u. eingel. v. H.-J. Sieben, Fontes Christiani 4/ 1, Freiburg u. a. 1991, 62: „Ecclesia quatuor habet evangelia, haeresis plurima“. Übers. oben S. Alkier. 11 Origenes zit. nach Eusebius von Cäsarea, Kirchengeschichte, hg. u. eingel. v. H. Kraft, Übers. von P. Haeuser neu durchges. v. H. A. Gärtner, 3. unveränderten Aufl. Darmstadt 1989, Buch 6,25.4ff. 12 Vgl. Origenes Werke, Matthäuserklärung, hg.v. E. Klostermann, Leipzig 1935, 10: 387f. 13 Origenes, Commentary on John 10.4, ANF 10: 383: „Whoever thinks the writing of these four (Gospels) is (just literal) history, or a representation of real things through historical imagies, and who supposes God to (literally) be within certain limits in space, and to be unable to present to several versions in different places several versions of Himself at the same time […] (will find) it impossible (to maintain) that our four writers are writing the truth.” Englische Übersetzung D.L. Dungan, History, ebd., 85. 14 Stefan Alkier 3. Augustin contra Porphyrios Die Polemik des Kelsos gegen die christliche Lehre, ihre schriftlichen Grundlagen und ihre Praxis ist wohl die berühmteste, sie ist aber keineswegs die einzige geblieben. Die Fragmente der Schrift des Porphyrios (ca. 233-305) „Contra Christianos“ , die Matthias Becker in einer vorzüglichen Ausgabe neu gesammelt, übersetzt und mit Anmerkungen versehen hat, lassen erkennen, dass er insbesondere mit Schriften des Alten und Neuen Testaments so vertraut war, dass dies nur mit einem intensiven Bibelstudium erklärt werden kann. Die Kirchengeschichte des Euseb von Cäsarea (ca. 260-340) hatte nicht zuletzt die Aufgabe, angesichts der von Porphyrios aufgezeigten Widersprüche und Inkonsistenzen die Zuverlässigkeit der von den Christen im Gottesdienst verwendeten Schriften historisch zu beweisen. In diesem apologetischen Zusammenhang erarbeitete Euseb als Frucht seines komparativen Lesens der vier Evangelien eine Übersicht ihrer Übereinstimmungen, 14 die wohl auch Augustin (354-430) für seine Arbeit an der Evangelienharmonie benutzt hat. Euseb folgte insofern den Spuren des Origenes, als er dem qualifizierten Plural der vier Evangelien folgte und diese wie schon Papias, Irenäus und andere 15 als vier eigenständige Schriften begriff, die durch die unmittelbare bzw. mittelbare Augenzeugenschaft der menschlichen Verfasser und durch das göttliche Einwirken des Heiligen Geistes autorisiert seien. Augustin hingegen ging einen anderen Weg. Er akzeptierte die aufgewiesenen Differenzen nicht, sondern suchte sie durch seine Evangelienharmonie auf litteraler Ebene zu erklären. Dazu bediente er sich einer Unterscheidung verschiedener Ordnungen, nämlich der von Erzählung und Geschichte . Die Geschichte, die die Evangelisten erzählen, sei eine, nur die Art und Weise, wie sie die diversen Episoden dieser Geschichte in ihrer Erzählung anordnen, sei verschieden. Die Komposition der Evangelien folge nicht der Reihenfolge der historischen Abläufe, sondern der jeweiligen Anordnung in ihrer Erzählung. 16 Die Unterschiede in der wörtlichen Gestaltung gleicher Ereignisse erklärt er mit der Differenz von göttlicher und menschlicher Sprache, denn seine sprachphilosophischen und semiotischen Reflexionen ermöglichten ihm die Einsicht, 14 Der Brief des Euseb mit den Canones ist abgedruckt in Nestle - Aland, Novum Testamentum Graece, 28. Aufl., S. 47-52. 15 Vgl. zu den ältesten biographischen Notizen zu den Evangelisten S. Alkier, Die fantastischen Vier. Was kann man über die Evangelisten wissen? , WUB 2/ 2014, 6-11. 16 St. Augustin: The Harmony of the Gospels, transl. by Rev. S.D.F.Salmond, D.D.,ed., with Notes and Introduction, by Rev. M.B. Riddle, D.D., 1.3., 132: „these […] had one order determined among them with regards to the matters of their personal knowledge and their preaching [of the gospel] but a different order in reference to the task of giving the written narrative“. Mehr oder weniger plausible Hypothesen 15 dass auch die Bibel den semiotischen Bedingungen menschlicher Sprache unterliegt und der Buchstabe der Bibel nicht mit dem Wort Gottes selbst verwechselt werden darf. Die intensive komparative Arbeit an den Evangelien führte Augustin zu einer erstaunlichen Neuerung in der Erklärung der wörtlichen Übereinstimmungen der Evangelien, die mit der Tradition von Papias über Irenäus über Origenes bis hin zu Euseb von Cäsarea bricht: Augustin ist wohl der erste, der eine literarische Abhängigkeit der Evangelien postuliert und damit zum exegetischen Begründer des Denkens in Benutzungshypothesen wird. Zunächst behauptet er nur, die wörtlichen Übereinstimmungen zwischen Markus und Matthäus seien teilweise so groß, dass Markus das Matthäusevangelium zur Vorlage gehabt haben müsse, dieses aber kürzte. 17 Die These, Markus sei der Epitomator des Matthäus, gilt bis in heutige Literatur hinein als die Hypothese Augustins. Dass aber Augustin seine Position im Laufe seiner Studien ausbaute und Markus nicht nur Matthäus, sondern auch Lukas vor sich liegen hatte, geriet in Vergessenheit. 18 Augustin nimmt damit die Hypothese von Henry Owen bzw. von Johann Jakob Griesbach vorweg, Markus habe als Vorlage das Matthäusevangelium genutzt, aber auch Material aus dem Lukasevangelium eingebaut. Aber nicht diese veränderte Position des Augustin, sondern seine erste Fassung der Hypothese von der literarischen Abhängigkeit des Markus nur von 17 Vgl. St. Augustin: The Harmony, 1.4., 132. 18 Ebd., 4.10.11., 400 f., Kursivierung hinzugefügt: „John remains, between whom and others there is left no comparison to be instituted. For, however the evangelists may each have reported some matters which are not recorded by the others, it will be hard to prove that any question involving real discrepancy arises out of these. Thus, too, it is a clearly admitted position that the first three - namely, Matthew, Mark, and Luke - have occupied themselves with the humanity of the Lord Jesus Christ, according to which He is both king and priest. And in this way, Mark, who seems to answer to the figure of the man in the well-known mystical symbol of the four living creatures, either appears to be preferentially the companion of Matthew, as he narrates a larger number of matters in unison with him than with the rest, and therein acts in due harmony with the idea of the kingly character whose wont it is, as I have stated in the first book, to be not unaccompanied by attendants; or lese, in accordance with the more probable account of the matter, he holds a course in conjunction with both [the other Synoptists]. For although he is at one with Matthew in the larger numbers of passages, he is nevertheless at one rather with Luke in some others . And this very fact shows him to stand related at once to the lion and to the steer, that is to say, to the kingly office which Matthew emphasizes, and to the sacerdotal which Luke introduces, wherein also Christ appears distinctively as man, as the figure of which Mark sustains stands related to both these On the other hand, Christ’s divinity, in virtue of which He is equal to the Father, in accordance with which He is the Word, and God with God, and the Word that was made flesh in order to dwell among us, in accordance which also He and the Father are one, has been taken specially in hand by John with a view to its recommendation to our minds. Like an eagle, he abides among Christ’s sayings of the sublime order, and in no way descends to earth but on rare occasions.” 16 Stefan Alkier Matthäus wurde als die Position Augustins überliefert. Dieser Sachverhalt ist umso erstaunlicher, als sich die Evangelienharmonie des Augustin weitgehend durchsetzte und trotz vielfältiger weiterer Evangelienharmonien 19 dieses Genre exegetischer Apologie so sehr bestimmte, dass auch noch Martin Luther das Verhältnis der Evangelisten mit Rekurs auf Augustin gar nicht als Problem empfand. 20 Dass die Kirchenväter aber uneins in der Auffassung der Produktionsgeschichte dieser vier Evangelien waren, beunruhigte schon in den zahlreichen Evangelienharmonien des Mittelalters nicht mehr. 21 Fassen wir zusammen: Die ältere Tradition von Papias über Irenäus, Origens und Euseb von Cäsarea betrachtete die vier Evangelien als literarisch unabhängig voneinander entstandene Zeugnisse. Matthäus und Johannes galten als unmittelbare Augenzeugen, Lukas und Markus als mittelbare. Ihre Gemeinsamkeiten wurden mit der historischen Referenz derselben von ihnen bezeugten Ereigniskette und ihrer - unmittelbaren bzw. mittelbaren - Unterweisung durch Jesus 22 erklärt und mit der Einwirkung des Heiligen Geistes auf die Verfasser dieser Evangelien untermauert. Die Unterschiede wurden der Perspektivität und Begrenztheit menschlicher Verfasser zugeschrieben. Die spätere Auffassung beginnt erst bei Augustin. Er bildet den Anfang aller Benutzungshypothesen. Diese beiden Erklärungsansätze stehen aber nicht einfach nebeneinander, vielmehr wirkt die frühere Erklärung der literarisch unab- 19 Vgl. C. Burger / A.A. den Hollander / U. Schmid (Hg.), Evangelienharmonien des Mittelalters, STAR 9, Assen 2004; D. Wünsch, Evangelienharmonien im Reformationszeitalter. Ein Beitrag zur Geschichte der Leben-Jesu-Darstellungen, Arbeiten zur Kirchengeschichte 52, Berlin / New York 1983; B. Köster, Evangelienharmonien im frühen Pietismus, ZKG 103 (1992), 195-225; A.F. Büsching, Die vier Evangelisten, ebd.; F. Watson, Gospel Writing. A Canonical Perspective, Grand Rapids, Michigan / Cambridge 2013, 13-61. 20 M. Luther, Sermons on the Gospel of St. John Chapters 1-4, in: Luther’s Works, ed. J. Pelikan, vol. 22, Saint Louis: Concordia 1957, 218: „The evangelists do not all observe the same chronological order. The one may place an event at an earlier, the other at a later time […]. Be that as it may, whether it happened sooner or later, whether it happened once or twice, this will not prejudice our faith“. 21 Allerdings wären hier systematische Untersuchen interessant, die dieses Bild auch verändern könnten, denn unter dem Titel der Harmonien wurden durchaus interessante exegetische Überlegungen vorgetragen. Vgl. die Literatur dazu oben, Anm. 19. Der Siegeszug historisch-kritischer Hermeneutik hat ironischer Weise als Nebeneffekt eine weitgehende forschungsgeschichtliche Ignoranz mit sich gebracht. Ganz ungeschichtlich gedacht wird die Exegese vor dem Siegeszug historisch-kritischer Exegese kaum noch gelesen. Dazu gibt es eine ebenso unglückliche Parallele in der philosophischen Forschung. Philosophie vor Kant scheint heute nur Wenige zu interessieren. Ich bin sicher, dass sich das schon bald ändern wird, denn in den exegetischen wie in den philosophischen Ansätzen des Mittelalters und der frühen Neuzeit liegen enorme Schätze, die es lohnt, dem selbstgefälligen Vergessen zu entziehen. 22 Vgl. 1 Clem 42,1-5. Mehr oder weniger plausible Hypothesen 17 hängigen Abfassung der vier Evangelien auf die Benutzungshypothesen weiter ein. Dass Augustin Matthäus vor Markus schreiben lässt, liegt nicht zuletzt daran, dass Matthäus als unmittelbarer apostolischer Augenzeuge galt, Markus aber nur als mittelbarer. Johannes bleibt auch bei Augustin ein eigenständig schreibender Apostel. Damit konnte größtmögliche historische Sicherheit erzeugt und garantiert werden, denn die apostolischen Augenzeugen Matthäus und Johannes schrieben demzufolge unabhängig voneinander! Beide Erklärungsweisen der Entstehung der vier Evangelien treffen sich aber vor allem darin, dass letztlich die Wahrheit des auf verschiedene Weise Erzählten durch die Differenzen nicht gefährdet sei. Letztendlich sprechen die vier Evangelien mit einer Stimme. 4. Von der Klarheit der Schrift zur Klarheit der Kritik Der für die Geschichte der Bibelauslegung kaum zu überschätzende Impuls der reformatorischen Schriftlehre im Zeichen von sola scriptura kann wohl nur im Zusammenhang mit der im Italien des 15. Jh.s einsetzenden Renaissance begriffen werden. Die vielfältige Bewegung der Renaissance traf sich nicht nur in der Hinwendung zu griechischer und römischer Literatur und Kunst der Antike. Durch den ästhetischen Genuss daran beurteilte sie auch die Fähigkeiten des Menschen neu. Sie generierte damit einen Humanismus, der die Bejahung von Lebensfreude, Kreativität und intellektuellen Fähigkeiten nachhaltig beförderte. In diese Bewegung hinein gehört aber nicht nur Luthers Überzeugung von der Klarheit der Schrift, sondern ebenso das Begehren, nicht länger eine Übersetzung zu lesen - die Vulgata -, sondern die biblischen Schriften in den Originalsprachen ihrer Quellen. Mit der Herausgabe eines griechischen Neuen Testaments durch Erasmus von Rotterdam (1466? -1536) und der Begründung der Hebraistik durch Reuchlin (1455-1522) erhielt Luthers Schriftauffassung so große Schubkraft, dass sie sich schnell weit über Wittenberg hinaus ausbreiten konnte und schließlich nicht nur die Geschichte der Bibelauslegung maßgeblich bestimmte. In der Tradition der mittelalterlichen Kanondiskussionen, in denen es vor allem um die formale Begründung der Autorität der Schriften ging, die als kanonisch galten bzw. gelten sollten, gab es immer auch kritische Anfragen an die Verfasserschaft einzelner Schriften und sogar der einzelner Perikopen. Ohne diese Diskussionen wären die kanonkritischen Äußerungen in der Reformationszeit und die Etablierung eines ganz neuen Designs des biblischen Kanons durch Luther nicht möglich gewesen. Karlstadt hatte in diesem Zusammenhang 18 Stefan Alkier bereits den Schluss des Markusevangeliums (Mk 16,9-20) als sekundär erwiesen und ihn für nicht kanonisch erklärt. 23 Dass Luther mit seiner radikalen Differenz zwischen Schrift und Auslegungstradition aber nicht auf einen Traditionsabbruch zielte, wird etwa daran offensichtlich, dass er das Verhältnis der kanonischen Evangelien mit Augustins Evangelienharmonie bedenkt. Luther negiert gerade nicht die Tradition als solche, sondern ihre Vorrangstellung gegenüber der Schrift. 24 Radikaler formuliert kann man sagen, Luthers semiotisch-hermeneutische Einsicht besteht darin, dass die Zeichen ihrer Auslegung nicht nur zeitlich vorgeordnet sind, sondern ihre Potentialität jeder einzelnen Aktualisierung in konkreten Interpretation überlegen bleibt, oder einfach ausgedrückt: Die Schrift ist immer reicher als nur eine ihrer Auslegungen. Luther war froh über die griechische Ausgabe des Neuen Testaments durch Erasmus. Ihre massiven philologischen Mängel störten ihn nicht. Das protestantische Paradoxon, das schließlich zur historischen Bibelkritik führt, die mehr mit Celsus und Porphyrios gemeinsam hat, als mit Origens und Augustin, besteht darin, dass die auf dem geistesgeschichtlichen Boden des Humanismus entstandene Überzeugung von der Klarheit der Schrift eine immense philologische und historische Arbeit an den biblischen Texten erzeugte, die aber schließlich ihren Grundimpuls nahezu vernichtete: Aus dem Zusammenklang der Evangelienharmonie wird das synoptische Problem, in dem sich die Quellen wieder trüben. Immerhin zeigt die Antwort des Konzils von Trient (1545-1563) auf die institutionenkritische Herausforderung des reformatorischen Schriftverständnisses, dass die Autorität der Schrift damit eine Stärkung erfuhr. Aber dem humanistischen Primat der ursprünglichen Quellen wird eine deutliche Absage erteilt. Bestätigt wird vielmehr die autoritative Geltung der lateinischen Übersetzung, wie es auf dem Konzil von Basel / Ferrara beschlossen wurde. Die römisch-katholische Kirche verkannte das Potential der Textkritik und auch der Literar- 23 Vgl. B. Lohse, Die Entscheidung der lutherischen Reformation über den Umfang des alttestamentlichen Kanons, in: Verbindliches Zeugnis I. Kanon - Schrift - Tradition, hg. v. W. Pannenberg / T. Schneider, Dialog der Kirchen 7, Freiburg i. Br. / Göttingen 1992, 182. Dass aber das als kanonisch Geltende im harmonischen Zusammenklang als Quelle der Offenbarung Gottes dient, war unstrittig. Gerade deswegen wollte Luther ja die Schriften nicht im Kanon wissen, die ihm zufolge diese Harmonie stören: Hebräerbrief, Judasbrief, 2. Petrusbrief und die Johannesoffenbarung. Vgl. S. Alkier, Der christliche Kanon als Quelle der Offenbarung. Theologiegeschichtliche Anmerkungen zu einem aktuellen Thema, in: Relationen - Studien zum Übergang vom Spätmittelalter zur Reformation, FS K.-H. zur Mühlen, hg. v. A. Lexutt / W. Matz, AHSTh 1, Münster 2000, 115-138. 24 Vgl. Luther, Assertio, WA 7,100: „Non tamen per haec, sanctis patribus volo detractam auctoritatem“. Mehr oder weniger plausible Hypothesen 19 kritik, obwohl man gerade damit die zunehmende dogmatische Verfestigung des ehemals methodischen Prinzips von sola scriptura hätte herausfordern können, wie es dann im 17. Jh. Richard Simon (1638-1712) so glänzend und vielfach innovativ praktizierte und damit sogar zum Vorreiter historisch-kritischer Exegese im 18. Jahrhundert wurde. 25 Die Auseinandersetzung zwischen den rivalisierenden Konfessionen wurden aber spätestens im Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) nicht mehr mit Argumenten und Disputationen ausgetragen, sondern unter Waffen und von Anfang an im Zeichen der Vermischung theologischer und machtpolitischer Konflikte und Interessen. Im Namen des rechten christlichen Glaubens wurde von allen beteiligten Konfessionen unbarmherzig gemordet und gelogen. Auf diesem Hintergrund wird verständlich, wieviel Aufsehen John Toland (1670-1722) mit seinen Veröffentlichungen zu apokryphen Texten erlangte, die er mit einer rationalistischen Bibelkritik kombinierte, die sich seiner Bewunderung für Baruch de Spinoza und John Locke verdankte. Mit seinem Buch, „Nazarenus; or Jewish, Gentile, and Mahometan Christianity“ , in dem er behaupte, das von ihm in Amsterdam aufgefundene „Evangelium des Barnabas“ sei das originale Evangelium, regte er historische Untersuchungen der Evangelien an, die die in Frage Stellung ihrer Autorität als gültige und verlässliche Quellen beantworten sollten. So krude auch Tolands Ausführungen sind, so müssen sie doch als ein Prototyp der außersynoptischen Urevangeliumshypothese gelten. Damit aber war die historische Frage nach der Entstehung der Evangelien zum Problem geworden, das ein großes Potential der Verunsicherung der Glaubenden in sich trug. 5. Henry Owen Auf diese Verunsicherung geht der Untertitel einer besonders sorgfältigen Studie zu der historischen Frage nach den literarischen Abhängigkeitsverhältnissen 25 Johann Salomo Semler, der einflussreichste Begründer historisch-kritischer Exegese im 18. Jh., stützte sich für seine Arbeit am Alten Testament maßgeblich auf Richard Simon: J.G. Eichhorn, Johann Salomo Semler, in: Allgemeine Bibliothek der biblischen Litteratur, 5. Bd. 1. Stück, Leipzig 1793, 1-183, hier 86 f.: Semler „trug […] wiederholt die historischen Momente vor, welche der Kritik des A.T. zur Unterlage dienen müssen […]. Doch hatte er über alle diese Punkte wenig Eigenthümliches, sondern vertraute sich bey ihrer Erörterung ganz der Leitung des vortrefflichen, über sein Jahrhundert weit erhabenem Richard Simon, mit dessen Hülfe er durch die Schranken brach, mit welchen die bis dahin die christlichen Rabbinen das A. T. umschlossen hielten. Gieng er gleich über seinen Führer nicht hinaus, so half er doch durch seinen Beytritt seiner lang genug verschmähten guten Sache fort“. 20 Stefan Alkier der kanonischen Evangelien ein, die aus der Feder des Rector of St. Olave in Hart-Street and Fellow of the Royal Society stammt: Henry Owen (1716-1795). Seine Studie „Obersavations on the Four Gospels; Tending Chiefly to ascertain the Times of their Publication, and to illustrate the Form and Manner of their Composition“ , die 1764 in London erschien, nimmt die beiden Leitthesen vorweg, die später mit dem Namen Johann Jakob Griesbachs verknüpft wurden. Owen zufolge schreiben die Evangelisten mit Blick auf ihre Rezipienten. Er folgt der altkirchlichen Tradition, die das Matthäusevangelium als erste Abfassung ansetzen und kombiniert diese Tradition mit seiner Version der innersynoptischen Benutzungshypothese, nach der Lukas Matthäus benutzt und modifiziert habe. 26 Das Markusevangelium wurde Owen zufolge danach auf Bitten der römischen Gemeinde geschrieben, die eine „History for their use and instruction“ benötigten. „I say such a History. For the Gospel he wrote at their request is evidently a simple compendious narrative, divested of almost all peculiarities, and accomodated to general use. In compiling this narrative, he had but little more to do, it seems, than to abridge the Gospels which lay before him - varying some expressions, and insering some additions, as occasion required. That St. Mark followed this plan, no one can doubt, who compares his Gospel with those of the two former Evangelists. He copies largely from both: and takes either the one almost perpetually for his guide. The order indeed is his own, and is very close and well connected. In his account of facts he is also clear, exact, and critical; and the more so perhaps, as he wrote it for the perusal of a learned and critical people“. 27 Owen belegt seine Ausführungen mit synoptischen Tafeln, die er als „Examples“ der literarischen Abhängigkeitsverhältnisse präsentiert. 28 Dieses vergleichende Verfahren betrachtet er voller Stolz als objektive Innovation einer kritischen Bibelwissenschaft, die aber nicht etwa der Destruktion des Kanons eines John Tolands verpflichtet ist, sondern die Klarheit und Kritik der biblischen Schriftsteller, insbesondere des Markus zum Vorbild nimmt. Für Owen harmonisieren die Klarheit der Schrift und die Klarheit kritischer Schriftauslegung miteinander: „There is a new field of Criticism opened, where the learned may usefully employ their abilities in comparing the several Gospels together and raising observations from that comparative way“. 29 26 Vgl. H. Owen, Obersavations on the Four Gospels; Tending Chiefly to ascertain the Times of their Publication, and to illustrate the Form and Manner of their Composition, London 1764, 27. 27 Ebd., 51 f. 28 Ebd., 53-72. 29 Vgl. Ebd., VI. Mehr oder weniger plausible Hypothesen 21 6. Jenseits der Harmonie: Johann Salomo Semler Suchte Owen mit seinem kritischen Ansatz nach einer intelligenten Harmonie zwischen Bibel, Tradition und historischer Auslegung, so ist sein Zeitgenosse Johann Salomo Semler (1725-1791) der radikalste Vertreter eines Programms kompromissloser Deharmonisierung. Semler setzt auf die Polyphonie der Christenheit von den Anfängen an bis hin zur Gegenwart. Er lehrt Diversität und sogar Differenz zu schätzen. Aus seiner Autobiographie wird ersichtlich, dass er diese Wertschätzung der Verschiedenheit und das Ideal der gegenseitigen Akzeptanz verschiedener Weisen der Gottesverehrung als Antwort auf die verheerenden Konfessionskriege begreift. Semler schildert eindrucksvoll, dass noch zu seinen Lebzeiten insbesondere die Narben des Dreißigjährigen Krieges auf seinen Spaziergängen sichtbar sind. 30 Sie sind ihm Warnzeichen einseitiger und intoleranter Wahrheitsansprüche. Mit diesem Paradigmenwechsel weg von harmonistischer Monologisierung hin zu einer Akzeptanz von Diversität und Differenz hatte er, der Ideengeber Gotthold Ephraim Lessings (1729-1781) 31 und der akademische Lehrer Johann Jakob Griesbachs (1745-1812), größten Einfluss nicht nur auf die Generierung des synoptischen Problems, sondern auf die Formatierung und Etablierung historisch-kritischer Hermeneutik und Exegese überhaupt. 32 Er ist überzeugt: „Die heilige Schrift besteht aus mehrern Büchern, welche nicht zu einer und derselben Zeit, also auch nicht von einerley Verfassern, unter einerley Umständen, geschrieben sind, auch selbst nicht zu allen Zeiten unter einen und denselben Umständen gefunden werden“. 33 Semlers Neubewertung der Differenzen der biblischen Bücher führt ihn nicht nur zur konsequenten Dekanonisierung biblischer Schriften, sondern zur Verabschiedung der Idealisierung des anfänglichen Christentums überhaupt. 34 Die Entstehung der Evangelienliteratur, wie sie Semler nachzuzeichnen sucht, ist Spiegel der Polyphonie und Lokalität „christlicher Religion“: „Alle die vier noch vorhandenen Evangelien gehen (wie Johannes von dem seinigen ausdrücklich sagt) darauf aus, mittelst der äußeren Geschichte Jesus zu beweisen, daß 30 Vgl. J.S. Semler, Lebensbeschreibung von ihm selbst abgefaßt I, Halle 1781. 31 Vgl. dazu S. Alkier, Urchristentum, Zur Geschichte und Theologie einer exegetischen Disziplin, Tübingen 1993, 89-98. 32 Vgl. Eichhorn, Johann Salomo Semler, 1 f. 33 Semler, Versuch einer nähern Anleitung zu nützlichem Fleiße in der ganzen Gottesgelehrsamkeit, Halle 1757, 175. 34 Vgl. dazu S. Alkier, 21-45 22 Stefan Alkier er der erwartete Meßias sey […] Es waren Evangelien für Juden […] keine Evangelien für Heiden-Christen“. 35 Semler generiert mit seinem Modell der Polyphonie seine Fragmentenhypothese , die sein Enkelschüler Johann Gottfried Eichhorn wie folgt zusammenfasst: „Einzelne schriftliche Materialien zu Lebensbeschreibungen Christi waren früher vorhanden, als unsere Evangelien; und letztere wurden späterhin aus den erstern blos zusammengesetzt“. 36 „Nur Johannes schrieb sein Evangelium als ein freyer unabhängiger Schriftsteller und früher als die übrigen für ausländische Christen von minder ängstlichem Juden-Geist, denen es mehr um die Lehre, als um die Geschichte Christi zu thun war“. 37 „Bey solcher Verschiedenheit ihres Ursprungs und ihres Zwecks der bey ihnen genommenen Gesichtspunkte und der Gegenden ihrer Erscheinung konnten die Evangelien in der Zeit ihres Ursprungs unmöglich bey allen Gemeinen gleichen Beyfall und Eingang finden“. 38 Erst mit dem Sammeln verschiedener Schriften im Verlauf des 2. Jh.s beginnt nach Semler der konfliktreiche Zusammenschluss verschiedener Gemeinden zu größeren, aber stets regional begrenzten Gemeindeverbänden, die damit aber ihre innere Diversität keineswegs verlieren. Semler versucht, mit der Rekonstruktion der Kanongeschichte die Entstehung der katholischen Kirche nachzuzeichnen, die er als intolerante Machtgeschichte versteht, die auf die Beschneidung der angemessenen Diversität christlicher Religion zielte. Dabei entdeckt er das apologetische Interesse nicht nur des Papias, sondern sämtlicher Nachrichten über die Verfasser der Evangelien, 39 die letztlich deren Widersprüche glätten und harmonisieren wollten. Mit dem radikalen Misstrauen in die biographischen Nachrichten der altkirchlichen Traditionen über die Verfasser der Evangelien fällt aber auch die Selbstverständlichkeit, Matthäus gegenüber Markus und Lukas als das älteste Evangelium zu begreifen. Semler bietet mit seiner historischen Kritik an Papias die historiographische Voraussetzung der Hypothese der Markuspriorität, die er allerdings selbst nicht vertritt. Ihm ist nur wichtig, dass die Evangelisten unabhängig voneinander an verschiedenen Orten zu unterschiedlichen Zeiten an das jeweils lokale Publikum schreiben. Seine Vorliebe gilt aber eindeutig dem Johannesevangelium, das er auch frü- 35 Eichhorn, Johann Salomo Semler, 66 f. 36 Ebd., 68. 37 Ebd., 69. 38 Ebd., 66 f. 39 Semler, Theologische Briefe III, Leipzig 1782, 204. Mehr oder weniger plausible Hypothesen 23 her datiert 40 als die drei anderen kanonischen Evangelien, die aber unabhängig von Johannes mit der Hilfe ihnen vorliegender Fragmente ihre Evangelien zusammenstellten. Jedenfalls bilden nach Semler die Evangelien keine Harmonie, sondern eine Polyphonie lokaler verschiedener Stimmen mit einer jeweils begrenzten Reichweite. Das Alte wie das Neue Testament werden in Semlers revolutionärem Kanonverständnis nicht mehr als göttlich gegeben, sondern als historisch gewachsen aufgefasst. Den einzelnen Schriften des Neuen Testaments werden christliche Gruppen zugeordnet. Wie durch die ganze Kirchengeschichte bis hinein in seine Gegenwart sieht Semler auch schon im 1. Jahrhundert eine engere und eine offenere Auffassung der „christlichen Religion“ miteinander streiten. Auch wenn es immer wieder Versuche zu einem Ausgleich gab und gibt, so bleibt nach Semler dieser Antagonismus als Strukturprinzip unauflösbar. Demzufolge präsentieren die Evangelien die engere Geisteshaltung, die er dem „Judenchristentum“ unterstellt. Die paulinischen Briefe repräsentieren die offenere Haltung, die er als gnostisch-christlich begreift. Den Versuch des Ausgleichs der Antipoden ordnet er den katholischen Briefen zu. Diese antijudaistischen Zuschreibungen fügen sich auf den ersten Blick ganz in die hoch problematische Geschichte des Konzepts eines „Judenchristentums“ ein, die Hella Lemke 41 theologiegeschichtlich aufgezeigt hat. Allerdings arbeitet Semler gerade nicht mit einem Fortschrittsmodell. Vielmehr behalten die von ihm konstatierten grundlegenden Haltungen ihr jeweiliges Recht bis in Semlers Gegenwart hinein. Er sucht als Antwort auf die Konfessionskriege gerade keine Synthese, sondern die tolerante Akzeptanz der jeweils anders Denkenden und Glaubenden. Die historische Kritik dient dem Aufweis der theologischen Sachgemäßheit der Polyphonie christlicher Stimmen. Die Einsicht in die Diversität und Differenz des Frühchristentums erhält bei ihm normative Ansprüche, mit denen er für die Konfessionsfreiheit und Toleranz gegenüber jeder Auslegung christlichen Glaubens einsetzt, soweit die öffentliche Ordnung damit nicht gefährdet wird. Die wesensgemäße Zukunft des Christentums liegt nach Semler darin, den freien, von Diversität und Differenz geprägten Ursprung des Christentums als sein Konkretisierungsprinzip zu begreifen und der Freiheit der Privatreligion als individuelle Konkretisierung 40 Eichhorn, Johann Salomo Semler, 69. 41 H. Lemke, Judenchristentum. Zwischen Ausgrenzung und Integration. Zur Geschichte eines exegetischen Begriffes, Hamburger Theologische Studien 25, Münster 2001, 50: „Immer wieder erscheint die Aussage, daß das Judenchristentum ,naturgemäß‘, aufgrund seiner ,Eigenbrödelei und Schrulligkeit‘ oder seiner ,Verhaftung‘ mit dem Judentum verkümmern und absterben mußte. Das Judenchristentum sei eine einmalige und beschränkte Größe geblieben, da es durch den ,gottgewollten‘ Übergang der Verkündigung zu den Heiden aufgehoben worden sei“. Diese Auffassung vertritt Semler aber gerade nicht. 24 Stefan Alkier unter Wahrung der politischen Ordnung voll und ganz freien Lauf zu lassen. Das Wort Gottes als Offenbarung ewiger Wahrheit kann nicht an eine Ausdrucksform gebunden werden, sei es auch die der Heiligen Schrift oder der altkirchlichen Bekenntnisse. Das Wort Gottes kann nicht in der Gestalt von Buchstaben fixiert werden, es zielt vielmehr in seinen verschiedenen Ausformungen auf das individuelle Gewissen: Jesu „[…] einziger Hauptzwek war, die Menschen zu überzeugen, daß Gott ohne Anwendung der Seelenkräfte, ohne innere Ergebenheit gegen ihn und seine kentlichen Absichten, mit noch so vielen eignen äusserlichen Handlungen und noch so ernsthafter Genauigkeit darin, gar nicht gehörig verehret und geliebet heissen könne“. 42 Semlers Argumente, die er in zahlreichen Schriften und Detailstudien wortreich aber wenig systematisch publiziert hatte, wirkten so überzeugend, dass sich das polyphone und hoch diverse Bild der Christusanhänger im 1. Jh. weitgehend durchsetzte. 7. Die Reimarus-Fragmente Unter dem Eindruck von Semlers historisch-kritischen Forschungen und Differenzierungen veröffentlichte Lessing die Reimarusfragmente . Lessing erarbeitete auf der Basis der polyphonen Fragmententheorie Semlers auch seine eigene These vom „Evangelium der Nazarener“ 43 als hebräisch abgefasstes Urevangelium. Steht Semlers historisch-kritische Arbeit für die Akzeptanz radikaler Diversität des Christentums der ersten Jahrhunderte, so bringen die Reimarusfragmente eine ganz neue Dimension und polemische Schärfe in die Debatte um die Heilige Schrift ein: den Vorwurf des Betrugs und der Lüge. Erst dadurch wird Vielfalt zum Problem und die Hermeneutik des Verdachts zur Signatur historisch-kritischer Hermeneutik. Vielleicht reagierte Semler 44 gerade deswegen so scharf auf Reimarus, weil er wesentliche Punkte mit ihm teilte, diese aber völlig anders bewertete. Semler und Reimarus treffen sich in der Überzeugung, die kanonischen Evangelien seien im Geiste jüdischer Messianologie abgefasst. Sie treffen sich auch in der Wahrnehmung nicht harmonisierbarer Differenzen. Während Semler dies aber 42 Semler, Vorbereitung zur theologischen Hermeneutik zur weiteren Beförderung des Fleisses angehender Gottesgelehrten, Halle 1760, 82 f. 43 G.E. Lessing, Neue Hypothese über die Evangelien als blos menschliche Geschichtschreiber betrachtet, Wolfenbüttel 1778. 44 Semler, Beantwortung der Fragmente eines Ungenannten, Halle 1779. Mehr oder weniger plausible Hypothesen 25 mit der Unterscheidung von „Wort Gottes“ und „Heiliger Schrift“ als zu akzeptierende Verschiedenheit begreift, stehen die Ausführungen des Reimarus im Zeichen seiner Betrugshypothese . Es mag sein, dass eine Motivation Lessings zur Herausgabe der Reimarusfragmente der Konflikt zwischen den verwandten Positionen Semlers und des Reimarus war und er die Dringlichkeit nach öffentlicher Klärung dieses Disputs zweier kluger Köpfe verspürte. Dass er damit aber die Frage nach der Entstehung der Evangelien zu einem Politikum machte, förderte die Ausarbeitung diverser Hypothesenbildungen enorm. Erst jetzt wurde deutlich, wie bedrohlich das von nahezu allen theologisch Gebildeten akzeptierte 45 Ergebnis des desharmonisierten Geschichtsbildes Semlers war: Am Anfang des Christentums steht keine Harmonie, sondern radikale Differenz. Die kanonischen Schriften sind nicht das eine Wort Gottes, sondern menschlicher Ausdruck der Gottesverehrung in der Nachfolge Jesu Christi. Nicht einmal die Evangelien sind harmonisierbar. Der Kanon ist nicht verbal inspiriert, sondern ein höchst überflüssiges Machtinstrument der katholischen Kirche auf ihrem Weg zur römischen Staatsreligion. Woran sollte man noch glauben? Worauf konnte man sich noch verlassen? War alles nur Betrug? 8. Strategien der Reharmonisierung: Griesbachs Benutzungshypothese und Eichhorns Urevangeliumshypothese 8.1 Die innersynoptische Benutzungshypothese Griesbachs In diese Konfusion hinein versuchte der ebenso fleißige wie konservative Schüler Semlers, Johann Jakob Griesbach, verlässliche Ordnung zu bringen und zwar zunächst auf dem Gebiet der Textkritik. Die Erasmusausgabe des NT war längst durch bedeutende Innovationen überholt worden, aber trotz der so bedeutenden Neuausgaben war ihr Text immer noch im Gebrauch. Griesbach wagt es als erster, einen neuen Text zu drucken, der auf dem Kenntnisstand der Höhe der Zeit erarbeitet worden war. Auch Semler war intensiv auf dem Gebiet der Textkritik tätig. Er hatte weit über Wettstein hinaus, textkritische Varianten gesammelt, aber Systematisierung war nicht die Stärke Semlers, aber die seines Schülers Griesbach, der auch die Funde und Beobachtungen Semlers in seine 1774 erschienene Neuausgabe einarbeitete. Als unaufgeregte Alternative zur Fiktionalität der Betrugshypothese und dann auch als philologisch argumentierende Alternative zur romantischen Idee 45 Vgl. dazu Eichhorn, Johann Salomo Semler, 1-3. 26 Stefan Alkier des Urevangeliums erarbeitete Johann Jakob Griesbach seine Schrift „Commentatio, qua Marci Evangelium totum e Matthaei et Lucae commentariis decerptum esse monstratur“, Jena 1789/ 90. Griesbach knüpfte - bewußt oder unbewußt - an Henry Owen, „Observations on the four Gospels“ , an, ohne aber auf ihn hinzuweisen. Allerdings besaß er das Buch von Owen. Es könnte sogar sein, dass Griesbach Owen auf seiner Englandreise kennengelernt hatte. Die Ausarbeitung seiner Hypothese vollzog sich in mehreren Schritten: Zunächst erarbeitete er auf der Basis seiner kritischen Ausgabe des Neuen Testaments seine innovative Idee der Evangeliensynopse als Alternative zu den traditionellen Evangelienharmonien. Mit dieser neuen Form der Darstellung, die er 1776 erstmals publizierte, 46 zeigt er sich als so gelehriger wie kreativer Schüler Semlers, der nicht nur Interesse an Übereinstimmungen, sondern gleichermaßen an der Wahrnehmung von Differenzen hat. Die Anordnung seiner Synopse ist allerdings ebenso wenig objektiv wie die jeder anderen Synopse auch. Ihr liegt bereits Griesbachs innersynoptische Benutzungshypothese zu Grunde. Griesbachs Synopse stellt einen Meilenstein der Evangelieninterpretation dar. Begriffsgeschichtlich geht darauf die Bezeichnung der drei ersten Evangelien als „Synoptiker“ zurück. Mit seiner Benutzungshypothese arbeitet er dann mehr implizit als explizit in seiner 1783 erschienen Abhandlung über die Widersprüche der Erzählungen von der Auferweckung Jesu Christi. 47 In dieser Schrift wird schon deutlich, dass Griesbach seinem Lehrer Semler nicht in allen Punkten folgt. Keinesfalls ist er mit dem Aufweis von Diversität und Differenz zufrieden. Er möchte anders als Semler die historische Zuverlässigkeit der Auferweckungserzählungen beweisen. Die Apologie der historischen Zuverlässigkeit der Evangelischen Geschichte ist auch für Griesbach im Gegensatz zu seinem Lehrer Semler der eigentliche Motor seiner Arbeit. Seine 1789/ 90 als Osterprogramm veröffentlichte Schrift „Commentatio qua Marci evangelium totum e Matthaei et Lucae commentariis decerptum esse monstratur“ , 48 formuliert dann explizit seine innersynoptische Benutzungshypothese, mit der er an Augustins Auffassung anknüpft, Markus habe das Matthäusevangelium bearbeitet. Dass aber Augustin bereits die These vertrat, Markus habe 46 Synopsis Evangeliorum Matthaei, Marci et Lucae una cum iis Joannis pericopis, quae omnino cum caeterorum Evangelistarum narrationibus, conferendae sunt. Textum recensuit […] J.J. Griesbach, Halle 1776. 47 J.J. Griesbach, Fontes unde Evangelistae suas de resurrectione Domini narratione hauserint: Paschatos solemnia, Jena 1783, reprinted in: ders., Opuscula academica, ed J.P. Gabler, vol. II, Jena 1825, 241-256. 48 J.J. Griesbach, Commentatio qua Marci evangelium totum e Matthaei et Lucae commentariis decerptum esse monstratur, Jena 1789/ 90. Mehr oder weniger plausible Hypothesen 27 Matthäus und Lukas vor Augen gehabt, scheint Griesbach nicht präsent gewesen zu sein. Er nennt auch nicht seinen Vorläufer Henry Owen. Was er aber beansprucht und im Sinn hat, wird mehr als deutlich. Wer der Klarheit seiner Argumentation folge, werde sich von der Klarheit des Schriftzeugnisses selbst überzeugen lassen, dass zuerst Matthäus und dann Lukas schrieb und Markus schließlich aus diesen beiden ein eigenständiges, hochrangiges Evangelienbuch erarbeitete. 49 Damit war auch die Harmonie zwischen der Klarheit der Schrift und der Zuverlässigkeit der altkirchlichen Traditionen wieder hergestellt, denn ein Basisargument der Griesbachthese besteht gerade darin, dass Matthäus nicht nur der erste Evangelienschreiber ist, sondern ihm die apostolische Autorität des Augenzeugen zukomme. 50 Auch dass Markus nach Apg 12,12 Begleiter des Paulus und des Petrus war, ist für Griesbach eine historische Tatsache. 51 Für Griesbach ist alles klar und mittels seiner Synopse in eine höhere harmonische Eintracht von Schrift und Tradition gebracht. Unter dem für ihn ärgerlichen Eindruck der viel zu hypothesenfreudigen Urevangeliumshypothese seines Schülers Johann Gottfried Eichhorn baut er seine Schrift von 1789/ 90 aus und wendet sich damit 1794 52 nochmals entschiedener gegen die romantische Idee, das kürzere sei das Ursprüngliche, die gleichermaßen der Hypothese des Urevangeliums wie auch der von Johann Benjamin Koppe 53 und von Gottlob Christian Storr im Rahmen seiner Neubegründung der Evangelienharmonie entwickelten Hypothese der Markuspriorität 54 zu Grunde liegt. Er fragt gegen Koppe und Eichhorn gerichtet: „Need the shorter Gospel be earlier than the longer? “ Seine Antwort lautet: „It depends entirely on the intention of the author whether it is preferable to add to, or to substract from, what others wrote before him“. 55 49 Vgl. Ebd., 12. 50 Vgl. Ebd., 11. 51 Ebd., 12. 52 Io. Iac. Griesbachii Theol. D. et Prof Primar in academia Jenensi commentatio qua Marci Evangelium totum e Matthaei et Lucae commentariis decerptum esse monstratur, scripta nomine Academiae Jenesis, (1798.1790) iam recognita multisque augmentis locupletata, 1794, abgedruckt in: Griesbach: Synoptic and Text-Critical Studies 1776-1976, ed. by B. Orchard / T.R.W. Longstaff, SNTS MS 34, Cambridge u. a. 1976, 74-102; Engl. Übersetzung ebd., 103-135. 53 J.B. Koppe, Marcus non epitimator Matthaei, 1782; vgl. dazu H Greeven, The Gospel Synopsis from 1776 to the present day, in: Griesbach: Synoptic and Text-Critical Studies 1776-1976, ed. by B. Orchard / T.R.W. Longstaff, SNTS MS 34, Cambridge u. a. 1976, 22-49 54 G.C. Storr, Über den Zweck der evangelischen Geschichte und der Briefe Johannis, 1786; ders., De fontibus Evangeliorum Matthaei et Lucae, 1794; vgl. dazu W. Schmithals, Einleitung in die drei ersten Evangelien, Berlin / New York 1985, 163-166. 55 Griesbach, in: ders., Synoptic and Text-Critical Studies 1776-1976, 119. 28 Stefan Alkier Griesbach baut die These Owens mit Hilfe seiner Synopse philologisch aus. Wie Owen versteht er Markus als klugen Theologen, der die ihm vorliegenden Evangelien des Matthäus und des Lukas aber nicht einfach planlos verkürzt, sondern mit Blick auf sein Zielpublikum neu ausrichtet. Anders als Owen legt er sich aber nicht auf das gebildete Publikum Roms fest. Markus habe ein heidenchristliches Publikum außerhalb Palästinas vor Augen gehabt. In einem entscheidenden Punkt aber verändert er Owens Sicht und nähert sich damit der These Augustins an. Markus habe nämlich nicht eine eigene Ordnung der Erzählung entworfen, sondern er folge dem Erzählfaden des Matthäus, in den er aber lukanisches Gut literarisch geschickt einarbeite. Owen und Griesbach stimmen gerade darin überein, dass Markus nicht als ein blinder Epitomator zu begreifen ist, sondern die literarische Güte des Markusevangeliums auf einen gebildeten und reifen Theologen schließen lässt, der genau weiß, was er bezwecken will und mit welchen Mitteln ihm das gelingen könnte. Griesbachs innersynoptische Benutzungshypothese überzeugte wegen ihrer argumentativen Strenge und ihrer überzeugenden Armut an Hilfshypothesen viele kluge Köpfe. Sie war zunächst die Alternative zur Eichhornschen Urevangeliumshypothese. Beide gerieten ins Abseits, als sich die romantische Hypothese der Priorität des kürzeren, ursprünglicheren Markusevangeliums mehr und mehr durchzusetzen begann. 8.2 Die Urevangeliumshypothese Johann Gottfried Eichhorns Auf dem aufgeklärten Boden kritischer Destruktion dogmatisch konstruierter Zusammenhänge wächst als Gegenbewegung dazu das romantische Ursprungsdenken, das die akzeptierte Diversität auf ein Ursprungsprinzip zurückführen möchte. Eine geschichtliche Erscheinung erhält ihre Identität demzufolge durch ihren zeitlichen Ursprung, der zugleich als Wesensursprung gedacht wird. Johann Wolfgang Goethes Ideen des Urtiers oder der Urpflanze sind diesem Denken verpflichtet, das Goethe erst aufgibt, nachdem er sich von Johann Gottfried Herder ab- und Friedrich Schiller zugewendet hatte. Herder aber blieb seinem Ursprungsdenken treu und kritisierte damit die Geschichtskonstruktionen von Lessing und Kant. Das zeitlichen Beginn und Wesen identifizierende Ursprungsdenken strahlte eine so große Faszination aus, dass es auf nahezu alle Wissensgebiete angewendet wurde. 56 Mit der Ausarbeitung der Idee eines Urevangeliums meinte Johann Gottfried Eichhorn (1752-1827) dem von Semler in die theologische Geschichtsschreibung eingebrachten kritischen Bild radikaler Diversität des ältesten Christentums be- 56 Vgl. zu diesen Zusammenhängen S. Alkier, Urchristentum, 113-172. Mehr oder weniger plausible Hypothesen 29 gegnen zu können, ohne die überzeugenden historischen Arbeiten Semlers ablehnen zu müssen, die er als dessen Enkelschüler wertschätzte. Die Kurzfassung seiner romantisch-organologischen Urevangeliumshypothese lautet: „Die untergegangenen Evangelien sind alle Theile eines Stammes, der sich in 2 Äste theilte, von denen jeder wieder seine eigenen Zweige getrieben hat. I. Zu dem einen Hauptast, aus dem der katholische Matthäus entsprossen ist, gehörte 1) das Evangelium der Hebräer 2) Cerinth’s Evangelium 3) Justins Denkwürdigkeiten der Apostel 4) und Tatians eine Denkschrift seiner evang. Harmonie. II. zu dem andern aus dem der katholische Lukas hervorgegangen ist, gehörte 1) Marcion’s Evangelium und 2) eine der Denkschriften von Tatians Diatessaron. Der Stamm, aus dem diese zwei Aeste entsprossen sind, (oder die gemeinschaftliche Grundlage aller dieser untergegangenen Evangelien) ist ein uraltes kurzes Leben Jesu, ein Urevangelium“. 57 Das Urevangelium versteht Eichhorn als letztlich auf Jesus zurückgehenden, aber von seinen von ihm selbst beauftragten Aposteln verfassten schriftlichen Ersatz für die mündliche Erzählung des Lebens und der Lehren Jesu der Apostel. 58 Anders als Semler reinigt Eichhorn die Lehre Jesu von jeglicher rezeptionsbedingter Diversität. Auch noch das schriftliche Urevangelium der Apostel hat Anteil an der unvermischten Einheitlichkeit der Lehre Jesu. Jesus selbst sorgte für die authentische Weitergabe seiner Lehre an die zwölf Urjünger, damit dieser göttliche Ursprung der Wahrheit des Christentums nicht schon am Anfang Verunreinigung oder Zumischung ausgesetzt wurde. Aus diesem reinen Ursprung sind die Erzählungen der Apostel hervorgegangen. Davon abgeleitet wurden die Erzählungen der Erzählungen der Unterapostel und genau hier beginnt die Verunreinigung des Ursprünglichen. Um dieser Verdünnung entgegenzuwirken verschriftlichten die Urapostel das Urevangelium. Urevangelium meint also nicht nur das zeitlich erste Evangelium, sondern die theo-ontologische Qualität desselben, rein und unvermischt die göttliche Lehre Jesu fixiert zu haben. Leider aber wurde dieses Urevangelium durch die Nachfolger der Urapostel verfälscht. Auch die kanonischen Evangelien bieten nur verfälschte Versionen des Urevangeliums an. Sie sind aber von solcher Qualität, dass sich durch literarkritische Operationen das Urevangelium wieder herstellen lasse. Das Wiederfinden des Urevangeliums durch das Herausschälen aus dem Unrat der verschmutzten Evangelien ist daher die weitestgehende mögliche Rekonstruktion des Ursprungs des Christentums: das Leben Jesu und seine Lehre. Mit ihm wird die Wahrheit des Christentums überhaupt geborgen. 57 J.G. Eichhorn, Einleitung in das NT, 5 Bde., Leipzig 1804-1827, hier I,XII. Erstmals formulierte er seine Hypothese 1794: ders., Über die drey ersten Evangelien, ABBL 5, 1794, 759-762. 58 Vgl. dazu S. Alkier, Urchristentum, 140-144. 30 Stefan Alkier Die Rekonstruktion des ontologisch wie zeitlich ursprünglicheren Urevangeliums macht eine Rekonstruktion des vom Ursprung weiter entfernten und aus diesem erst entstandenen komplexen und widersprüchlichen Gebilde des Frühchristentums und seiner Schriften theologisch überflüssig. Man braucht nicht mehr als die identitätsstiftende Urkunde des Christentums: das Urevangelium. Alle anderen Erscheinungen und Schriften des Christentums können ihre Diversität und Differenz behalten, da sie nichts wesentlich Neues zur Wahrheit des Christentums beitragen. Johann Gottfried Eichhorns Variante der Urevangeliumshypothese basiert zur Gänze auf Semlers Rekonstruktion der radikalen Diversität der Anfänge des Christentums. Allerdings bewertet er Diversität gänzlich anders als Semler. Wahrheit ist für ihn monologisch. Die Polyphonie bedroht die Wahrheit. Die Rekonstruktion der ursprünglichen einen Stimme ist die Rekonstruktion der reinen Quelle. Die kanonischen Evangelien sind durch Polyphonie verschmutzt, aber können durch den historisch-kritischen Geist wieder geklärt werden. Seine Urevangeliumshypothese richtet sich auf dieser Basis mit ihrer eigenen Fiktion gegen die Fiktion der Betrugshypothese des Reimarus: Sie setzt sich als Erklärungsmodell der Genese der Evangelienliteratur weitgehend durch, ohne die Griesbachthese zu wiederlegen. Eichhorn erzählt einfach die schönere Geschichte. 9. Angst vor dem Mythos, oder: Wie die Zwei-Quellen-Hypothese entstand Unter dem Eindruck der Plausibilität von Semlers Geschichtsbild, das radikal von Diversität und Differenz geprägt ist und jede Harmonisierung als ängstliche apologetische Geschichtsfälschung begreift, wird bei Semlers Schülern, die die Polyphonie der Christusanhänger in Geschichte und Gegenwart nicht wie ihr Lehrer als zu begrüßendes Lebensprinzip der Christusverehrung auffassen können, die Vielfalt der Evangelien zum Problem ihrer Wahrheit. Dass das Mittel der Evangelienharmonie, wie es noch Storr einsetzte, selbst dann nicht mehr überzeugt, wenn es offen ist für eine historische Reinterpretation, war offenkundig geworden spätestens durch Lessings Veröffentlichung der „Fragmente eines Ungenannten“. Lessing, der geistige Schüler Semlers, schien damit jeder Evangelienharmonie den Todesstoß versetzt zu haben. Aber selbst Lessing hielt die radikale Akzeptanz der Polyphonie nicht aus und versuchte, auf der Basis von Semlers Fragmentenhypothese Ordnung in das Chaos zu bringen mittels seiner Abhandlung „Neue Hypothese über die Evangelisten als blos menschliche Mehr oder weniger plausible Hypothesen 31 Geschichtschreiber“ , die er aber nicht selbst veröffentlichte, sondern erst 1784 von seinem Bruder Karl Lessing herausgegeben wurde. Seine Hypothese lautet: „§ 22. War nun aber das Evangelium der Nazarener keine spätere untergeschobene Mißgeburt: so war es auch älter als alle unsere vier Evangelia, deren das erste wenigstens 30 Jahre nach Christi Tode geschrieben wurde“. 59 Dieses erste Evangelium wird vom Hebräischen in viele Sprachen übersetzt und als Fragment für die je eigene Abfassung eines Evangeliums genutzt. Der erste, der es dann in eine griechische Fassung bringt, ist Lessing zufolge Matthäus. Die Hypothese Lessings zeigt, wie sehr ihm daran gelegen war, die Polyphonie der Evangelienliteratur in einen natürlichen bzw. organischen Zusammenhang zu bringen. Genau darum geht es den Benutzungshypothesen in ihren vielfältigen Ausprägungen: aus dem unbeherrschbaren, unzusammenhängenden Plural der diversen Evangelien eine zusammenhängende, beherrschende neue Harmonie zu bilden, die aufgeklärt-natürlich bzw. organologisch-romantisch plausibilisiert wird. Man sucht nach dem Anfang, aus dem alles zusammenhängend ableitbar wird, weil man die unzusammenhängende Diversität als Bedrohung der Wahrheit erfährt. Aus der ehemaligen Harmonie des synchronen Zusammenklangs verschiedener Stimmen wird das synoptische Problem, das für sein Begehren eines klaren Ursprungs sogar bereit ist, die vorhandenen Quellen zu trüben. Auf der Basis genetischer Quellenforschung soll gleichermaßen der durch Semler destruierte Zusammenhang der Evangelien wieder hergestellt und zugleich der Betrugsvorwurf des Reimarus entkräftet werden. Aus der Vielfalt fördernden historisch-kritischen Wahrnehmung von Diversität und Differenz wird die ängstliche Suche nach historischer Absicherung der „Evangelischen Geschichte“ von Jesus Christus, die zugleich die Literarkritik und damit wechselseitig verbunden die Leben Jesu Forschung des 19. Jh.s prägen wird. Wahrheit wird auf historische Triftigkeit reduziert. Genau davor hatte Origenes mit bedenkenswerten Gründen gewarnt. Gegen die Reduktion des Wahrheitsverständnisses auf historische Triftigkeit richtete sich Johann Gottfried Herdes Schrift „Regel der Zusammenstimmung unsrer Evangelien, aus ihrer Entstehung und Ordnung“ (1797). Zugleich aber formuliert er die organologisch-romantische Idee, Pluralität gehe immer aus Singularität hervor, das Einfachere sei immer älter als das Komplexere. Diese romantische Ideologie des Einfachen wird zur Basis der Hypothese der Markuspriorität, wie sie bereits Koppe formuliert hatte, nun aber Herder organolo- 59 G.E. Lessing, Neue Hypothese über die Evangelisten als blos menschliche Geschichtschreiber, in: ders., Sämtliche Schriften, hg. v. K. Lachmann, 3. auf ’s neue durchges. u. verm. Aufl. besorgt durch F. Muncker, Bd. 16, Leipzig 1902, 370-391, hier 377. 32 Stefan Alkier gisch plausibilisiert. Er überträgt seine geschichtsphilosophische Idee, 60 dass alle Verschiedenheit aus einem gemeinsamen Ursprung erwächst, auf das Markusevangelium: Der philologischen Strenge Griesbachs setzt er die genieästhetische Überzeugung entgegen: „Ist dies nicht die natürlichere Ansicht? Ist nicht das Kürzere, das Schmucklose, gewöhnlich das Frühere, dem sodann andre Veranlassungen nachher Erläuterung, Fülle, Rundheit hinzufügen? Daß dies bei Markus gegen Matthäus und Lukas der Fall ist, ist augenscheinlich, wenn wir auch vom Verfasser nichts wüßten“. 61 Da für Herder zudem Mündlichkeit ursprünglicher und deshalb wahrer ist als Schriftlichkeit, verdoppelt er die Ursprünglichkeit des Markusevangeliums mittels seiner Diegesentheorie . 62 Am Anfang der Evangelientradition stehen einfache Erzählungen. Das mündliche Markusevangelium stamme bereits aus der Zeit unmittelbar nach Jesu Tod, aber erst in den 60er Jahren habe Markus es verschriftlicht. Er ist ihm aufgrund seiner „Originalität“ der „Archetyp der Erzählung“. 63 Das spätere Matthäusevangelium, „abgefaßt, mit hebräischen Buchstaben in Palästinischer Landessprache“ benutzte das Markusevangelium und gilt Herder daher als „Commentar jenes ersten Entwurfs“. 64 Lukas benutzt dann in eigenständiger Weise Markus und Matthäus und auch noch weitere Evangelien. Die These einer verlorenen gegangenen Quelle wie das Urevangelium Eichhornscher Prägung lehnt Herder vehement ab: „Mithin ist die Zurückführung unsrer gesamten drei Evangelien auf Eine nicht vorhandene Urschrift ein kühner Lauf ohne Ziel. Aus Worten und Redarten freier Erzählung läßt sich eine solche ungeschriebene Urschrift (…) mit Gewißheit nie ausfinden. Vielmehr zerstört dieser kühne Versuch den natürlichen Anblick unsrer Evangelien selbst, indem er Schwierigkeiten auf Schwierigkeiten häufet“. 65 Herders Kombination aus mündlicher Erzählung (Traditionsbzw. Diegesenhypothese) und schriftlichen Benutzungshypothesen ist aber nicht primär am Erweis historischer Triftigkeit interessiert, vielmehr geht es ihm darum, bei aller Übereinstimmung der synoptischen Evangelien ihr jeweiliges Recht poeto- 60 Vgl. J.G. Herder, Ideen zu Geschichte der Philosophie der Menschheit, in: ders., Sämtliche Werke XIIIf., hg. v. B. Suphan, repr. Nachdr. d. Ausg. Berlin 1887/ 1909, Hildesheim 1967. 61 Herder, Christliche Schriften. Dritte Sammlung 1797, 391. Vgl. J.B. Koppe, Marcus non Epitomator Matthaei, 1782; Neuausgabe 1798; Storr, De fonte evangeliorum Matthaei et Lucae, 1794. 62 Vgl. Herder, Christliche Schriften, 390. 63 Ebd., 394. 64 Ebd., 409 65 Ebd., 417. Mehr oder weniger plausible Hypothesen 33 logisch-theologisch zuzugestehen. Es ist die ästhetische Analyse zur Erfassung des „Eigensten“ eines Schriftstellers, die seine Aussageabsicht, seine Sicht der Dinge erkennen lässt, auch unabhängig von ihrer Genese. 66 Auch die beiden 1838 unabhängig voneinander erschienen Werke, die der Markuspriorität den Durchbruch verschafften, sind ganz von theologischen und philosophischen Prämissen und Ängsten geprägt. Sie halten es gar nicht für nötig, sich wissenschaftlich etwa mit den philologischen Argumenten Griesbachs auseinanderzusetzen, obwohl dessen Hypothese nicht von der weit verbreiteten Urevangeliumshypothese verdrängt worden war. Insbesondere Ferdinand Christian Baur und seine Schüler hielten an der Griesbachhypothese fest. Für Christian Hermann Weisse (1801-1866) war der Stein des Anstoßes die vornehmlich auf Traditionshypothesen mündlicher Überlieferungen aufbauende Mythen-These des wohl bekanntesten Schülers Ferdinand Christian Baurs (1792-1860): David Friedrich Strauss (1808-1874). Strauss vertrat zwar gleichfalls wie Baur für das schriftliche Stadium der Evangelienliteratur die Griesbachhypothese, aber weit mehr war ihm an der älteren mündlichen Überlieferung gelegen, die er teils aus Überlegungen Herders und teils aus Eichhorns phantasievollen Ausführungen übernahm. Vor allem aber diente Strauss die Betonung der Mündlichkeit dazu, den geschichtlichen Rahmen der Evangelienerzählungen als mythische Einkleidung der Ideen zu begreifen, die sich in den Reden Jesu, insbesondere in den Gleichnissen mehr oder weniger bewahrt hätten. Mit einem anderen Denkmodell als zuvor Reimarus, aber mit vergleichbarer Wirkung, stand mit dem „Leben Jesu“ , das 1835 in erster Auflage erschien, die historische Triftigkeit der Evangelien auf dem Spiel. Weisse kritisiert nun aber in keiner Weise, dass Strauß sich auf philosophische Theoriebildung berief. Der Titel von Weisses Arbeit steht ganz in Einklang mit der Überzeugung aller historisch-kritischen Exegeten seit Semler, dass die Fortschritte der Exegese ihrer Zeit sich zu einem bedeutenden Teil der Philosophie verdanken. Die umfangreiche Monographie von Weisse trägt den programmatischen Titel: „Die evangelische Geschichte: kritisch und philosophisch bearbeitet“. Dieses Werk zeigt gleich in seinem ersten Satz, dass sich die reformatorische These von der Klarheit der Schrift auch bei Weisse in die Überzeugung von der Schrift als trüber Quelle gewandelt hat. Weisse schreibt in seinem Vorwort: „Die Idee zu gegenwärtiger Bearbeitung der evangelischen Geschichte ist älter, als das Erscheinen des bekannten Werkes von Strauß; doch wage ich nicht mit Zuversicht zu behaupten, daß ohne dieses Werk dieselbe je würde zur Ausführung gekommen 66 Ebd., 414 34 Stefan Alkier sein. Meine Tendenz ist, wie man finden wird, nicht die negativ-kritische, sondern eine wesentlich positive, die Herstellung des geschichtlichen Christusbildes aus der unklaren Hülle, mit welcher es, der Ueberzeugung zufolge, welche ich mit der Mehrzahl der Gebildeten unseres Zeitalters theile, frühzeitig die Überlieferung, später das kirchlich festgestellte Dogma umgeben hat“. 67 Aus der Klarheit der Schrift wird eine unklare Hülle . Wer nun die zwei seitenstarken Bände Weisses liest und nun eine historisch-kritische Quellenanalyse erwartet, wird aber bitter enttäuscht. Weisse war kein Philologe und auch kein Exeget. Vielmehr war er Professor für Philosophie in Leipzig mit einem Schwerpunkt in der Religionsphilosophie. 68 Der Hauptteil seiner Ausführungen in seiner „Evangelischen Geschichte“ besteht in einer Evangelienharmonie, die er auf der historischen Ebene ansiedelt und darin Augustin durchaus vergleichbar ist. Allerdings hat er anders als Augustin kein Interesse mehr an den Texten selbst. Sie sind ihm Mittel zum Zweck, und der Zweck ist die wahre Evangelische Geschichte nicht, wie sie in den Evangelien dargestellt wird, sondern wie sie ihnen vorausliegt. Aus den einst so erhabenen Mensch, Löwe, Stier und Adler sind traurige, trübe Quellen geworden, in denen man mit viel Aufwand fischen muß, um die verdeckte Wahrheit wiederzufinden. Weisse erzählt nun die wahre, historisch gesicherte Geschichte des Lebens Jesu aus dem apologetischen Geist, der die Ängste vor der Auflösung christlicher Wahrheit mit einem Objektivität beanspruchenden Hypothesengebäude vertreiben möchte. Man vertraut nicht mehr der Klarheit der Quellen, sondern der Objektivität der je eigenen Quellenhypothesen. Man glaubt nicht mehr der „unklaren Hülle“ der Evangelien, sondern der Klarheit der eigenen Rekonstruktionen. Die Quellenhypothesen werden zum Glaubensgegenstand. Der evangelische Feldprediger und Pfarrer Christian Gottlob Wilke (1786- 1854) und der Religionsphilosoph Christian Hermann Weisse waren beide so sehr von der Markuspriorität überzeugt, dass sie sich mit den Gegenargumenten des herausragenden Philologen Johann Jakob Griesbach erst gar nicht befassten. Beiden ging es letztlich um die Apologie der historischen Wahrheit der Evangelischen Geschichte. Darüber hinaus aber waren sie Feinde, die gegensätzliche Interessen, Ideologien und Hypothesen vertraten. Während für Weisse das Markusevangelium mit der altkirchlichen Tradition ein von Petrus angeregtes ist, das bei Weisse dann aber wie eine Quelle zweiter 67 C.H. Weisse, Die evangelische Geschichte kritisch und philosophisch bearbeitet, 2 Bde., Leipzig 1838, hier Bd. 1. 68 Als Hauptwerk gilt: C.H. Weisse, Philosophische Dogmatik oder Philosophie des Christenthums, 3 Bde., Leipzig 1855-1862. Mehr oder weniger plausible Hypothesen 35 Hand betrachtet wird, ist für Wilke das Markusevangelium das Urevangelium als ein Evangelium von schriftstellerischem Niveau und der Garant der Zuverlässigkeit des Evangeliums von Jesus Christus, auch wenn er mit der altkirchlichen Tradition die Reihenfolge der erzählten Episoden des Markusevangeliums nicht für historisch hält: „Markus ist der Urevangelist. Sein Werk ist’s das den beiden andern Evangelien des Matthäus und Lukas zum Grunde liegt. Dieses Werk ist nicht die Kopie eines mündlichen Urevangeliums, sondern es ist künstliche Komposition. Dass seine Zusammenstellungen weniger durch geschichtlichen Zusammenhang, als durch vorausgedachte gemeine Sätze, ungeachtet sie den Schein eines geschichtlichen Zusammenhanges angenommen haben, dies erklärt sich eben daraus, dass sein Urheber keiner der unmittelbaren Begleiter Jesu gewesen ist“. 69 Die Schrift kann schon deshalb nicht allein Grundlage des Glaubens sein. Sola Scriptura ist für Wilke keine Option mehr und so konvertiert der evangelische Pfarrer 1846 mit seiner Frau zum römischen Katholizismus. Der Pfarrer Wilke ist im Gegensatz zum Philosophen Weisse kein Vorläufer der Zwei-Quellen-Hypothese. Er vertritt eine innersynoptische Benutzungshypothese in der Form, dass Lukas das Markusevangelium und Matthäus das Lukasevangelium benutzt habe. Der apologetische Religionsphilosoph Weisse hingegen konstruiert bereits die Kombination aus innersynoptischen und außersynoptischen Benutzungshypothesen und legt damit den Grundstein zur hypothesenreichsten aller Quellentheorien, der zufolge Lukas und Matthäus das Markusevangelium und eine vom Apostel Matthäus abgefasste Spruchsammlung sowie jeweils weitere eigene Quellen bzw. Traditionen vorliegen hatten. Die spätere Bezeichnung „Zwei-Quellen-Theorie“ führt in die Irre. Sie ist von Anfang an ein komplexes Hypothesengebäude, das diverse Benutzungshypothesen, Vorlagenhypothesen, Traditionshypothesen und Fragmentenbzw. Diegesenhypothesen phantasiereich mit philosophischer Konstruktionsfreude kombiniert. Heinrich Julius Holtzmanns 70 Version der verkürzend so genannten „Zwei- Quellen-Theorie“ in seiner Monographie, „Die synoptischen Evangelien“ , aus dem Jahr 1863 verhilft ihr dann zum Durchbruch. Die in der heutigen Forschung als „minor agreements“ 71 bekannten Probleme der Zwei-Quellen-Hypothese, die bereits Weisse sah, „löst“ Holtzmann zunächst durch eine weitere Hypothese, nämlich die eines „Urmarkus“. Diese Hypothese verlässt er aber in seiner Ein- 69 C.G. Wilke, Der Urevangelist, 684. 70 H.J. Holtzmann, Die synoptischen Evangelien, Leipzig 1863. 71 Vgl. Strecker (Hg.), Minor Agreements, Symposium Göttingen 1991/ 1998. 36 Stefan Alkier leitung aus dem Jahr 1885 72 und kehrt zur Benutzungshypothese zurück, der zufolge Lukas nicht nur das Markusevangelium, sondern auch das Matthäusevangelium kannte. Die erschreckend unwissenschaftliche Gewissheit, mit der viele Protagonisten der „Lösung“ des synoptischen Problems ihre Auffassungen immer wieder vortrugen und andere Auffassungen nicht der Rede wert hielten, sollte allen eine Warnung sein, die redliche Wissenschaft betreiben wollen, und deshalb ihre Hypothesen nicht als Fakten oder gar Daten ausgeben dürfen. So schreibt Wilke über seine innersynoptische Benutzungshypothese gegen Ende seines umfangreichen Werkes, „Der Urevangelist oder exegetisch-kritische Untersuchung über das Verwandtschaftsverhältnis der drei ersten Evangelien“ : „Wir geben für alle Ewigkeit Brief und Siegel, daß unser Resultat das richtige sei“. 73 10. Aufgabe und Ergebnisse forschungsgeschichtlicher Reflexion des „synoptischen Problems“ - 10 Thesen 1. Das „synoptische Problem“ ist kein Datum oder Faktum der kanonischen Evangelien, sondern Ergebnis wissenschafts- und politikgeschichtlich beschreibbarer Konstellationen europäischer Wissensproduktion. 2. Die Dringlichkeit der Lösung des synoptischen Problems ergibt sich nicht aus den zu interpretierenden Daten, sondern resultiert aus den philosophischen, hermeneutischen und theologischen Präsuppositionen der diversen exegetischen Ansätze. 3. Wissenschaftsgeschichte ist nicht die Geschichte stetigen Fortschritts, sondern die Transformationsgeschichte von Diskursen im Zeichen von Erkenntnisgewinn und Vergessen. 4. Der Rekurs auf die im Laufe der Jahrhunderte vorgeschlagenen Lösungen des synoptischen Problems zielt auf die Erinnerung und Rehabilitierung ihrer Denkbarkeit und argumentativen Kraft und trägt damit zur notwendigen Komplexität gegenwärtiger Diskurse bei. 72 H.J. Holtzmann, Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in das Neue Testament, Tübingen 1885. 73 Wilke, Urevangelist, 684. Mehr oder weniger plausible Hypothesen 37 5. Kein Lösungsansatz zum synoptischen Problem vermochte alle Daten so stimmig zu verbinden und zu interpretieren, dass er die Einwände der anderen Lösungsansätze falsifizieren konnte. 6. Zu unterscheiden sind aber mehr oder weniger plausible Lösungsansätze, deren Plausibilität sich aus der sinnvollen Verknüpfung und Interpretation der Daten und der möglichst engen Begrenzung von Hilfshypothesen ergeben. 7. Als Daten können nicht die bereits aus der Perspektive eines bestimmten Lösungsansatzes erarbeiteten Hypothesen gelten (z. B. „Markus als ältestes Evangelium“, „minor agreements“, „Q“) 74 , sondern nur die gegebene und als solche zu interpretierende Zeichenmenge der Evangelien. 8. Als bedeutendstes Faktum der Interpretation der Daten hat sich im Streit um die Lösung des synoptischen Problems ergeben, dass die Vielzahl der wörtlichen und syntagmatischen Übereinstimmungen zwischen Mt, Mk und Lk nicht allein mit dem Rekurs auf mündliche Traditionen zu erklären ist, sondern schriftliche Abhängigkeitsverhältnisse zu konstatieren sind. 9. Aus These 8 ergibt sich, dass ausschließlich Benutzungshypothesen Plausibilität beanspruchen können, die entweder außersynoptisch (in der Forschung auch „Vorlagenhypothese“ genannt, z. B. Eichhorns Urevangeliumshypothese) oder innersynoptisch (z. B. Griesbachthese) argumentieren, oder eine Kombination beider Möglichkeiten (2QT) favorisieren. 10. Fazit: Von einer „Lösung“ des synoptischen Problems kann redliche Wissenschaft nicht berichten, wohl aber von einem engagierten Diskurs verschiedener Lösungsansätze. Was Thomas R.W. Longstaff 1976 als bedeutendes Ergebnis der Münsteraner Griesbachtagung festhielt, sollte Grundlage aller weiteren Diskussionen des synoptischen Problems werden: 74 Vgl. B. Reicke, Griesbach’s answer to the Synoptic Question, in: Griesbach: Synoptic and Text-Critical Studies 1776-1976, ed. by B. Orchard / T.R.W. Longstaff, SNTS MS 34, Cambridge u. a. 1976, 67: „These two assertions, the priority of Mark and the existence of a Logia source, soon became popular in Protestant Germany, and even took on the character of an article of faith that later spread to other countries and churches. Many scholars accept them as if they were axioms. But such idola theatri should always be called into question“. 38 Stefan Alkier „Perhaps one of the most important results of the Colloquium was the clear articulation (…) of the view that New Testament scholarship has entered a new period of pluralism with regard to the Synoptic Problem. Although the strength of the two-document hypothesis was frequently stressed, nearly everyone present agreed that the solution was not without difficulties and that it could no longer be considered to be established beyond reasonable doubt. In fact, most participants acknowledged that New Testament research would profit from a climate in which a plurality of hypotheses could be accepted as legitimate starting-points for exegetical studies”. 75 75 T.R.W. Longstaff, At the Colloquium´s Conclusion, in: Griesbach: Synoptic and Text-Critical Studies 1776-1976, ed. by B. Orchard / ders., SNTS MS 34, Cambridge u. a. 1976, 173 f. Zeitschrift für Neues Testament 22. Jahrgang (2019) Heft 43 / 44 Zum Thema Überlieferungsgeschichte der kanonischen Evangelien Matthias Klinghardt Den Freunden Hans-Peter Daub und Thomas Löffler 1. Die These An die Stelle einer synoptischen Theorie setze ich das Modell einer Überlieferungsgeschichte aller Evangelien. 1 Es bietet u. a. eine Erklärung der komplexen literarischen Beziehungen zwischen den drei ersten Evangelien, also für das klassische synoptische Problem. Allerdings unterscheidet es sich von den gängigen Theorien in einem grundlegenden Aspekt und führt über deren Erklärungsrahmen hinaus. 1 Vgl. M. Klinghardt, Das älteste Evangelium und die Entstehung der kanonischen Evangelien I: Untersuchung; II: Rekonstruktion, Übersetzung, Varianten (TANZ 60/ 1-2), Tübingen 2015. - Im Unterschied zum Titel dieses Heftes spreche ich mit Blick auf das synoptische Problem lieber von Theorien als von Hypothesen. Denn zum einen verbinden alle hier diskutierten Modelle sehr verschiedene Beobachtungen und Annahmen zu komplexen Systemen, die jeweils mehr als nur die literarischen Beziehungen zwischen drei Evangelien zu erklären beanspruchen. Zum anderen sind die Voraussetzungen für die Validierung einer wissenschaftlichen Theorie (z. B. Extension; Widerspruchsfreiheit; Falsifizierbarkeit usw.) vertrauter und leichter fassbar als bei einer Hypothese. Entgegen einem verbreiteten umgangssprachlichen Verständnis kommt einer „Theorie“ kein höheres Maß an Gewissheit zu als einer „Hypothese“; dies zu zeigen ist ja ein Ziel dieses Heftes. 40 Matthias Klinghardt Dieser Unterschied bezieht sich auf das methodische Grundproblem, das die Diskussion der synoptischen Modelle beherrscht: Lassen sich die literarischen Beziehungen zwischen den Synoptikern in einem reinen Benutzungs modell erklären, wie es die zuletzt wieder von Mark Goodacre in die Diskussion gebrachte „Markan Priority without Q“ (MPwQ) Hypothese vorschlägt? 2 Oder ist dafür ein gemischtes Modell notwendig, das neben der Benutzung der Evangelien untereinander auch mit der Verwendung einer zusätzlichen Vorlage rechnet, wie es die Zwei-Quellentheorie mit „Q“ tut? Diese Grundfrage wird seit 100 Jahren zwischen den Verfechtern und den Bestreitern dieser Ansätze als methodisches Problem verhandelt. Zur Debatte stehen dann Fragen wie: Ist es logisch möglich (und historisch wahrscheinlich), die Gemeinsamkeiten von je zwei Evangelien gegen das dritte in einer einfachen Abfolge zu erklären? Sind die „Minor Agreements“ für die Zwei-Quellentheorie fatal oder lassen sie sich doch irgendwie mit ihr vereinbaren? Unter welchen Voraussetzungen ist es methodisch statthaft, eine zusätzliche Quelle wie „Q“ zu postulieren? Und so weiter. Die Frage nach der Notwendigkeit einer zusätzlichen Quelle ist methodisch interessant. Aber als historische Frage ist sie überflüssig, weil neben den kanonischen Evangelien ein weiterer Text existiert, der in das Geflecht der synoptischen Beziehungen hineingehört. Das ist das Evangelium, das als Teil der von Marcion genutzten Sammlung von elf Schriften bezeugt ist (neben dem Evangelium noch zehn Paulusbriefe). Dieser Text trägt den schlichten Titel „Evangelium“; weil seine Nutzung durch Marcion und die Marcioniten gesichert ist, bezeichne ich ihn mit dem Kürzel „Mcn“. Im Unterschied zu der verbreiteten Ansicht, die von Justin, Irenäus und Tertullian bis Harnack und darüber hinaus vertreten wurde, ist dieses Evangelium keine Bearbeitung des kanonischen Lk, sondern seine wichtigste Quelle: Das redaktionelle Gefälle zwischen diesen beiden Texten verläuft nicht von Lk zu Mcn, sondern von Mcn zu Lk. Unter dieser Voraussetzung ist Mcn ein vor-lukanischer Text. Damit verändert sich die Ausgangskonstellation für die Bestimmung der literarischen Beziehungen zwischen den Synoptikern grundlegend: Das daraus resultierende Modell unterscheidet sich von allen anderen Annahmen, die seit dem 19. Jh. diskutiert werden. Für die Analyse der synoptischen Evangelienüberlieferung sind mit Mcn, Mk und Mt also zunächst drei Texte neben Lk zu berücksichtigen. Zur Erstellung eines diachronen Modells der Überlieferungsgeschichte müssen sie zueinander und zu 2 Vgl. M.S. Goodacre, The Case against Q: Studies in Markan Priority and the Synoptic Problem, Harrisburg 2002. Das Modell selbst ist älter und wurde verschiedentlich in die Debatte eingebracht, z. B. von J.H. Ropes (1934), M.S. Enslin (1938), A.M. Farrer (1955), M.D. Goulder (1989/ 1996) u. a. Die Bezeichnung „Markan Priority without Q“ (MPwQ) beispielsweise bei J.S. Kloppenborg, On Dispensing with Q? : Goodacre on the Relation of Luke to Matthew, NTS 49 (2003), 210-236. Überlieferungsgeschichte der kanonischen Evangelien 41 Lk ins Verhältnis gesetzt werden. Das gelingt auch relativ leicht. Denn dazu ist es ja nur erforderlich, die literarische Abhängigkeit zwischen jeweils zwei dieser Texte zu bestimmen und dann die Verhältnisse aufeinander zu beziehen. Das wichtigste Ergebnis besagt: Mcn ist nicht nur älter als Lk, sondern auch als Mt und als Mk; damit ist es das älteste Evangelium, von dem wir Kenntnis haben. Das überlieferungsgeschichtliche Modell, das aus dem literarkritischen Vergleich folgt, umfasst jedoch nicht nur Mcn und die Synoptiker, sondern auch Joh. Angesichts des Umstands, dass sich ja schon die Verhältnisse zwischen den drei ersten (und unbestreitbar eng zusammengehörigen) Evangelien nicht ohne weiteres rekonstruieren lassen, kann man forschungsgeschichtlich zwar nachvollziehen, dass und warum das weiter entfernt scheinende Joh regelmäßig aus den überlieferungsgeschichtlichen Rekonstruktionen ausgeblendet wird. Aber sachlich ist diese Nichtberücksichtigung nicht zu rechtfertigen. Das überlieferungsgeschichtliche Modell, das sich unter Berücksichtigung der Mcn-Priorität ergibt, geht in vier Überlieferungsschritten von Mcn zu Mk zu Mt zu Joh zu Lk: Mcn repräsentiert die älteste, Lk die jüngste Stufe der Überlieferung. Dabei lässt sich an vielen Einzelbeobachtungen zeigen, dass jede dieser Stufen Kenntnis von allen jeweils vorausliegenden älteren Texten hatte. Im Bild: Die Überlieferung der kanonischen Evangelien ist aus einer Wurzel hervorgegangen, die für alle späteren Stadien als gemeinsamer Bezugspunkt dient, gleichsam als Baum, um den sich die weitere Überlieferung rankt. Über den zeitlichen Rahmen für diese Überlieferungsgeschichte lässt sich nur der Terminus ante quem der abschließenden Redaktion, die in unserem Lk-Evangelium vorliegt, halbwegs sicher datieren, nämlich im Umfeld der für das Jahr 144 n. Chr. bezeugten Trennung zwischen Marcion und der römischen Gemeinde. Der Anfang dieser Überlieferung ist erst seit den 90er Jahren des 1. Jh.s wahrscheinlich. Aber wie schnell und wann sich die Evangelienüberlieferung innerhalb dieser rund 50 Jahre gebildet hat, bleibt offen. 3 3 Zur Datierung vgl. Klinghardt, a. a. O. (Anm. 1), I 374 ff. Prof. Dr. Matthias Klinghardt ist Professor für Biblische Theologie an der TU Dresden. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören u. a. die Entstehung des Neuen Testaments als Sammlung, die Überlieferungsgeschichte der Evangelien und die frühe Geschichte der neutestamentlichen Textüberlieferung. 42 Matthias Klinghardt Dies sind die wichtigsten Eckpunkte der These, die hier nur sehr knapp (und unvollständig) angedeutet ist. Eine wirkliche Begründung, die auch die erwartbaren Fragen beantwortet, ist in der Kürze natürlich nicht zu leisten. Aber immerhin lassen sich die wichtigen Schritte dieser Skizze doch so weit plausibilisieren, dass das Modell verständlich wird. 2. Die Mcn-Priorität vor Lk Das gesamte Modell hängt vollständig von der Mcn-Priorität vor Lk ab. Diese entscheidende Einsicht sollte also etwas genauer begründet werden, denn sie steht in Widerspruch zu einer langen Tradition, die schon im 2. Jh. bei Justin und Irenäus einsetzt und bis heute anhält. Dieser Tradition zufolge hat der „Erzketzer“ Marcion das kanonische Lk-Evangelium nach seinen theologischen Vorstellungen bearbeitet und gekürzt: Die „pontische Ratte hat das Evangelium zernagt“ (Tertullian), so dass dieses nun Löcher habe „wie ein von Motten zerfressenes Hemd“ (Epiphanius). 4 Dieses Bild Marcions, der das Lk-Evangelium nach seinen theologischen Vorstellungen redigiert und „bereinigt“ habe, ist der jüngeren Forschung vor allem durch Harnacks Marcionbuch vermittelt worden. 5 Aber dieses Bild ist unhaltbar. Man hätte seine Richtigkeit schon angesichts des entgegengesetzten Vorwurfs bezweifeln können: Dass nämlich das kanonische Lk-Evangelium eine interpolierte Bearbeitung des marcionitischen Evangeliums und mit Gesetz und Propheten zu einer Einheit verbunden worden sei. Tertullian, der diese Behauptung mitteilt, stellt fest: „Ich behaupte, dass mein Evangelium wahr ist, Marcion, dass seines wahr ist; ich versichere, dass Marcions Evangelium gefälscht ist, er dagegen, dass meines gefälscht ist“ (Adv. Marc. 4,4,5). So steht Behauptung gegen Behauptung, und es gibt ein unentschiedenes Tauziehen ( funis contentio , 4,4,1) um die Frage des richtigen Bearbeitungsgefälles. Natürlich tut Tertullian alles dafür, dieses Tauziehen zu gewinnen. Dazu widerlegt er (genau wie die anderen Häresiologen) die Theologie Marcions aus dessen Evangelientext (also: aus Mcn) - und triumphiert am Ende natürlich: „Ich bemitleide dich, Marcion, du hast dich vergeblich abgemüht: Denn der Christus Jesus in deinem Evangelium ist meiner! “ (4,43,9). Aber: Wie ist es möglich, dass die Häresiologen Marcions Theologie aus seinem eigenen redaktionell bearbeiteten Evangelium widerlegen können, wenn doch das Ziel seiner ganzen Bearbeitung darin bestand hatte, die widerspruchsfreie Konformität mit 4 Die Zitate finden sich bei Tertullian, Adv. Marc. 1,1,5 bzw. bei Epiphanius, Haer. 42,11,3. 5 A. von Harnack, Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott. Eine Monographie zur Geschichte der Grundlegung der katholischen Kirche. Neue Studien zu Marcion, Leipzig 2 1924 = Ndr. Darmstadt 1996. Überlieferungsgeschichte der kanonischen Evangelien 43 ebendieser Theologie herzustellen? Dieser Widerspruch ist systembedingt und führt die Behauptung der angeblichen Bearbeitung durch Marcion ad absurdum . Tertullian hat realisiert, wie gefährlich dieser Einwand für seinen Erfolg beim „Tauziehen“ sein könnte - aber widerlegen konnte er ihn nicht: Seine Erklärung ist von entlarvender Hilflosigkeit. 6 Man kann es dahingestellt sein lassen, ob Tertullian die Brüchigkeit seiner Argumentation selbst durchschaut hat. Denn das Urteil, welcher der beiden entgegengesetzten Ansprüche berechtigt ist, darf sich natürlich nicht einfach auf die Behauptung eines der beiden Kontrahenten verlassen, sondern muss die Bestimmung der Bearbeitungsrichtung an den Texten selbst ausweisen. Dies ist auch ohne große Schwierigkeiten möglich, und zwar mit überraschender Eindeutigkeit. Da der Wortlaut von Mcn erst aus den Referaten der Häresiologen (neben Tertullian sind dies vor allem Epiphanius und die Adamantiusdialoge) rekonstruiert werden muss, ist es zur Vermeidung einer zirkulären Argumentation ratsam, zunächst diejenigen Passagen des marcionitischen Evangeliums zum Vergleich heranzuziehen, deren Bezeugung eindeutig und unstrittig ist. Das prominenteste Beispiel dafür ist der vielfach bezeugte Anfang: Dem marcionitischen Evangelium fehlten im Vergleich zu Lk der Prolog (Lk 1,1-4), die sog. Geburts- oder Kindheitsgeschichten (Lk 1,5-2,52) sowie die gesamte Täuferüberlieferung mit Synchronismus, Taufe, Stammbaum und Versuchung (3,1aβ-38). Stattdessen begann es mit der Datierung (*3,1aα) und dem Exorzismus in der Synagoge von Kapernaum (*4,31-37), gefolgt von der Perikope über die Ablehnung Jesu in Nazareth, die allerdings eine andere Gestalt besaß als in Lk (nur *4,16.23f.28-30); danach ging es mit *4,42f. weiter. 7 Vergleicht man diese beiden Texte unter dem Gesichtspunkt der redaktionellen Plausibilität, dann weist alles auf die Ursprünglichkeit von Mcn hin: Es ist sehr viel wahrscheinlicher, dass Lk das marcionitische Evangelium redigiert und ergänzt hat, als dass Mcn eine Bearbeitung und Verkürzung von Lk ist. Besonders schlagend ist dabei die unterschiedliche Stellung der Nazarethperikope: Bei Lk besitzt sie eine grundlegende, programmatische Funktion. Er hat sie deswegen ganz an den Anfang des Wirkens Jesu gestellt und dafür dann auch die narrative Inkonsistenz in Kauf genommen, dass der anaphorische Verweis auf „das, was in 6 Tertullian legt dem Häretiker die Inkonsequenz seiner eigenen Argumentation als hinterhältiges Vertuschungsmanöver zur Last: „Marcion wollte - wie ich glaube, mit Absicht! - bestimmte Dinge, die seiner Ansicht entgegenstehen, nicht aus seinem Evangelium herausstreichen, um aufgrund dessen, was er hätte streichen können , aber gar nicht gestrichen hat , den Eindruck zu erwecken, er habe das, was er gestrichen hat, entweder gar nicht oder aber aus gutem Grund gestrichen“ (Adv. Marc. 4,43,7). Zu diesem Problem vgl. Klinghardt, a. a. O. (Anm. 1), I 117-123. 7 Vgl. dazu Klinghardt, a. a. O. (Anm. 1), I 142-162; II 457-479. Ein * vor den Vers- und Kapitelzahlen verweist immer auf das marcionitische Evangelium. 44 Matthias Klinghardt Kapernaum geschah“ (Lk 4,23), bei ihm ins Leere läuft, weil er den Exorzismus in Kapernaum erst danach erzählt (Lk 4,31-37). Es ist längst erkannt, dass Lk für diese redaktionelle Umstellung verantwortlich ist, wenn auch im Verhältnis zu Mcn, nicht gegenüber Mk. Umgekehrt ist unter der üblichen Annahme, dass Marcion das kanonische Lk bearbeitet habe, auch nicht ansatzweise erkennbar, was eine solche Bearbeitung und Umstellung der beiden Perikopen hätte veranlassen können. Denn gerade die für Lk programmatisch wichtigen Verse 4,17-22.25f. fehlen in Mcn. Nur das Beispiel des Syrers Naeman (*4,27) findet sich in Mcn, allerdings im Kontext der Heilung der zehn Aussätzigen, am wahrscheinlichsten direkt nach *17,18. Auch hier kann man dann noch einmal fragen, welche Bearbeitungsrichtung eine plausiblere Erklärung bietet, und auch hier wird das Urteil sehr eindeutig ausfallen: Lk hat Mcn redigiert, nicht umgekehrt. Dieses und einige andere Beispiele dienen zunächst dazu, die Bearbeitungsrichtung zwischen Mcn und Lk grundlegend und unabhängig von der genaueren Rekonstruktion des Wortlauts von Mcn zu etablieren. Der detaillierte Vers-für- Vers-Vergleich zwischen beiden Texten zeigt dann: An zahlreichen Stellen ist die Mcn-Priorität zwingend oder doch wenigstens sehr deutlich. Daneben gibt es noch eine (kleinere) Gruppe von Belegen, bei denen sich die Bearbeitungsrichtung nicht klar bestimmen lässt. Was jedoch durchweg fehlt, sind Belege, die mit einiger Wahrscheinlichkeit die Lk-Priorität vermuten lassen könnten. Dies ist ein Einwand, der schon früh gegen die traditionelle Lk-Priorität vor Mcn vorgebracht wurde: Marcions angebliche Bearbeitung des Lk lässt sich am Ergebnis nicht ausweisen, sie ist schiere Behauptung, oder, wie bereits Semler formulierte, „Deklamation“, keine „ehrliche Historie“. 8 Methodisch bestätigt dieser literarkritische Befund die These der Marcioniten, dass Lk eine interpolierte Bearbeitung des „Evangeliums“ ist. Historisch lässt sich dies gut wahrscheinlich machen. Denn der Vorwurf gegen die Marcioniten ist auch gegenüber anderen „Häretikern“ bezeugt: Sie benutzen nur das Lk-Evangelium, verändern dies aber nach ihrem Gutdünken. 9 Vermutlich steht hinter diesen Vorwürfen ganz einfach die Beobachtung, dass es seit dem ausgehenden 2. Jh. Christen gab, die nur ein (verglichen mit dem kanonischen) defizitäres Lk-Evangelium benutzten, aber nicht das kanonische Vier-Evange- 8 J.S. Semler, Vorrede, in: Thomas Townsons Abhandlungen über die vier Evangelien. Mit vielen Zusätzen und einer Vorrede über Marcions Evangelium von J.S. Semler, Leipzig 1783 (62 S., unpag.), dort S. 26 die Kritik an Tertullians Beweisführung; vgl. zum Kontext Klinghardt, ebd. (Anm. 1), I 12 f.; 118 f. 9 Vgl. Origenes, Hom. in Lc 16,5 („es gibt unzählige Häresien, die das Evangelium nach Lukas rezipieren“); 20,2 (alle Häretiker, die das Evangelium nach Lukas rezipieren, „verachten, was darin geschrieben ist“). Nach Origenes, Cels. 2,27 gehören zu diesen häretischen Lk-Rezipienten neben den Marcioniten auch die Valentinianer und die Anhänger des Lukanus; nach Irenäus 3,15,1f benutzen die Valentinianer nur Lk, nicht aber Act. Überlieferungsgeschichte der kanonischen Evangelien 45 lium: Häretiker ist, wer eine andere Bibel hat als die Häresiologen. Der Streit zwischen den Repräsentanten der entstehenden katholischen Kirche und den „Häretikern“ ist daher in erster Linie ein Streit um die „wahre“ Schriftgrundlage; erst von da aus kommen dann auch die Auseinandersetzungen um die richtigen theologischen Überzeugungen in den Blick. Das heißt: Tertullian hat den Anspruch der Mcn-Priorität vor Lk für Marcion und die Marcioniten direkt bezeugt; diese Bearbeitungsrichtung lässt sich auch darüber hinaus historisch plausibel machen; am wichtigsten und entscheidend ist, dass sich die Mcn-Priorität durchweg literarkritisch erweisen lässt, wogegen der Alternative jede redaktionelle Plausibilität fehlt. Alles spricht dafür, dass Lk eine Bearbeitung und Ergänzung des älteren „Evangeliums“ ist: Mcn ist älter als Lk. 10 3. Die Mcn-Priorität und die Überlieferungsgeschichte der Evangelien Der Ort von Mcn in der Evangelienüberlieferung liegt demnach vor Lk, also an der gleichen überlieferungsgeschichtlichen Position, an der die Zwei-Quellentheorie mit Mk und „Q“ rechnet bzw. die „Markan Priority without Q“-Hypothese mit Mk und Mt. Von daher empfiehlt es sich, zunächst die Verhältnisse zwischen Mcn und Mk bzw. zwischen Mcn und Mt zu bestimmen. 3.1 Das Verhältnis von Mcn und Mk Ausgangspunkt ist das Verhältnis von Mcn und Mk. Es ergibt sich ziemlich einfach aus den Beobachtungen, die aus dem literarkritischen Vergleich zwischen Mk und Lk bekannt sind: Im Rahmen der Zwei-Quellentheorie mit der Mk-Priorität sind die großen Unterschiede im Textbestand zwischen beiden Evangelien als „Große Einschaltung“ und „Große Auslassung“ bekannt: Der Stoff Lk 9,51-18,14 hat keine Entsprechung in Mk und ist deswegen unter der Annahme der Mk-Priorität von Lk „eingeschaltet“ worden. Unter dieser Voraussetzung erscheint umgekehrt der Stoff von Mk 6,45-8,26 als „große Auslassung“ 10 Trotz der Unterschiede in den Konsequenzen wird diese grundlegende Einsicht geteilt z. B. von: J. BeDuhn, The First New Testament. Marcion’s Scriptural Canon, Salem, 2013; P. A. Gramaglia, Marcione e il Vangelo (di Luca). Un confronto con Matthias Klinghardt, Turin 2017; D.A. Smith, Marcion’s Gospel and the Synoptics. Proposals and Problems, in: J. Schröter u. a. (Hg.), Gospels and Gospel Traditions in the Second Century (BZNW 235), Berlin / New York 2019, 129-173; Markus Vinzent, Methodological Assumptions in the Reconstruction of Marcion’s Gospel (Mcn). The Example of the Lord’s Prayer, in: J. Heilmann / M. Klinghardt (Hg.), Das Neue Testament und sein Text im 2. Jahrhundert (TANZ 61), Tübingen 2018, 183-222. 46 Matthias Klinghardt durch Lk, weil er dort keine Entsprechung hat. Die beiden Begriffe geben also sehr deutlich die angenommene Bearbeitungsrichtung von Mk zu Lk zu erkennen, die beispielsweise für die Zwei-Quellentheorie grundlegend ist. Nun entsprechen sich Mcn und Lk in den hier zu diskutierenden Passagen weitgehend: Ein großer Teil des Stoffes von Lk 9,51-18,14 ist schon für Mcn bezeugt, wogegen Mcn keinerlei Kenntnis von Mk 6,45-8,26 zeigt. Zur Bestimmung der Bearbeitungsrichtung zwischen Mcn und Mk ist dann zu klären: Hat Mcn das weitläufige Material *9,51-*18,14 in eine (mk) Vorlage „eingeschaltet“ oder hat Mk diesen Stoff weggelassen? Und weiter: Hat Mcn den Stoff von Mk 6,45-8,26 „ausgelassen“ oder hat Mk ihn gegenüber Mcn ergänzt? Dieser Vergleich ist in mehrfacher Hinsicht lehrreich. Zunächst: Die Mk-Priorität vor Lk, von der die beiden großen Modelle (also: Zwei-Quellentheorie und die MPwQ-Hypothese) ja ausgehen, ist schon längst so selbstverständlich geworden, dass ihre Plausibilität an diesen beiden großen Bestandsunterschieden so gut wie gar nicht überprüft wird; hier gibt es also eine gravierende Begründungslücke. Versucht man sie zu schließen, wird zweitens sehr schnell deutlich, dass sich das Fehlen von Material nicht wirklich begründen lässt: Warum etwas nicht dasteht, kann man höchstens vermuten, aber nicht wahrscheinlich machen. 11 Für das vorliegende Problem stellt sich daher die Frage, welcher der beiden alternativen Vorgänge eine größere redaktionelle Plausibilität besitzt: Eine Einfügung von *9,51-18,14 in den Mk-Rahmen oder die Ergänzung von Mk 6,45-8,26 in den Mcn-Kontext? Diese Frage nach der größeren redaktionellen Plausibilität ist sehr eindeutig im zweiten Sinn zu beantworten: Mk hat Mcn bearbeitet und dafür (neben vielen anderen Änderungen) auch den äußerst sorgfältig komponierten Zusammenhang mit der Belehrung über rein und unrein und der zweiten Speisungserzählung neu geschaffen. 12 Für die umgekehrte Bearbeitungsrichtung (von Mk zu Mcn) ist es dagegen so gut wie unmöglich, hinter der möglichen Ergänzung von *9,51-18,14 ein redaktionelles Konzept zu entdecken. Die Bearbeitungsrichtung verläuft also von Mcn zu Mk, wie sich noch an etlichen weiteren Beispielen zeigen lässt. 13 3.2 Mcn, Mk und Mt Zu dieser Bearbeitungsrichtung von Mcn und Mk ist dann als nächstes Mt in Beziehung zu setzen. Auch dies ist ohne Schwierigkeiten möglich. Grundlegend 11 Auch der jüngste Einwand basiert i. W. auf diesem methodisch problematischen Argument, vgl. Smith, a. a. O. (Anm. 10), 145. 12 Vgl. Klinghardt, Boot und Brot. Zur Komposition von Mk 3,7-8,21, BThZ 19 (2002), 183- 202. 13 Vgl. ausführlicher Klinghardt, a. a. O. (Anm. 1), I 195-231. Überlieferungsgeschichte der kanonischen Evangelien 47 ist die Annahme, dass Mt primär eine redaktionelle Ergänzung und Bearbeitung von Mk ist; sie ist literarkritisch so gut begründet, dass sie zu Recht nie in Frage gestellt wird. 14 Unter dieser Voraussetzung der Mk-Priorität vor Mt ist der Fall klar: Mt hat Mk bearbeitet, indem er in diesen narrativen Rahmen zusätzlich Material aus Mcn eingearbeitet hat. Von der Struktur her ist dies ähnlich gedacht wie in der Zwei-Quellentheorie, die an Ergänzungen aus „Q“ denkt. Allerdings stammt ein großer Teil des Materials, das Mt in seine Hauptquelle Mk einarbeitet, nicht aus der rein hypothetischen Quelle „Q“, sondern aus dem gut bezeugten Evangelium aus Marcions Sammlung. Eine schlagende Begründung ergibt sich aus dem wichtigsten Beispiel, das zwischen den Vertretern der Zwei-Quellentheorie und der MPwQ-Hypothese strittig diskutiert wird, nämlich der Komposition der Bergpredigt. Deren Material, das in Lk auf rund ein Dutzend verschiedene Stellen verteilt ist, gehört ja zum allergrößten Teil der mt-lk Doppelüberlieferung an, wird also in der Zwei-Quellentheorie „Q“ zugerechnet. Die Zwei-Quellentheorie geht davon aus, dass Mt dieses „Q“-Material neu sortiert und redaktionell zu der großen Komposition der Bergpredigt verarbeitet habe: Lk rezipiert und bewahrt die ursprüngliche Verteilung dieses Stoffs in „Q“; Mt komponiert und organisiert die Verteilung neu. Der MPwQ-Hypothese erwächst dagegen aus der angenommenen Nachordnung von Lk nach Mk und Mt an dieser Stelle ein gravierendes Problem. Denn sie muss davon ausgehen, dass Lk die mt Bergpredigt aufgelöst und ihr Material (oft ohne erkennbaren Grund) auf ein Dutzend verschiedener Orte verteilt haben sollte. Das ist völlig unwahrscheinlich und wurde daher zu Recht wiederholt kritisiert: Ein solches Verfahren sei nur jemandem zuzutrauen, der sich auch anderweitig als literarischer Spinner („crank“) erwiesen habe 15 und sei ein Fall von „unscrambling the egg with a vengeance“. 16 Neben der Verarbeitung des Materials aus Mcn hat Mt allerdings noch eigene Ergänzungen vorgenommen. Ein instruktives Beispiel sind die sog. Kindheitserzählungen (Mt 1 f.), mit denen Mt seiner Jesusgeschichte wichtige Akzente verliehen hat. Die Zwei-Quellentheorie kann damit nicht viel anfangen. Denn obwohl Lk 1 f. in manchen Details sehr ähnlich ist und u. a. das vergleichbare 14 Das einzige Modell, das eine Mt-Priorität vor Mk annimmt, ist die sog. Two-Gospel Hypothese, die W.R. Farmer und andere in seiner Folge vertreten haben, vgl. ders., The Synoptic Problem, New York 2 1976; A.J. McNicol u. a. (Hg.), Beyond the Q Impasse, Valley Forge 1996. Dieses Modell beruht nicht auf literarkritischen Beobachtungen, sondern bewegt sich vollständig im Rahmen, der durch die Zwei-Quellentheorie vorgegeben ist, und versucht, deren Probleme durch die Umkehrung der grundlegenden Bearbeitungsrichtung zu vermeiden. 15 B.H. Streeter, The Four Gospels, London 1924, 183. 16 R.H. Fuller, The New Testament in Current Study, London 1963, 87. Vgl. dazu den Rettungsversuch von Goodacre, a. a. O. (Anm. 2), 81 f. 48 Matthias Klinghardt Ziel verfolgt, die Geburt Jesu in Bethlehem mit seiner Herkunft aus Nazareth zu vereinbaren, hat die Zwei-Quellentheorie die beiden sog. Kindheitsgeschichten einfach ignoriert, weil sie sich gegen die systemgerechte Lösung sperren: Sie sind viel zu unterschiedlich, um auf eine gemeinsame Quelle zurückgeführt zu werden. Andererseits sind die Entsprechungen viel zu deutlich, um sie für Zufall zu halten. Dagegen lässt sich sehr gut zeigen, dass dieses Material in Mt ursprünglich ist: Mt begründet damit die für ihn zentrale davidische Abkunft Jesu und führt das Thema seines legitimen Herrschaftsanspruchs in die Erzählung ein, mit dem er ja einen weiten redaktionellen Bogen bis zum Ende des Evangeliums schlägt. Lk ist von dieser Erzählung abhängig; er übernimmt einige wichtige Aspekte (z. B. die Verknüpfung der Geburt Jesu mit der Geschichte), korrigiert einige Angaben und wechselt für die zentralen Passagen (Verkündigung; Geburt) einfach die Erzählperspektive von Joseph zu Maria; auf diese Weise gibt es zum selben Ereignis zwei verschiedene Erzählungen. 3.3 Mcn, Joh und Lk In die Überlieferungsgeschichte gehört als nächste Station nicht Lk, sondern Joh. Die Dominanz der Zwei-Quellentheorie (vor allem in der deutschsprachigen Forschung) hat weitgehend verdeckt, dass es eine Reihe sehr wichtiger Gemeinsamkeiten zwischen Joh und Lk gegen Mk und Mt gibt, vor allem in der Passionsüberlieferung. Sie lassen sich nicht mit der Zwei-Quellentheorie vereinbaren. Der jüngste Lk-Kommentar konstatiert daher zu diesen lk-joh Entsprechungen: „Ein überlieferungsgeschichtliches Modell, das das Zustandekommen dieses Befundes so erklären könnte, dass keine offenen Fragen zurückblieben, gibt es nicht“. 17 In der Tat. Denn die Versuche, diese lk-joh Übereinstimmungen literarkritisch im Rahmen der Zwei-Quellentheorie zu erklären, postulieren bis zu fünf zusätzliche Quellen bzw. Bearbeitungsstufen: Das ist keine Lösung, sondern das Eingeständnis einer Aporie. 18 Eine naheliegende Konsequenz aus diesem Befund könnte ja darin liegen, auf das Korsett der Zwei-Quellentheorie zu verzichten und zunächst nur einfach diese lk-joh Entsprechungen ernst zu nehmen. Dieser Ansatz führt zu der Einsicht, dass Lk von Joh abhängig ist. 19 Obwohl er auf einer Reihe gewichtiger Beobachtungen beruht, hat er sich 17 M. Wolter, Das Lukasevangelium, Tübingen 2008, 691. 18 Z.B. H. Klein, Die lukanisch-johanneische Passionstradition, ZNW 67 (1976), 155-186; zuletzt F. Schleritt, Der vorjohanneische Passionsbericht (BZNW 154), Berlin u. a. 2007; vgl. Klinghardt, a. a. O. (Anm. 1), I 276-284. 19 Vgl. etwa B. Shellard, The Relationship of Luke and John: A Fresh Look at an Old Problem, JThS 46 (1995), 71-98; M. A. Matson, In Dialogue with Another Gospel? The Influence of the Fourth Gospel on the Passion Narrative of the Gospel of Luke (SBL.DS 178), Atlanta 2001. Überlieferungsgeschichte der kanonischen Evangelien 49 nicht durchsetzen können. Dies hängt vielleicht nicht nur mit der Dominanz der Zwei-Quellentheorie zusammen sondern auch mit der Heterogenität des Befundes. Denn einige der lk-joh Entsprechungen weisen sehr deutlich auf die Priorität des Lk vor Joh hin, z. B. der wunderbare Fischzug mit der Berufung bzw. Reinstallation des Petrus (Lk 5, Joh 21) oder die engen Analogien zwischen Lk 24 und Joh 20 f. Tatsächlich ist das Verhältnis zwischen Lk und Joh komplexer, als dass es mit der Annahme einfacher Abhängigkeit erklärt werden könnte, ganz gleich in welcher Bearbeitungsrichtung. Aber weil Mcn über weite Strecken mit Lk identisch und ein „Beinahe-Lk“ ist, konstituiert die Abfolge Mcn - Joh - Lk für Joh eine überlieferungsgeschichtliche Position zwischen „Beinahe-Lk“ und Lk: Für einige der Entsprechungen lässt sich die Abhängigkeit des Joh von Mcn zeigen, für andere die Abhängigkeit des Lk von Joh. Am deutlichsten ist Lk 24,12: Der Gang des Petrus zum leeren Grab ist ein Querverweis auf Joh 20,3-10, der die Kohärenz zwischen beiden Evangelien herstellt und zeigt, dass sie die gleiche Geschichte erzählen, wenn auch aus unterschiedlichen Perspektiven. 20 Da sich an vielen Stellen auch mt Einfluss auf Joh zeigen lässt (z. B. Mt 26,52f.; Joh 18,11.36 usw.), können die literarischen Beziehungen zwischen den Evangelien folgendermaßen zusammenfasst werden: Fig. 1: Die nachweisbaren Bearbeitungsrelationen zwischen den Evangelien In dieses Diagramm sind alle Bearbeitungsrelationen eingezeichnet, die sich nachweisen lassen. 21 Dies lässt das Modell komplizierter erscheinen, als es ist: Es handelt sich um eine einfache Abfolge von Mcn über Mk, Mt und Joh bis zu Lk, bei der jede spätere Überlieferungsstufe Kenntnis von allen vorangehenden Texten besitzt und sie benutzt. 20 Vgl. ausführlicher Klinghardt, a. a. O. (Anm. 1), I 272-310; das Beispiel 293 f. 21 Die einzige Relation, die sich nicht konkret zeigen lässt, ist der Einfluss von Mk auf Joh. Das heißt natürlich nicht, dass Joh Mk nicht kannte. 50 Matthias Klinghardt 3.4 Die kanonische Redaktion der Evangelien Allerdings zeigt dieses Diagramm nur die Genese der Texte auf den einzelnen Stufen der Evangelienüberlieferung mit ihren jeweiligen Quellen. Tatsächlich leistet das Modell sehr viel mehr. Denn wenn jede Überlieferungsstufe jeweils alle älteren Texte kennt und benutzt, dann wirft dieses Modell deutlicher als alle anderen die Frage nach dem Zusammenhang zwischen den Ausgangstexten und der jeweiligen Bearbeitung auf: Will die Bearbeitung die Ausgangstexte ersetzen oder zu ihnen hinzutreten? Da es vier Bearbeitungsstufen gibt, gibt es theoretisch vier Antworten, die wir allerdings nicht alle hinreichend genau begründen können. Bei der letzten Stufe ist dies anders. Denn die lk Bearbeitung von Mcn, die den Gang der Überlieferung abschließt, hat nicht einfach ein neues (oder: neu bearbeitetes) Evangelium geschaffen, sondern eine Evangelien sammlung . Eine solche Sammlung ist schon für die zweite Bearbeitungsstufe (Mt neben Mcn und Mk) gut denkbar, für die dritte Stufe ( Joh neben Mcn, Mk und Mt) ist sie wahrscheinlich, für die letzte Stufe der vier kanonischen Evangelien lässt sie sich sehr deutlich zeigen. Denn diese sind von einer Hand bearbeitet worden, wie man beispielsweise an den Datierungen der Auferstehung Jesu in den sog. Leidensweissagungen zeigen kann: Diese vereinheitlichende Bearbeitung hat die ursprüngliche Datierung „nach drei Tagen“ durch das zum Gang der Erzählung besser passende „am dritten Tag“ ersetzt - und zwar in allen synoptischen Evangelien. 22 Diese redaktionelle Vereinheitlichung ist sinnvollerweise mit der lk Redaktion zu identifizieren. Natürlich lässt sich das nicht wirklich beweisen, sondern nur methodisch begründen. Denn wollte man hier verschiedene Bearbeiterhände am Werk sehen, müsste man zusätzliche Redaktionen postulieren. Das ist zwar grundsätzlich möglich, aber nach dem methodischen Sparsamkeitsprinzip unzulässig. Einfacher und deswegen wahrscheinlicher ist die Annahme: Die lk Redaktion hat nicht nur das marcionitische Evangelium intensiv bearbeitet, sondern auch die Vier-Evangeliensammlung in der uns bekannten Form geschaffen. 22 Die jeweils anderen Formulierungen haben sich noch in den handschriftlichen Varianten bewahrt. Zu den Einzelheiten der handschriftlichen Bezeugung und ihrer Interpretation vgl. Klinghardt, a. a. O. (Anm. 1), I 321 f. Überlieferungsgeschichte der kanonischen Evangelien 51 Fig. 2: Die Überlieferung der Evangelien und ihre kanonische Redaktion Aufgrund der formalen Einheitlichkeit ist es sehr wahrscheinlich, dass diese letzte, vereinheitlichende Redaktion auch für die Gestaltung der Titel mit den Verfasserangaben verantwortlich ist. Zur Unterscheidung von der kanonischen Endstufe sind die älteren Fassungen hier mit einem * markiert. Eine genaue Unterscheidung zwischen der vorkanonischen und der kanonischen Fassung ist nur für Mcn/ Lk möglich. Die Gestalt der anderen vorkanonischen Evangelien (*Mk, *Mt, *Joh) lässt sich dagegen nur an einigen, wenigen Stellen aufgrund textkritischer Erwägungen zeigen; immerhin kann man mit guten Gründen vermuten, dass beispielsweise der sog. „Lange Markusschluss“ zu den redaktionellen Veränderungen gehört. 23 Die methodischen Einsichten, die diesen Überlegungen zugrunde liegen, ergeben sich aus der Mcn-Priorität und haben weitreichende Konsequenzen für die Textkritik. 24 4 Einige Schlussfolgerungen Dies ist, in aller gebotenen Knappheit, die These. Eine weitere Begründung könnte nur wiederholen, was an anderer Stelle sehr ausführlich entfaltet ist. Aus diesem Grund schließe ich einige allgemeinere Überlegungen an. Sie dienen 23 A. a. O., I 313 f. 24 Zum Zusammenhang von Überlieferungs- und Textgeschichte vgl. a. a. O. I 78-113; ders., Die Schrift und die hellen Gründe der textkritischen Vernunft, ZNT 20. Jg. (2017) Heft 39/ 40, 85-104. Zur Diskussion vgl. T.J. Bauer, Das ‚Evangelium des Markion‘ und die Vetus Latina, ZAC 21 (2017) 73-89; U.B. Schmid, Das marcionitische Evangelium und die (Text-)Überlieferung der Evangelien. Eine Auseinandersetzung mit dem Entwurf von Matthias Klinghardt, ZAC 21 (2017), 90-109; sowie die Replik M. Klinghardt, Das marcionitische Evangelium und die Textgeschichte des Neuen Testaments, ZAC 21 (2017), 110-120. 52 Matthias Klinghardt vor allem dazu, die Besonderheiten dieses Modells im Vergleich mit anderen deutlich zu machen. 4.1 Die Leistungen des Modells Der Anspruch, dass das hier skizzierte Modell den anderen synoptischen Theorien überlegen ist, beruht nicht auf deren Schwächen, 25 sondern darauf, dass es von einer anderen Konstellation ausgeht und mit dem ältesten Evangelium einen entscheidenden Faktor mitberücksichtigt, der für die anderen Modelle keine Rolle spielt. Dabei ist leicht erkennbar, dass dieses Modell alle Anforderungen erfüllt, die an eine Lösung des Synoptischen Problems zu stellen sind, nämlich die Erklärung der komplexen literarischen Beziehungen zwischen den Synoptikern. Dies gelingt problemlos, und zwar ohne die schwer erklärbaren Reste, die bei den anderen Modellen bleiben. Für die Zwei-Quellentheorie sind dies die „Minor Agreements“; weil sie einen literarischen Zusammenhang zwischen Mt und Lk voraussetzen, konstituieren sie einen Selbstwiderspruch zu dieser Theorie und heben ihre methodische Grundlage auf: Das ist fatal. Aber im Modell der Mcn-Priorität sind diese Übereinstimmungen zwischen Mt und Lk gegen Mk leicht erklärbar. 26 Sie haben verschiedene Ursachen: Zum einen gibt es Beispiele, in denen Mt und Lk den Text aus Mcn gemeinsam und unverändert übernehmen, wogegen Mk die Formulierung aus Mcn ändert; so lässt Mk 1,40 die kyrios -Anrede weg, die Mt 8,2 und Lk 5,12 aus Mcn übernehmen. Daneben gibt es Fälle, in denen Mk seiner Vorlage (Mcn) folgt, wogegen Mt die Formulierung ändert und Lk diese Änderung übernimmt; ein Beispiel ist die Bezeichnung der Trage des Gelähmten: Mcn und Mk bezeichnen sie mit dem seltenen Wort krabbatos , während Mt und in seiner Folge Lk das gebräuchlichere klinē bzw. klinidion verwenden. 27 Und umgekehrt: Obwohl das hier vertretene Modell ähnlich wie die MPwQ- Hypothese die Mt-Priorität vor Lk voraussetzt, löst sich auch das Problem, dass das Material der mt Bergpredigt bei Lk weniger nachvollziehbar verteilt ist, ohne die Annahme, dass Lk ein literarischer Spinner gewesen sein müsste. Denn Lk folgt eben in erster Linie nicht Mt, sondern Mcn und übernimmt dessen Ako- 25 Es ist ein auffälliges Phänomen, dass in der (ja nun schon seit vielen Jahrzehnten andauernden) Debatte dieser Modelle jeweils die Kritik am anderen Modell sehr viel überzeugender ausfällt als die eigene Lösung, vgl. M. Klinghardt, The Marcionite Gospel and the Synoptic Problem: A New Suggestion, NT 50 (2008) 1-27, hier 1-4. 26 Dass dieses Phänomen nur aus dem eklektischen Text der kritischen Ausgaben zu erheben sei, nicht aber aus den Handschriften (so A. Standhartinger, ThLZ 112 [2016], 385-388, hier 387), ist mit Sicherheit ein Irrtum. 27 Vgl. Mk 2,4.9.12; Mt 9,2.6; Lk 5,18f.24. Tatsächlich gibt es noch weitere Möglichkeiten für das Zustandekommen solcher Übereinstimmungen, vgl. Klinghardt, a. a. O. (Anm. 1), I 234-245. Überlieferungsgeschichte der kanonischen Evangelien 53 luthie. Auf diese Weise werden dann auch die sehr komplexen Probleme durchsichtig, wie sie etwa die Dreifachüberlieferung innerhalb der Bergpredigt aufwirft. Ein Beispiel ist das Bildwort vom Licht, das ursprünglich aus Mcn stammt (*11,33), hier in Verbindung mit dem Wort vom Auge als Licht des Körpers. Mk 4,21 hat es in den neuen Kontext der Gleichnisrede gestellt, um daran deutlich zu machen, dass alles Verborgene offenbar werden muss. Mt hat das Bildwort aber nicht in diesem mk Kontext übernommen (es hätte seinen Ort nach Mt 13,23 gehabt), sondern hat ihm in der Bergpredigt eine neue prominente Stellung gegeben: Es erläutert die Funktion der Jünger als „Licht der Welt“ (Mt 5,15). Lk rezipiert sowohl den ursprünglichen Kontext aus Mcn (Lk 11,33) als auch die mk Deutung im Kontext der Gleichnisrede (Lk 8,16) und schafft so eine Dublette. Für alle diese Fälle liegt die Erklärung in der sich steigernden Komplexität der Überlieferung. Indem das Modell sowohl mit der Benutzung der Evangelien untereinander rechnet (auch mit der von Mt durch Lk! ), als auch mit Mcn eine gemeinsame Vorlage annimmt, verbindet es Aspekte beider Erklärungstypen. Mit anderen Worten: Mit der Berücksichtigung des ältesten Evangeliums ist das Synoptische Problem gelöst. Aber das ist nicht alles: Auch Joh ist Teil dieses Modells, und zwar ein notwendiger Teil. Man kann die Fokussierung der Forschung auf das synoptische Problem zwar nachvollziehen, aber sie ist eine methodisch und sachlich nicht gerechtfertigte Engführung und hat sich als erhebliches Forschungshindernis erwiesen: Für das „Synoptische Problem“ und die sog. „Johanneische Frage“ haben sich je eigene Diskursuniversen entwickelt, deren Ergebnisse kaum aufeinander bezogen wurden; zum Nachteil für beide Bereiche. Stattdessen hat die überlieferungsgeschichtliche Position des Joh zwischen Mcn und Lk deutlich gemacht, dass Joh mitten in die synoptischen Beziehungen hineingehört. Das heißt aber: Ein Modell der literarischen Beziehungen der Evangelien, das sich aus Gründen der Komplexitätsreduktion ausschließlich auf die Synoptiker konzentriert, ist gar nicht möglich. Man kann nicht erst das „Synoptische Problem“ lösen wollen und dann sehen, ob und wie sich Joh zu dieser Lösung verhält. Aus diesem Grund sind alle synoptischen Theorien durch das weiterreichende Modell der Überlieferungsgeschichte der Evangelien zu ersetzen. Wie umfassend dieses Modell zu denken ist, ist schon angeklungen. Denn die Texte, die zunächst in der Rezeption und Bearbeitung von Mcn entstanden sind, sind (noch) nicht mit den kanonischen Evangelien identisch; vielmehr wurden sie am Ende von einer Hand bearbeitet: Ihre jetzige literarische Gestalt haben die Evangelien erst in diesem letzten Schritt der „kanonischen Redaktion“ erhalten (s. o., Fig. 2). Auch dieser Schritt ist nicht einfach eine additive Erweiterung des etwas schlichteren Modells der einzelnen Bearbeitungsstufen (wie in Fig. 1), sondern ein integraler Teil davon. Denn die lk Redaktion von 54 Matthias Klinghardt Mcn ist identisch mit dieser abschließenden kanonischen Redaktion. Diese Bezeichnung soll andeuten, dass diese Bearbeitung sehr viel mehr geleistet hat als nur eine Harmonisierung der einzelnen Evangelien. Denn der Lk-Prolog (Lk 1,1-4), der ja erst von dieser Redaktion geschaffen wurde, bildet das prominente Gegenstück zum Act-Prolog (Act 1,1-3) und konstituiert auf diese Weise die Zusammengehörigkeit und Einheit des „Doppelwerks“ Lk-Act. Damit hat die kanonische Redaktion eine Verbindung zwischen der kompletten Jesusüberlieferung und der Paulustradition im Horizont der apostolischen Geschichte hergestellt: Dies ist das narrative Rückgrat des Neuen Testaments. Daher ist dieser finale Akt der Überlieferungsgeschichte der Evangelien am einfachsten mit der Endgestalt der kanonischen Ausgabe des Neuen Testaments zusammenzudenken. 28 Mit anderen Worten: Eine befriedigende Erklärung für die literarischen Beziehungen zwischen den synoptischen Evangelien ist nur im Rahmen einer Überlieferungsgeschichte aller Evangelien möglich, die mit dem ältesten, vorkanonischen Evangelium beginnt und ihren Abschluss in der Endredaktion des Neuen Testaments findet. 4.2 Methodisches Die methodischen Grundlagen des Modells sind überraschend schlicht: Es beruht durchweg - und das heißt: für alle einzelnen Bearbeitungsschritte - auf einer literarkritischen Analyse. Die ist seit über 150 Jahren erprobt, bewährt und unstrittig. Allerdings wird sie de facto kaum noch angewandt, weil die Diskussion sich schon seit geraumer Zeit nur noch mit der Plausibilität der Modelle beschäftigt und einzelne Phänomene kaum noch zur Kenntnis nimmt. Deswegen zur Erinnerung: Wenn zwei Texte aufgrund ihrer engen und teilweise wortwörtlichen Übereinstimmungen unstrittig literarisch miteinander zusammenhängen, dann gibt es für die Beschreibung dieses Zusammenhangs genau drei Möglichkeiten: A ist von B abhängig; B ist von A abhängig; A und B sind von C abhängig. Diese letzte Möglichkeit darf methodisch nur dann in Erwägung gezogen werden, wenn zwingende Gründe die Vermittlung beider Texte über eine dritte Instanz erforderlich machen; diese Überlegung liegt bekanntlich der Zwei-Quellentheorie zugrunde. Aber für die hier besprochenen Bearbeitungsrelationen hat sie sich als überflüssig erwiesen: Sie alle lassen sich als direkte 28 Am einfachsten und überzeugendsten ist D. Trobisch, Die Endredaktion des Neuen Testaments. Eine Untersuchung zur Entstehung der christlichen Bibel (NTOA 31), Freiburg 1996; zur Rezeption vgl. J. Heilmann, Die These einer editio princeps des Neuen Testaments im Spiegel der Forschungsdiskussion der letzten zwei Jahrzehnte, in: ders. / M. Klinghardt (Hg.), Das Neue Testament und sein Text im 2. Jh. (TANZ 61), Tübingen 2018, 21-56. Überlieferungsgeschichte der kanonischen Evangelien 55 literarische Abhängigkeit beschreiben. Ob A von B oder B von A abhängig ist, bestimmt sich nach dem Kriterium der größeren redaktionellen Plausibilität: Die Bearbeitungsrichtung muss sich anhand der höheren Kohärenz des bearbeiteten Textes plausibilisieren lassen. Die Frage nach der Bearbeitungsrichtung lässt sich für jede einzelne Stelle, aber auch für die Texte als ganze stellen und in aller Regel einigermaßen eindeutig beantworten: Die einzelnen Veränderungen konstituieren ein kohärentes, redaktionelles Konzept. Drei ergänzende Hinweise sind sinnvoll. Erstens kann eine eindeutige Bestimmung der Bearbeitungsrichtung zwischen zwei Texten nie ausschließlich aufgrund dieser Texte allein erhoben werden. Ihre diachrone Zuordnung erfordert also zusätzliche Informationen, in der Regel die eindeutige Wahrnehmung von Kohärenz oder eine Vorstellung von der gesamten Entwicklung; insofern ist das Verfahren nicht frei von zirkulären Elementen. Diese Zirkularität im Verhältnis von Teilrekonstruktion und Gesamtbild ist unvermeidbar und muss deshalb bewusst gehalten werden. Das gilt vor allem dann, wenn das Ergebnis einer literarkritischen Analyse nicht zu einem vertraut gewordenen Gesamtbild passt. Dies ist z. B. bei der Vorordnung von Joh vor Lk der Fall: Obwohl sich die Belege für diese Bearbeitungsrichtung aus der Passionsgeschichte kaum widerlegen lassen, konnte sie sich aber nicht durchsetzen, weil die Zwei-Quellentheorie das Gesamtbild dominiert hat. In diesem Fall könnte das Bewusstsein der unvermeidbaren Zirkularität die Neigung zur Korrektur des vorausgesetzten Gesamtbildes erhöhen. Zweitens zeigt die beginnende Diskussion, wie schwer es ist, die gewohnten Denkbahnen zu verlassen. Denn wenn man tatsächlich nicht nur einzelne Aspekte der Zwei-Quellentheorie kritisiert, sondern sie grundsätzlich in Frage stellt, dann muss man auch auf alle Argumente verzichten, die sich erst in ihrer Folge ergeben. Das gilt zuerst für den Gebrauch bestimmter Bezeichnungen (z. B. „Q“), aber auch für Beobachtungen (zu Sprache, Stil, theologische Eigentümlichkeiten), die unter einer bestimmten Perspektive gemacht wurden und sich längst verselbständigt haben: Wenn man die synoptischen Theorien hinterfragen will, muss man auch forschungsgeschichtlich hinter die Etablierung Zwei-Quellentheorie zurückgehen und zunächst einmal auf alle Argumentationsmechanismen verzichten, die erst unter ihrer Geltung entwickelt wurden. Das ist mehr, als auf den ersten Blick erkennbar ist, und das kann ungewohnt sein. Noch ungewohnter mag drittens die Mcn-Priorität vor Lk erscheinen, die ja die Grundlage des ganzen Modells ist. Sie steht Harnacks Position, die im 20. Jh. fast uneingeschränkt in Geltung stand, diametral entgegen und könnte deswegen Verwunderung hervorrufen. Verwunderlich ist allerdings nicht die Kritik an Harnack, sondern der Umstand, dass er die für ihn alles entscheidende Lk-Prio- 56 Matthias Klinghardt rität so völlig fraglos und unkritisch einfach behauptet hat: Er hielt sie keiner Begründung für wert! 29 Harnacks Versäumnis ist inakzeptabel und schon deshalb gravierend, weil es seiner eigenen Marcioninterpretation jede Grundlage entzieht: Sein Bild von Marcion als Reformator und Bearbeiter der Evangelien und der Paulusbriefe ist ein reines Wunsch- und Trugbild. Sehr viel gravierender sind die Folgen für das Synoptische Problem bzw. die Rekonstruktion der Überlieferungsgeschichte der Evangelien, weil die Mcn-Priorität deren Voraussetzungen verändert. Diese grundlegende Bestimmung der Bearbeitungsrichtung zwischen Mcn und Lk beruht auf der literarkritischen Analyse und dem Kriterium der größeren redaktionellen Plausibilität. Dementsprechend wäre sie nur aus redaktionellen Gründen zu erschüttern; das ist aber schwer vorstellbar (und bislang auch nicht versucht worden). 30 4.3 Schriftlichkeit der Überlieferung Die literarkritische Analyse der Beziehungen zwischen den Evangelien zeigt ein staunenswertes Ausmaß an detaillierter Schriftlichkeit. Gerade angesichts der sich steigernden Komplexität der Quellennutzung lässt sich zeigen, dass die redaktionelle Arbeit mehrere Texte gleichzeitig verglichen und genutzt hat. Hätte es in der Antike Schreibtische gegeben, müsste man sagen: Die Ausarbeitung der Evangelienüberlieferung ist eine hoch konzentrierte Schreibtischarbeit, die es vor allem in den letzten Stadien der Überlieferung erfordert, dass mehrere Quellen synoptisch wahrgenommen und bei der redaktionellen Weiterführung auch permanent gleichzeitig im Blick behalten werden. Eine Rezensentin bemängelte, dass dieses „Modell der Evangelienentstehung […] nicht mit den Bedingungen antiker Textproduktion und Rezeption“ rechne. 31 Aber anstatt die 29 Harnack, a. a. O. (Anm. 5), 240*: „Daß das Evangelium Marcions nichts anderes ist[,] als was das altkirchliche Urteil von ihm behauptet hat, nämlich ein verfälschter Lukas, darüber braucht kein Wort mehr verloren zu werden“. Auf den über 700 Seiten taucht dieses Problem tatsächlich nicht mehr auf. Das ist deswegen bemerkenswert, weil Harnack die hitzige Auseinandersetzung über diese Frage kannte, die um 1850 die Gemüter bewegt hatte. Allerdings hat er (als 19-Jähriger) von dieser Debatte lediglich einige Aspekte für seine berühmte „Preisschrift“ zur Kenntnis genommen - und auch dies, wie er selbst bekennt, nur oberflächlich, eklektisch und aus zweiter Hand (ders., Marcion. Der moderne Gläubige des 2. Jahrhunderts, der erste Reformator; die Dorpater Preisschrift (1870), Berlin 2003, 122 f.). 30 Auf die Kritik an den textkritischen Implikationen habe ich bereits repliziert (s. dazu die Arbeiten in ZAC, o. Anm. 24); sie können die Mcn-Priorität ebenso wenig in Frage stellen wie die Einwände, die H. Scherer (Königsvolk und Gotteskinder, Göttingen 2016, 50-69) gegen die überlieferungsgeschichtlichen Implikationen dieses Modells erhoben hat. 31 A. Standhartinger, a. a. O. (s. o. Anm. 26), 387. Der Einwand (der übrigens jedes synoptische Modell träfe, das mit literarischer Abhängigkeit rechnet, also etwa die Zwei-Quellentheorie) ist leicht zu widerlegen, vgl. etwa T. Dorandi, Den Autoren über die Schulter Überlieferungsgeschichte der kanonischen Evangelien 57 Evangelienüberlieferung allgemeinen Vorstellungen davon, was in der Antike möglich oder üblich ist, zu unterwerfen, wäre es sinnvoller (und wissenschaftlich angemessen), von den nachweisbaren Phänomenen der Überlieferungsgeschichte auszugehen und von da aus auf die Produktionsbedingungen zu schließen. In diesem Fall lässt sich von der Überlieferungsgeschichte der Evangelien einiges lernen, und zwar nicht nur für die Evangelien, sondern auch für die Bedingungen antiker Textproduktion. Die wichtigste Lerneinsicht bezieht sich auf die sog. „mündliche Überlieferung“: Das skizzierte Modell kommt vollständig ohne sie aus und kann alle Auffälligkeiten der Überlieferungsgeschichte von Mcn bis Lk als literarische Phänomene der Redaktion von Texten erklären. Dies bedeutet nicht, dass es so etwas wie mündliche Überlieferung nicht gegeben haben könnte; wohl aber, dass sie keinen prägenden Einfluss auf die Überlieferung genommen hat. Weil die Annahme von Mündlichkeit zur Erklärung der Überlieferung mit ihren redaktionellen Veränderungen überflüssig ist, ist es methodisch unzulässig, sie zu diesem Zweck zu postulieren. Diese Einsicht gilt im Übrigen für alle synoptischen Theorien, sofern sie an den literarischen Beziehungen zwischen Texten interessiert sind und literarkritisch arbeiten. Denn die Annahme mündlicher Überlieferung stellt für jede literarische Analyse eine metabasis eis allo genos dar und ist aus diesem Grund methodisch unzulässig, wie bei Aristoteles zu lernen ist; dies gilt gleichermaßen für die ältere Formgeschichte (Bultmann, Dibelius, Schmidt) wie für ihre modernen Nachfahren. Wenn man allerdings sieht, dass die Annahme von Mündlichkeit methodisch problematisch und zur Erklärung der Evangelienüberlieferung überflüssig ist, stellt sich unweigerlich die Frage: Welche ideologischen Bedürfnisse bedient die Erfindung von „Mündlichkeit“ eigentlich? 4.4 Kohärente Vielstimmigkeit Das hier vorgestellte Modell erfasst zugleich mit der Geschichte der Entstehung der einzelnen Evangelien auch die Geschichte ihrer Sammlung , und zwar vom Anfang bis zur letzten Stufe der Kanonischen Ausgabe. Weil dieser Aspekt weit über die Erklärungsleistungen aller anderen synoptischen Theorien (oder Hypothesen) hinausgeht, sollen seine theologischen Implikationen wenigstens angedeutet werden. Zunächst ist es gar nicht einfach, diesen komplexen Prozess einigermaßen korrekt zu erfassen: Das Verfahren lässt sich nur beschreiben, weil die Literaturwissenschaft dafür keinen Begriff hat. Der Ansatz bei dem ältesten, vorkanonischen geschaut. Arbeitsweise und Autographie bei den antiken Schriftstellern, ZPE 87 (1991), 11-33. 58 Matthias Klinghardt Evangelium gibt zu erkennen, dass die Evangelien sukzessive zu den anderen hinzugetreten sind, diese aber nicht ersetzen oder verdrängen wollten. Die erste und einzig nachweisbare Verdrängung, die einen Konkurrenzanspruch impliziert, ist die lk Bearbeitung von Mcn. Sie ist nicht geräuschlos vor sich gegangen, sondern hat in den Auseinandersetzungen zwischen der entstehenden Kirche und den „Häretikern mit der falschen Bibel“ (s. o., Anm. 9) ein noch lange vernehmliches Echo hervorgerufen. Diese Ergänzung der Sammlung ist eine Fort schreibung, aber keine Über schreibung: Auch wenn die jüngeren Evangelien „Literatur auf zweiter Stufe“ sind, sind sie doch keine Palimpseste im Sinn Genettes, in denen der Ausgangstext nur noch vage erkennbar ist: Die vorangehenden Überlieferungsstufen werden in der Sammlung (fast unverändert) präsent gehalten. 32 Weil diese Fortschreibung innerhalb der Sammlung stattfindet, sind die Vorlagen, auf die sich die jüngeren Evangelien beziehen, nicht andere Texte, sondern andere Teile desselben Textes : Die literarischen Beziehungen zwischen den Evangelien konstituieren nicht Intertextualität, sondern Kohärenz zwischen einzelnen Textteilen also Intra textualität. Wenn die Bearbeitungen jeweils neben ihre Vorlagen treten und mit ihnen zusammen rezipiert werden, dann richten sie sich immer an dieselben (impliziten und realen) Leser. Die Annahme, dass die Evangelien für eng definierte Lesergruppen („Gemeinde des Matthäus“ usw.) verfasst wurden, ist schon länger und zu Recht bezweifelt worden. 33 Jetzt lässt sie sich durch das überlieferungsgeschichtliche Modell widerlegen. Genau genommen findet die Fortschreibung nicht nur innerhalb der Sammlung statt, sondern auch für die Sammlung. Abgesehen von Mcn (und vielleicht von Mk) haben die Evangelien nie als Einzeltexte existiert und sind auch nicht als solche rezipiert worden: Es „gibt“ sie nur als Teil der Sammlung, weil sie von vornherein als Ergänzung einer Sammlung konzipiert und verfasst wurden. Das verändert den gewohnten Textbegriff nicht unerheblich. Zum Beispiel: Das Lukasevangelium (oder auch das „lukanische Doppelwerk“) gibt es nicht - und gab es nie! - ohne den Kontext des gesamten Neuen Testaments. Die Annahme, dass das Lukasevangelium (oder das Doppelwerk) ursprünglich als isolierter Einzeltext existierte und irgendwann in die Sammlung des NT integriert wurde, hat nicht nur die literarkritischen Beobachtungen zur Entstehung der Evangeliensammlung gegen sich, sondern ist auch methodisch nicht haltbar: Sie verstößt gegen das Gesetz der Sparsamkeit, weil sie ohne Not eine zusätzliche Größe postuliert. Und schließlich: Die ergänzende Fortschreibung der Evangeliensammlung ist etwas anderes als ein Anhang oder ein Nachwort, das der Neuauflage eines Wer- 32 G. Genette, Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe (es 1683), Frankfurt 1993. 33 R. Bauckham (Hg.), The Gospels for All Christians. Rethinking the Gospel Audiences, Edinburgh 1998. Überlieferungsgeschichte der kanonischen Evangelien 59 kes beigegeben wird. Vielmehr erzählt sie die gleiche Geschichte immer wieder neu. Dabei und dadurch verändert sie ihre Vorlage(n). „Dabei“ und „dadurch“ sind zu unterscheiden. Die Veränderungen an den älteren Texten, die durch den Redaktionsprozess entstanden sind, lassen sich relativ leicht beschreiben, weil die älteren Evangelien (zumindest auf der letzten Stufe) ja auch direkt redaktionell bearbeitet und verändert wurden. Zu diesen Veränderungen gehören beispielsweise die Ergänzung des „Langen Markusschlusses“, aber auch - genauso raffiniert, wichtig und aufschlussreich - die Evangelienüberschriften. Sie alle behalten den ursprünglichen Titel von Mcn bei („Evangelium“), aber sie ergänzen ihn durch die Namen der Gewährsleute: Es bleibt immer dasselbe „Evangelium“, aber die Gewährsleute, „nach“ denen dieses Evangelium mitgeteilt wird, repräsentieren verschiedene Perspektiven, die sich durch die weiteren Angaben der Kanonischen Ausgabe profilieren lassen: Matthäus war der von Jesus berufene Zöllner (Mt 9,9), Markus der „Sohn“ des Petrus und die Stütze des Paulus (1 Petr 5,13; 2 Tim 4,11 usw.), Lukas der Arzt und Paulusbegleiter (Kol 4,14 usw.), Johannes der „Jünger, den Jesus liebte“ ( Joh 21,24). Sehr viel schwieriger ist zu beschreiben, wie sich die Semantik einer Geschichte dadurch verändert, dass eine zweite (dritte, vierte) Fassung derselben Geschichte daneben gestellt wird. Auch hier geht es um Multiperspektivität und um die selbständige Kombination von Elementen verschiedener Erzählungen zu einer Einheit, die so gar nie erzählt (sondern nur durch die Leser geleistet) wird. In vielen Fällen ist das völlig problemlos. Die Krippenspieltradition zeigt, dass auch Laien ohne Schwierigkeiten die „Weisen aus dem Morgenland“ und die „Hirten auf dem Felde“ zusammenlesen und mögliche Unterschiede ausgleichen können. 34 Die meisten Differenzen zwischen den Evangelien lassen sich auf diese Weise lösen, auch wenn manchmal mehr Nachdenken erforderlich ist: Muss der Messias aus Bethlehem kommen oder nicht? Hat Jesus die Apostel zu den Heiden gesandt oder nicht? Ist er ein Davidide oder nicht? Hat Jesus die Befolgung des Gesetzes eingeschränkt oder verschärft? Wann hat er Petrus zum Menschenfischer berufen? Und so weiter. Wenn sich ein Widerspruch nicht auflösen lässt, wie im Fall des unterschiedlichen Kreuzigungstermins bei Joh und den Synoptikern, ist dies möglicherweise Absicht. Auch dies erfordert eine hohe Eigenbeteiligung der Leser bei der Sinnkonstitution: Das Lektürekonzept der Evangelien ist anspruchsvoll. 34 Z.B. das Verhältnis zwischen der Darstellung Jesu im Tempel (Lk 2,22-40) und der Flucht nach Ägypten (Mt 2,13-18): Die Perikopenordnung der EKD stellt am 1. Sonntag nach dem Christfest (1. Reihe) beide Texte als Evangelium und als Predigttext unmittelbar nebeneinander - und damit die Prediger vor die Aufgabe, beides miteinander zu kombinieren. Wer das Problem bemerkt, kann es widerspruchsfrei zu einem schlichten Nacheinander ordnen. Erst die Darstellung, anschließend die Flucht nach Ägypten. 60 Matthias Klinghardt Damit lässt sich das theologische Hauptproblem klären, das die Evangelien aufwerfen: Warum gibt es vier davon? Diese Vielstimmigkeit ist nicht das Resultat einer zufälligen Zusammenstellung einzelner Texte, sondern sie ist ein konstitutives Element dieser Sammlung, das bereits der Genese der Evangelien eingeschrieben ist. Daher ist die kanonische Interpretation der Evangelien nicht nur eine theologische, sondern auch eine historische Aufgabe. Diese Sammlung repräsentiert „ökumenische Weite“, auch wenn diese Weite nicht geographisch (Syrien, Rom, Alexandria usw.) oder sozial (bestimmte „Gemeinden“) zu verstehen ist, sondern literarisch: Die Vielstimmigkeit macht verschiedene semantische Angebote. Zugleich zwingt sie zur Schriftauslegung - und hebt damit die Anforderung an jede theologische Kommunikation dauerhaft auf eine neue Ebene: Was unverfügbare Geltung besitzt, steht nicht einfach unverrückbar da, sodass man es einfach ablesen könnte. Wahrheit ergibt sich vielmehr nur aus der Sinnkonstitution der Auslegung, von der sie in gleicher Weise Freiheit und Verpflichtung bezieht. 35 Der Lk-Prolog (Lk 1,1-4) begründet die Mehrstimmigkeit: Es muss mehr als ein Evangelium geben! Obwohl die Argumentation einen exklusiven Anspruch vertritt („Viele haben es versucht […] aber jetzt schreibe ich alles richtig auf “), ersetzt das Lk-Evangelium die anderen drei Evangelien nicht, sondern stellt sich neben sie. Der Joh-Epilog ( Joh 21,25) begründet diese Vielstimmigkeit inhaltlich („Jesus hat noch viele andere Dinge getan […]“) und begrenzt sie zugleich. Denn „Die Welt würde die Bücher nicht fassen […]“ will ja sagen: Vier - und zwar: diese vier! - sind genug! Der Lk-Prolog und der Joh-Epilog wurden erst von der letzten Stufe der kanonischen Redaktion geschaffen. Dass sie literarisch miteinander zusammenhängen und aufeinander verweisen, kommt allerdings im Rahmen einer (nur) synoptischen Theorie gar nicht in den Blick: Das reflektierte Konzept, das die vier Evangelien zu einer Einheit verbindet, wird nur unter der Perspektive einer Überlieferungsgeschichte aller Evangelien sichtbar. 35 Vgl. Klinghardt, Inspiration und Fälschung. Die Transzendenzkonstitution der christlichen Bibel, in: H. Vorländer (Hg.), Transzendenz und die Konstitution von Ordnungen, Berlin / New York 2013, 331-355. Zeitschrift für Neues Testament 22. Jahrgang (2019) Heft 43 / 44 Braucht Lukas Q? Ein Plädoyer für die L/ M-Hypothese Francis Watson Aus Sicht der sogenannten Zweiquellenhypothese haben der Matthäus- und der Lukasevangelist ihr Evangelium auf ganz ähnliche Weise konzipiert, obwohl sie unabhängig voneinander gearbeitet haben. Beide machten je für sich Gebrauch von denselben Quellen, dem MkEv und Q. Mit einigen Ausnahmen hielten sich beide eng an die Erzählfolge des MkEv, und zwar mit Worten, die sie teilweise aus dem MkEv übernahmen, teilweise aber auch selbst formulierten. Wo das MtEv und das LkEv eigenen Formulierungen gegenüber dem MkEv den Vorzug geben, wählen sie nicht oft, aber doch gelegentlich dieselben Worte, die sog. minor agreements . 1 Ansonsten haben die beiden späteren Evangelisten das MkEv aber in der Wortwahl auf je eigene Weise bearbeitet, ohne dass die Möglichkeit gegenseitiger Einflüsse in den Blick gerät. Allerdings haben sie Material in erheblicher Menge gemeinsam, hauptsächlich Spruchgut, das sie nicht aus dem MkEv übernehmen. Wenn sie unabhängig voneinander das MkEv bearbeitet haben, haben sie mutmaßlich ebenso dieses gemeinsame nichtmarkinische Material unabhängig voneinander rezipiert, das mithin aus einer zweiten Quelle stammen muss, eben aus der Logienquelle Q. 2 Die Zweiquellenhypothese erklärt 1 Beispiele für diese Übereinstimmungen von Mt und Lk gegen Mk sind: „Euch sind die Geheimnisse … gegeben“ (Mt 13,11 = Lk 8,10); „Wer ist es, der dich geschlagen hat“ (Mt 26,68 = Lk 22,64); „Und er ging hinaus und weinte bitterlich“ (Mt 26,75 = Lk 22,62). Auf die minor agreements hat zuerst Sir J. C. Hawkins, Horae Synopticae: Contributions to the Study of the Synoptic Problem, Oxford 2 1909, 208-212 aufmerksam gemacht. Gewichtigere Übereinstimmungen der beiden späteren Evangelisten gegen Mk kommen ans Licht, sobald man sich nicht mit der Zusatzhypothese der Mk/ Q-Doppelüberlieferungen behilft. 2 Das Sigel „Q“ wurde (wohl erstmals) von Eduard Simons in seiner bei H.J. Holtzmann gefertigten Straßburger Dissertation verwendet (vgl. E. Simons, Hat der dritte Evange- 62 Francis Watson die innersynoptischen Beziehungen auf der Grundlage von zwei voneinander unabhängigen Paaren: Das MkEv und Q auf der einen Seite und das MtEv und das LkEv auf der anderen. 3 Dreifach bezeugte Stoffe (Mk/ Mt/ Lk) werden Mk und zweifach bezeugte (Mt/ Lk) Q zugeschrieben. Allerdings gibt es andere Lösungsvorschläge für das synoptische Problem, und einer, der in den letzten Jahren an Boden gewonnen hat, lautet, dass Lukas dasjenige Material, das er mit Mt gegen Mk gemeinsam hat, nicht direkt aus Q schöpft, sondern aus dem MtEv selbst. 4 Nach diesem Modell bezieht Lk das dreifach bezeugte Material direkt von Mk (mit gelegentlichem Rückgriff auf mt. Redaktionen des Mk-Stoffs) und die zweifach bezeugten Stoffe nicht aus Q, sondern von Mt. In diesem Fall erscheint die Q-Hypothese redundant und Q hört auf zu existieren. Welche nichtmarkinischen Quellen Mt zur Verfügung standen, kann dann nicht rekonstruiert werden. Der Einfachheit halber nennen wir dieses Modell die „L/ M-Theorie“, wobei „L/ M“ Lukas als Benutzer des MtEv bezeichnet. Während die Kenntnis und Benutzung des MtEv durch den Lukas-Evangelisten weithin für praktisch unmöglich gehalten wird, argumentiere ich, dass dies im Gegenteil sogar höchst wahrscheinlich ist. Die folgende Diskussion konzentriert sich auf die mt. Bergpredigt und ihre lk. Parallelen, Material, wo sich Q-Vertreter auf besonders sicherem Boden wähnen. 5 list den kanonischen Matthäus benutzt ? , Bonn 1880, 22 f. 26 u. ö.) mit Bezug auf die von Bernhard Weiss so geannte „apostolische Quelle“ (22). Simons verwendet auch das ältere Sigel Λ (= Logia ), mit Bezug auf eine Notiz des Papias, die man früher als Hinweis auf eine vormatthäische Spruchsammlung verstanden hat. 3 Der Ausdruck „Zweiquellentheorie“ war möglicherweise eine terminologische Neuprägung von H.J. Holtzmann, Die Synoptiker, Tübingen/ Leipzig 3 1901, 15. 4 Vgl. v. a. M. Goodacre, The Case against Q: Studies in Markan Priority and the Synoptic Problem, Harrisburg 2002. Goodacres Argumente wurden weiterentwickelt in F. Watson, Gospel Writing: A Canonical Perspective, Grand Rapids 2013, 117-283. Vgl. auch den Sammelband von M. Müller/ H. Omerzu (Hg.), Gospel Interpretation and the Q Hypothesis, London 2018, der in diesem Heft der ZNT ausführlich besprochen wird. Goodacre fußt auf älteren Arbeiten britischer Forscher; vgl. A. Farrer, On Dispensing with Q”, in: Studies in the Gospels: Essays in Memory of R.H. Lightfoot (ed. D.E. Nineham, Oxford: Blackwell, 1955), 55-88; H.B. Green, “The Credibility of Luke’s Transformation of Matthew”, in Synoptic Studies: The Ampleforth Conferences of 1983 and 1984 (ed. C.M. Tuckett, JSNTSup 7, Sheffield 1984), 131-156; M. Goulder, Luke: A New Paradigm ( JSNTSup 20, 2 vols., Sheffield 1989); E. Franklin, Luke: Interpreter of Paul, Critic of Matthew ( JSNTSup 92, Sheffield 1994); M.S. Goodacre, Goulder and the Gospels: An Examination of a New Paradigm ( JSNTSup 133, Sheffield 1996). 5 Vgl. Goodacre, Case Against Q , 81-104. Braucht Lukas Q? 63 Prof. Francis Watson ist Inhaber des Research Chair in Early Christian Literature am Department of Theology and Religion, Durham University (UK). Davor lehrte er an der Universität Aberdeen (1999-2007) und am King’s College London (1984- 1999). Er wurde 1984 an der Universität Oxford promoviert. Sein anhaltendes Forschungsinteresse richtet sich auf die frühe kanonische wie außerkanonische Evangelienliteratur. Zu seinen Publikationen zählen Gospel Writing: A Canonical Perspective (2014), Paul and the Hermeneutics of Faith (2. Aufl. 2015), The Fourfold Gospel (2016) und The Garima Gospels: Early Illuminated Gospel Books from Ethiopia (2016, mit Judith McKenzie). Eine Monographie über die Epistula Apostolorum (2. Jh.) ist im Erscheinen. 1. Ein Haus auf Sand gebaut? Zu Mt 5,1 notiert Johannes Calvin, dass „Matthäus berichtet, wie Christus zu seinen Jüngern auf einem Berg gesprochen hat, während Lukas anzudeuten scheint, dass die Predigt in einer Ebene gehalten wurde“. 6 Calvin bezieht sich auf die mt. Bergpredigt und auf die wesentlich kürzere Parallele Lk 6,20-49, auch bekannt als Feldrede. Ungeachtet der Differenzen in Ort und Inhalt weist Calvin die Annahme zurück, dass die Evangelisten zwei unterschiedliche Predigten wiedergeben. Solche Leute würden „einem überaus schwachen und trivialen Argument“ folgen ( nimis levi et frivolo argumento ). 7 Vielmehr verhalte es sich so, dass die Intention beider Evangelisten darin bestand, die Hauptlehren Christi in einer einzigen Passage zusammen zu fassen ( praecipua quaeque capita doctrinae Christi ), die die Regeln eines gottesfürchtigen und heiligen Lebens betreffen […]. Für fromme und bescheidene Leser sollte es genügen, dass sie damit eine Zusammenfassung der Lehren Christi vor Augen haben, die aus zahlreichen und vielfältigen Predigten Christi zusammengestellt wurde ( collectam ex pluribus et diversibus eius concionibus ). 8 Calvin hält sich an den Differenzen zwischen beiden Evangelien gar nicht auf, in der Zuversicht, dass die Evangelisten unter der Leitung des Heiligen Geistes 6 Harmonia ex tribus evangelistis composita, Mattheo, Marco, et Luca: adiuncto seorsum Iohanne, quod pauca cum aliis communia habeat, cum Iohannis Calvini commentarius (1555), Corpus Reformatorum 73 (ed. W. Baum, E. Cunitz, and E. Reuss, Braunschweig: Schwetschke, 1891), 99. 7 Calvin, Harmonia, 99. 8 A. a. O. 64 Francis Watson editorisch tätig waren. Für Calvin enthält keine der beiden Versionen die ipsissima verba Jesu, die Jesus genauso zu einer bestimmten Gelegenheit gesagt hat. Jahrhunderte später, in der Ära der kritischen Forschung, wurden anspruchsvollere Erklärungen der Mt und Lk gegen Mk gemeinsamen Stoffe entwickelt. Hierunter fällt nahezu alles, was in der lk. Feldrede enthalten ist. Die Feldrede und die mt. Bergpredigt stehen nach Inhalt und Abfolge des Stoffs in engem Zusammenhang, angefangen von den Seligpreisungen bis hin zur Parabel von den beiden Häusern (Mt 5,3-12/ Lk 6,20-26; Mt 7,24-27/ Lk 6,47-49). Zugleich sind aber die Unterschiede zwischen beiden Reden genauso signifikant wie die Gemeinsamkeiten: Bei Mt lehrt Jesus die Jünger, nachdem er sich auf einem Berg niedergesetzt hat (Mt 5,1). Dagegen steigt er bei Lk vom Berg herab und steht „auf einem ebenen Platz“, um dort seine Lehrrede zu halten (Lk 6,17.20). Bei Mt beginnt die Bergpredigt mit einer Reihe von neun Makarismen (Mt 5,3-12). Bei Lk finden wir nur vier Makarismen, dafür aber vier korrespondierende Wehrufe, die bei Mt fehlen (Lk 6,20-26): „Selig sind die Armen“, aber „Wehe den Reichen“, usw. (Lk 6,20.24). Die Länge beider Passagen ist in etwa gleich, so als habe entweder Lk mit den Wehrufen die Lücke der fehlenden Makarismen aufgefüllt oder umgekehrt Mt die Wehrufe durch weitere Makarismen ersetzt. In der nächsten Passage, die beide Evangelisten gemeinsam haben, bietet Lk eine Spruchfolge zum Thema Feindesliebe (Lk 6,27-30). In Mt 5 ist dieses Spruchgut auf die letzten beiden der sogenannten Antithesen verteilt, die durch die Entgegensetzung von „Ihr habt gehört, dass gesagt ist“ und „Ich nun sage euch“ strukturiert sind. Die fünfte und sechste Antithese bieten Jesu Lehre über Nicht-Widerstehen und Feindesliebe (Mt 5,38-42.43-48). Die antithetische Form fehlt bei Lk, und die Worte vom Nicht-Widerstehen (Lk 6,29.30/ Mt 5,39b-40) werden nun verwendet, um das Gebot der Feindesliebe zu verstärken (Lk 6,27f.32-36/ Mt 5,44-48). Inmitten dieses Materials findet sich auch die sogenannte Goldene Regel „Und wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, so tut ihnen auch“ (Lk 6,31), die bei Mt in einem anderen Zusammenhang positioniert ist, hier nun versehen mit der Erläuterung „Dies ist das Gesetz und die Propheten“ (Mt 7,12). Die übrige Feldrede entspricht der Abfolge von Mt 7, wenngleich mit Auslassungen und Ergänzungen: Auf die Warnung vor dem Richten (Lk 7,37-38.41-42/ Mt 7,1-5) folgen Sprüche über die gute Frucht des guten Baumes (Lk 6,43-45/ Mt 7,16-21) und die Parabel von den beiden Häusern (Lk 6,46-49/ Mt 7,24-27). Die Warnung vor dem Richten wird unterbrochen von Sprüchen über die blinden Blindenführer und die Jünger, die nicht größer sind als ihr Meister (Lk 6,39f/ Mt 15,14; 10,24f). Während die lk. Feldrede weniger als ein Drittel des Umfangs der mt. Bergpredigt hat, hat viel zusätzliches mt. Material Parallelen in den Kapiteln Lk 11-16. Braucht Lukas Q? 65 Wie kann nun die Beziehung zwischen diesen ungleich langen Versionen der Rede Jesu erklärt werden? Benutzt ein Evangelist den anderen als Quelle? In diesem Fall ist entweder (1) die lk. Version eine Kürzung der mt. Bergpredigt, oder (2) die mt. Version ist eine Erweiterung der lk. Feldrede, oder aber (3) beide Evangelisten haben unabhängig voneinander von der hypothetischen Quelle, die unter dem Sigel Q bekannt ist, Gebrauch gemacht. Bisher lautete der Forschungskonsens, dass die Q-Hypothese die beste Erklärung für dieses zweifach bezeugte Material ist, ein Konsens, der so stabil war, dass diese Hypothese nicht mehr nur als Hypothese galt. Vielmehr meinte man, einen wiederentdeckten frühchristlichen Text vor sich zu haben, der als solcher rekonstruiert und erforscht werden konnte. Man geht davon aus, dass die lk. Kurzversion der Lehrrede Jesu der Struktur der Q-Fassung näher steht als die längere mt. Version, obwohl einzelne mt. Formulierungen Q treuer bewahrt zu haben scheinen. Deshalb hat es sich eingebürgert, die Kapitel- und Verszählung des LkEv auch auf Q anzuwenden, sodass Q 6,35 Lk 6,35 entspricht, und zwar auch dort, wo (wie in diesem Fall) Mt in der Wortwahl näher an Q heranreicht. Wir sind aufgerufen für unsere Verfolger zu beten, … auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte (Mt 5,44). … und ihr werdet Kinder des Höchsten sein; denn er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen (Lk 6,35c). … auf dass ihr Kinder seid eures Vaters. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte (Q 6,35c). 9 Q kommt hier Mt sehr nahe, bis auf „im Himmel“, das die Editoren als mt. Ergänzung identifiziert und dementsprechend ausgeschieden haben, aber in der Stoffabfolge gilt doch Lk als ursprünglich, obwohl Lk den Wortlaut in Richtung einer abstrakteren Formulierung verändert hat. Wenn nun aber der lk. Wortlaut gegenüber dem mt. sekundär ist, wie für das genannte Testbeispiel angenommen wird, können wir dann hinreichend sicher sein, dass nach Abfolge und Inhalt die lk. Kurzfassung der Lehrrede Jesu Q näher steht, und dass Mt seine Version mit zusätzlichem Q-Material und anderen Stoffen erweitert hat? Können wir nicht ebenso den Schluss ziehen, dass die lk. Feldrede einfach eine verkürzte Fassung der mt. Bergpredigt ist, und dass sich die Hypothese einer 9 Die Rekonstruktion folgt The Critical Edition of Q (ed. J.M. Robinson, Paul Hoffmann, J.S. Kloppenborg, Minneapolis 2000), 58; H.T. Fleddermann, Q: A Reconstruction and Commentary (Leuven 2005), 330. Athanasius Polag bietet eine leicht abweichende Rekonstruktion: „und ihr werdet Söhne Gottes sein, denn er lässt die Sonne aufgehen über die Guten und die Bösen“, so A. Polag, Fragmenta Q: Textheft zur Logienquelle (Neukirchen-Vluyn 1979), 34. 66 Francis Watson Logienquelle Q, deren Stoffabfolge bei Lk erhalten ist, als unnötig erweist? Die Plausibilität der Q-Hypothese hängt an der Annahme, dass Lk seine Kurzversion schwerlich aus der mt. Langversion gewonnen haben kann. Diese Annahme wurde im Laufe von anderthalb Jahrhunderten wieder und wieder bekräftigt. Die folgenden Beispiele illustrieren ihr erstaunliches Beharrungsvermögen. Im Jahr 1863 votierte Heinrich Julius Holtzmann für eine Frühform dessen, was sich später als Q-Hypothese durchsetzte, wie folgt: „Was ist an sich wahrscheinlicher, dass Lucas die grossen Bauten muthwillig zerschlagen und die Trümmer nach allen vier Winden auseinandergesprengt, oder dass Matthäus jene Mauern aus den Steinhaufen des Lucas erbaut habe? “ 10 Die „grossen Bauten“ sind die großen mt. Redeblöcke, v. a. die Bergpredigt. Sollte Lk seine Kurzversion auf der Basis des MtEv gewonnen haben, wobei er Teile daraus an anderen Stellen seines Evangeliums verwendete, hätte er sich, mit Holtzmann gesprochen, einer Art Vandalismus schuldig gemacht, einer schamlosen Zerstörung und Schändung nach Gutdünken. Oder aber: Die lk. Version zusammen mit dem Redenstoff des Reiseberichts Lk 9,51-18,14 geben die verhältnismäßig unstrukturierte Form der lk. Quelle (Q) wieder, während Mt dasselbe Material aus derselben Quelle schöpft und es zu einem kohärenten Ganzen formt, eben zur Bergpredigt. Damit, dass Lk die Stoffabfolge der mt. Quelle bewahrt, versetzt er uns in die Lage, die editorische Leistung des Mt zu erkennen und zu würdigen. Was ist, fragt Holtzmann, wahrscheinlicher: Mt als einen Erbauer zu sehen (Q-Hypothese), oder Lk als Zerstörer (L/ M-Hypothese, d. h. die lk. Benutzung von Mt)? 11 Für Holtzmann gibt es hier nicht den leisesten Zweifel. Im Jahr 1911 ist sich Julius Wellhausen seiner Sache ebenso sicher: Lk bewahrt die ursprüngliche Gestalt seiner Quelle, Mt gibt ihr eine neue Struktur. „Nach inneren Merkmalen erscheint die Feldpredigt bei Lukas im Ganzen originaler als die Bergpredigt bei Matthäus; seine Disposition liegt auch bei jenem zugrunde, 10 H.J. Holtzmann, Die synoptischen Evangelien: Ihr Ursprung und geschichtlicher Charakter (Leipzig, 1863), 130. Holtzmann verwendet das Sigel Λ (= Logia ) anstelle von Q, und er schreibt einen Teil des zweifach bezeugten Materials (Mt und Lk gegen Mk) nicht Q, sondern einem „Urmarcus“ zu, dem gegenüber das kanonische MkEv eine gekürzte Fassung darstellt. Der Kontrast zwischen dem unstrukturierten „Steinhaufen“ des Lk und der eindrucksvollen mt. Architektur findet sich auch in den späteren Werken Holtzmanns, etwa in Ders., Die Synoptiker, HCNT I,1, Tübingen/ Leipzig 1901, 13). 11 Der Ausdurck „L/ M-Hypothese“ ist mein eigener. Die Gründe für diese Neubildung habe ich dargelegt in F. Watson, “Q as Hypothesis: A Study in Methodology” ( NTS 55 [2009], 397-415), 398-399 (Anm.). Braucht Lukas Q? 67 sein Ton und seine Sprache ist durchweg frischer, gedrungener und volkstümlicher, weniger geistlich und biblisch“. 12 Ungewöhnlich ist, dass Wellhausen der lk. Kurzversion gegenüber der mt. Bergpredigt aus ästhetischen Gründen den Vorzug gibt. Dies ist ein Echo der Quellenkritik des Pentateuch, die untrennbar mit dem Namen Wellhausen verbunden ist: Lk (oder Q Lk ) verhält sich zu Mt wie der Jahwist zur Priesterschrift („durchweg frischer, gedrungener und volkstümlicher“). Anders als Holtzmann stellt Wellhausen die Lesenden nicht vor die Wahl einer rationalen Theorie (der mt. Gebrauch der Logienquelle, wie sie bei Lk erhalten ist) und einer angeblich irrationalen (Benutzung des MtEv durch Lk). Für die meisten anderen Vertreter der Q-Hypothese ist die behauptete Unwahrscheinlichkeit einer Auflösung der mt. Komposition durch Lk dagegen ein unverzichtbares Argument für die Stichhaltigkeit der Annahme von Q. So schreibt etwa B. H. Streeter im selben Jahr: „Es ist völlig nachvollziehbar, dass ein Verfasser die Absicht verfolgt hat, die charakteristischsten Lehren zu einer allgemeinen christlichen Ethik zusammenzustellen, wie dies in Mt 5-7 der Fall ist […], und zu diesem Zweck das zu sammeln, was er verstreut in seiner Quelle fand. Es ist aber keineswegs nachvollziehbar, dass ein Autor diese Lehren in einer Ordnung wie der matthäischen vorgefunden und ohne erkennbaren Plan völlig durcheinander gebracht haben sollte, so, wie sie uns bei Lk begegnen“. 13 Streeter hat wohl recht mit der Annahme, dass die Bergpredigt vom Mt-Evangelisten aus dem Material komponiert wurde, das er zur Verfügung hatte, eine Sicht, die wir schon bei Calvin finden. Die Frage lautet aber, ob dieses Quellenmaterial bei Lk in so etwas wie seiner ursprünglichen Form erhalten ist, oder ob dieses vormatthäische Material sich der Möglichkeit einer Rekonstruktion entzieht, was dann der Fall ist, wenn Lk von Mt abhängig ist. In einer etwas vereinfachten Form können die zweifach überlieferten Stoffe wie folgt hergeleitet werden: entweder Q Lk →Mt/ Lk oder x→Mt→Lk, wobei x das bei Mt erhaltene nichtmarkinische Material bezeichnet, dessen Herkunft wir nicht kennen, und über das wir auch nichts Näheres in Erfahrung bringen können. Streeters Modell setzt Mt und Lk im Hinblick auf Q in ein paralleles Verhältnis zueinander, genauso, wie sie in ihrem Verhältnis zu Mk parallel zueinander stehen. Ein lineares Modell des Typs Mk+Mt→Lk wird mit dem Argument ausgeschlossen, dass „kein erkennbarer Plan“ für die Relation Mt→Lk spricht. Die Existenz von Q beruht auf der - wie zu zeigen ist: unbegründeten! - Behauptung, dass Mt→Lk (=L/ M) unvorstellbar ist. Diese Behauptung muss 12 J. Wellhausen, Einleitung in die drei ersten Evangelien (Berlin 2 1911), 59. 13 B.H. Streeter, “On the Original Order of Q”, in: Oxford Studies in the Synoptic Problem (ed. W. Sanday, Oxford 1911, 141-164), 147. 68 Francis Watson immerzu wiederholt werden, wenn Q glaubwürdig bleiben soll. Dementsprechend hat Werner Georg Kümmel im Jahr 1973 die Rhetorik Holzmanns treu wiedergegeben: „Was hätte Lukas z.B. dazu bewegen können, die Bergpredigt des Mt zu zerschlagen und teils in seine Feldrede aufzunehmen, teils über verschiedene Kapitel seines Ev. zu verteilen, teils wegzulassen? “ 14 Ergänzend hierzu hat David Catchpole im Jahr 1993 auf mt. Material hingewiesen, das Lk im Falle von Mt→Lk weggelassen hätte, obwohl es seinen eigenen Präferenzen entsprochen hätte: „Wenn Lk das MtEv benutzt hat, müssen wir außerordentlich drastische Kürzungen für wahrscheinlich halten, und die Weglassung etlicher Themen, von denen man annehmen sollte, dass sie dem Lk-Evangelisten zusagten“. 15 Catchpoles „wir müssen […] für wahrscheinlich halten“ suggeriert dieselbe Abwegigkeit wie Kümmels „Was hätte Lukas […] dazu bewegen können“ oder Streeters „Es ist […] keineswegs nachvollziehbar“. Dagegen nimmt John Kloppenborg im Jahr 2008 die Existenz der von ihm so genannten Mk-ohne-Q-Hypothese (d. h. die Benutzung von Mk und Mt durch Lk) ernst und konzediert, dass man sie grundsätzlich vertreten kann. Gleichwohl hält er dieses Unterfangen für wenig aussichtsreich: „Solange man kein plausibles editorisches Szenario für das lk Verfahren vorweisen kann, die mt. Arrangements zu zerlegen und mt. Spruchgut in andere Kontexte zu verpflanzen, kann die Mk-ohne-Q-Hypothese nicht als eine gute Hypothese angesehen werden“. 16 Kloppenborg und seine Vorläufer sind sich darin einig, dass „ein plausibles editorisches Szenario“ für die Benutzung des MtEv durch Lk nicht vorstellbar ist, und dass die einzig zufriedenstellende Erklärung der Mt und Lk gegen Mk gemeinsamen Stoffe die sogenannte Zweiquellentheorie ist (Mk+Q→Mt, Lk). Vertreter der Q-Hypothese wiederholen dieses Argument, wie gesagt, seit mehr als 150 Jahren, mit dem Ergebnis, dass Q nicht als Hypothese, sondern als valide Quelle für den historischen Jesus und die frühe Kirche angesehen wird. 17 Nach wie vor gilt aber, 14 W. G. Kümmel, Einleitung in das Neue Testament, Heidelberg 1973, hier zitiert nach der 21. Aufl. 1983, 37. 15 D. Catchpole, The Quest for Q (Edinburgh 1993), 16-17. 16 J. Kloppenborg, Q The Earliest Gospel: An Introduction to the Original Stories and Sayings of Jesus (Louisville/ London 2008), 31. 17 Vgl. z. B. S. Schulz, Q: Die Spruchquelle der Evangelisten (Zürich 1972); J.D. Crossan, The Birth of Christianity: Discovering What Happened in the Years Immediately after the Execution of Jesus (New York 1998), 237-361. Braucht Lukas Q? 69 dass die Existenz dieses Dokuments an dem Argument hängt, dass Lk das MtEv keinesfalls für die Komposition seines Evangeliums verwendet haben kann, da seine Version der Bergpredigt sonst völlig anders ausgesehen hätte. Q hängt an der Spekulation, dass, wenn Lk das MtEv gekannt hätte, er sich genauso eng an Wortlaut und Abfolge der Bergpredigt hätte halten müssen, wie er sich im Großen und Ganzen an die Darstellung des galiläischen Wirkens Jesu im MkEv gehalten hat. Doch dies ist eine fragile Basis für die Rekonstruktion einer eigenständigen antiken Quelle, und es darf mit Fug und Recht versucht werden, für den lk. Umgang mit der mt. Bergpredigt „ein plausibles editorisches Szenario“ zu entwerfen. 2. Lukas bearbeitet die matthäische Bergpredigt Jeder Evangelist, der sich anschickt, ein neues Evangelium zu verfassen, ist darin frei, Bestandteile seines Quellenmaterials wegzulassen, diese neu zu positionieren oder sie umzuschreiben. Die Gründe für diese editorischen Entscheidungen müssen nicht alle gleichermaßen klar zutage liegen, aber das übergreifende Prinzip für all dies ist schlicht die Intention des Evangelisten, ein neues Evangelium zu verfassen, anstatt von einem vorhandenen eine weitere Abschrift anzufertigen. Zumal Lk ist ein ambitionierter Autor (vgl. Lk 1,1-4), und wir dürfen zumal bei ihm ein großes Maß an editorischer Freiheit annehmen. Gemäß der L/ M-Hypothese (Mt→Lk) hat sich Lk entschieden, folgende Stoffe der Bergpredigt auszulassen : (1) Fünf der neun mt. Makarismen (Mt 5,3-12). Bei Lk gibt es mithin keine Seligpreisung der Sanftmütigen, der Barmherzigen, derer, die reinen Herzens sind, der Friedensstifter und der um der Gerechtigkeit willen Verfolgten. (2) Das meiste wenn nicht sämtliches mt. Gut zum Thema Gesetzestreue (Mt 5,17-20). Ausnahme: Mt 5,18/ Lk 16,17. (3) Den überwiegenden Teil des in der ersten, zweiten und vierten der sechs mt. Antithesen enthaltenen Stoffs (Mord, Ehebruch, Schwören: Mt 5,21-30.33- 37). Ausnahme: Mt 5,25/ Lk 12,58f. (4) Die mt. Anweisungen zu Almosengeben, Gebet und Fasten (Mt 6,1-18). Ausnahme: Das Vaterunser in Mt 6,9-13/ Lk 11,2-4. (5) Der Spruch „nicht Perlen vor die Säue“ (Mt 7,6). (6) die Warnung vor den falschen Propheten (Mt 7,15). 70 Francis Watson Bis hierher hat unsere Analyse nichts zutage gefördert, was die traditionell behauptete Unverständlichkeit der lk. Redaktionstätigkeit bei angenommener lk. Benutzung der Bergpredigt stützen würde: Bei (2), (3), (4) und (6) besagen die Auslassungen nicht mehr als dies, dass Lk die Rolle des Gesetzes, sowie die jüdische Almosen- und Fastenpraxis weniger wichtig findet als Mt. Die Auslassung von (5) ist nachvollziehbar wegen des potentiellen Konflikts mit der apostolischen Mission, das Evangelium unter den Heiden zu verkündigen (vgl. Lk 24,45-49; Apg 1,8). Auf die Seligpreisungen kommen wir gleich nochmals zu sprechen. Weiterer mt. Stoff findet sich bei Lk an anderer Stelle wieder. Technisch kann man sich dies z. B. ganz einfach so vorstellen, dass Lk das mt. Spruchgut in eine Art Notizbuch exzerpiert hat, um es an späterer Stelle in sein eigenes Evangelium einzufügen. 18 Hierzu gehören insgesamt 13 Sprüche oder Spruchgruppen: (1) Salz Mt 5,13 → Lk 14,34f. (2) Einen Leuchter Anzünden Mt 5,15→Lk11,33. (3) Nicht ein Jota Mt 5,17; Lk 16,17. (4) Umgang mit dem Gegner Mt 5,25f→Lk 12,58f. (5) Ehescheidung Mt 5,32→ Lk 16,18. (6) Vaterunser Mt 6,9-13→Lk 11,2-4. (7) Schatz im Himmel Mt 6,19-21→Lk 12,33f. (8) Auge als Licht des Leibes Mt 6,22f→Lk 11,33-36. (9) Nicht zwei Herren Dienen Mt 6,24→Lk 16,13. (10) Nicht Sorgen Mt 6,25-32→Lk 12,22-31. (11) Bitten und Suchen Mt 7,7-11→Lk 11,9-13. (12) Enge Pforte Mt 7,13f→Lk 13,23f. (13) Ablehnung im Gericht Mt 7,21f→Lk 13,25-27. 18 Zum antiken Gebrauch von Wachstafeln für die vorläufige Niederschrift von Texten bis zu ihrer endgültigen Verwendung in einem bestimmten literarischen Zusammenhang vgl. Quintilian, Inst. or. x.3.31-33, und die Diskussion bei C.H. Roberts and T.C. Skeat, The Birth of the Codex (London 1987), 15-23. In großer Zahl wurden solche Tafeln bei den Vindolanda-Ausgrabungen nächst des Hadrians-Walls gefunden, von denen viele „Reste von eingeritzten Texten enthalten, oft Palimpseste, die die Zeit überdauert haben, weil die Metallfeder durch das Wachs hindurch die hölzerne Trägerplatte geritzt hat“ (A.K. Bowman, Life and Letters on the Roman Frontier: Vindolanda and its People , London 3 2003, 8). Notizbücher aus mehreren Wachstafeln waren in der griechisch-römischen Welt ein verbreitetes Hilfsmittel für die Abfassung von Texten. Braucht Lukas Q? 71 Wenn wir diese Stellen in ihrer lk. Reihenfolge auflisten, ergibt sich folgendes Resultat: (1a) Lk 11,2-4 6 Vaterunser (1b) Lk 11,9,13 11 Bitten und Suchen (2a) Lk 11,33 2 Einen Leuchter Anzünden (2b) Lk 11,34f 8 Auge als Licht des Leibes (3a) Lk 12,22-31 10 Nicht Sorgen (3b) Lk 12,33f 7 Schatz im Himmel (4) Lk 12,57-59 4 Umgang mit dem Gegner (5a) Lk 13,23f 12 Enge Pforte (5b) Lk 13,25-27 13 Ablehnung im Gericht (6) Lk 14,34-35 1 Salz (7a) Lk 16,13 9 Nicht zwei Herren Dienen (7b) Lk 16,7 3 Nicht ein Jota (7c) Lk 16,18 5 Ehescheidung In vier dieser sieben Fälle hat Lk das exzerpierte mt. Spruchgut in thematisch verwandten Paaren zusammengestellt und sie dabei umformuliert. Daraus ergeben sich neue Interpretationsmöglichkeiten für diese Sprüche, die über ihre mt. Kontexte weit hinausgehen. 19 Lk positioniert dieses und anderes Material im Zusammenhang von Jesu Reise nach Jerusalem, ein Motiv, das in seinem Evangelium eine herausragende Rolle spielt: Auf dem Berg der Verklärung sprechen Mose und Elia mit Jesus „von seinem Ende, das er in Jerusalem erfüllen sollte“ (Lk 9,31). Kurz darauf, „als die Zeit erfüllt war, dass er in den Himmel aufgenommen werden sollte, da wandte er das Angesicht, entschlossen, nach Jerusalem zu wandern“ (Lk 9,51). Als er später vor der ihm drohenden Gefahr gewarnt wird, antwortet er: „Ich muss heute und morgen und am Tag danach wandern, denn es geht nicht an, dass ein Prophet umkomme außerhalb von Jerusalem“ (Lk 13,33). Er begeg- 19 Zu diesen Passagen vgl. ausführlich F. Watson, Gospel Writing: A Canonical Perspective (Grand Rapids 2013), 168-210. 72 Francis Watson net einer Gruppe von zehn Aussätzigen im Grenzgebiet zwischen Samaria und Galiläa „auf dem Weg nach Jerusalem“ (Lk 17,11). Alle drei Synoptiker sehen Jerusalem als den Zielpunkt von Jesu Wirken, von der ersten Ankündigung seines Leidens, die Jesus im Anschluss an das Bekenntnis des Petrus in Cäsarea Philippi ausspricht (Mk 8,31; Mt 16,21; Lk 9,22), doch erfolgt diese Hinwendung nach Jerusalem bei Lk zu einem verhältnismäßig viel früheren Punkt der Erzählung als in den anderen beiden Evangelien. Das wird deutlich, wenn wir die synoptische Erzählung vom Auftreten des Täufers bis zum Einzug Jesu in Jerusalem in den Blick nehmen, die durch das Petrusbekenntnis in zwei ungleiche Teile geteilt wird, in jedem Evangelien in unterschiedlichen Anteilen. 20 Bei Mk umfasst der erste Teil ungefähr 75 %, der zweite 25 %. Bei Mt ist dieses Mengenverhältnis etwa gleich (78 % und 22 %). Bei Lk fallen die Proportionen dagegen ganz anders aus, mit nur 40 % des Evangelienstoffs aus Lk 3,1-19,28 vor dem Petrusbekenntnis, nämlich 3,1-9,17 und 60 % von hier an bis zum Einzug in Jerusalem (9,18-19,28). Indem Lukas wesentliche Teile der Bergpredigt in seinem Reisebericht verwendet, gibt er zu verstehen, dass Jesu Lehre Teil seines vorgezeichneten Weges hin zur Kreuzigung, seiner Auferweckung und Erhöhung ist, und dass seine Lehre innerhalb dieser Bezüge verstanden werden sollte. Die Diskussion über die (hier vorausgesetzten) lk. Auslassungen und Neu-Arrangements mt. Materials aus der Bergpredigt führt nicht zu den verkehrten und unplausiblen Resultaten, die von Vertretern der Q-Hypothese unterstellt werden. Vielmehr erscheint die lk. Redaktionstätigkeit gänzlich rational und nachvollziehbar. Eine weitere Aufgabe besteht nun darin, die lk. Kurzversion der Bergpredigt selbst zu untersuchen. Gemäß der L/ M-Hypothese ist diese von der längeren mt. Version direkt literarisch abhängig. Wir haben es also nicht mit zwei voneinander unabhängigen Kompositionen zu tun (Q→Mt, Q→Lk), sondern mit einer einzigen, linearen Entwicklung (x→Mt→Lk). Der erste Schritt besteht darin zu zeigen, dass Mt und Lk dieselbe Stelle innerhalb des mk. Erzählverlaufs gewählt haben, um Jesu Lehrrede in einen narrativen Kontext einzubetten. In den Eingangskapiteln des MkEv beruft Jesus seine ersten vier Jünger (Mk 1,16-20), exorziert und heilt (1,21-45) und bestreitet eine Reihe von Kontroversen mit Gegnern (2,1-3,6). Danach, heißt es, „entwich Jesus an das Meer“ (3,7). Die darauffolgende Passage erwähnt (1) eine große Menge, die ihm folgte, (2) Heilungen und Exorzismen und (3) einen Berg, wo er die Zwölf beruft (Mk 3,7-19). Mt lokalisiert seine Predigt auf dem Berg innerhalb der mk. Erzählfolge sehr früh, kurz nach der Berufung der ersten Jünger (Mt 4,18-22/ Mk 1,16-20), übernimmt 20 Nämlich Mk 1,1-8,26 und 8,27-10,52; Mt 3,1-16,12 und 16,13-20,34; Lk 3,1-9,17 und 9,18-19,28. Braucht Lukas Q? 73 aber aus der späteren Passage die Notizen über die Volksmenge, die Heilungen und den Berg (Mt 4,23-25/ Mk 3,7-13). Der Berg, auf dem die mt. Version der Lehrrede Jesu stattfindet, stammt aus dem MkEv (s. Tabelle 1). Bei Mk beruft Jesus auf dem Berg die Zwölf (Mk 3,13-19), bei Mt predigt er dort (Mt 5,1f), es ist aber in beiden Fällen derselbe Berg. Lk folgt Mk darin, dass die Berufung der Zwölf auf einem Berg stattfindet (Lk 6,12-16), zeigt aber auch mt. Einfluss, wenn er zur narrativen Ausstattung der Lehrrede auf dasselbe mk. Material zurückgreift, sowie darin, dass er die mt. Hinzufügungen zu diesem Material dadurch aufgreift , dass er sie abändert : Der mt. Jesus hält seine Predigt sitzend , während er sich auf einem Berg befindet. Bei Lk steigt Jesus vom Berg herunter und predigt stehend und in einer Ebene . Bei Mt „öffnet“ Jesus „seinen Mund“, bei Lk „hebt er seine Augen auf “. In diesem mk. Kontext hat Lk erkennbar das MtEv im Blick. Darin, dass er die Predigt in den mk. Rahmen einfügt, folgt er dem mt. Vorbild. Das ergibt unter Voraussetzung der L/ M-Hypothese einen guten Sinn, bereitet der Q-Hypothese jedoch Schwierigkeiten, denn Q kann nur existieren, wenn Mt und Lk voneinander unabhängig sind. Mt 4,23-5,3 Mk 3,7-14 Lk 6,17-19.<12-13>.20 4,23f [Predigen, Heilen, Exorzismen] 4,25 Und es folgte ihm eine große Menge aus Galiläa, aus den Zehn Städten, aus Jerusalem, aus Judäa und von jenseits des Jordans. 3,7 Aber Jesus entwich mit seinen Jüngern an das Meer, und eine große Menge aus Galiläa folgte ihm; auch aus Judäa 8 und Jerusalem, aus Idumäa und von jenseits des Jordans und aus der Umgebung von Tyrus und Sidon … 6,17 Und er ging mit ihnen hinab und trat auf ein ebenes Feld, er und eine große Schar seiner Jünger und eine große Menge des Volkes aus dem ganzen judäischen Land und Jerusalem und aus dem Küstenland von Tyrus und Sidon 3,9-12 [Bereitstellung eines Bootes, Heilen, Exorzismen] 6,18f [Heilen, Exorzismen] 74 Francis Watson 5,1 Als er aber das Volk sah, ging er auf einen Berg. Und er setzte sich, und seine Jünger traten zu ihm. 3,13 Und er ging auf einen Berg und rief zu sich, welche er wollte, und die gingen hin zu ihm. 14 Und er setzte zwölf ein, die er auch Apostel nannte, dass sie bei ihm sein sollten und dass er sie aussendete zu predigen … < 6,12 Es begab sich aber zu der Zeit, dass er auf einen Berg ging, um zu beten; und er blieb über Nacht im Gebet zu Gott. 13 Und als es Tag wurde, rief er seine Jünger und erwählte zwölf von ihnen, die er auch Apostel nannte > 2 Und er tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach: 3 Selig sind die Armen im Geist 20 Und er hob seine Augen auf über seine Jünger und sprach: Selig seid ihr Armen Tabelle 1: Die Volksmenge, der Berg, die Predigt Bei Mk steigt Jesus, wie gesagt, auf einen Berg und beruft die Zwölf, während der mt. Jesus auf einen Berg steigt, um dort zu predigen. Die Berufung der Zwölf wird aufgeschoben bis Mt 10,1-4. Lk kombiniert beides, die Berufung der Zwölf auf dem Berg (wie Mk) und die Lehrrede (wie Mt), wenngleich die Predigt nun nach dem Abstieg Jesu vom Berg stattfindet. Das stellt nicht nur die Q-Hypothese vor Probleme, sondern auch diejenige Hypothese, die mit einer Abhängigkeit des Mt von Lk rechnet (M/ L-Hypothese). 21 Weitere Hinweise der sekundären Stellung des Lk gegenüber Mk liegen in der Predigt selbst vor, nämlich in den Seligpreisungen und dem hieran anschließenden Stoff. 21 Die Lukaspriorität gegenüber Mt wird vertreten von M. Hengel, Die vier Evangelien und das eine Evangelium von Jesus Christus. Studien zu ihrer Sammlung und Entstehung (WUNT 224), Tübingen 2008, obwohl sich Hengel für eine gemeinsame Quelle mit logia Jesu ausspricht, wie sie von Papias bezeugt wird. Zur These der Abhängigkeit der mt. Bergpredigt von der lk. Feldrede vgl. R.K. MacEwen, Matthean Posteriority: An Exploration of Matthew’s Use of Mark and Luke as a Solution to the Synoptic Problem (London 2015), 145-164. Braucht Lukas Q? 75 Mt 5,3-12 Lk 6,20-23 Lk 6,24-26 lk. Parallelen 3 Selig sind die Armen im Geist, denn ihnen gehört das Himmelreich. 20 Selig sind die Armen; denn euch gehört das Reich Gottes. 24 Aber wehe euch Reichen; denn ihr habt euren Trost schon gehabt. 4,18 Er hat mich gesalbt, zu verkündigen das Evangelium den Armen 1,53b … und er lässt die Reichen leer ausgehen 4 Selig sind, die Leid tragen denn sie sollen getröstet werden. < 21b Selig sind, die jetzt weinen, denn ihr werdet lachen.> < 25b Weh denen, die jetzt lachen; denn ihr werdet trauern und weinen> 16,25 Du hast dein Gutes empfangen in deinem Leben, Lazarus dagegen hat Böses empfangen; nun wird er hier getröstet, du aber leidest Pein. 6 Selig sind, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden 21a Selig sind, die jetzt hungen, denn ihr sollt satt werden. 25a Weh euch, die ihr jetzt satt seid; denn ihr werdet hungern 1,53a Die Hungrigen füllt er mit Gütern … 11 Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen und allerlei Böses gegen euch reden und dabei lügen. 12 Seid fröhlich und jubelt; es wird euch im Himmel reichlich belohnt werden. Denn ebenso haben sie verfolgt die Propheten, die vor euch gewesen sind. 22 Selig seid ihr, wenn euch die Menschen hassen und euch ausstoßen und schmähen und verwerfen euren Namen als böse um des Menschensohnes willen. 23 Freut euch an jenem Tage und tanzt; denn siehe, euer Lohn ist groß im Himmel. Denn das Gleiche haben ihre Väter den Propheten getan. 26 Wehe, wenn jedermann gut über euch redet; denn das Gleiche haben ihre Väter den falschen Propheten getan 1,44 Das Kind ,hüpfte‘ (tanzte) vor Freude in meinem Leibe. Tabelle 2: Die Seligpreisungen Moderne Rekonstruktionen der Q-Makarismen finden den originalen Q-Text in dem Material, das Mt und Lk gemeinsam haben, mit der Tendenz, dem LkEv in Wortlaut Abfolge den Vorzug zu geben (d. h. Lk 6,20-23 = Q 6,20-23). 22 Es gibt also keine Q-Fassung von den mt. Makarismen, die nicht bei Lk enthalten sind, und ebenso wenig von den lk. Wehrufen (Lk 6,24-26). Ex hypothesi werden die mt. und lk. Passagen nur über den Umweg Q zu einander in Beziehung gesetzt. Es gibt kategorisch keine Möglichkeit eines direkten Einflusses in die eine oder andere Richtung (M→L oder L→M). Und doch drängt sich die Möglichkeit M→L (nicht aber L→M) auf, wie Abb. 2 zeigt. Die ersten acht mt. Makarismen sind in der 3. Pers. Pl. formuliert: „Selig die Armen im Geist, denn ihnen gehört das Himmelreich“, usw. Es gibt bei Mt aber noch zwei Fassungen der Seligpreisung der Verfolgten, eine in der 3. Pers. Pl. und eine längere, die in die 2. Pers. Pl. wechselt: Statt „Selig, die verfolgt sind um der Gerechtigkeit willen, denn ihnen gehört das Himmelreich“. (Mt 5,10) heißt es „Selig seid ihr , wenn sie euch schmähen und verfolgen und euch das Ärgste nachsagen um meinetwillen“ (Mt 5,11). Möglicherweise kombiniert der Evangelist hier Traditionsvarianten aus unterschiedlichen Quellen, und seine Präferenz der unpersönlichen 3. Pers. Pl. reflektiert den relativen Abstand der Bergpredigt von ihrer narrativen Einkleidung. Lk verwendet größere Sorgfalt darauf, die Predigt in einen spezifischen narrativen Kontext einzubetten, weshalb die Makarismen Jesu in der 2. Pers. Pl. an „eine große Schar seiner Jünger“ gerichtet sind, einschließlich der Zwölf, die er gerade berufen hat (vgl. Lk 6,12f). Allerdings bleiben in den ersten drei lk. Makarismen Spuren der 3. Person aus dem MtEv erhalten: Es heißt nicht „Selig seid ihr Armen“ (wie in vielen modernen Übersetzungen), sondern „Selig sind die Armen“, „Selig sind, die jetzt hungern“, „Selig sind, die jetzt weinen“ (Lk 6,20f). Die 2. Pers. Pl. findet sich nur jeweils in der zweiten Hälfte dieser Makarismen: „… denn euch gehört das Himmelreich“, „denn ihr sollt satt werden“, „… denn ihr sollt lachen“. In den korrespondierenden Wehrufen komponiert Lk dagegen frei, ohne Vorgaben einer Quelle. Dementsprechend findet sich die 2. Person in zwei der drei Makarismen in beiden Spruchhälften: „Wehe euch Reichen …“, „Weh euch , die ihr jetzt satt seid …“, wogegen „Weh denen , die jetzt lachen“ wiederum in der 3. Person formuliert ist (6,24f). Dieser Befund ist ab besten damit zu erklären, dass Lk unter dem Einfluss des Wortlautes des MtEv formuliert hat. Es gibt aber auch noch andere Hinweise darauf, dass Lk bei den Makarismen den mt. Wortlaut kannte. Im zweiten Makarismus preist Jesus „die Trauernden [οἱ πενθοῦντες]“ selig, „denn sie werden getröstet werden“ (Mt 5,4). Die lk. Version unterscheidet sich davon signifikant: „Selig seid ihr, die ihr jetzt weint, 22 Critical Edition , 46-53. 76 Francis Watson Braucht Lukas Q? 77 denn ihr werdet lachen“ (Lk 6,21b). Allerdings warnt der korrespondierende Wehruf die jetzt Lachenden: „Ihr werdet trauern und weinen [πενθήσετε καὶ κλαύσετε]“ (Lk 6,25b), was den Schluss nahelegt, dass der spätere Evangelist die mt. Version dieser Seligpreisungen im Sinn hat. Das wird deutlich durch den unerwarteten Transfer des Trost-Motivs von den mt. Trauernden („denn sie werden getröstet werden [παρακληθήσονται]“) zu den lk Reichen: „ihr habt euren Trost [τὴν παράκλησιν ὑμῶν] schon empfangen“ (Lk 6,24). Nach den Wehrufen wendet sich Jesus nach der lk. Erzählfolge dem Thema der Feindesliebe zu: „Euch aber, die ihr zuhört, sage ich: Liebt eure Feinde! “ (Lk 6,27). Das initiale „aber“ ist auffällig: Jesus hat bereits zu denen gesprochen, „die hören“: Die „große Menge“ aus Jüngern und dem Volk ist zu Jesus gekommen, „um ihn zu hören“ (Lk 6,18). Bei Lk leitet Jesus seine Reden gewöhnlich mit einer λέγω ὑμῖν-Formulierung ein, die die Tatsache unterstreicht, dass er derjenige ist, der das Wort führt. Das adversative ἀλλὰ ὑμῖν λέγω ist aber bei Lk sonst nicht mehr belegt. 23 Die beste Erklärung ist, dass hier ein Echo der antithetischen Struktur von Mt 5,43f vorliegt, wo „ich aber sage euch“ (ἐγὼ δὲ λέγω ὑμῖν) einen pointierten Gegensatz zu „ihr habt gehört, dass gesagt ist“ (ἠκούσατε ὅτι ἐρρέθη) markiert. Wenn Lk das Feindesliebegebot aus dem MtEv übernimmt, übernimmt er es nicht aus Q, ebenso wie er die Makarismen nicht aus Q übernimmt. Nun hängt aber nicht weniger als die Existenz von Q an der Unabhängigkeit des LkEv vom MtEv bei den zweifach bezeugten Stoffen. Deswegen müssen ihre Verteidiger so hartnäckig darauf beharren, dass das Modell M→L extrem unwahrscheinlich sei. Uns wird gesagt, dass der sich Lukasevangelist innerhalb dieses Modells des Vandalismus schuldig macht, weil er die majestätische Architektur des MtEv in einen Steinhaufen verwandelt (Holtzmann), und dass ein solches editorisches Vorgehen schlechterdings unverständlich ist (Streeter). Diese schlecht oder gar nicht begründete Behauptung wird bis auf den heutigen Tag ständig wiederholt. Es ist gewiss verständlich, dass aus Sicht einer Forschung, die sich seit langem an Q gewöhnt hat, eine Welt ohne Q nicht vorstellbar ist. Und doch ist eine kritische Überprüfung dieses Dogmas der kritischen Orthodoxie längt überfällig. 23 λέγω ὑμῖν (7,9.28; 10,12; 11,8; 13,24; 15,7; 17,34; 18,6.14; 19,26.40); λέγω γὰρ ὑμῖν (3,8 [Johannes der Täufer], 10,24; 14,24; 22,16.18; 22,37); κἀγὼ λέγω ὑμῖν (11,9); λέγω δὲ ὑμῖν (12,4.8.27; 13,35); λέγω δὲ ὑμῖν ἀληθῶς (9,27); ἀληθῶς λέγω ὑμῖν (12,44; 21,3); ἀμὴν λέγω ὑμῖν (4,24; 12,37; 18,17.29; 21,32); ναὶ λέγω ὑμῖν (7,26; 11,51; 12,5); ἐπ’ ἀληθείας δὲ λέγω ὐμῖν (4,25); διὰ τοῦτο λέγω ὑμῖν (12,22); οὐχὶ λέγω ὑμῖν (12,51; 13,3.5); οὐδὲ ἐγὼ λέγω ὑμῖν (20,8); οὕτως λέγω ὑμῖν (15,10); ἐγὼ ὑμῖν λέγω (16,9); σοὶ λέγω (5,24; 7,14); λέγω σοί (12,59; 22,34). Zeitschrift für Neues Testament 22. Jahrgang (2019) Heft 43 / 44 Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte Werner H. Kelber „Alle Medien überwältigen uns vollständig. Ihre persönlichen, politischen, ökonomischen, ästhetischen, psychologischen, moralischen, ethischen und sozialen Wirkungen sind so tiefgreifend, dass sie keinen Teil von uns unberührt, unbeeinflusst oder unverändert lassen“. 1 „Die neuzeitliche Wahrnehmungs- und Erkenntnistheorie ist eine monosensuale Theorie. Alle ihre Leistungen und damit auch jene der beschreibenden Naturwissenschaften überhaupt erscheinen als das Resultat einer Spezialisierung auf das Sehen. Erkauft werden die unbestreitbaren Erfolge mit einer unwahrscheinlich reduktionistischen Erkenntnistheorie und der Verkümmerung anderer Sinne“. 2 1. Die typographische Gefangenschaft der historisch-kritischen Forschung „Kein anderer Informationstyp wird bis in unser Jahrhundert hinein so sehr prämiert wie der typographische“. 3 Es ist gewiss nicht üblich, das Thema der frühchristlichen Tradition mit Überlegungen über das Printmedium anzugehen, denn es geht hierbei ja um die Kommunikationskultur des ersten Jh.s und nicht um die des 15. Jh.s. Es ist jedoch aus zwei Gründen angebracht, dass wir uns zunächst mit dem Printme- 1 M. McLuhan, The Medium is the Massage: An Inventory of Effects, London 1967, 26. 2 M. Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, Frankfurt 1994, 653. 3 Ebd., 504. 80 Werner H. Kelber dium eingehend befassen und dabei zwischen dem oral-skriptographischen Informationssystem der Antike und der zunehmend typographischen Technisierung seit dem 15. Jh. klar unterscheiden. Zum einen hat die Bibelwissenschaft ihre Arbeit seit über fünf Jahrhunderten auf der Grundlage und zu den Bedingungen des Printmediums geleistet. Nahezu alle biblischen Texte wie auch unsere eigenen Veröffentlichungen sind vom typographischen Informationssystem geprägt und geformt. Obwohl wir durch die Kommerzialisierung des Internets seit Anfang der 1990er Jahre einen gewaltigen Schub in Richtung auf das digitale System erleben, sind wir doch bei unserer Arbeit an Texten noch immer in hohem Maße Kinder einer typographischen Kultur geblieben. Das Printmedium prägt den Alltag unserer wissenschaftlichen Arbeit. Allerdings fällt die enge Verflechtung typographischen Denkens mit der modernen Bibelwissenschaft nicht unmittelbar ins Auge. Das ist der zweite Grund für die eingangs erforderliche Besinnung auf das Printmedium. In ihrem umfassenden Werk The Printing Press as an Agent of Change hat Elizabeth Eisenstein das Einleitungskapitel mit gutem Grund „Die uneingestandene Revolution“ genannt, 4 in der Überzeugung, dass wir uns „in einem gegenwärtigen Zustand der Blindheit in Bezug auf den Einfluss des Printmediums befinden“. 5 Zweifellos hat sich seit Erscheinen des Buches medienwissenschaftlich viel verändert, 6 es ist aber insofern alles andere als überholt, als die Bibelwissenschaft bis heute eine kritische Analyse desjenigen Kommunikationssystems schuldig geblieben ist, in welchem sie fast ausnahmslos ihre Publikationen medialisiert hat. Es scheint selten oder gar nie der Fall gewesen zu sein, dass das typographische Medium als solches etwa in Einleitungen zur Bibel oder in biblischen Hermeneutiken zum Gegenstand kritischer Untersuchungen geworden ist. 7 Dies ist umso bemerkenswerter als die 42zeilige Gutenberg-Bibel nicht nur der spektakuläre Präzedenzfall und hauptsächliche Nutznießer des neuen Mediums war, sondern überhaupt das erste Buch der vom typographischen High- Tech eingeleiteten frühen Neuzeit. 8 Eine einzigartige Systematisierung der in Maschinendruck konstruierten biblischen Sprache, gekoppelt mit einer nahezu außerirdischen Ästhetik, verschaffte der Gutenberg-Bibel eine bislang nie da- 4 E. Eisenstein, The Printing Press as an Agent of Change. Bd. 1, Cambridge 1979, 3-42. 5 Ebd., 17. 6 Die m. E. wichtigste deutschsprachige Monographie zum Thema ist Giesecke, Der Buchdruck. 7 Ich verweise an dieser Stelle auf das bahnbrechende Werk von W.J. Ong, Ramus, Method and the Decay of Dialogue: From the Art of Discourse to the Art of Reason, Cambridge 1958, das den Umbruch vom aristotelisch-thomistischen Weltbild zu der vom Aufkommen des Druckmediums beeinflussten system- und methodenorientierten Logik der frühen Neuzeit philosophisch wie historisch höchst luzide beschrieben hat. 8 Der Begriff „High Tech des 15. Jh“. stammt von Giesecke, Der Buchdruck, 67 f. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 81 gewesene Autorität. Genauer verwandelte die Drucktechnologie die Bibel in eine buchstabengetreue, rigoros eingegrenzte Organisationsform, die sich damit entscheidend sowohl von oralen wie von bisherigen skriptographischen Informationssystemen unterschied. Denn während mündliche Traditionsweisen im wahrsten Sinne „grenzenlos“ sind, „bewegte sich die Manuskriptkultur im Westen immer am Rande der Mündlichkeit“. 9 Vom Standpunkt des eingegrenzten, in sich verschlossenen Sprachraumes der Druckbibel ist es nur noch ein kleiner Schritt bis hin zur reformatorischen Vorstellung von der hermeneutischen Eigengesetzlichkeit oder Autarkie der Bibel. Giesecke hat das klar erkannt: „Dieser Autarkiegedanke wird dann wieder in die theologische Argumentation eingeführt, auf die Bibel angewendet, und führt zum protestantischen Schriftprinzip. Die Schrift (der Brunnen) ist an sich klar, ,sui ipsius interpres‘ . Es gibt keine weitere Instanz, die erforderlich wäre, um Weisheit zu schöpfen. Der Brunnen sprudelt von selbst, man muss nur noch trinken “ . 10 Von mediengeschichtlicher Perspektive aus betrachtet erscheint es durchaus angemessen, das reformatorische Prinzip des sola scriptura als das theologische Manifest der typographischen Apotheose der Bibel zu bezeichnen. Mit anderen Worten, man kann sola scriptura als die „kommunikative Reformation“ 11 verstehen, die aus den Erfahrungen mit der Print-Bibel hervorging. Die vorangegangenen Überlegungen über die hermeneutischen Implikationen des Printmediums werfen verstärkt die Frage auf, warum die Bibelwissenschaft das Medium der Druckbibel bisher kaum oder gar nicht reflektiert hat. Wie ist es möglich, dass „das soziale Schlüsselerlebnis des 15. Jahrhunderts“, 12 in dessen 9 W.J. Ong, Orality and Literacy. The Technologizing of the Word, New York 1982, 119. 10 Giesecke, Der Buchdruck, 163. 11 Ebd., 25. 12 Ebd., 82. Werner H. Kelber ist Isla Carrol and Percy E. Turner -Professor Emeritus of Biblical Studies, Rice University, Houston, Texas. Geboren 1935. Studium der Theologie in München und Tübingen, mit theologischem Abschlussexamen in Erlangen (1962); Th.M. Princeton Theological Seminary (1964); M. A. (1967) und Ph.D. University of Chicago (1970). Forschungsschwerpunkte: Mündlichkeit-Schriftlichkeit-Print Medium, Gedächtnisdiskurs, Erzähltextanalyse ( narrative criticism ), Mediengeschichte der Bibel, Textkritik, Rhetorik, Gattungskritik, biblische Hermeneutik. 82 Werner H. Kelber Zentrum die mittels des neuen Mediums geschaffene Bibel stand, so wenig Beachtung in der Bibelwissenschaft gefunden hat? Wir werden dieser Frage im Folgenden näher nachgehen. 13 Eine Eigenschaft des Printmediums besteht darin, dass es Produkte außerhalb von uns selbst in der raumzeitlichen Wirklichkeit schafft, sich gleichzeitig aber in unserer Innenwelt einnistet, indem es unser Wahrnehmungs- und Denkvermögen durchdringt. Genau das bringt die eingangs zitierte Äußerung von Marshall McLuhan zum Ausdruck: Könnte es sein, dass wir in dem Maße unfähig sind, den Einfluss des typographischen Kommunikationsmediums zu erkennen, wie es von uns Besitz ergriffen hat? „Es ist“, wie Eisenstein anmerkt, „schwierig, Prozesse zu beobachten, die unsere Tätigkeit des Beobachtens selbst so gänzlich durchdringen“. 14 Ist es denkbar, dass die typographische Revolution gerade deswegen in der biblischen Disziplin weithin unbeachtet geblieben ist, weil diese, ähnlich wie die klassische Philologie, zu denjenigen akademischen Feldern gehört, die zutiefst in der Buchkultur verwurzelt sind? So sehr sind unser täglicher Umgang mit Büchern und Manuskripten, unsere Lese- und Schreibgewohnheiten und unser ständiges Arbeiten in einem typographisch bestimmten und eingegrenzten Wissensraum ein Teil unser selbst geworden, dass es uns an der nötigen kognitiven und psychologischen Distanz mangelt, um den tiefgehenden Einfluss des Printmediums auf uns wahrzunehmen. Wir sind uns am allerwenigsten dessen bewusst, was uns am tiefsten geprägt hat. Was nötig wäre, sind intensive selbstreflexive Anstrengungen. Die Ironie hat ein schlaues Spiel mit uns getrieben: Was uns täglich vor Augen liegt, ist uns weithin verborgen geblieben. Auf ideelle und inhaltliche Begrifflichkeit fokussiert, haben wir uns das typographische Medium - wenn wir ihm überhaupt Beachtung schenken - als neutralen Träger von Ideen vorgestellt. Im Grunde genommen ist es unserer Wissenschaft nie gelungen, das Medium als Katalysator, als einen an der Wissensproduktion aktiv mitwirkenden co-participant in unser hermeneutisches Denken mit einzubeziehen. Eine der folgenschwersten, durch die neue Informationstechnik verursachten kulturellen Revolutionen fand ihren offenkundigen Ausdruck in einer bislang nie dagewesenen Technisierung von Sprache und Textgestaltung. Gutenbergs Erfindung implizierte die Konstruktion eines voll und ganz technologisierten Sprachraumes, des typographic space . 15 Jede Druckseite war systematisch formatiert, in akribisch-linearer Anordnung arrangiert, mit abstandsgleichen Zeilen 13 Für nähere Ausführungen über das Druckmedium und dessen Einwirkung auf die Bibelwissenschaft vgl. W.H. Kelber, The ‚Gutenberg Galaxy‘ and the historical Study of the New Testament, Oral History Journal of South Africa (2017), 1-16. 14 Eisenstein, The Printing Press, 8. 15 Der Begriff „typographic space“ stammt von Ong, Orality and Literacy, 128 f. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 83 von unveränderbaren Rändern eingegrenzt und mit identischen Raumabständen zum jeweiligen Zeilenrand versehen, links und rechts, oben und unten. „Man sieht, ohne eine geradezu zwanghafte Genauigkeit ließ sich die Gutenberg’sche Idee nicht verwirklichen“. 16 Die Seitengestaltung von Gutenbergs Bibel projiziert den Eindruck höchster technischer Vollkommenheit, makelloser Proportionen, geradliniger Unveränderbarkeit, skriptographischer Stabilität, und man darf sagen: effektiver Endgültigkeit. In dem Maße, wie sich die High-Tech -Produkte des 15. Jh.s mit ungeahnter Geschwindigkeit über Europa verbreiteten, begann deren streng systematisch organisierte Logik das menschliche Denk- und Wahrnehmungsvermögen sukzessive zu beeinflussen. Abgesehen von einer völlig durchrationalisierten und ästhetisch harmonisierenden Textgestaltung zeichnete sich die Print-Produktion der Bibel durch eine skriptographische Gleichschaltung aus. Indem sämtliche Lettern und Satzzeichen in gleichmäßiger Form und Schrifthöhe produziert wurden, waren die Voraussetzungen für eine totale alphabetische Regelmäßigkeit eines jeden Druckbogens gegeben. 17 Außerdem wurden auf der Makroebene technische Mechanismen geschaffen, welche die Vervielfältigung der gedruckten Texte ermöglichten. Der Replikationsapparat machte den Weg zur Produktion einer unübersehbaren Zahl von identischen Kopien frei, ein außerordentliches Ereignis, das der Bibel eine nie dagewesene Autorität verlieh. Dazu bemerkt David Parker: „Die Fähigkeit, eine riesige Anzahl identischer Kopien des griechischen Neuen Testaments zu produzieren, hatte ein neues Konzept der textlichen Autorität zur Folge“. 18 Das technische Replikationsvermögen ist in der Tat eine beispiellose, an ein Wunder grenzende Entwicklung, deren Tragweite bisher noch kaum beachtet wurde. Denn vor der Einführung des Buchdrucks war das Phänomen ausnahmsloser Gleichheit in der Kommunikationskultur unbekannt. Völlige Identität ist überdies ein der Natur fremdes Phänomen und gewiss kein Wesenszug der menschlichen Spezies. Keine Pflanze, kein Tier, keine Person gleichen einander in allen Einzelheiten. Vielmehr ist alles Leben sowohl identisch als auch andersartig. Typischerweise hat sich die Philosophie seit alters her mit dem Problem von Identität und Unterschiedenheit und weniger mit dem der absoluten Identität herumgeschlagen. Mediengeschichtlich betrachtet bezeichnet „Mündlichkeit“ eine Pluralität gleicher und verschiedener Stimmen, und ebenso gelang es dem skriptographischen Medium niemals, uneingeschränkt identische 16 Giesecke, Der Buchdruck, 82. 17 Könnte man hier nicht einen Zusammenhang zwischen buchstabengetreuer Technisierung und einer Hermeneutik des literalen Wortsinnes vermuten? Mögliche Verbindungen zwischen modernem Bibelfundamentalismus und neuzeitlicher Drucktechnik wären einer eingehenden Untersuchung wert. 18 D.C. Parker, The living Text of the Gospels, Cambridge 1997, 189. 84 Werner H. Kelber Manuskripte zu generieren. Die Produktion vollends identischer Kopien war ein unerreichbares Ziel. Erst dem Printmedium war es vorbehalten, das Wunder exakter Vervielfältigung zu vollbringen. Ein bislang unbekanntes Identitätsideal war damit in die Mediengeschichte eingetreten. Eine Folge der Vervielfältigungstechnologie war, dass mehr und mehr identische Kopien den Markt überfluteten. Humanisten und Theologen vielerorts in Europa sahen sich dadurch imstande, mit identischen Textformen zu arbeiten. Ihre Diskussionen konnten zunehmend auf der Basis eines einheitlichen Textes geführt werden. Allmählich wurde diese sich rasch ausbreitende Textidentität zu einer neuen Realität. Da nun die Vielzahl völlig identischer Kopien ein und dieselbe Textform garantierte, begann sich die Überzeugung durchzusetzen, dass es so etwas wie einen Standardtext gibt, 19 und der einheitlich standardisierte Text wurde zur neuen Normalität des typographischen Mediums. Die Erfahrung lehrte, dass die vielen Texte genau genommen der eine Text waren. Die epistemologische Tragweite der neuen Technologie sieht auch Eisenstein: „Standardisierung war eine Folge der Drucktechnik, die in ihrer Bedeutung noch immer unterschätzt werden dürfte“. 20 Noch deutlicher formuliert Giesecke: „Die Standardbibel ist erst das Produkt der frühen Neuzeit“. 21 Es bedurfte nur eines kleinen aber folgenreichen Schrittes, um den Schluss zu ziehen, dass dem Standardtext auch normative Gültigkeit zukommt. Das besagte, dass ein Standardtext nicht nur technisch realisierbar, sondern zugleich auch theologisch maßgebend war. Von der Standardisierung über die Normierung bedurfte es wiederum nur eines kleinen und nur scheinbar harmlosen Schrittes, um zur Vorstellung einer skriptographischen Ursprünglichkeit zu gelangen. Spätestens seit Westcotts und Horts einflussreichem Werk The New Testament in the Original Greek 22 hatte sich die Vorstellung eingebürgert, dass die Textkritik mit der Suche nach dem „ursprünglichen Text“ befasst ist. Zwar hat der Begriff der „Ursprünglichkeit“ in jüngster Zeit Modifikationen, Qualifikationen und sogar Kritik erfahren, und die Textkritik ist mittlerweile im Begriff, von der Vorstellung eines ursprünglichen Textes abzurücken. Doch spielt nach wie vor das Ideal der Originalität in der Bibelwissenschaft eine bedeutende und zugleich vielfach uneingestandene Rolle. So haben typographische Stabilisierung, 19 Ich behaupte keineswegs, dass nicht schon in der Antike Anstrengungen unternommen wurden, der skriptographischen Pluralität durch einen Standardtext entgegenzutreten. Allerdings scheint mir die Bibelwissenschaft das Phänomen der textuellen Stabilität überbetont und dasjenige der textuellen Variabilität unterbelichtet zu haben. Was im 15. Jh. geschah, war der Beginn einer Entwicklung, in der der Standardtext zunehmend zu einem universal gültigen, idealen Texttypus wurde. 20 Eisenstein, The Printing Press, 8. 21 Giesecke, Der Buchdruck, 244. 22 B.F. Westcott / F.J.A. Hort, The New Testament in the Original Greek, New York 1881. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 85 Standardisierung, Normierung und nicht zuletzt das Wunschbild der Ursprünglichkeit zur Prämisse des Urtextes entscheidend beigetragen. Durch die vom Printmedium entwickelten Vervielfältigungsprozesse wurde die akademische, juristische, diplomatische, theologische und kulturelle Welt von Druckerzeugnissen geradezu überschwemmt, anfänglich in Europa und bald auch über Europa hinaus. Autoren konnten auf ein sich rapide vergrößerndes typographisches Archiv zurückgreifen. Das schiere Ausmaß, die unaufhaltsame Proliferation und die augenfällige Allgegenwart von Büchern und anderen Druckerzeugnissen hatte zur Folge, dass man, meist unwissentlich, Methodik, Informationsverarbeitung und Denkgewohnheiten der Gutenberg-Ära auf die Zeit vor Gutenberg zurückprojizierte. Dabei liefen die Geisteswissenschaften Gefahr, von der Macht des neuen Mediums hypnotisiert, die Welt einschließlich der Antike auf der Basis des Gutenberg’schen Kommunikationsmodells zu verstehen. Nach der Einschätzung Walter Ongs haben sich uns „die Kommunikationsmedien unserer eigenen Kultur unbemerkt als absoluter Wertmaßstab aufgedrängt, mit dem Effekt einer Lähmung“. 23 In dem Maße, wie die neutestamentliche Wissenschaft sich bis heute noch vorwiegend in den Bahnen der Buchkultur bewegt, sieht sie in der frühchristlichen Kommunikationsgeschichte ein vorwiegend skriptographisches Phänomen. Unser täglicher Umgang mit dem Printmedium, die Lektüre und Abfassung nahezu sämtlicher Publikationen, einschließlich der alten Quellen, kurzum alles, wovon wir vor der digitalen Wende stets im Druckformat Gebrauch machten, hat uns zu einer unreflektierten Verabsolutierung dieses Mediums verleitet. Wie in der westlichen Kultur überhaupt, so ging auch in der Bibelwissenschaft der Aufstieg des Printmediums Hand in Hand mit dem Verfall oraler und memorialer Sinneswahrnehmungen. Die Verkümmerung der sensorischen Informationsquellen, d. h. der Verlust derjenigen Sinneswahrnehmungen, die in der Antike und bis weit in das Mittelalter hinein vorrangig wichtig waren, war ein Prozess, der sich über Jahrhunderte erstreckte, und der mit der Entwicklung der Gutenberg’schen Erfindung einem Höhepunkt zusteuerte. Marshall McLuhan, einer der Begründer der modernen Medienwissenschaft, vertrat die Ansicht, dass bereits die Erfindung des Alphabets „einen störenden Einfluss“ auf die bis dahin vorherrschende orale Kommunikation ausgeübt hat. Etwas vorsichtiger äußerte sich Joanna Dewey hinsichtlich der Durchsetzungskraft des chirographischen Mediums: „Geschriebene Texte triumphierten zu gegebener Zeit über die lebendige Tradition“. 24 In bildhafter Sprache hat Stephen 23 Ong, The Presence of the Word. Some Prolegomena for Cultural and Religious History, New Haven 1967, 20 f. 24 J. Dewey, The Oral Ethos of the Early Church. Speaking, Writing and the Gospel of Mark, Eugene 2013, 127. 86 Werner H. Kelber Moore eine ähnliche Beobachtung in Bezug auf das typographische Medium angestellt: „Seit Gutenberg haben wir einen Ur-Ozean mit dem trockenen Land vertauscht“, wobei der Ur-Ozean die lebendige mündliche Tradition und das trockene Land das Printmedium repräsentieren. 25 Vom Standpunkt typographischer Errungenschaften aus gesehen ist man darauf verfallen, die universale Bedeutung des Printmediums zu überschätzen, und zugleich mündliche Kulturen als ungebildet, weil des Lesens und Schreibens unkundig abzustempeln. Es darf als ein Symptom der Abwertung des menschlichen Sensoriums angesehen werden, dass die formgeschichtliche Methode für das Phänomen des Gedächtnisses kein angemessenes Verständnis entwickeln konnte. In Rudolf Bultmanns klassischem Werk Die Geschichte der Synoptischen Tradition 26 sucht man den Begriff des Gedächtnisses vergeblich. Die für die Erforschung der synoptischen Tradition im deutschsprachigen Raum seit den 20er Jahren des 20. Jh.s prägende Formgeschichte hat es fertiggebracht, die tief in einer mündlichen Kultur wurzelnde Jesustradition ohne Rekurs auf den Faktor des Gedächtnisses zu konzeptualisieren. Diese Tatsache ist fast noch erstaunlicher als die mangelnde Einsicht in die hermeneutische Bedeutung von Mündlichkeit. Memoria/ Mnemosyne , die Mutter der neun Musen, Göttin des Gedächtnisses und der Imagination, eine der fünf Kategorien der Redekunst, nach Augustinus neben Wille und Vernunft eine der drei geistigen Kräfte der Seele, Schatzhaus der Beredsamkeit, verehrte Wächterin der Rhetorik und tiefer Raum des menschlichen Denkvermögens, hat in der formgeschichtlichen Forschung der frühen Jesustradition eine nur unbedeutende Rolle gespielt. Die Dominanz des Printmediums dürfte bei der Vernachlässigung und, damit einhergehend, dem Verlust des Gedächtnisses in der Evangelienforschung eine wesentliche Rolle gespielt haben. Unverkennbar haben sich typographische Vorstellungen in die Auseinandersetzung mit der sogenannten synoptischen Frage eingeschlichen. In der Einleitungswissenschaft wird das synoptische Problem meist als das der textlichen Übereinstimmung und Verschiedenheit , bzw. des ausschließlich und direkt literarischen Abhängigkeitsverhältnisses von Matthäus, Markus und Lukas definiert. Schon aufgrund dieser Definition scheint es, als handele es sich um ein rein literarkritisches Problem. Aber sobald einmal die synoptische Frage als ein literarisches Problem definiert war, musste die Lösung zwangsläufig auf einer literarkritischen Ebene zu suchen und finden sein. In Forschung und Lehre ist die Zweiquellentheorie, wonach Matthäus und Lukas die beiden Quellen Markus 25 S.D. Moore, Literary Criticism and the Gospels. The Theoretical Challenge, New Haven 1989, 95. 26 R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen 10 1995. Die an diesem klassischen Werk vielfältig geübte Kritik richtete sich, soweit ich sehen kann, kaum jemals auf die Nichtbeachtung des Gedächtnisfaktors. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 87 und Q benutzt haben, weithin dominierend. Der grafischen Darstellung dieses Modells eignet in ihrer Geradlinigkeit und proportionierten Gleichförmigkeit eine nicht geringe visuelle Überzeugungskraft. In der Tat ist die grafische Symmetrie dieses Modells so eingängig, dass es einiger mentaler Anstrengungen bedarf, um wahrzunehmen, dass die Leser mit einem streng kontrollierten typographischen Sprachraum konfrontiert sind, aus dem orale und memoriale Dynamiken dezidiert ausgegrenzt sind. Die Folge ist, dass genau diejenigen Faktoren disqualifiziert werden, die im Kommunikationssystem der Antike eine Hauptrolle gespielt haben dürften. Nun ist es eine der Grunderkenntnisse der modernen Kommunikationswissenschaft, dass jedes Medium gezwungen ist, die Informationsfülle einer mehrdimensionalen und multisensualen Wirklichkeit zu reduzieren. Jeder Wahrnehmungsvorgang ist zwangsläufig selektiver Art. Eine gewisse Klarheit über Ereignisse und Geschehensabläufe ist überhaupt nur durch eine kontrollierte Komplexitätsreduktion zu erlangen. Aus diesem Grunde kann es nicht darum gehen, sich über das klassische Modell rundweg hinwegzusetzen, freilich auch nicht darum, ihm größere Geltung zuzuerkennen, als ihm zukommt. Vom medientheoretischen Gesichtspunkt aus darf man aber sagen, dass das typographische Paradigma auf räumliches Vorstellungsvermögen angewiesen ist, während Oralität und Erinnerung zeitbedingte , räumlich nicht nachvollziehbare Phänomene sind. Es geht darum, ein angemessenes Problembewusstsein zu entwickeln und diese blinden Flecken im Hinblick auf ihre folgenschweren Konsequenzen ernstlich zu bedenken. Gehen wir nochmals der Frage nach, warum die formgeschichtliche Forschung im 20. Jh. zu fragwürdigen Anschauungen von Oralität gelangte und ohne Rückgriff auf memoriale Prozesse auszukommen glaubte. Maßgeblich war, wie ich zu zeigen versuchte, der sich über alle vorausgegangenen Informationsmedien hinwegsetzende „imperialistische Grundzug“ 27 des typographischen Systems, die beispiellose typographische Aufwertung der Bibel, die rasante Verbreitung von Druckerzeugnissen aller Art, die wachsende Standardisierung des Wissens als reines Bücherwissen, die Popularisierung der Logik der Intertextualität, wonach Texte ohne Bezug auf andere Texte kaum mehr denkbar sind, und ganz allgemein ein von Gutenbergs revolutionärer Erfindung geförderter Intellektualismus. Aber es gab noch einen weiteren Faktor, der bei der Untersuchung der neuzeitlichen Einengung menschlicher Sinneswahrnehmungen nicht unterschlagen werden darf. Ich kehre zurück zu den Mechanismen des High-Tech des 15. Jh.s. Im Umgang mit der Druckerpresse wurden Schriftsetzer 27 Giesecke, Der Buchdruck, 504. 88 Werner H. Kelber und Drucker sowie Unternehmer des um sich greifenden Print-Kapitalismus 28 tagaus und tagein daran erinnert, dass das gedruckte Buch ein Produkt rein mechanischer Prozesse und der Schriftsatz eine „durch und durch künstliche, im Vorhinein zu planende und metallisch zu konstruierende Sprache“ war. 29 Gutenbergs Vulgata und fortan sämtliche Druckbibeln waren ein Wahrzeichen der neuen ars artificialiter scribendi . Mündliche Kommunikation und Erinnerungsfähigkeit, die beide am antiken und mittelalterlichen Informationssystem konstitutiv beteiligt waren, erwiesen sich nun als zwecklos und überflüssig. Somit war es unausweichlich, dass im typographischen Zeitalter technische Konstruktion und methodische Logik gegenüber mündlichen Sensibilitäten, auditiver Wahrnehmung und dem Erinnerungsvermögen priorisiert wurden. Oralität und Gedächtnis wurden ausgegrenzt oder ignoriert, weil sie im typographisch technisierten Informations- und Kommunikationszeitalter ausgedient hatten und ihrer raison d’etre verlustig gegangen waren. 2. Die Entdeckung der Mündlichkeit 2.1 Marcel Jousse und Edgard Sienaert „Erinnerung könnte insofern sogar zuverlässiger sein als schriftliche Dokumente, als sie eine lebendige Flexibilität in Gebrauch und Austausch formelgeprägter Mechanismen bewahrt, die kein Kopist oder Redaktor schriftlicher Dokumente erreichen kann“. 30 Jousse hatte sich bei seinen sämtlichen Untersuchungen der facettenreichen Welt der Mündlichkeit die Beantwortung einer grundlegenden Frage gewidmet: „Wie bewahren Menschen inmitten zahlloser Handlungen des Universums die Erinnerung an diese Handlungen, und wie überliefern sie das Erinnerte zuverlässig von Generation zu Generation an ihre Nachkommen? “ 31 Es ist stets ein problematisches Unterfangen, wenn man einen wissenschaftlichen Paradigmenwechsel an einer einzelnen Forscherpersönlichkeit festmacht. Anfänge sind komplexe Geschehen, die selten präzis datiert werden können. Jeder Neuanfang erwächst aus einer Fülle von Voraussetzungen und beruht 28 Der Begriff „print capitalism“ stammt von B. Anderson, Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London/ New York 1983, 18, passim. 29 Giesecke, Der Buchdruck, 98. 30 M. Jousse, Memory, Memorization, and Memorizers. The Galilean Oral-Style Tradition and Its Traditionists, hrsg. und übers. E. Sienaert, Eugene 2018, 122. 31 E. Sienaert, “Marcel Jousse: The Oral Style and the Anthropology of Gesture,” 94. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 89 immer auf zuvor geleisteter Denkarbeit. Im Blick auf Mündlichkeit ist das Anfangsdenken umso fragwürdiger, als es sich bei der Entdeckung der Mündlichkeit um die Wiederentdeckung von etwas eigentlich schon immer Dagewesenem handelt. Wenn ich trotzdem bei der Person von Marcel Jousse ansetze, dann in dem vollen Bewusstsein, dass sein Werk aus vorangegangenen Kontexten erwachsen ist und an zahlreiche ältere Ansätze anknüpft, die hier nicht dargestellt werden können. Im Jahr 1925 veröffentlichte Jousse, französischer Anthropologe, Ethnologe und Semitist (1886-1961), ein zu seinen Lebzeiten vielbeachtetes Werk unter dem Titel Le Style Oral rhythmique et mnémotechnique chez les Verbomoteurs . 32 Nach Form und Inhalt war es ein äußerst unkonventionelles Buch, denn es rekrutierte sich aus einer Unzahl von Zitaten aus der wissenschaftlichen Sekundärliteratur. Es darf angenommen werden, dass Jousse die Intention hatte, seinem Programm gerade durch dieses Format Ausdruck zu verleihen. Ihm ging es darum vorzuführen, wie sich eine Vielzahl von Stimmen harmonisch zu einer Einstimmigkeit summiert, ohne in einem einheitlichen Paradigma systematisiert zu werden. Mit anderen Worten, eine glaubwürdige Synthese konnte nicht um den Preis einer Abstraktion von der unermesslichen Vielfalt der Daten zustande kommen, sondern sie ergab sich aus der Interaktion möglichst vieler Einzelteile. Jousses Le Style Oral und seine Vorlesungstätigkeit an der Sorbonne , der École des Haute Études , der École d’Anthropologie und dem Laboratoire de Rythmo-Pédagogie in den Jahren 1931 bis 1957 waren Gegenstand lebhafter Diskussionen in Paris und wurden in gewissen Kreisen zu einem kulturellen Ereignis. Auch einzelne Intellektuelle, unter ihnen der Homerexperte Milman Parry und der Schriftsteller James Joyce, gerieten unter den Einfluss von Jousse. Parry kam aufgrund der Lektüre von Jousses Le Style Oral zu der Einsicht dass es sich bei den Homerischen Kompositionstechniken nicht um schlechthin traditionsgebundene Sprache, sondern speziell um mündliche Diktion handelt. 33 Jousse seinerseits vertrat die Ansicht, dass die Arbeit Parrys über L’Épithethe traditionelle dans Homère eine Bestätigung seiner eigenen Thesen über die formelgeprägte Sprache der palästinischen Kultur war. 34 Im Fall von Joyce war es das Erlebnis dramatischer Vorführungen der Gleichnisse Jesu, von Jousse in aramäischer Sprache choreografiert, das seiner schriftstellerischen Kreativität wichtige Impulse gab. 35 Der Performanzcharakter der Gleichnisse und die Kombination von Tanz, fremder Sprache und Gestik hinterließen ihre 32 M. Jousse, Paris, 1925; engl. Übersetzung von E. Sienaert / R. Whitaker, The oral Style New York, 1990. 33 A. Parry (Hg.), The Making of Homeric Verse. The Collected Papers of Milman Parry, New York 1987, IX- XII, vgl. vor allem XXX-XXXI und XXXIV-XXXV. 34 Jousse, Memory, Memorization, and Memorizers, 157 f. 35 M. Colum / P. Colum, Unser Freund James Joyce, Stuttgart 1958. 90 Werner H. Kelber Spuren in Finnegans Wake , dem letzten großen Werk des irischen Schriftstellers, in dem er eine Neugestaltung von Rede, Schrift, polyglotter und aural-auditiver Sprache anstrebte. Nicht zuletzt ist der Einfluss von Jousse deutlich bei Walter Ong in seinen umfangreichen und differenzierten Analysen mündlicher und schriftlicher Kommunikationsformen greifbar. In einem Atemzug mit Marcel Jousse muss Edgard Sienaert erwähnt werden. Der in Belgien geborene Kulturwissenschaftler ist von Haus aus Spezialist der französischen Literatur des Mittelalters. Als er an der südafrikanischen Universität von Kwa-Zulu-Natal tätig war, begann er sich mit der mündlichen Kultur des Landes vertraut zu machen und erkannte alsbald, dass sie ein Schlüssel zu den vielen sprachlichen Eigentümlichkeiten war, die ihm in der mittelalterlichen französischen Literatur rätselhaft erschienen waren. Im Lichte der in Afrika entdeckten oralen Kultur wurde ihm klar, dass es sich bei den französischen Texten um eine Schnittstelle von Oralität und Verschriftlichung handelte. Auf der Suche nach weiteren Einsichten in das Phänomen der Oralität stieß er auf Marcel Jousse: „Er erschien mir damals, und er erscheint mir heute noch die einzige Person zu sein, die auf die im oralen Stil geschriebenen Texte mit dem Ohr eines Insiders zu hören vermochte“. 36 Von 1988 bis zum heutigen Tag ist Sienaert als Herausgeber, Interpret, und Übersetzer der meist unveröffentlichten französischen Schriften von Jousse tätig. Seine jahrzehntelangen Bemühungen, das Werk Jousses zu sichten, zu übersetzen und im englischsprachigen Raum zugänglich zu machen, stellen einen bedeutenden Beitrag zu den Kulturwissenschaften dar. Die Bedeutung von Jousse darf man darin sehen, dass er erstmals in der Neuzeit das Phänomen der Mündlichkeit systematisch thematisierte und eine empirisch fundierte Grundlage zur Erforschung von Mündlichkeit und mündlichen Kulturen schuf. Für den nahezu gesamten Bereich der Kultur- und Sozialwissenschaften erbrachte sein Werk ein kaum je erahntes, geradezu verblüffendes Novum: Jousse war der Überzeugung, dass Stil, Kompositionstechniken und Denkstrukturen mündlicher Kulturen und Traditionen eine eigene, von chirographischen und typographischen Medien gesonderte Untersuchung erfordern und verdienen. Seine Theorien forderten die westliche akademische Welt geradezu demonstrativ heraus, ernsthaft der Realität ins Auge zu sehen, dass sich in der Entwicklung der Menschheitsgeschichte die Schriftkultur erst vor sehr kurzer Zeit etabliert hatte. Projiziert man nämlich die Geschichte des Homo sapiens auf eine Weltuhr in Form eines Jahreskalenders dann treten das ägyptische Schriftsystem und die mesopotamische Keilschrift Mitte Dezember auf den Plan, und Gutenbergs Erfindung macht sich erst in den allerletzten Dezembertagen 36 E. Sienaert, E-Mail vom 6. Dezember 2018. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 91 bemerkbar. 37 Hatte nicht das mündliche Medium angesichts einer universalen Mediengeschichte, die bis auf eine kurze Zeitspanne in jüngster Zeit ohne das schriftliche Medium gediehen war, unsere ganz besondere Aufmerksamkeit und einen eigenen Forschungszweig verdient? Mehr noch, war es nicht in Anbetracht der auf das Ganze gesehen überwältigenden Dominanz des mündlichen Mediums geboten, das heute geläufige Kommunikationsmodell vom Ansatz her neu zu überdenken? In diesem Bewusstsein einer universalen Geschichte mündlicher Kommunikationskulturen fasste Jousse den Entschluss, eine ausführliche Materialsammlung anzulegen, um auf diese Weise eine empirische Basis für eine eigene, fundierte Gesamtsicht zu schaffen. Sein Datenbestand umfasste Texte aus Ägypten, Babylonien und Assyrien, jüdische Quellen, dazu Textproben aus den unterschiedlichsten Kulturkreisen, etwa der Hindus, Bantus, Berber und Afghanen, Quellen in aramäischer, hebräischer, arabischer und chinesischer Schrift, verbindliche mündlich tradierte Texte aus den Kommunikationssystemen von Afrika, Asien, Ozeanien, Australien, Europa, Nordamerika und vieler anderer ethnischer Kulturkreise. Die so erstellte umfangreiche Materialsammlung legte ein beredtes Zeugnis von der Existenz einer globalen Kommunikationskultur ab. Unter den von Jousse sorgsam registrierten sprachlichen Charakteristiken sind die folgenden besonders bemerkenswert: eine rhythmisch strukturierte Sprache, eine durch und durch formelgeprägte Diktion in Verbindung mit einer gewissen Variationsfreudigkeit, Parallelkonstruktionen und Wiederholungen, Alliterationen, Rezitationszitate, verschiedene Arten von Repetitionsformen und vieles andere mehr. Durchgängiges Ziel von Jousses Lebenswerk war es letztlich, den Nachweis einer globalen „verbo-motorischen“ (und senso-motorischen) Kultur zu erbringen, die durch eine oral-rhetorische Informationsverarbeitung, einen interaktiven Ablauf mimetisch-memorialer Prozesse, einen dynamisch fungierenden Kommunikationskreislauf und ein im Gemeinwesen und Traditionsstrom eingebettetes Verhaltensmodel gekennzeichnet war. Als Priester und Jesuit galt Jousses besonderes Interesse der Person und Sprache Jesu und der an Jesus anknüpfenden Evangelientradition. Er verstand sich als Anthropologe und Spezialist der Semitistik mit aramaistischem Schwerpunkt. Wie wenige humanistische Gelehrte seiner Zeit widmete er sich eingehend dem Studium der targumischen Traditionen. Jesus war nach Jousses Verständnis ein galiläischer Rabbi und Lehrer der Tora. Als Vertreter einer palästinischen „verbo-motorischen“ Kultur war er für Jousse Repräsentant einer globalen Kommunikationswelt und zugleich die Personifizierung wahrer Hu- 37 J.M. Foley, How to Read an Oral Poem, Urbana/ Chicago, 2002, 22-25. 92 Werner H. Kelber manität. 38 Seine Sprache, zutiefst geprägt von der verbo-motorischen Kommunikation der palästinisch-galiläischen Kultur, war ganz und gar formelgeprägt und in rhythmischer Übereinstimmung mit der Bilateralität des menschlichen Körpers. Was die Eigenart und den Primat formelgeprägter Diktion betrifft, so erkannte Jousse klar, dass deren Entdeckung einen bewussten Bruch mit der neuzeitlichen Sprach- und Erfahrungswelt darstellte. Ein gepflegter, typographisch geschulter Stil war alles andere als formelgeprägt. Die Hochschätzung literarischer Tugenden wie dichterische Freiheit und Einfallsreichtum oder auch pragmatische Zweckmäßigkeit und präzise sprachliche Eindeutigkeit verleiteten dazu, einen aus formelgeprägter Sprache aufgebauten Stil als gedankenlosen, banalen Jargon ungebildeter Völker abzuwerten. Im Hinblick auf Jousses zahlreiche Studien zum formelartigen Charakter der Sprache Jesu ist es bemerkenswert, dass er hierin nicht einzig und allein ein Mittel stabiler Tradierbarkeit sah. Formelgeprägte Diktion in der verbo-motorischen Kultur verstand er als ein komplexes rhetorisches Phänomen. Zwar war die Stütze des Gedächtnisses eine wichtige Funktion dieser Sprache, aber sie resultierte nicht in Stagnation oder gar Stillstand der Tradition. Die eigentliche Stärke der formelgeprägten Kommunikationskultur bestand in ihren Modifikationen, Rekombinationen und Neuschöpfungen. Die ständige Umstrukturierung der konventionellen Wendungen ermöglichte es, die Tradition in neuem Glanz erstrahlen und gegenwartsbezogen wirksam werden zu lassen. Wichtig ist, dass nach Einschätzung der antiken Rhetoren und Rezitatoren trotz aller Variationen und Modulationen die Tradition nie verlassen, geschweige denn verraten wurde, wobei hier freilich kein moderner Begriff von historischer Korrektheit vorausgesetzt werden darf. Vielmehr ist zu beachten, dass es sich, so Jousse, bei formelgeprägter Sprache um traditionelle, oft seit langer Zeit in Gebrauch befindliche Sprache handelte, die Sprecher und Hörer in einen Traditionsstrom einbettete. Dies war eine Einsicht, die für sein Verständnis von Jesus und seiner Sprache eine entscheidende Rolle spielte. Jousses gesamte Phänomenologie von Tradition, Kommunikation und Anthropologie drehte sich um den zentralen Begriff der Memoria . Es scheint mir ein in der Neuzeit einzigartiges Ereignis zu sein, dass im sensomotorischen Paradigma von Jousse dem Gedächtnis die absolute Priorität zuerkannt wurde, das im typographischen System marginalisiert und negiert worden war. Ge- 38 Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass Jousse nachdrücklich die jüdische, aramäische und galiläische Identität Jesu zu einem Zeitpunkt hervorhob, als der Antisemitismus in Europa im Aufstieg begriffen war, Antijudaismus die Bibelwissenschaft infiltrierte und die Entjudaisierung Jesu aktiv betrieben wurde. Jousse stellte mit einiger Genugtuung fest, dass er den jüdischen, aramäischen, galiläischen Jesus zur Zeit der deutschen Besetzung von Paris (1940-1944) an akademischen Instituten unbeirrt zur Geltung gebracht hatte. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 93 dächtnis war in seiner Sicht eine multifunktionale Größe. Einerseits war mündliche Tradition ohne den Ablauf memorialer Prozesse undenkbar, sodass Überlieferungsgeschichte und Erinnerungs- oder Gedächtnisgeschichte im Prinzip zusammenfallen. 39 Andererseits ist für Jousse das Gedächtnis auch das bestimmende Merkmal des Anthropos , so seine kollektive Benennung des Menschen als Glied einer erdumspannenden Einheit. Als Anthropos verkörpert er einen in einem stetigen Wechselspiel von Imitation, Inkorporation und Reorganisation formelgeprägter Sprache tätigen Organismus. Alles in allem ist Memoria eine anthropologische und eine kulturelle Größe und die Schaltstelle eines globalen, interaktiven, im Fluss befindlichen mimetischen Dramas. Die Frage scheint berechtigt: In welche Richtung hätte sich die Bibelwissenschaft entwickeln können, wenn die frühen Formkritiker einen Blick über die Grenze geworfen und das Jousse’sche Paradigma von Oralität, Tradition und Gedächtnis wahrgenommen hätten? Mit anderen Worten, hätten sich nicht die Erforschung des Synoptischen Problems, die historische Jesusforschung, die Interpretation der Evangelien und die Textkritik des 20. Jh.s anders entwickelt, wenn der Franzose Jousse sich mit den deutschen Formkritikern zu gemeinsamen Diskussionen zusammengefunden hätte, und diese mit ihm? 2.2 Milman Parry und Albert Lord „Ich meine, dass dieses Versäumnis, den Unterschied zwischen geschriebenen und mündlichen Versen zu erkennen, das größte Hindernis für das Verständnis Homers war“. 40 „Der mündliche Dichter ist fortgesetzt damit befasst, dasjenige, was er gehört hat, zu kombinieren und neu zu kombinieren, etwas hinzuzufügen und etwas wegzulassen. Dieses Kombinieren und Neukombinieren, dieses Hinzufügen und Weglassen, das ist die Tradition“. 41 Milman Parry und Albert Lord haben das Verdienst, den Anstoß für eine Forschungsrichtung gegeben zu haben, die die kompositorischen, performativen und ästhetischen Aspekte lebendiger mündlicher Überlieferung und einer von ihr abhängigen Schriftlichkeit zum Gegenstand hatte. Der Beitrag des Homerforschers Parry lässt sich am besten in einem größeren wissenschaftlichen 39 Den Begriff der Gedächtnisgeschichte verdanken wir J. Assmann (Ders., Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München 1998). Vgl. auch W.H. Kelber, The Works of Memory - Christian Origins and MnemoHistory - A Response, Semeia Studies 52 (2005), 221-248 und in jüngster Zeit v. a. A. Kirk, Memory and the Jesus Tradition, London/ New York, 2018. 40 M. Parry, “Studies in the Epic Technique of Oral Verse-Making”, 77. 41 A.B. Lord, Epic Singers and Oral Tradition , 47. 94 Werner H. Kelber Kontext verdeutlichen. Im 18. und 19. Jh. wurde die Homerforschung von zwei Schultraditionen dominiert. Auf der einen Seite standen die Unitarier, welche für die individuelle Autorschaft der Ilias und Odyssee plädierten, sei es, dass man einen Ur-Autor annahm, oder dass man die Ilias dem Homer, und die Odyssee einem anderen Verfasser zuschrieb. Die Analytiker auf der anderen Seite vertraten ein Wachstumsmodell, wonach die beiden epischen Werke schichtweise durch redaktionelle Erweiterungen entstanden sind. Zuweilen suchte man die so verstandenen Texte in einem analytischen Rückschlussverfahren auf die „Ur-Ilias“ zurückzuführen. Eine Sonderstellung nahm Friedrich August Wolf ein. In seinen unvollendet gebliebenen Prolegomena ad Homerum (1795) argumentierte er in Berufung auf die Schriftlosigkeit zur Entstehungszeit der Epen für eine mündliche Wiedergabe durch Rhapsoden, deren Vorträge in Anpassung an ihre Hörer ständigen Veränderungen ausgesetzt waren. Obwohl Wolf letztlich eine literarische Bearbeitung und Fixierung des mündlichen Traditionsstromes postulierte, betrachtete die Fachwelt seine These weithin mit Skepsis. Damals wie heute schien es unvorstellbar, eine Literarkritik ohne einen individuellen Autor und mit einer Pluralität von Darbietern ernst zu nehmen. Es war unzumutbar, dem mündlichen Medium die Schlüsselrolle im Anfangsstadium der westlichen Literaturgeschichte zuzugestehen. Während Unitarier und Analytiker sich einig waren, dass die homerischen Epen ein literarkritisches Problem darstellten, und Wolf eine vermittelnde Position zwischen Mündlichkeit und Literalität einnahm, setzte sich Parry zum Ziel, einen Lösungsvorschlag auf der Basis reiner Mündlichkeit auszuarbeiten. Die Innovation seines Ansatzes bestand darin, dass er die epischen Texte gleichzeitig von zwei verschiedenen Gesichtspunkten aus anging. Auf der einen Seite untersuchte er die Texte mit philologischer Akribie, richtete dabei aber sein Augenmerk nicht auf redaktionelle Einfügungen, thematische Ungereimtheiten und die Benutzung literarischer Quellen, sondern vielmehr auf gewisse den Texten eigene stilistische Charakteristiken. Auf der anderen Seite unternahm er den in der Homerforschung revolutionären Versuch, lebendige mündliche Traditionen zur Aufklärung der homerischen Frage zu Rate zu ziehen. Überraschenderweise fand er sein Forschungsfeld nicht in Afrika, Südamerika oder Australien, sondern in Europa. Von 1933 bis 1935 führte er ethnologische Feldstudien in abgelegenen, von moderner Zivilisation unberührten Dörfern außerhalb von Dubrovnik im damaligen Jugoslawien durch. Als eigentliches „Laboratorium“ dienten ihm lokale Sänger-Dichter, die sich selbst auf der Gusle, einem Saiteninstrument einfachster Art, begleiteten und umfangreiche epische Gesänge vortrugen, die aus einer langen Tradition hervorgegangen waren. Parry orientierte sich an drei Leitlinien: Erhellung des kompositorisch-künstlerischen Selbstver- Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 95 ständnisses der Sänger mit Hilfe ausführlicher Interviews, Tonbandaufnahmen ihrer Darbietungen und der Analyse des aufgenommenen epischen Materials. 42 Parry gewann aus der Analyse des in seinen Feldforschungen gesammelten serbo-kroatischen Materials folgende Beobachtungen: Die Kompositionen zeichneten sich durch ein erstaunlich hohes Maß an formelartigem Gut und formelgeprägten Wendungen aus. Letztere waren zum großen Teil aus vorprogrammierten ( preprogrammed ), in ständigem Gebrauch stehenden und aus der Tradition stammenden Elementen zusammengesetzt. Formelsprache war die entscheidende Kompositionstechnik, die von den Barden gepflegt und von einem Sänger zum anderen weitergegeben wurde. Hinzu kam, dass die künstlerische Wiedergabe über einen beträchtlichen Spielraum verfügte, in dem die traditionellen Elemente passend zum jeweiligen Verwendungskontext flexibel eingesetzt werden konnten. Diese formelgeprägte Kompositionstechnik diente als Gedächtnisstütze ( mnemonic trigger ) für Sänger und Hörer gleichermaßen, und sie ebnete gleichzeitig den Weg zum kontinuierlichen Fortbestehen der Tradition. Genese und Intention dieser Kommunikationsart ließen deutlich die Arbeitsweise des mündlichen Mediums erkennen. In Beobachtungen dieser Art lag für Parry der Schlüssel zur Sprache und Kompositionstechnik der homerischen Epen. Bewusst losgelöst von literarischen Denkprozessen begann er die homerischen Texte im Hinblick auf formelgeprägte Sprache zu untersuchen. Die seine Arbeit bestimmende Definition von „Formel“ ist klassisch geworden: „Die Formel in den homerischen Gedichten kann als eine Gruppe von Wörtern definiert werden, die regelmäßig unter denselben metrischen Bedingungen angewendet werden, um eine vorgegebene wichtige Idee zum Ausdruck zu bringen“. 43 Die von Parry gemäß dieser Definition durchgeführten Untersuchungen führten zu dem Ergebnis, dass die homerische Sprache nicht nur ein hohes Maß an formelgeprägter Diktion enthielt, sondern durch und durch formelgeprägter Natur war. Weit über die bekannten homerischen Epitheta hinausgehend („die rosenfingrige Eos“, „der listenreiche Odysseus“, usw.) zeigte er, wie sich formelgeprägte Wendungen um standardisierte Themenkomplexe gruppieren, die ganze Verse ausfüllen konnten. Parrys Schlussfolgerung war, dass die im Hexameter metrisch konstruierte Sprache, die Auswahl und formelgeprägte Ausdrucksweise und die im Metrum arrangierte Formelsprache das Ergebnis einer mündlichen Traditionsweitergabe war, die sich über eine lange Zeitspanne hinweg entwickelt hatte. Diese formelgeprägte 42 Die Tonbandaufnahmen der Vorführungen mitsamt den anschließenden Diskussionen und darauf bezogenen Interviews befinden sich heute in der Milman Parry Collection of Oral Literature , die Teil der Widener Library an der Universität Harvard ist. 43 M. Parry, Studies in the Epic Technique of Oral Verse-Making: I. Homer and the Homeric Style, HSCP (1930), 73-147, hier: 80. 96 Werner H. Kelber Sprache war Ausdruck einer Kultur, in der die Sänger mit vorgegebenen Elementen und Denkmustern arbeiteten und sich einer vom mündlichen Medium auferlegten Kompositionsmethode bedienten. Zwar neigte Parry zu einem etwas mechanistischen Denken, doch war er sich bewusst, dass die Sänger bei jeder Vorführung formelgeprägte Teilelemente zu einer jeweils neuen Komposition verarbeiteten. Formelgeprägte Stabilität und flexible Anpassungsfähigkeit bildeten also in seiner Sicht eine Einheit. Albert Lord, der nach dem frühen Tod Parrys dessen Erbe fortführte, hat die Mündlichkeitsforschung auf zwei Ebenen entscheidend bereichert. Zum einen vertiefte er das Verständnis der homerischen Epen durch Feldstudien in Bosnien und Herzegowina, erweiterte aber zugleich die Forschung durch eingehende Studien des Gilgamesch-Epos, eines der ältesten epischen Dichtungen, sowie des in angelsächsischen Stabreimen verfassten Epos Beowulf und der Folklore aus vielen ethnischen Kulturen. Angefangen von dem als Klassiker anerkannten Werk The Singer of Tales 44 hat das gesamte Schaffen Lords wesentlich zum internationalen Ruf der Mündlichkeitsforschung beigetragen. In Bezug auf die homerischen Epen kam Lord nach Parrys Tod zu dem Schluss, dass man bei der endgültigen Fassung der Ilias und der Odyssee mit „einer gewissen Abhängigkeit von Schriftlichkeit ( some reliance on writing )“ zu rechnen habe. 45 Die Epen repräsentierten ein Übergangsstadium zwischen Oralität und Literalität, waren aber nicht das Resultat chirographischer Kompositionstechnik, sondern vielmehr „mündliche, diktierte Texte ( oral dictated texts )“: Ein Sänger hatte sich des Diktierstils einer des Schreibens kundigen Person bedient. Das so entstandene Schreiben gab daher die Worte der mündlichen Version wieder, obwohl diese unter außergewöhnlichen Umständen eines langsam gesprochenen Diktats zustande gekommen war. Wie jeder andere mündliche Vortrag, so war auch der diktierte Text ein einzigartiges und gewissermaßen einmaliges Moment im anhaltenden Überlieferungsstrom. Auf die Dauer aber machte der fixierte Text seinen Einfluss auf die mündliche Tradition geltend, und avancierte allmählich zum „ursprünglichen Text“. Keinesfalls darf unerwähnt bleiben, dass Lord einen umfassenden und nuancierten Artikel über die Komposition der Evangelien geschrieben hat, der leider auch in der englischsprachigen Literatur zu wenig beachtet wird. Sein Beitrag The Gospels as Oral Traditional Literature geht auf einen Vortrag zurück, den er auf einem denkwürdigen Kolloquium 1970 an der Trinity University in San Antonio (Texas) gehalten hat. Darin lehnte er alle Arten von quellen- und 44 A.B. Lord, The Singer of Tales, Cambridge 1960. 45 Ders., Homer’s Originality: Oral Dictated Texts, in: Ders., Epic Singers and Oral Tradition, Ithaca/ London 1991, 38-56, hier: 45. Ursprünglich erschien der Artikel in TAPA 84 (1953), 124-133. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 97 textkritischen Thesen ab: „Ich finde es ungewöhnlich, dass ein Schreiber eine Auswahl aus mehreren dokumentarisch belegten Quellen trifft, als wähle er von einem Buffet“. 46 Lord sieht in den Evangelien ein nahezu klassisches Beispiel von drei oder vier Wiedererzählungen „,derselben‘ traditionellen Geschichte“. 47 Wie oben ausgeführt, widmete er sich in der Homerforschung eingehend den komplexen Fragen der Verschriftlichung mündlicher Traditionen und des Übergangs von Oralität zur Schrift. Leider diskutierte sein Evangeliumsartikel diese Frage nicht. 2.3 Eine neue Poetik „Womit wir ringen, ist allem Anschein nach nicht einfach ,Mechanismus‘ versus ,Ästhetik‘, nicht nur ,mündlich‘ versus ,literarisch‘, sondern überhaupt mit einer unbrauchbaren Theorie der Wortkunst“. 48 Teils unter dem Einfluss von Parry und Lord, teils unabhängig von ihnen wurden ähnliche Untersuchungen von einer sich ständig vergrößernden Anzahl von ethnischen Kulturkreisen unternommen, sodass man bald von einer eigenen akademischen Disziplin der Mündlichkeitsforschung sprechen konnte. Heute erstreckt sich diese Disziplin quer durch die Kultur- und Sozialwissenschaften, überschreitet nationale und religiöse Grenzen und umfasst ein globales Spektrum ethnischer Kulturen. Überdies darf man sagen, dass die Konsequenzen, die sich aus dem Werk von Parry, Lord und ihren Nachfolgern ergeben, weit über die spezifische Problematik von Mündlichkeit hinausgehen. Beispielsweise hat die Wiederentdeckung von vorwiegend im mündlichen Medium lebenden Kulturen zu einer kritischen Besinnung auf die Funktion des chirographischen Mediums und rein textzentrierter Interpretationsweisen geführt. Je tiefer man in die kompositorischen Mechanismen und Prozesse mündlicher Kompositionsstrukturen eindrang, desto deutlicher wurde das Bewusstsein, dass eine Vielzahl antiker, spätantiker und frühmittelalterlicher Schriften in mannigfaltigen Abhängigkeitsverhältnissen zur oral-rhetorischen Informationsverarbeitung stand. Langsam, erst noch ansatzweise und nur zögernd beginnt in der klassischen Philologie, der Bibelwissenschaft und der Mediävistik die Erkenntnis an Boden zu gewinnen, dass die klassische Hermeneutik historischer und literarischer Art der multimedialen Kommunikationsgeschichte und dem äußerst 46 Lord, Oral Traditional Literature, in: W.E. Walker (Hg.), The Relationships Among the Gospels. An Interdisciplinary Dialogue, San Antonio 1978, 33-91, hier: 59-60. 47 Ders., Oral Traditional Literature, 64. 48 Foley, Immanent Art , 5. 98 Werner H. Kelber komplexen Wechselverhältnissen von Oralität und Verschriftlichung nicht angemessen Rechnung getragen hat. 49 Die von Jousse, Sienaert, Parry und Lord erschlossenen Perspektiven auf Mündlichkeit und Schriftlichkeit und die davon ausgehenden Impulse stellen neue Fragen an unsere linguistischen und literaturwissenschaftlichen Erkenntnisse und Ergebnisse. Begriffe wie Text und mündlicher Diskurs, Gedächtnis und Veranschaulichung, Autor und Kopist, Komposition und Interpretation, Lesen, Schreiben und Hören, Intertextualität und Tradition, Sinneswahrnehmung und Logik - Grundmetaphern der westlichen Kultur - sind sämtlich davon betroffen, wenn es darum geht, die im Gutenberg’schen Paradigma verortete Fachprosa und ihre Lösungsvorschläge, Methodik und Fragestellungen neu zu durchdenken. Seit den Studien von Jousse, Sienaert, Parry und Lord hat sich in der Forschung der Begriff der Oral-Formulaic Theory eingebürgert, der heute auch unter dem Namen Parry-Lord-These bekannt ist. Als terminus technicus für das im Mündlichkeitsdiskurs zur Diskussion stehende Material ist heute allgemein der Begriff Oral Traditional Literature in Gebrauch. Er ist m.W. der bislang adäquateste Lösungsvorschlag, eine aus einer vorrangig mündlichen Entwicklungsgeschichte hervorgegangene, von ihr geprägte und mit ihr auf mannigfaltige Weise verflochtene Sprachkultur begrifflich zu fassen. Grundsätzlich kann man bei einem großen Teil der in Oralität verflochtenen Texte von zwei Prämissen ausgehen. Zum einen neigen sie zur Traditionsgebundenheit, d. h. sie konstituieren sich in unterschiedlicher Weise aus traditionellen Elementen. Zum anderen sind sie fluid und anpassungsfähig, nicht typographisch eingegrenzt, vielmehr fähig über offene Grenzen hinweg mit der Umwelt zu kommunizieren. 50 Wie an den Beispielen von Jousse, Sienaert, Parry und Lord gezeigt wurde, nahm die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Oral Traditional Literature ihren Anfang in fokussierten Analysen der iterativen Qualität von Texten, sie hat sich aber allmählich zu einer umfassenden kulturgeschichtlichen Phänomenologie entwickelt. Nach dem diesem Abschnitt vorangestellten Zitat Foleys geht es heute 49 Für den Bereich der klassischen Philologie vgl. S. A. Gurd, Work in Progress. Literary Revision as Social Performance in Ancient Rome, Oxford 2012. Für den Bereich der Bibelwissenschaft vgl. Biblical Performance Criticism, einzusehen unter: https: / / www.biblicalperformancecriticism.org. In der Mediävistik ist wichtig B. Stock, The Implications of Literacy. Written Language and Models of Interpretatrion in the Eleventh and Twelfth Centuries, Princeton 1983 und J. Fried, Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik, München 2004. 50 M.W. war Jousse der erste Kulturwissenschaftler, der den Begriff textes fluids („flüssige Texte“) gebrauchte. Damit bezeichnete er Texte, die nicht typographisch fixiert, sondern ständig dafür verfügbar waren, um- oder fortgeschrieben zu werden, vgl., Ders., Memory, Memorization, and Memorizers, 30 f. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 99 bei den Untersuchungen der Oral Traditional Literature um weit mehr als um das Problem von Mündlichkeit vis-à-vis Schriftlichkeit. Die Zielsetzung ist eine neue Poetik, welche sich sowohl auf die Materialität der Kommunikation wie auch auf das menschliche Sensorium konzentriert, beides Konzepte, die in ihrem Zusammenspiel von der Bibelwissenschaft bislang kaum erfasst worden sind. 51 3. Sieben Anfragen an die Formgeschichte „Viele, wenn nicht alle Akteure innerhalb technologischer Kulturen sind in erheblichem Maße konditioniert […] anzunehmen, dass die Welt des Printmediums die reale Welt ist, und dass das gesprochene Wort belanglos ist“. 52 In Wahrheit verhält es sich so, dass unser Begriff vom „Original“ eines Liedes in einer mündlichen Kultur einfach keinen Sinn ergibt. Uns scheint er dagegen selbstverständlich gültig und logisch zu sein, weil wir in einer Gesellschaft aufgewachsen sind, in der die Technik des Schreibens die Norm eines originären und dauerhaften künstlerischen Schöpfungsaktes etabliert hat, mit der Folge, dass wir der Überzeugung sind, es müsse für alles ein „Original“ geben. 53 Zuallererst muss die Tatsache konstatiert werden, dass die moderne Bibelwissenschaft die Möglichkeit gehabt hätte, das Phänomen der Mündlichkeit in das historisch-kritische Paradigma einzubeziehen. Bei aller Fixierung auf Texte und Intertextualität entwickelte die Formkritik ein einflussreiches Programm, um das Dunkel der hinter den biblischen Texten liegenden Überlieferungsprozesse zu erhellen. Dies war und ist das Bestreben der Formkritik . Ihr Hauptinteresse richtete sich auf die in biblische Texte eingebundenen Gattungen, von denen man vermutete, dass sie aus der Tradition stammten. Sobald man ihre Funktion in der jeweiligen Umwelt zu bestimmen suchte, war es im Prinzip unumgänglich, den mündlichen Faktor mit zu berücksichtigen. Rückblickend können wir sagen, dass die Formgeschichte eine der bedeutendsten methodologischen Innovationen war, ohne die die Bibelwissenschaft des 20. Jh. nicht das wäre, was sie heute ist. Hier geht es nun aber nicht darum, Methodik und Ergebnisse der Formgeschichte noch einmal neu aufzurollen. Vielmehr soll gezeigt werden, dass sie bereits im Ansatz auf ein literarisches Modell zusteuerte, das unfähig war, Mündlichkeit begrifflich zu erfassen. Im Folgenden werden sieben für die 51 W.H. Kelber, Geschichte als Kommunikationsgeschichte: Überlegungen zur Medienwissenschaft, in: Imprints, Voiceprints, and Footprints of Memory, Atlanta 2013, 217-235. 52 W.J. Ong, “Transformation of the Word and Alienation”, 2. 53 A.B. Lord, The Singer of Tales , 101. 100 Werner H. Kelber Formgeschichte maßgebliche Prinzipien herausgegriffen, die sämtlich im Widerspruch zur modernen Mündlichkeitsforschung stehen. 3.1 Das Problem der Form Unsere Kritik setzt ein mit der Bezeichnung „Formgeschichte“. Sie stellte sicher, dass der so benannte Forschungszweig Sprache als Form zum Gegenstand seiner Untersuchungen machte. Nun ist Form eine visuelle Metapher, ein in der visuellen Wahrnehmung begründetes Konzept, das dem Sehen erkenntnistheoretische Priorität einräumt. Demgegenüber hat Ong daran erinnert, dass Wörter in der Klangwelt existierende Ereignisse sind, die keine Form besitzen, sondern sich in Zeitlichkeit realisieren. 54 Sie lassen sich nicht in einer durch Höhe, Breite und Länge definierten Räumlichkeit vermessen. Mit dieser ihr eigenen Definition hat die Formgeschichte vom Ansatz her die Richtung einer sichtbaren, stabilen und potentiell objektivierbaren Sprache eingeschlagen, und sich damit vorab für ein literarisches Paradigma entschieden. Der Boden war damit bereitet, die Überlieferungsgeschichte von einem literarischen Vorverständnis aus anzugehen. In einem von mündlicher Hermeneutik determinierten Modell wäre nicht Form , sondern Performance leitend gewesen. 3.2 Mündlichkeit als Produkt oder als Prozess Soweit sich die Formgeschichte mit Fragen der Mündlichkeit beschäftigte, hat sie mündliche Ereignisse im Zustand ihrer Stabilität beschrieben. Das bedeutete, dass mündliche Überlieferungseinheiten identifiziert und aus dem Textzusammenhang herausgelöst wurden, um dann ihren Sinngehalt in einem hypothetisch entworfenen sozialen Kontext zu rekonstruieren. Nicht beachtet wurde, dass die sich ständig ändernden sozialen Kontexte eine gewisse Elastizität bewirkten und erforderten. Die Folge war, dass der Überlieferungsprozess im Zustand der Stabilisierung festgefroren wurde. Schon diese Beobachtung zeigt, welch außergewöhnlichen Schwierigkeiten wir gegenüberstehen, wenn es darum geht, sich die Psychodynamik mündlicher Prozesse vorzustellen. Ein gesprochenes Wort existiert nur in dem Augenblick seiner Entstehung, d. h. wenn es aus der Interiorität einer Person ausgesprochen und veräußerlicht wird. Aber sobald es in den Außenraum eintritt, ist es bereits zum Verschwinden verurteilt. Gesprochene Worte zahlen für ihre unmittelbare Vitalität den hohen Preis ihrer raschen Vergänglichkeit und sie können deshalb nie als gesprochene Worte im textlichen Medium wiedergegeben werden. Umgekehrt kann einmal Geschriebenes und Gedrucktes nicht in reine Mündlichkeit zurückverwandelt 54 Ong, Orality and Literacy, 31-33. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 101 werden. In beiden Fällen - beim Übergang vom Sprechen zur Schrift und vom Text zum Sprechen - handelt es sich um einen Informationstransfer, der grundsätzlich nicht rückgängig gemacht werden kann. So dürfte es eine Illusion sein, formelgeprägte Sprache aus dem Textzusammenhang zu lösen und in ihrer „ursprünglichen“ Oralität wiederherzustellen zu wollen. Die Undurchführbarkeit (oder deutlicher: das Missverständnis) der „ursprünglichen Oralität“ ist eine Grundeinsicht, die im Folgenden nicht aus den Augen verloren werden darf. Man muss sich also im Klaren darüber sein, was in der Mündlichkeitsforschung möglich und was nicht möglich ist. Wie auch in anderen Wissenschaftszweigen ist in der Medienwissenschaft die vergleichende Analyse von Bedeutung. Auf dem Gebiet der neutestamentlichen Wissenschaft, deren Stärke mehr in der minutiösen Detailforschung und weniger in weitreichenden kulturellen Perspektiven liegt, ist die vergleichende Kommunikationswissenschaft umso wichtiger. Die Arbeiten von Jousse, Sienaert, Parry, Lord und vielen anderen erschließen für die frühe Jesustradition kulturelle Rahmenbedingungen, die sie in einem neuen Licht erscheinen lässt. Es geht also nicht darum, direkte Analogien herzustellen, sondern den Bereich des historisch und sprachlich Möglichen auszuloten und abzustecken, innerhalb dessen sich die uns vorgegebenen Daten plausibel einordnen lassen. Konkret eröffnet die vergleichende Kommunikationsgeschichte Einblicke in formelgeprägte und mnemotechnische Redewendungen, vielfältige orale Kompositionstechniken, Informationseinheiten oder sound bytes , Epitheta und antithetische Ausdrucksweisen, additive Stileigenheiten, episodische Organisationsformen, die Priorisierung gewisser Sinneswahrnehmungen, eine große Bandbreite oral-literaler Spannungsverhältnisse, und vieles mehr. Kurzum, die vergleichende Analyse dient als Einführung in ein kommunikationsgeschichtliches Denken, das Ungereimtheiten des historisch-kritischen Paradigmas zutage fördert und diese zu korrigieren unternimmt, um im Zuge dessen historisch-kritische Grundannahmen neu zu durchdenken. 3.3 Das Problem der „ursprünglichen Form“ Nach Rudolf Bultmanns klassischer Definition war die Rekonstruktion der ursprünglichen Form eine der Leitideen der Formgeschichte: „Die ursprüngliche Form eines Erzählungsstückes, eines Herrenwortes, eines Gleichnisses zu erkennen, ist eben das Ziel der formgeschichtlichen Betrachtung. Sie lehrt damit auch sekundäre Erweiterungen und Bildungen erkennen […]“. 55 55 R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen 8 1970, 7. 102 Werner H. Kelber Diese Konzeption von der ursprünglichen Form, von der sich sekundäre Versionen ableiten lassen, ist eines der schwerwiegenden Missverständnisse mündlicher Tradierungsprozesse. Der Grund hierfür ist, dass es in der mündlichen Kommunikation keine unveränderliche Textbasis gibt, auf deren Grundlage man spätere Fassungen identifizieren könnte. Erst mit dem Aufkommen skriptographisch produzierter Texte und vor allem dem Printmedium ist eine Stabilisierung von so etwas wie einer Textbasis überhaupt durchführbar. Das Konzept der „ursprünglichen Form“ und „sekundärer Fassungen“ ist ebenso eine vom Printmedium determinierte Vorstellung wie die Ansicht, dass sich mündliche Mechanismen und Dynamiken direkt vom schriftlichen Medium ableiten lassen. 56 Vom Standpunkt mündlicher Hermeneutik ist die Schlussfolgerung unausweichlich: Wie häufig auch immer Jesus ein Gleichnis erzählte, jedes Erzählen hatte den Rang einer eigenen kompositorischen Leistung, und keine Erzählung wurde als Variante einer Urform rezipiert. Weder dem Vortragenden noch den Hörenden konnte jemals der Gedanke einer Urfassung und einer sekundären Darbietung in den Sinn gekommen sein. Lord hat das Entscheidende gesagt: Die ursprüngliche Form hat im Paradigma der Mündlichkeit keinen Sinn. Nicht nur ist die Rekonstruktion eines Jesuswortes in seiner ursprünglichen Form mit erheblichen methodischen Problemen belastet, sondern, weitaus wichtiger, eine Urform ist im mündlichen Paradigma überhaupt inexistent. Man muss es noch deutlicher sagen: Das Konzept des ursprünglichen Wortes stellt einen Verstoß gegen das Ethos der mündlichen Tradition dar. Scheidet aber die Kategorie der ursprünglichen Form für das Verständnis der synoptischen Überlieferungsprozesse aus, ergeben sich hieraus Konsequenzen für die historische Jesusforschung und die Textkritik, die bisher, soweit ich sehe, noch viel zu wenig bedacht wurden. Beispielsweise gilt im Blick auf frühchristliche Überlieferungsprozesse: Wenn jedes gesprochene Wort Ursprungscharakter hat, ist man berechtigt, eine Pluralität ursprünglicher Worte zu postulieren. Von den Anfängen der Verkündigung Jesu an bestand die synoptische Tradition aus einer Vielzahl von authentischen, ursprünglichen Worten und nicht aus dem einen ursprünglichen Wort. Mehr noch: Die Vitalität und Leistungsfähigkeit der frühchristlichen Tradition war auf das Engste mit der Pluralität ursprünglicher Worte verbunden. Hierbei geht es nicht geradewegs um den einfachen Unter- 56 Die Problematik des formgeschichtlichen (wie auch des redaktionsgeschichtlichen) Verfahrens, von Schriftlichkeit aus zu denken, hat in jüngster Zeit niemand so deutlich gesehen wie S. Hübenthal, Das Markusevangelium als kollektives Gedächtnis, Göttingen 2014, 24 f.: „Es zeichnet sich hier bereits ab, dass die Formkritik von der Schriftlichkeit her denkt und damit letztlich von falschen Voraussetzungen ausgeht - auch wenn es noch geraume Zeit dauern wird, bis dies so klar formuliert wird“. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 103 schied von Singular und Plural, sondern um eine vom typographischen Denken völlig unterschiedliche Medienkultur. 3.4 Das „ursprüngliche Wort“ im Dienst der historischen Jesusforschung Die Annahme, dass die „ursprüngliche Form“ eines Jesuswortes durch eine methodisch kontrollierte Arbeitsweise wiederherstellbar sei, hat die Pioniere der formgeschichtlichen Methode dazu verleitet, sie mit der historischen Jesusforschung nahezu gleichzusetzen. Sie sahen in der Formgeschichte das lang erwartete Hilfsmittel, das wie geschaffen schien, der Jesusforschung neue Impulse zu geben. „Die ursprüngliche Form“ wurde zum Schlüsselprinzip, das zur Rekonstruktion der sogenannten ipsissima verba oder der ipsissima structura von Jesu Verkündigung diente. Genau daraus resultierte auch der hauptsächlichen Einwand, der gegen die frühe Formkritik erhoben wurde, dass sie nämlich mit ungebührlicher Skepsis die Historizität Jesu auflöse. Rasch vergessen war die Tatsache, dass nach Bultmanns eigenem Verständnis die formgeschichtliche Methode in erster Linie dem Traditionsstoff, der sogenannten Überlieferungsgeschichte und ihrem Verhältnis zur Endgestalt der Evangelien gegolten hatte. Indem sich die formgeschichtliche Forschung aber dem wesentlich verheißungsvolleren und ertragreicheren Projekt der historischen Jesusforschung zuwandte, stand sie in der Gefahr, ihre eigentliche Mission aus den Augen zu verlieren. Inzwischen ist es zur wissenschaftlichen Konvention geworden, dass die Jesusforschung aus der formgeschichtlichen Logik resultiert. Sowohl die Jesusforschung wie die Erforschung der Überlieferungsgeschichte haben unter dieser Entwicklung gelitten. Dies ist einer der „langen Schatten der Formgeschichte“, die Sandra Hübenthal mit kritischem Einfühlungsvermögen beschrieben hat. 57 3.5 Der Kontext Alles Sprechen ist umweltbezogen und kann sich nur in einem sozialen Bezugsrahmen verwirklichen. Ohne Kontext ist Reden nicht nur unvollkommen, sondern praktisch unrealisierbar. Ong hat diese Einsicht mit wünschenswerter Klarheit zum Ausdruck gebracht: „Sowohl die von Jesus gesprochenen Worte wie ihre im mündlichen Medium stattfindende Erinnerung waren immer kontextgebunden, obwohl sie natürlich von universaler Relevanz sein konnten“. 58 Die Evangelien verdeutlichen diesen Sachverhalt eindrucksvoll, wenn sie Jesu aphoristische Aussagen und gleichnishafte Erzählungen in bestimmten histo- 57 Hübenthal, Das Markusevangelium, 51, 11-73. 58 Ong, Text as Interpretation: Mark and After, in: T.J. Farrell / P. A. Soukup (Hg.), Faith and Contexts, Vol. 2, Atlanta 1992, 191-210, hier: 197. 104 Werner H. Kelber rischen Situationen verorten. Allerdings ist es wichtig, zwei unterschiedliche Kontexte zu unterscheiden: den narrativen, textgebundenen Kontext einerseits und den sozialen, historischen Kontext andererseits. Während Worte und Gleichnisse im narrativen Kontext in den Zuständigkeitsbereich ihrer unmittelbaren narrativen Umgebung fallen und eine sinnstiftende Funktion im gesamten Textzusammenhang übernehmen, wenden sich gesprochene Worte und Gleichnisse direkt an die Hörenden und entfalten ihnen gegenüber eine Wirkung. Die eigentliche Aktualisierung der Sprache verläuft je unterschiedlich: Geschriebene Worte existieren in einem Wartezustand, der anhält, bis Lesende sich den Text zu eigen machen oder Sprecher ihn re-oralisieren. Gesprochene Worte werden in der Gegenwart einer Hörerschaft augenblicklich realisiert. In beiden Fällen ist ein Moment der Variabilität erkennbar. Im Fall der Textualität ist mit Sicherheit anzunehmen, dass sich die Leserschaft und ihre soziale Umgebung im Laufe der Zeit ändern, wobei allerdings die Textbasis konstant bleibt. Im Fall der Mündlichkeit ändern sich sowohl die Hörerschaft wie auch die gesprochenen Worte, die immer wieder auf neue Zuhörer einzugehen und neue Situationen zu berücksichtigen haben ( audience adjustment ). Somit ergibt sich, dass der mündliche Prozess einen höheren Grad von Variabilität aufweisen kann als der schriftliche. Angesichts dieser medientheoretischen Überlegungen scheint es problematisch, dass die Formgeschichte von der Prämisse ausging, es gäbe ein permanent fixierbares Korrespondenzverhältnis zwischen charakteristischen Gattungen und bestimmten sozialen „Sitzen im Leben“. Bultmann hat die Bedeutung des soziologischen Sitzes im Leben nachdrücklich betont: „Jede literarische Gattung hat also ihren ,Sitz im Leben‘ (Gunkel), sei es der Kultus in seinen verschiedenen Ausprägungen, sei es die Arbeit, die Jagd oder der Krieg“. 59 Diese Deckungsgleichheit von Gattung und Sitz im Leben ist ein Postulat, das der modernen Mündlichkeitsforschung unbekannt ist. Wir haben gesehen, dass besonders in mündlichen Prozessen das Variabilitätsmoment ein beträchtliches Ausmaß erreichen kann. Allerdings ist es bemerkenswert, dass sich Bultmann von einer detaillierten historischen Verortung des Sitzes im Leben ferngehalten hat und es bei sehr allgemeinen Beschreibungen bewenden ließ, etwa wenn er den Sitz im Leben „nicht [als] ein einzelnes historisches Ereignis, sondern eine typische Situation oder Verhaltensweise im Leben einer Gemeinschaft“ kennzeichnete. 60 Aber ist nicht auch ebenso gut denkbar, dass etwa die sogenannten Streitgespräche, die Wundergeschichten oder Logien keineswegs auf eine gattungsspezifische Situation fixiert waren, sondern in diversen sozialen Situationen 59 Bultmann, Geschichte, 4. 60 Ebd., 4. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 105 erzählt und re-aktualisiert wurden? Zweifelsohne ist der jeweilige Kontext für die moderne Mündlichkeitsforschung eine unerlässliche Komponente mündlicher Sprache, die nicht aus isolierten Entitäten, sondern aus Diskursen besteht, die untrennbar mit einer kommunikativen Biosphäre verbunden sind. Um Kommunikation zu ermöglichen, muss „Kontext“ etwas sein, das Sprecher und Hörer gemeinsam haben und sie verbindet. Darunter könnte man etwa ein aus sozialen, religiösen und ethnischen Werten bestehendes Identitätsbewusstsein verstehen oder traditionelle Gepflogenheiten und Konventionen, kurzum alles, was mit dem von Jan Assman so genannten kulturellen Gedächtnis zusammenhängt. 3.6 Oralität und Literalität Nach dem bisher Gesagten muss die formgeschichtliche Neigung, die oral-literale Differenzierung zu trivialisieren, ernsthaft in Frage gestellt werden. Laut Bultmann ist die Unterscheidung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit weder realisierbar „noch von prinzipieller Bedeutung“, 61 und im Grunde „relativ bedeutungslos“. 62 Doch ist die Mündlichkeitsforschung heute insbesondere im nordamerikanischen Raum zu weit fortgeschritten, als dass sie im Interesse einer rein textbezogenen Hermeneutik bagatellisiert werden könnte. Es sollte zu denken geben, dass die von Parry initiierte Forschung und die aus ihr erwachsene Oral-Formulaic Theory mit überraschender Geschwindigkeit einen wahren Siegeszug über weite geographische Gebiete erlebt hat und heute über 100 verschiedene ethnische Traditionen umfasst. Nach Foley haben wir es hier mit „einem der umfassendsten Forschungsprojekte in den Kulturwissenschaften im Laufe eines Jahrhunderts“ 63 zu tun, dessen Tragweite kaum überschätzt werden kann. Angesichts dieser Entwicklung ist die formgeschichtliche Trivialisierung einer zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit differenzierenden Betrachtungsweise ein weiterer Beweis für eine gewisse theoretische Hilflosigkeit gegenüber dem Phänomen Mündlichkeit überhaupt. 64 Nun kann kein Zweifel darüber bestehen, dass Mündlichkeit und Schriftlichkeit hochgradig interaktive Medien sind, sei es, dass verschriftlichte Überliefe- 61 Ebd., 92. 62 Ebd., 254. 63 Foley, How to Read, 109-113, hier: 109 f. Mit dieser Bemerkung bezieht sich Foley auf das 20. Jh. 64 Bei Bultmann zeigt sich diese Aporie unter anderem darin, dass er dem Begriff der Mündlichkeit aus dem Weg geht. Er bevorzugt es, das mündliche Medium als „unliterarisch“ oder „vorliterarisch“ zu bezeichnen. Wie Hübenthal klar erkannt hat, denkt die Formkritik von der Schriftlichkeit her und versteht Mündlichkeit als unzulängliche oder verbesserungsbedürftige Schriftlichkeit. 106 Werner H. Kelber rung ( scribality ) mit mündlichen Sinneswahrnehmungen und Kompositionsformen verflochten ist, oder dass Texte zum Hören mehr als zum Lesen geeignet erscheinen. Die beiden Medien stehen weder unverbunden nebeneinander, noch folgen sie schiedlich-friedlich aufeinander, vielmehr greifen sie in mannigfacher Weise ineinander, existieren in wechselseitigen Assimilationen und sind verschiedenartig aufeinander bezogen. Das ist deshalb wichtig, weil im Falle der frühen Jesustradition Spuren von Mündlichkeit nur im schriftlichen Medium erhalten sind. In der antiken Kommunikationsgeschichte und weit in das Mittelalter hinein bis hin zur Renaissance und Aufklärung existierten mündliche und schriftliche Sprache in einem spannungsgeladenen Wechselverhältnis und in einer produktiven Partnerschaft. 65 Angesichts dieser Situation ist es gerade die Aufgabe der Kommunikationswissenschaft, diese Verflechtungen verschiedener Medientechniken, die vielfachen Kommunikationsnetze, Selektionsprozesse und Datenkompressionen zu entdecken und zu veranschaulichen. Wir haben später Gelegenheit, das Problem oral-literaler Spannungsverhältnisse noch näher ins Auge zu fassen. Hier soll nur grundsätzlich darauf aufmerksam gemacht werden, dass wir intermediale Prozesse ohne ein Mindestmaß an begrifflicher Differenzierung zwischen spezifisch mündlichen und schriftlichen Phänomenen gar nicht beschreiben könnten. Von philosophischer Seite hat Jacques Derrida moderne Konzepte von Mündlichkeit im Blick auf ihre medientheoretischen, theologischen und philosophischen Voraussetzungen einer dekonstruktiven Kritik unterzogen. 66 In ausführlichen Untersuchungen entwickelte er die These, dass die dualistische Prämisse von Oralität und Literalität, wie alle Dualismen, unvermeidlich die Subsumierung der letzteren unter volle orale Gegenwärtigkeit ( plénitude ) nach sich ziehe, die sich letztlich auf die Ursprünglichkeit des Logos beruft. In dem Maße, wie das philosophische und theologische Denken des Westens eine hierarchische Skala oraler vis-à-vis schriftlicher Denk- und Wahrnehmungsnormen etablierte, war es unvermeidlich, dass Oralität mit ihrem Gegenwartsanspruch privilegiert wurde. Mit anderen Worten, wir sind nach Derridas Ansicht der Versuchung unterlegen, Texte phonozentrisch im Interesse einer oralen Metaphysik der Gegenwart zu interpretieren. Jedoch muss aus medientheoretischer Perspektive darauf hingewiesen werden, dass das eigentliche Interesse der Mündlichkeit auf die Performanz von logoi und immer mehr logoi gerichtet ist und eben gerade nicht auf die Reduktion der logoi auf den ursprünglichen Logos abzielt, geschweige denn diesen zu erreichen imstande ist. Nun ist es kaum zu bestreiten, dass die 65 Wenn auch die chirographische Kultur des Westens lange Zeit mnemonischen Mustern, noetischen Schemata und hörerfreundlichen Kompositionspraktiken verhaftet geblieben ist, so hat die Schriftlichkeit doch zunehmend die Vorherrschaft übernommen. 66 J. Derrida, Grammatologie, Frankfurt 1974 (frz.: De la Grammatologie, Paris 1967). Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 107 Bibelwissenschaft bewusst Versuche unternommen hat, die Pluralität der logoi auf den Singular des einen Logos zu reduzieren. Wir werden darauf noch zurückkommen. Doch prinzipiell muss gelten, dass Pluralität, nicht Protologie charakteristisch für Mündlichkeit ist. Darin liegt gerade ihr theologisch-philosophisch Provozierendes: Sie lässt sich nicht von einem einzigen Urwort ableiten, und ihre logoi lassen sich nicht auf einen archē-Logos zurückführen. Könnte das der tiefere philosophische Grund sein, warum die Bibelwissenschaft sich gegen mündliche Hermeneutik so hartnäckig gesperrt hat? 67 3.7 Die Linearität und Evolution der Tradition Das tief in der formgeschichtlichen Methode verwurzelte Paradigma der Linearität hat lange Zeit als überlieferungsgeschichtliches Modell gedient. Schon vor einiger Zeit ist das lineare Modell von Helmut Köster und James Robinson in den Begriff der „Entwicklungslinien“ gefasst worden. 68 Davon abgesehen hat aber die lineare Denkweise ihren Einfluss in vielen Teildisziplinen der historisch-kritischen Forschung ausgeübt, ohne dass dies hinreichend sprachlich identifiziert und reflektiert worden wäre. Medientheoretisch ist ein linguistischer Nexus zwischen idealer Linearität und Schriftkultur nicht von der Hand zu weisen. Erfahrungsgemäß besteht der Schreibprozess darin, Buchstaben, Wörter und Sätze entlang einer Linie nebeneinanderzusetzen und aneinanderzureihen, sodass die geschriebene und mehr noch die gedruckte Seite den Eindruck einer totalen, zeilengleichen Ordnung vermittelt. Nach Ong ist die schriftliche Arbeitsweise eine Technologie, die wie alle Technologien über kurz oder lang verinnerlicht wird und im Unterbewusstsein ihre Wirkung entfaltet. 69 Unter diesen Bedingungen ist es dann völlig naheliegend, Tradition unter dem Einfluss von und im Einvernehmen mit jahrhundertealten Schreibgewohnheiten als geradlinige Entwicklung vorzustellen. Doch wiederum muss betont werden, dass gesprochene Worte in zeitlicher Verfasstheit existieren, räumlich undenkbar sind und am allerwenigsten im Modus eines räumlichen Richtungsindex existieren. Außerdem ist die Frage berechtigt, inwieweit die vorwiegend rhetorische (d. h. pragmatische und dialogische) Kommunikationsarbeit der Antike überhaupt anhand eines (nur durch innertextliche Beziehungen strukturierten) linearen Modells beschrieben werden kann. 67 Vgl. auch Kelber, In the Beginning Were the Words: The Apotheosis and Narrative Displacement of the Logos, in: Imprints, Voiceprints and Footprints of Memory, 75-101. 68 H. Köster / J.M. Robinson, Entwicklungslinien durch die Welt des frühen Christentums, Tübingen 1971. 69 Ong, Orality and Literacy, 81-83. 108 Werner H. Kelber Eng verknüpft mit dem Paradigma der Linearität ist das Evolutions- oder Wachstumsmodell. Wiederum handelt es sich um einen festen Bestandteil der Formgeschichte, der aber ebenso auch auf die historische Jesusforschung, auf die Erforschung der frühchristlichen Überlieferungsgeschichte und der Synoptischen Tradition einschließlich der Q-Hypothese, auf die Redaktions- und Kompositionskritik der Evangelien und auf die stemmatologische Methode der Textkritik einen tiefgreifenden Einfluss ausgeübt hat. Das Modell einer Tradition, die sich entlang einer evolutionären Entwicklungslinie bewegt, stufenweise fortschreitet und sich aus kleineren Formen zu größeren Zusammenhängen organisiert, ist visuell optimal vorstellbar und aus diesem Grund mühelos denkbar. Hinzu kommt, dass die Formgeschichte von der „ursprünglichen Form“ ausgeht, von der aus die weitere Überlieferung durch redaktionelle Ergänzungen und Zusätze in einer evolutionären Aufwärtsbewegung ihren Fortgang nimmt. Das Modell scheitert daran, dass die mündliche Tradition nicht das eine Ursprungswort kennt und nicht im chirographischen Sprachraum beheimatet, sondern unvermeidlich in sozialen Kontexten mit all ihren Variablen engagiert ist. Wir haben es nicht mit einem kumulativen , sondern mit einem interaktiven Modell zu tun. 4. Traditionsgeschichtliche Vergangenheitsbewältigung 4.1 Vergegenwärtigung der Vergangenheit „Das kulturelle Gedächtnis ist ein Organ außeralltäglicher Erinnerung“. 70 „Es wird demnach nicht die Vergangenheit als solche bewahrt, sondern perspektivische Ausschnitte von ihr, die beim erneuten Abruf nicht wiedergefunden, sondern konstruiert werden“. 71 Mit der frühen Jesustradition bezeichnet man den Prozess, der die Erinnerung an Jesus und die mit ihm verbundenen Ereignisse aufrechterhält und für die Gegenwart in neue Kontexte stellt. Nach dieser Definition ist der Überlieferungsprozess sowohl auf die Vergangenheit Jesu wie auch auf die Gegenwart von Hörenden und Lesenden bezogen. Demnach besteht die Funktion der Tradition darin, Vergangenes und Gegenwart in ein angemessenes Verhältnis zueinander zu bringen. Alan Kirk und Tom Thatcher, zwei maßgebliche Befürworter der sogenannten social memory theory , haben dies klar erfasst: „,Tradition‘ ist mithin ein abgekürzter Begriff für die zahllosen Transaktionen, die zwischen sakraler 70 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis , 58. 71 Hübenthal, Das Markusevangelium als kollektives Gedächtnis, 88. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 109 Vergangenheit und der eigentlichen Gegenwart stattfinden, und die für eine Gemeinschaft lebensnotwendig sind“. 72 Diese Beobachtung macht deutlich, dass die Vorstellung eines einfachen und direkten Tradierens von Daten fehlgeht, und dass Überlieferungsprozesse alles andere als eine neutrale, störungsfreie Informationsweitergabe widerspiegeln. Man könnte, anders ausgedrückt, die Überlieferungsgeschichte, insoweit sie sich mit dem befasst, was unwiederbringlich vergangen, erloschen und dem Verschwinden preisgegeben ist, als ein Projekt bezeichnen, das das Risiko auf sich nimmt, sich dem schier unlösbaren Problem der Vergangenheitsbewältigung zu stellen. Im Westen haben sich hierzu zwei Herangehensweisen herausgebildet: Die historische Methode und der Erinnerungsdiskurs. Die historische Methode richtet ihr Augenmerk auf die Vergangenheit, um sie als Vergangenheit zu rekonstruieren, während der Erinnerungsdiskurs bemüht ist, die Vergangenheit zu vergegenwärtigen. Das Bestreben auf der einen Seite ist, die Vergangenheit in ihrer historischen Aktualität zu rekonstituieren. Auf der anderen Seite ist die Absicht leitend, Vergangenes im Erinnerungsprozess zu repristinieren. 73 Es ist leicht zu verstehen, dass das hier vorgelegte, von der modernen Mündlichkeitsforschung inspirierte Modell und der Erinnerungsdiskurs komplementär aufeinander bezogene Ansätze sind. In beiden Fällen spielen mentale und neurologische Fähigkeiten, Gehörtes, Geschriebenes und Erlebtes im Gedächtnis zu speichern, eine bedeutende Rolle. Nicht wegzudenken ist das Individuum mit seinen jeweils eigenen Speicherkapazitäten und seinem in Erinnerungsprozessen implizierten Sprachvermögen. Darüber hinaus arbeiten Mündlichkeit und Erinnerung nach dem Prinzip der Selektivität. Es macht gerade die Stärke des mündlichen Mediums aus, dass es nicht auf eine dauerhafte, endgültige Form eingeschworen ist, sondern seine Vitalität aus der Pluralität des Materials schöpft. Zeitlich eingebunden, doch der Räumlichkeit enthoben, funktioniert Mündlichkeit auf eine Weise, die sowohl geprägte Formeln wie deren Varianten, Modifikationen und Neukombinationen zur Geltung bringt. Gleichermaßen ist die Erinnerungsarbeit nicht holistisch, sondern perspektivisch und episodisch ausgerichtet. Orientiert an den Erfordernissen konkreter und situativer Gegenwartsdeutung steuert der Erinnerungs- 72 A. Kirk / T. Thatcher, Jesus Tradition as Social Memory, in: Semeia Studies 52 (2005), 25-42, hier: 33. 73 Das moderne Erinnerungsparadigma geht auf M. Halbwachs zurück, vgl. Ders., Les cadres sociaux de la mémoire, Paris 1925. Der Ansatz von Halbwachs wurde von J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung, und politische Identität, München 1992, und A. Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999 zu einem umfassenden kulturgeschichtlichen Paradigma ausgebaut. Hübenthal hat das Verdienst, das Halbwachs-Assmann’sche Erinnerungsmodell auf die Evangelientradition angewendet zu haben, vgl. Dies., Das Markusevangelium, 2014. 110 Werner H. Kelber prozess die Auswahl von Ereignissen oder Erfahrungen, die der permanenten Deutungsarbeit der individuellen oder kollektiven Identität dienen. Vielleicht ist die Beobachtung am wichtigsten, dass beide Paradigmen das Moment der Präsenz miteinander gemein haben. Der Erinnerungsprozess ist, wie wir sahen, ausschließlich an der Vergegenwärtigung des Vergangenen interessiert, und Oralität ist, wie Derrida nicht zu Unrecht insistierte, das Gegenwartsmedium par excellence . Somit ergibt sich, dass die beiden Paradigmen der Mündlichkeit und des Erinnerungsdiskurses aufs engste kooperieren, fließende Grenzen haben und nicht selten eine einheitliche Perspektive einnehmen. Sobald die überlieferungsgeschichtliche Problematik die Faktoren der Mündlichkeit und Erinnerung berücksichtigt, kann die Frage nicht mehr lauten: Was hat die überkommene Tradition an historischen Fakten übermittelt? Die Aufgabe besteht nun nicht mehr darin, hinter den Text zurückzufragen und sich auf die Suche nach seinen historisch verlässlichen Anteilen in Gestalt der „ursprünglichen“ Worte Jesu zu begeben. Vielmehr ist es ratsam, der These Jan Assmanns Beachtung zu schenken: „Im Unterschied zur Geschichte im eigentlichen Sinne geht es Gedächtnisgeschichte nicht um die Vergangenheit als solche, sondern nur um die Vergangenheit, wie sie erinnert wird“. 74 Mit dieser These wird der Überlieferungsprozess eo ipso zur Erinnerungsgeschichte . Dann fragen wir: Mit welchen Mitteln wird Vergangenheit vergegenwärtigt und welcher Art sind die überlieferten Daten? Sandra Hübenthal hat den neuen Sachverhalt auf eine knappe Formel gebracht: Es geht darum, „was hier in welcher Form erinnert wird“. 75 Das Was und das Wie sind eng verkoppelte Fragestellungen, denn was von Vergangenem in die Gegenwart hinübergerettet werden kann, hängt in nicht geringem Maße vom Potential des Überlieferungsmediums ab. Was nun den eigentlichen Vorgang des Überlieferungsprozesses anbelangt, so verdanken wir wiederum Jan Assmann eine treffende Formulierung: „Vergangenheit steht nicht naturwüchsig an, sie ist eine kulturelle Schöpfung“. 76 Man sollte diesen Satz eine Weile auf sich wirken lassen, um sich der Konsequenzen dieser gewichtigen These voll bewusst zu werden. Sie will besagen, dass sich Vergangenes nicht unvermittelt einstellt, und dass es nicht unmittelbar zugänglich, sondern wenn überhaupt nur in medialisierter Form zu haben ist. 77 Mit anderen Worten, der Überlieferungsprozess ist im wahrsten Sinne des Wortes 74 Assmann, Moses der Ägypter, 26. 75 Hübenthal, Das Markusevangelium, 44. 76 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 48. 77 Für Assmann gilt das auch für die historische Methode: „Ich möchte daher bezweifeln, ob es so etwas wie einen historischen Sinn wirklich gibt und halte den Begriff des kulturellen Gedächtnisses hier für vorsichtiger und angemessener“. Ders., Das kulturelle Gedächtnis, 67. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 111 eine Vermittlungsgeschichte: Er bedient sich besonderer Mittel, um den komplexen Vorgang des Transfers von in der Vergangenheit Geschehenem in die Gegenwart zu bewerkstelligen. 4.2 Stilisierte Sprache und Vorstellungswelt Diesen Überlegungen folgend lenken wir nun unsere Aufmerksamkeit auf die sprachliche Eigenart des Evangeliums und die darin zu Wort kommende Vorstellungswelt. Die längst zur Gewohnheit gewordene Lektüreweise des Evangeliums hat uns weithin das Empfinden dafür genommen, dass wir es in der Erzählwelt des Evangeliums nicht mit Alltagssprache und Alltagsidentität zu tun haben. Genauer gesagt: Insoweit wir uns der Außeralltäglichkeit der Erzählung bewusst sind, erklären wir diese oft unreflektiert in Bezug auf die außerordentliche historische Persönlichkeit des Protagonisten. Hierbei kommt es zu einer Verkürzung der überlieferungsgeschichtlichen Perspektive, ein Vorgang, der uns vergessen lässt, dass hier nicht nur historische Formgesetze im Spiel sind. Es muss auffallen, dass Alltagsleben und Alltagsidentität in der Evangelienerzählung unberücksichtigt bleiben. Leser oder Hörer suchen vergeblich nach Bildern aus dem werktäglichen, landläufigen, sattsam bekannten Leben, nach Berichten über sich im Alltagshorizont abspielende Vorgänge, nach der Einförmigkeit von small talks , oder dem Einerlei und Vielerlei des Alltagslebens - alles Dinge, die aus dem täglichen Leben nicht wegzudenken sind und es zum Teil sogar überhaupt ausmachen. 78 Geprägt von einer gewissen Alltagsenthobenheit erweckt das Evangelium den Eindruck einer überhöhten oder idealisierten Erzählweise. 79 Es ist nicht verwunderlich, dass eine Erklärung der sprachlichen Eigenart der Evangelienerzählung auf terminologische Schwierigkeiten gestoßen ist. Versuchsweise hat man von „Kunstsprache“ oder „Sondersprache“ gesprochen , was allgemein zutreffend ist, jedoch nicht zum Kern der Sache vordringt. Im englischen Sprachraum sind Begriffe wie register oder dedicated medium in Gebrauch. Register , ein aus der Computertechnologie entnommener Begriff, bezeichnet den Speicherbereich von Daten, die darauf warten verarbeitet zu werden oder gerade in Verarbeitung sind. In ähnlicher Weise beschreibt das de- 78 Entgegen der landläufigen Meinung sollte man sich m. E. bei der Interpretation der Gleichnisse nicht auf die Beschreibung des Alltäglichen festlegen, die nicht das letzte Wort sein kann. Nachfolgend ist zu zeigen, dass die Gemeinplätze des galiläischen Landlebens letztlich nur als hermeneutischer Anknüpfungspunkt für eine metaphorische Überhöhung dienen. 79 Die Begrifflichkeit von Alltagsidentität, Alltagswelt, Ausseralltäglichkeit, Alltagsentpflichtung und Alltagsenthobenheit stammt von Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 48-56. 112 Werner H. Kelber dicated medium eine aus einem Reservoir von idiomatischen Ausdrucksweisen, thematischen Konfigurationen, und kodifizierten Daten schöpfende Sprache. Im Bemühen das Gemeinte noch klarer zu fassen, geht die hier postulierte These davon aus, dass die stilisierte Sprache und Vorstellungswelt der Evangelienerzählung, trotz aller historisierenden Veranschaulichung, nicht alleine von historischen, sondern maßgeblich von oral-memorialen Kommunikationsdynamiken bestimmt sind. Für das Verständnis der sprachlichen Eigenart und besonderen Darstellungsweise des Evangeliums ist der Umstand maßgeblich, dass sie unter dem Druck memorialer Erfordernisse und oraler Überlieferungsprozesse entstanden sind. Wenn wir diese These nun anhand ausgewählter Einzelelemente des Evangelientextes illustrieren, so geht es grundsätzlich darum, formelgeprägte Sprache sowie Erzähl- und Denkweisen zu erheben. Wir unternehmen den Versuch, Gedächtnisspuren zu finden und zu verfolgen, die nicht als Abbild einmaliger Ursprünglichkeit, sondern als Niederschlag eines Überlieferungsprozesses verstanden werden. Wir sind heute vorsichtig geworden, Teilstücke aus der Gesamtkomposition herauszulösen und in einem festen Sitz im Leben zu lokalisieren. Aus der vorangegangenen Diskussion sollte ersichtlich sein, dass es nicht unser Bestreben sein kann, sich rekonstruktiven Phantasien hinzugeben und dem Ideal oraler Ursprünglichkeit nachzujagen. Andererseits sind wir heute besser als frühere Generationen über verbale Praktiken und deren Implikationen im Kontext der antiken Kommunikationskultur informiert, und wir sind dank des kurz umrissenen medientheoretischen Forschungsüberblicks in der Lage, den Text des Evangeliums aus der Perspektive medialer Dynamiken und Verflechtungen neu zu durchdenken. Bekanntlich sind die Geschichten von Jesus als Heiler von einer formgeprägten Kompositionstechnik strukturiert, zeigen zugleich aber eine gewisse Variationsbreite und funktionale Flexibilität. 80 Es fällt auf, dass der narrative Schwerpunkt der Heilungsepisoden zwar auf Jesus, nicht aber auf einer differenzierten Ausgestaltung seiner Persönlichkeit liegt. Offensichtlich gehört die individuell gestaltete Charakterisierung nicht zu den Stärken und auch nicht zu den Anliegen dieses narrativen Stils. Die Erzählungen sind erkennbar wenig geneigt, die Persönlichkeit Jesu in all ihrer psychologischen Vielschichtigkeit zu entfalten. Indem die Jesusfigur überhöht wird, wird sie zugleich bis hin zur Eindimensionalität reduziert. Dem Prinzip der Selektivität folgend, liegt der Nachdruck auf dem einen Wesensmerkmal von Jesu heilender Tätigkeit, und dieses wird ins Monumentale gesteigert. Jesus wird, mit anderen Worten, seiner menschlichen 80 Mk 1,29-31; 1,40-45a; 2,1-12; 3,1-6; 5,21-24.35-43; 5,25-34; 7,24-30; 7,31-37; 8,22-26; 10,46-52. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 113 Alltäglichkeit enthoben und zu einer kommunikations- und erinnerungsfähigen Figur typisiert . 81 Strukturelle und inhaltliche Beobachtungen ähnlicher Art lassen sich auch an den Erzählungen über Jesu Exorzismen anstellen. 82 Standardisierende Strukturierung paart sich mit kompositorischer Flexibilität. Das Leitmotiv dieser Geschichten ist die dramatische und visuell eindrucksvolle Konfrontation Jesu mit den Mächten des Bösen. In der Fixierung auf gewaltsame Polarisierung erkennen wir die Präsenz des agōn -Motivs, das Ong einprägsam beschrieben und erklärt hat. 83 Kampf und Wettstreit, Krieg und Gewalt, Konflikte und kämpferische Auseinandersetzungen, Rivalitäten und persönliche Verunglimpfungen des Gegners, Fehden und Wortgefechte sind nach Ong bevorzugte Themen in vorwiegend oralen Kulturen und Gattungen. Wiederum ist festzustellen, dass die Darstellung extremer Polarisierung in den Exorzismuserzählungen mnemonischen Erfordernissen entgegenkommt, indem sie den Fokus auf das Außerordentliche richtet und das Alltägliche ausblendet. 84 Man erinnert sich nicht an das Glas im Fenster, sondern an den Bruch im Glas. 85 Die sogenannten Streit- und Schulgespräche machen sich den rhetorischen Mechanismus von Dialog und Disputation zunutze. 86 Generell lässt sich sagen, dass in diesen Erzählungen drängende Fragen des Umgangs mit sozial Ausgestoßenen, der Fastenpraxis, des Sabbatgebotes, der Ehescheidung, des persönlichen Eigentums und der Steuerzahlung behandelt werden. Regelmäßig zielt die Diskussion auf die Übermittlung von Werten und sozialen Normen, die in einem abschließenden Jesuswort artikuliert werden. Es ist bemerkenswert, dass die zu vermittelnden Wertperspektiven nicht in einer philosophischen Abhandlung oder in ethischen Lehrsätzen niedergelegt sind, sondern vielmehr in einem didaktischen Modell ausgehandelt werden. Nur eine Denkweise, die sich von mündlichen Formvorgaben entfernt hat, könnte auf die Idee kommen, nach dem Wesen der Gerechtigkeit, der Definition von Frömmigkeit, oder dem Sinn sozia- 81 Von Assmann stammt der Begriff der Erinnerungsfigur; vgl. Ders., Das kulturelle Gedächtnis, 37-42, 168, 200-202. 82 Mk 1,21-28; 5,1-20; 9,14-29. 83 Ong, Orality and Literacy, 43-45. 84 Das Thema der Gewalt ist in der Literatur allgegenwärtig. Ong vertritt die Meinung, dass die Darstellung exzessiver physischer Gewalt die epische Literatur in besonderem Maße prägt, dass sie aber „in späterer literarischer Erzählkunst immer mehr nachlässt und an den Rand gedrängt wird“, so Ders., Orality and Literacy, 44. 85 Zweifellos haben die Erzählungen auch eine Funktion im größeren Textzusammenhang, erfahrungsgemäß werden aber, wenn die Analyse sich hierauf konzentriert, ihre im oral-memorialen Überlieferungsprozess wichtigen funktionalen Eigenschaften übersehen. 86 Mk 2,15-17.18; 2,23-28; 10,2-9; 10,17-22; 12,13-17. 114 Werner H. Kelber ler Verantwortung zu fragen. Zwar stehen Prinzipienfragen im Hintergrund, aber die Antworten werden nicht direkt in thetischer Form gegeben, sondern in einem dialogischen Geben und Nehmen ausgehandelt. Werte werden nicht auf einer abstrakten Definitionsebene dokumentiert, sondern in einem Wortwechsel konkretisiert. Im Gegensatz zu den Heilungserzählungen, den Streitgesprächen und den didaktischen Geschichten stützen sich die Gleichnisse 87 nicht auf eine einheitliche kompositorische Struktur. Zwar sind die einzelnen Gleichnisse mnemonisch strukturiert, aber es gibt kein übergreifendes Muster, das den Gleichnissen etwa des MkEv zugrunde läge, geschweige denn denen der gesamten synoptischen Tradition. Das bedarf einer Erklärung. Auffallend ist, dass die Gleichnisse sich mit einer trügerischen Selbstverständlichkeit in Gemeinplätzen des galiläischen Landlebens bewegen. Wie wir sahen, stimuliert das Alltägliche zwar die Identifikation mit dem Erzählten, aber es trägt wenig zur Gedächtnisarbeit bei. Nun erschöpft sich allerdings der parabolische Prozess nicht in der Informationsvermittlung über Säen und Wachstum, Senfkorn und Feigenbaum, die Verpachtung eines Weinbergs und einen Hausbesitzer, der außer Landes zieht. Vielmehr ist der springende Punkt aller Gleichnisse der, dass ihr Sinngehalt nicht völlig in der wörtlichen Eindeutigkeit aufgeht. Alle Gleichnisse haben eine metaphorische Qualität. 88 Sie appellieren an die Hörerschaft, eine außerhalb der dargestellten Realität liegende Wirklichkeit wahrzunehmen. Darum die Weckformel: „Wer Ohren hat zu hören, der höre“. Gerade weil Gleichnisse ein hermeneutisch unvollendetes Sprachereignis sind und es an den Hörenden liegt, den parabolischen Prozess zu aktualisieren, sind die gleichnishaften Erzählungen nicht nur für Hörende geschaffen , sondern elementar von ihnen abhängig . Parabeln sind ein orales Genre par excellence . Hierin mag auch der Grund dafür liegen, dass sie sich nicht in ein einheitliches Muster einordnen lassen. Klare Definitionen und feste Strukturen haben ihren Sinn in der parabolischen Rede eingebüßt. Etwas ist in der Gleichniserzählung ungesagt geblieben, und eben dieses Ungesagte ist es, was von Bedeutung ist. An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass der mündliche Charakter der Evangelien insgesamt Gefahr läuft, von den Interessen der neueren narratologischen Forschung verdeckt werden. Zwar hat der narrative criticism das unleugbare Verdienst, die Fragmentierung des Evangelientextes überwunden und die Gesamterzählung in den Blick genommen zu haben. Zweifellos haben narratologische Analysen eine ständig wachsende Anzahl von intertextuellen 87 Mk 4,3-8; 4,26-29; 4,30-32; 12,1-11; 13,28.34. 88 S. McFague, Speaking in Parables: A Study in Metaphor and Theology, Philadelphia 1975; P. Ricoeur, The Rule of Metaphor, übersetzt von R. Czerny / K. McLaughlin / J. Costello, Toronto/ Buffalo, 1977. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 115 Vernetzungen ans Licht gebracht und uns dadurch das schier unermessliche hermeneutische Potential des Erzähltextes vor Augen geführt. Doch jeder methodologische Neuansatz fordert seinen Preis. Bei aller Wertschätzung der narratologischen Forschungsergebnisse besteht die Gefahr, dass der Text mit Kriterien des modernen New Criticism gelesen wird und seine ausnehmend orale Disposition dabei aus dem Blick gerät. 89 Wenn diese nun noch einmal in Erinnerung gerufen wird, dann nicht, um den Text erneut formkritisch zu zerlegen, sondern um bei aller Anerkennung der Erzählchoreographie die tiefe Verwurzelung des Evangeliums im mündlichen Traditionsstrom nicht aus den Augen zu verlieren. Wir beginnen mit der in der Folklore bekannten dreifachen Kompositionsform, die ein strukturbildendes Element des Erzählstils ist. Drei Jünger werden innerhalb der Zwölf abgesondert, dreimal sagt Jesus Leiden und Auferstehung voraus, dreimal spricht er zu drei Jüngern in Gethsemane, dreimal betritt er Jerusalem, und dreimal verleugnet Petrus seinen Herrn. Die Dreizahl ist erkennbar kein historisches, sondern ein stilistisches Merkmal, dessen rhythmische Struktur dem Rezitationscharakter des Evangeliums entgegenkommt. Neben der Dreizahl zeichnet sich der Evangelientext durch eine Vielzahl von Pleonasmen, Tautologien und Paarbildungen aller Art aus, letztere vielleicht das konventionellste Stilmittel mündlicher Kommunikationsweise überhaupt. 90 Wir greifen nur einige Beispiele solcher paarweiser Formationen heraus: Zusammengesetzte Verben gefolgt vom selben Präfix (1,16: paragōn para ; 15,32: kai synestaurōmenoi syn autō ); Verdoppelung verwandter Verben (8,6-7: paratithōsin … parethēkan … paratithenai; 14,45: elthōn euthys proselthōn ); doppelter Imperativ (4,39: siōpa, pephimōso ; 15,36: aphete idōmen ); doppelte Negation (1,44: mēdeni mēden eipēs ; 13,32: oudeis oiden … oude … oude ); tautologische Zeitangaben (1,32: opsias de genomenēs, hote edy ho hēlios ; 15,42: ēdē opsias genomenēs … ho estin prosabbaton ); Wiederholung eines Motivs (3,21-22: exestē … Beelzebul echei ; 14,41: katheudete to loipon kai anapauesthe); doppelte Frage (2,7: ti houtos houtōs lalei; tis dynatai aphienai hamartias ; 8,17: oupō noeite oude syniete ); Wiederholung einer gewährten Bitte (5,12f: eis autous eiselthōmen … eisēlthon eis tous choirous ; 6,56: hapsōntai … kai hosoi hēpsanto ). Diese Paarbildungen sind sämtlich keine stilistischen Mängel, sondern ein auf das Hören ausgerichtetes Stilmittel: Wie im Leseprozess das Auge bereits Gehörtes wieder aufsuchen 89 Zu den Anleihen der narrativen Kritik beim New Criticism vgl. v. a. Moore, Literary Criticism and the Gospels, 9-12, passim. 90 F. Neirynck hat dem Phänomen der Dualität im Markusevangelium ein ganzes Buch gewidmet, vgl. Ders., Duality in Mark. Contributions to the Study of the Markan Redaction, Louvain 1972. 116 Werner H. Kelber kann, so wird dem Ohr durch Wiederholung bereits Gehörtes erneut in Erinnerung gebracht. Andere Stilmittel dienen dazu, die gegenwärtige Aktualität des Vergangenen zu verdeutlichen: der ungewöhnlich häufige Gebrauch des historischen Präsens, vorwiegend mit den Verben legein (8,12; 14,67) und erchesthai (1,40; 16,2); regelmäßige Verwendung des adverbialen euthys und kai euthys (1,29; 6,54); iteratives palin , häufig in Verbindung mit Verben der Bewegung (2,1; 7,31) und des Sprechens (4,1; 10,1); und die auffallende Vorliebe für das parataktische kai (9,2; 11,20). Insgesamt forcieren diese Stilmittel die Erzählgeschwindigkeit, aktualisieren die narrative Lebendigkeit, und vermitteln einen hohen Grad an Unmittelbarkeit, alles Elemente, die die Vergangenheit als gegenwärtiges Geschehen erscheinen und die Hörenden an der Erzählung teilhaben lassen. 5. Fünf Arten von Gedächtnisarbeit „Die präzise Beschaffenheit des Verhältnisses von Erinnerung und Überlieferung im frühen Christentum ist und bleibt ein ungelöstes Problem“. 91 „Mündliche Kulturen kleiden ihre Gedanken nicht etwa ergänzend in Antithesen, Proverbien und andere geprägte Formen und Gedächtnismuster, sondern ihre Gedanken bestehen von Anfang an aus solchen Elementen“. 92 Erinnerung hat in den voranstehenden Ausführungen eine nicht unbedeutende Rolle gespielt, zuerst im Zusammenhang mit der Formgeschichte und ihrem Konzept von Überlieferung ohne jeden Rekurs auf Erinnerungsprozesse. Dagegen war die grundlegende Bedeutung von Memoria/ Mnemosyne zu betonen, die sich wie ein roter Faden durch die antike Kommunikationskultur zieht. Wir gelangten sodann zu dem von Jousse entwickelten globalen, anthropologischen Paradigma, in welchem das Gedächtnis eine Schlüsselposition besetzt. Schließlich war darauf hinzuweisen, dass Erinnerung wesentlicher Bestandteil eines Überlieferungsprozesses ist, in dem sich die Vergegenwärtigung der Vergangenheit vollzieht. Angesichts dessen liegt es nahe, den Begriff der Erinnerungsgeschichte aufzunehmen. Wir beschließen also diesen Beitrag mit einer zusammenfassenden Darstellung der frühen Jesustradition als einer Erinnerungsgeschichte . Die fünf Arten von Gedächtnisarbeit, mit denen im Folgenden der Überlieferungsprozess identifiziert wird, stellen gewissermaßen ein Gegenstück zu den sieben Anfragen an die Formgeschichte dar, wobei aber die einzelnen Elemente der Gedächtnisarbeit nicht in einem direkten Korrespon- 91 A. Kirk, “Memory”, 163 92 Ong, “From Epithet to Logic”, 191. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 117 denzverhältnis zu denen der Formgeschichte stehen. Wichtig ist, dass der Kritik an der Formgeschichte ein neues Traditionsmodell entgegengesetzt wird. 5.1 Die memoriale Strukturierung der Jesusworte In erster Linie ist festzuhalten, dass wir mit einem Nexus zwischen der Tätigkeit des Gedächtnisses und Jesu eigener Botschaft rechnen müssen, und dass diese Gedächtnistätigkeit von ihren sozialen Kontexten, in denen sie sich äußert, niemals isoliert werden kann. Nachdem wir im vorangegangenen Abschnitt beispielhaft vorgeführt haben, dass die szenische Organisation der Jesusüberlieferung wie auch die Erzählweise der Gleichnisse entsprechend ihrer memorialen Funktion strukturiert und stilisiert sind, können wir uns nun auf die Worttradition beschränken. Wiederum ist zu betonen, dass eine Unterscheidung von authentischen und unauthentischen Jesusworten außerhalb der Konzeption eines erinnerungsgeschichtlichen Überlieferungsprozesses liegt. Für ein konzeptuelles Verständnis des Traditionsstoffs kann es nicht von Relevanz sein, ob die Worte von Jesus selbst oder in seinem Namen gesprochen wurden, im Verschriftlichungsprozess der Evangelien entstanden oder als Zitate fortlaufend wiedergegeben wurden - sofern solche Unterscheidungen im Traditionsstrom überhaupt praktikabel und durchführbar sind. Ein von medientheoretischen Prämissen geprägtes Denken interessiert sich neben dem „Was“ für das „Wie“ ihrer Überlieferung, nämlich wie die Worte aufgrund ihrer strukturellen Beschaffenheit überlieferungsfähig wurden, um im Traditionsstrom fortleben zu können. Ein Blick auf die reiche Worttradition des MkEv lässt erkennen, dass Jesusworte zum großen Teil von ihren mnemonischen Erfordernissen her strukturiert sind. Man könnte geradezu von „mnemonischen Kreationen“ sprechen. Einige wenige Beispiele aus dem Markusevangelium sollen einen Einblick in die mnemonische Sprechkultur der Jesusworte vermitteln, so etwa Mk 2,27 „Der Sabbat ist um des Menschen willen geschaffen, und nicht der Mensch um des Sabbats willen“. Dies ist ein zweistufiger Parallelismus mit positiv-negativer Antithese. In Mk 4,9 „Wer Ohren hat zu hören, der höre! “ liegt ein Doppelungseffekt von akouein und akoueto vor. Bei Mk 4,25 „Denn wer hat, dem wird gegeben werden, und wer nicht hat, dem wird auch das genommen werden, was er hat“ handelt es sich um eine zweistufige, diametrale Opposition. Mk 7,15 „Nichts kommt von außen in den Menschen hinein, das ihn verunreinigen kann, sondern was aus dem Menschen herauskommt, das ist es, was den Menschen verunreinigt“ ist ein progressiver Parallelismus, der mit der Antithese von außen und innen arbeitet. Mk 8,35 „Denn wer sein Leben retten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der 118 Werner H. Kelber wird es retten” ist ein zweistufiger Parallelismus mit doppelter Antithese mit „retten und verlieren“ auf beiden Stufen, und der Inversion dieser Antithese auf der zweiten Stufe zu „verlieren und retten“. Mk 8,38 „Denn wer sich meiner und meiner Worte schämt […], dessen wird sich auch der Sohn des Menschen schämen“ arbeitet mit einem progressiven Parallelismus, der den Gedankengang wiederholend weiterführt. In Mk 9,37 „Wer ein solches Kind um meines Namens willen aufnimmt, der nimmt mich auf, und wer mich aufnimmt, der nimmt nicht mich auf, sondern den, der mich gesandt hat” kommt ein zweistufiges Verfahren zur Anwendung, wobei die zweite Stufe den Gedankengang der ersten antithetisch fortführt. Mk 9,40 „Denn wer nicht wider uns ist, der ist für uns“ ist antithetisch konstruiert. Mk 10,31 „Viele aber, welche Erste sind, werden Letzte sein, und die Letzten Erste“ bietet eine positiv-negative/ negativ-positive chiastische Konstruktion. Mk 10,39 „Den Kelch, den ich trinke, werdet ihr trinken, und mit der Taufe, mit der ich getauft werde, werdet ihr getauft werden“ besteht aus einem thematischen Parallelismus, der den Sinngehalt der ersten Stufe auf der zweiten Stufe mit anderen Worten wiederholt. Mk 2,21f „Niemand flickt einen Lappen von neuem Tuch an ein altes Kleid, denn der neue Lappen reißt doch vom alten, und der Riss wird ärger“ verarbeitet die Antithese von neu und alt. Mk 10,13-16 „Lasst die Kinder zu mir kommen und wehrt ihnen nicht, denn solchen ist das Reich Gottes. Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen“ wiederholt antithetisch „Kinder“ und „Reich Gottes“. Mk 11,22-25 stellt mit „Glauben an Gott“ - „bergeversetzender Glaube“ - „Bitten im Gebet/ Empfangen“ - „Beten/ Vergeben“ eine Bündelung von vier aphoristischen, thematisch aneinandergereihten Worten dar. Alle diese Beispiele weisen in hohem Maße strukturelle Gemeinsamkeiten auf. Ein gedächtnisstützendes Gerüst von Doppelungen, Polarität und Antithese strukturiert alle diese Worte. Zu betonen ist, dass diese Stilelemente nicht ergänzend in die mündliche Diktion eingetragen wurden, dass vielmehr diese Diktion substanziell aus antithetischen Konstruktionen gebildet ist. Dies bringt auch das an den Anfang dieses Abschnitts gestellt Zitat von Ong zur Geltung: In von Mündlichkeit geprägten kulturellen Kontexten vollzieht sich das Denken und Sprechen nachweislich in binären Strukturen. Jousse bringt dies plausibel mit der psychosomatischen Beobachtung in Verbindung, dass der antithetische Sprechstil in rhythmischem Einklang mit der bipolaren Funktionsweise des menschlichen Gehirns steht. 93 Für eine mnemonische Ökonomie des Überlieferungsprozesses ist diese psychosomatische Komponente von grundlegender Bedeutung. Zugleich stellen paarige Konstruktionen einen Stabilisierungsfak- 93 Jousse, Memory, Memorization and Memorizers. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 119 tor dar, denn „Formeln sind nichts anderes als Zwänge“. 94 Hier wird die Ironie formelgeprägter Sprache deutlich erkennbar: Lebendige Sprache muss in feste Formeln geprägt werden, um auf diese Weise ihr Überleben zu sichern und sie wiederholungsfähig und damit überlieferungsfähig zu machen. Aber die Stabilisierung mittels paarweiser, polarisierender und antithetischer Formulierungen ist ein überaus wichtiges Element im iterativen Verhalten von Tradition. Sie ermöglicht es, dass die formelgeprägten Wendungen nicht nur einmal, sondern mehrmals an verschiedenen Orten, zu verschiedenen Zeiten und vor verschiedenen Hörern gesprochen werden können. Wir müssen versuchen uns klarzumachen, was unter den Bedingungen mündlicher Kommunikation passiert, wenn ein Sprecher ein vormals gesprochenes Wort reaktiviert, indem er es erneut ausspricht. In diesem Moment liegt eine Spanne Zeit zwischen seinem früheren Verlauten und der Gegenwart des Sprechers. Nun muss die Erinnerung einspringen, um das früher einmal gesprochene Wort wieder ins Bewusstsein zu rufen und erneut wirksam werden zu lassen. Jedoch hat dann, wie zu zeigen war, das erneut gesprochene Wort denselben Stellenwert wie das zuvor gesprochene. Der Sprecher ist sich weder der Unterscheidung von „ursprünglichem Wort“ und davon abweichenden Varianten bewusst, noch einer inhaltlichen Differenz zwischen der früheren gegenüber der gegenwärtigen Aussage. Auch versteht er das erneut gesprochen Wort strenggenommen nicht als eine Wiederholung. John M. Foley ist einer der wenigen, die das Konzept der Wiederholung in seiner Tiefe erfasst haben: „Wiederholung ist in Wirklichkeit eine falsche Bezeichnung“. 95 Stattdessen schlägt er vor, von „Neuschöpfung“ zu sprechen. Erst die Verschriftlichung und mehr noch die gedruckte Schrift vermag Wiederholungen und Varianten als solche erkennbar zu machen. Was für chirographische und typographische Wahrnehmung Wiederholungen und Varianten eines ursprünglichen Wortes sind, wird in der oralen Erfahrung als Pluralität authentischer Worte wahrgenommen. Möglicherweise kommt der von mir vorgeschlagene Begriff der Gleichursprünglichkeit einer Beschreibung iterativer und doch gleichwertiger Worte noch am nächsten. 96 Was vom Standpunkt unserer typographischen Kultur aus gesehen Wiederholungen sind, das sind im Kontext mündlicher Kommunikation Neuschöpfungen. Wiederum sind wir uns der Schwierigkeiten bewusst, die Vorstellungswelt und Ausdrucksformen einer vorwiegend mündlichen Kultur nachzuempfinden. 94 Ong, Orality and Literacy, 64. 95 Foley, Immanent Art. From Structure to Meaning in Traditional Oral Epic, Bloomington/ Indianapolis 1991, 56. 96 Kelber, Imprints, Voiceprints and Footprints of Memory, 77-80, 404-408, 422. 120 Werner H. Kelber 5.2 Erinnerung und Tradition Zweitens besteht unabweisbar eine enge Bindung von Jesu Verkündigung an die Geschichte und Tradition seines Volkes. Diese Bindung ist aber ohne eine konstitutive Rolle des Gedächtnisses schwerlich vorstellbar. Allzu oft wurde Jesus in der modernen Rezeptionsgeschichte als genialer Einzelgänger dargestellt, der den exklusiven Ausgangspunkt seiner eigenen Tradition konstituierte, eine Vorstellung, die von der formkritischen Denkweise zumindest indirekt begünstigt wurde, wenn sie Jesu ipsissima verba oder deren ipsissima structura isolierte und für die alleinige Grundlage seiner Verkündigung und der synoptischen Tradition erklärte. Dieses Verfahren musste früher oder später den Eindruck erwecken, als hätte die Geschichte der Jesustradition an einem Nullpunkt ihren Anfang genommen. Historisch ist es jedoch nicht sinnvoll, die Bedeutung Jesu darin zu sehen, dass er sich von der biblisch-jüdischen Tradition distanzierte, um eine völlige Neuorientierung anzubahnen. Marcel Jousse und Birger Gerhardsson haben als ausgewiesene Kenner des antiken Judentums die Verbundenheit Jesu mit der biblisch-jüdischen Tradition nachdrücklich hervorgehoben. Möglicherweise ist es kein Zufall, dass Jousse einen völlig anderen Weg einschlug als die Formgeschichtler, und dass Gerhardsson bewusst ein Gegenmodell zur Formgeschichte entwarf. Nach Jousse wuchs Jesus in der aramäischen Sprache auf, beherrschte meisterhaft alle Spielarten der mündlichen Kommunikation seiner galiläischen Heimat, und er lernte und lehrte die Schrift in der Form des aramäischen Targums. Bemerkenswert ist etwa Jousses Beobachung, dass sich alle Strophen des Vaterunsers in aramäischen Targumen nachweisen lassen. Traditionsgeschichtlich sah Jousse die Bedeutung des Herrengebets darin, dass es in der aramäischen Tradition liegende Komponenten aufgegriffen und zu einer neuen Synthese vereint hat. Somit ist für Jousse das Vaterunser bezeichnend für Jesu Sprache im Rahmen der aramäischen Erinnerungsgeschichte : Innerhalb eines traditionsgebundenen Erinnerungsdiskurses stehend und aus dem Reservoir der Tradition schöpfend realisierte er eine Neuschöpfung der Erinnerung. 97 97 Jousse, Memory, Memorization, and Memorizers, 380-387, 394-396. Bekanntlich werden die aramäischen Targume meist auf einen späteren Zeitpunkt datiert. Jousse war allerdings der Ansicht, dass die galiläische Landbevölkerung bereits im 1. Jh. des Hebräischen unkundig und damit auf die Übersetzung der hebräischen Schriften ins Aramäische angewiesen war. Heute ermöglichen uns die aramäischen Texte von Qumran den Status der aramäischen Targums im 1. Jh. besser zu erfassen. Für eine nuancierte Beurteilung des Einflusses der targumischen Tradition auf Jesus und die frühe Jesustradition vgl. B. Chilton, Aramaic, Jesus, and the Targumim, in: J.H. Charlesworth (Hg.), Jesus Research: New Methodologies and Perspectives, Grand Rapids 2014, 305-334. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 121 Ähnlich wie Jousse hat Gerhardsson sein Erklärungsmodell für den Überlieferunsprozess der frühen Jesustradition mit Hilfe von Analogien im rabbinischen Judentum tannaitischer und amoräischer Prägung gewonnen. Gerade deswegen sah sich sein wichtiges Werk Memory and Manuscript 98 scharfer Kritik ausgesetzt, die sich hauptsächlich auf seine Rückdatierung rabbinischer Traditionen in das 1. Jh. konzentrierte. Bedauerlicherweise wurde dabei die volle Tragweite seines Werkes meist ignoriert. 99 Von seinen vielen Verdiensten will ich drei besonders hervorheben: Zum einen hat er die zentrale Bedeutung des Gedächtnisses und den unaufgebbaren Synergismus von Gedächtnis und Überlieferung in den Vordergrund gerückt. Anfang der 60er Jahre, als die Formgeschichte deutscher Prägung das beherrschende Paradigma war, musste die Einführung des Gedächtnisses als Leitmetapher der frühchristlichen Überlieferungsgeschichte eine umstrittene These sein. Zweitens legte er großen Wert darauf, dass Jesus und seine Tradition in den Kontext der biblisch-jüdischen Geschichte zu stellen sind. Die frühe Jesustradition bleibt nach seiner Auffassung unverständlich, wenn man Jesus selbst oder die frühe Kirche zum Anfangspunkt erklärt. Beide sind historisch nur fassbar, wenn sie im Zusammenhang mit „der Tradition der Tora in ihrer mündlichen und schriftlichen Form“ gesehen werden. 100 Drittens darf nicht vergessen werden, dass Gerhardssons Kommunikationsmodell die konkreten Abläufe der jüdischen und frühchristlichen Überlieferungsprozesse in beispielloser Weise verdeutlicht hat. Wie kaum jemand unter den Bibelwissenschaftlern seiner Zeit hat er sich mit der psychosomatischen Interaktion von Ton, Klang und menschlicher Interiorität, der auditorischen Funktion der meisten antiken Schriften, den mnemonischen Techniken formelgeprägter, rhythmisch kantillierter Sprache, dem zwischen Schülern und Lehrer bestehenden Imitationsverhältnis, dem Zusammenwirken von Rezitation, Repetition und Gedächtnis und nicht zuletzt mit der memorialen Bindung Jesu an seine Tradition beschäftigt. Obwohl Gerhardsson de facto die Tradition als eine Gedächtnisgeschichte konzipierte, erweckt seine Auffassung von einer wortgetreuen, zuweilen nahezu mechanistisch erscheinenden Jesustradition den Anschein, dass er die individuelle, mentale Komponente des Gedächtnisses auf Kosten von sozialen Zusam- 98 B. Gerhardsson, Memory and Manuscript: Oral Tradition and Written Transmission in Rabbinic Judaism and Early Christianity, Lund 1961. 99 In dem Bestreben ein ausgewogenes Verständnis des Werkes Gerhardssons zu erzielen, habe ich zusammen mit S. Byrskog den Band Jesus in Memory, Traditions in Oral and Scribal Perspectives (Waco 2018) veröffentlicht, der Beiträge von C. Tuckett, T.C. Mournet, D. Aune, M. Jaffee, L. Alexander und A. Kirk enthält. Die Aufsätze tragen dazu bei, Gerhardssons bahnbrechendes Werk in einem neuen Licht erscheinen zu lassen. 100 Gerhardsson, Memory and Manuskript, 324. 122 Werner H. Kelber menhängen überbewertet hat. Tatsächlich hat er jedoch den sozialen Kontext der jüdischen Überlieferungsgeschichte als ihre unabdingbare Voraussetzung vorbildlich vor Augen geführt. Stärker zu betonen wäre allenfalls, dass Oralität stets kontextbezogen und Verschriftlichung in antiken Kommunikationssystemen in der Regel hörerorientiert ist. 101 Zusätzlich ist zu bedenken, dass das Überdauern der Worte Jesu nicht allein von ihrer mnemonischen Strukturierung, sondern auch von ihrer Interaktion innerhalb ihrer konkreten sozialen Bezüge abhängig war. Stets musste sich seine Botschaft auf dem Boden einer neuen Gegenwart behaupten. Wiederum dürfte Ong im Recht sein: „Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass generell in mündlichen Kulturen die weitaus meisten mündlichen Rezitationen selbst in rituellen Kontexten in das flexible Ende des Kontinuums zwischen Wörtlichkeit und Gestaltungsfreiheit fallen“. 102 Ich sehe keine Möglichkeit, für das durch und durch mündliche Milieu der frühen Jesustradition ein wortwörtliches Memorieren zu anzunehmen. Vielmehr ist von einem Zusammenwirken des souveränen individuellen Gedächtnisses einerseits und des sozialen bzw. kulturellen Gedächtnisses andererseits als aktive Koproduzenten im Prozess der überlieferungsgeschichtlichen Sinnbildung auszugehen. 5.3 Gedächtnis und die frühe papyrologische Tradition Die Textkritik als Teildisziplin der neutestamentlichen Wissenschaft ist vorwiegend ein Arbeitsfeld von Experten. Weil sie besondere methodisch-technische Fachkenntnisse erfordert, die nur wenige Bibelwissenschaftler erworben haben, haftet ihr bis heute der Nimbus des Spezialistentums an, weshalb man die Textkritik üblicherweise einem kleinen Kreis von Experten überlässt. Diese beschäftigen sich in erster Linie mit der Sichtung der mehr als 5400 Textzeugen, die für die Rekonstruktionen des griechischen Textes des Neuen Testaments zur Verfügung stehen. Um der ungewöhnlich hohen Anzahl an Handschriften Herr zu werden, entwarf die Textkritik ein umfassendes System der Katalogisierung und Digitalisierung, nahm eine chronologische und kulturelle Einordnung in Texttypen vor und entwickelte ein stemmatologisches Schema der handschriftlichen Überlieferung. Das groß angelegte Programm der neutestamentlichen Textforschung besteht darin, mittels einer Eliminierung sekundärer und/ oder „korrupter“ Textzeugen eine kritische Ausgabe des griechischen Neuen Testaments zu erstellen, bzw. diese fortwährend auf den neuesten Stand der textkritischen Forschung zu bringen. Bis in die jüngste Zeit bestand das unhinterfragte Ziel 101 Vgl. Abschnitt 3.5 in diesem Beitrag 102 Ong, Orality and Literacy, 65. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 123 aller textkritischen Arbeit darin, den vollständigen Handschriftenbestand für die Gewinnung eines normativen Textes nutzbar zu machen und auszuwerten. In den letzten drei Jahrzehnten haben aber führende Textkritiker neue Prioritäten gesetzt und die Arbeit an den Handschriften und die Zielsetzung der Disziplin in eine andere Richtung gelenkt. Ungeachtet je eigener Fragestellungen und Schwerpunkte sind sich die Textkritiker Eldon Epp, 103 David C. Parker, 104 Bart D. Ehrmann, 105 und Kim Haines-Eitzen 106 in einem Punkt völlig einig: Die Jesustradition ist in ihrem frühen handschriftlichen Überlieferungsstadium durch einen höchst erstaunlichen Pluralismus gekennzeichnet. Parker hat diesen Sachverhalt folgendermaßen zusammengefasst: „Die bemerkenswerteste Tatsache dieser [frühesten] Periode ist die große Variabilität der Textzeugen“. 107 Fast noch aufschlussreicher ist seine Beobachtung, dass „die überwiegende Anzahl neutestamentlicher Textvarianten in die Zeit vor dem Jahr 200 fällt“, 108 und ferner die Bemerkung, dass, „je weiter wir zurückgehen, desto grösser der Variationsgrad erscheint“. 109 Aus diesem Tatbestand ergeben sich einige wichtige Folgerungen. Zum einen ist festzuhalten, dass die frühe Textgeschichte unter den Bedingungen von Pluralität und Variabilität verlief, dass sie mithin keineswegs mit einem „Urtext“ begann. Es gibt in dieser frühen Periode keinen autoritativen Text. 110 Daraus folgt aber nun, dass jede einzelne Textvariante als ein selbständiges Element der Tradition ernst genommen werden muss und nicht primär von der Perspektive eines normativen Textes beurteilt bzw. verurteilt werden sollte. Dann aber kann es nicht mehr die primäre und schon gar nicht alleinige Aufgabe der Textkritik sein, einen normativen Text zu konstruieren. Vielmehr tangiert die neue Sicht der Überlieferungsgeschichte auch das bisher unhinterfragte Projekt einer kritischen Ausgabe des Neuen Testaments. Textkri- 103 E. Epp, The Oxyrchynchus New Testament Papyri: Not Without Honor Except in Their Hometown? , JBL (2004), 123: 5-55; Ders., It’s All About Variants: A Variant-Conscious Approach to New Testament Criticism, HTR (2007), 100: 275-308. 104 D.C. Parker, The Living Text of the Gospels, Cambridge 1997; Ders., Scribal Tendencies and the Mechanics of Book Production, in: Ders., / H.A.G. Houghton (Hg.), Textual Variation: Theological and Social Tendencies, Piscataway 2008, 173-184. 105 B.D. Ehrman, The Orthodox Corruption of Scripture: The Effect of Early Christological Controversies on the Text of the New Testament, Oxford 1993; Ders., The Text as Window: New Testament Manuscripts and the Social History of Early Christianity, in: Ders. / M.W. Homes (Hg.), The Text of the New Testament in Contemporary Research: Essays on the Status Quaestionis, Grand Rapids 1995, 361-379. 106 K. Haines-Eitzen, Guardians of Letters: Literacy, Power, and the Transmitters of Early Christian Literature, New York 2000. 107 Parker, The Living Text, 188. 108 Ders., Scribal Tendencies, 183. 109 Ders., The Living Text, 188. 110 Ebd., 212. 124 Werner H. Kelber tik sollte nicht mehr der Expertise der Spezialisten überlassen bleiben, sondern mit einem neuen Blick auf Überlieferungs- und Textgeschichte von Grund auf neu überdacht werden. In meinen eigenen Arbeiten habe ich versucht, diese neue Sicht von medientheoretischen Gesichtspunkten aus zu entwickeln. Meine These lautet, dass die frühe Handschriftenüberlieferung beträchtliche Analogien zu mündlichen Überlieferungsprozessen aufweist. Analog zur frühen Handschriftenüberlieferung verlief auch die mündliche Überlieferungsgeschichte in einer Pluralität von mannigfachen Sprechakten. Keiner der über 5400 Papyri ist mit einem anderen Papyrus identisch. Die handschriftliche und die mündliche Überlieferung kennen gleichermaßen keinen Unterschied zwischen ursprünglicher und sekundärer Sprache. Angesichts der in der Textkritik üblichen Abwertung und Marginalisierung vieler Handschriften 111 ist daran zu erinnern, dass die Gleichursprünglichkeit der Textzeugen das dominierende Phänomen sowohl der frühen schriftlichen wie der mündlichen Tradition war. Deshalb bezweifle ich auch, dass der Fachterminus „Variante“ im Kontext der frühen Überlieferungsgeschichte angemessen ist. Wenn man mit Haines-Eitzen die frühe Texttradition als „eine Form der Überlieferung“ versteht, „in der Standardisierung und Einheitlichkeit nicht existierten“, dann sollte der Begriff Variante im Sinne einer Abweichung von der Norm problematisiert werden. Nicht zuletzt zeigen Teile der Handschriftentradition jenen ausgeprägten adaptiven Habitus, der auch in mündlichen Überlieferungsprozessen maßgeblich ist. Beide Bereiche sind kontextgebunden und, wie besonders Ehrmann 112 und Epp 113 hervorgehoben haben, von theologischen Disputen, christologischen Kontroversen, liturgischen Gepflogenheiten sowie von ganz allgemeinen Fragen des täglichen Lebens beeinflusst. Im Zuge der Neubesinnung auf die Grundlagen und Methoden textkritischer Arbeit sind auch der Status und die Funktion der Schreiber in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. 114 Schon seit geraumer Zeit wird zunehmend in Zweifel gezogen, dass die konventionelle Vorstellung von antiken Schreibern als engagierten Kopisten, die hauptsächlich, wenn nicht ganz und gar im Interesse einer wortgetreuen Erhaltung des skriptographischen Traditionsbestandes tätig waren, noch aufrecht erhalten werden kann. Stattdessen werden die Rolle und die Aktivitäten der Schreiber in einen größeren soziologischen Zusammenhang 111 Epp (2007, 285, 297) äußert sein Bedauern darüber, dass in den gebräuchlichen Ausgaben des NT Graece „die große Fülle an Textvarianten aus früher Zeit an den untersten Rand der Textseiten verbannt wird, in die Unterwelt des kritisches Apparats, eine Position, wo ihre Stimmen zum Schweigen gebracht und ihre Erzählungen unterdrückt werden“. 112 Ehrman, The Orthodox Corruption. 113 Epp, It’s All About Variants. 114 Besonders wichtig hierzu ist das Buch von Haines-Eitzen, Guardians of Letters. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 125 gestellt. In den antiken Gesellschaften nahmen Personen, die des Schreibens kundig waren, eine Sonderstellung ein. Richard Horsley, der das große Verdienst hat, die politische Geschichte des Judentums des zweiten Tempels und der frühen Jesustradition ausführlich dargestellt zu haben, hat antike Schreiber als einflussreiche Aktivisten im Machtkampf zwischen imperialen hellenistischen Mächten einerseits und dem unterdrückten Bauernstand andererseits beschrieben. 115 Sie waren gesuchte Experten, die im Verwaltungsdienst und in der Politik agierten, und deren Tätigkeit keineswegs nur auf die Pflege des schriftlichen Erbes beschränkt war. Mit anderen Worten, Schreiber waren prädestiniert, in ihren spezifischen gesellschaftlichen Kontexten eine multifunktionale Rolle zu spielen. Es empfiehlt sich, diesen soziologischen Hintergrund im Auge zu behalten, wenn wir die chirographische Tätigkeit der Schreiber der frühen Handschriftenüberlieferung in ihrer vollen historischen Tragweite verstehen wollen. Sie waren nicht nur Produzenten von Texten, sondern auch Kenner und Leser ihrer Texte. Als Personen, die am öffentlichen Leben teilnahmen, können sie ihre Schreibertätigkeit kaum anders ausgeübt haben als mit einem engagierten Interesse am Inhalt der Texte, mit denen sie in ihrer Eigenschaft als Schreiber zu tun hatten. Die jüngsten Arbeiten von Ehrman und Haines-Eitzen haben das mit aller Deutlichkeit gezeigt. Weit davon entfernt, sich ausschließlich als buchstabengetreue Kopisten zu betätigen, waren Schreiber auch Mitgestalter ihrer Textproduktionen. Dann ist es aber nicht mehr möglich, zumal die frühen Handschriften als Resultat einer von der sozialen Umwelt völlig isolierten Arbeitsweise und eines reinen Abschreibens textlicher Vorlagen zu verstehen. Kurzum, die Schreiber waren auf unterschiedliche Weise kontextgebunden, so wie mündliche Tradition voll und ganz kontextgebunden ist. Zumindest teilweise findet die Pluralität und Variabilität der Handschriftenüberlieferung eine Erklärung in ihrer Bindung an soziale Kontexte. Andererseits ging die sukzessive Zentralisierung und Standardisierung der Handschriftenproduktion Hand in Hand mit der Herauslösung aus ihrer sozialen Umgebung und mit der Reduktion ihrer Pluralität. Auf dem Gebiet der Textüberlieferung des antiken Judentums hat Raymond Person ganz ähnliche Überlegungen angestellt. In seinem Artikel The Ancient Israelite Scribe as Performer trug er die in der Wissenschaft der Hebräischen Bibel sehr kühne These vor, dass israelitische Schreiber „in erheblichem Maße von der 115 R.A. Horsley, Scribes, Visionaries, and the Politics of Second Temple Judaism, Louisville-London 2007; Ders., Revolt of the Scribes. Resistance and Apocalyptic Origins, Minneapolis 2010. Ich selbst habe den Begriff scribal activism in die Diskussion eingeführt, vgl. Kelber, Imprints, Voiceprints, and Footprints of Memory, 408 f. 126 Werner H. Kelber überwiegend oralen Kultur beeinflusst waren, in der sie lebten“. 116 Dem Vorgang der mündlichen Darbietung eines Textes nicht unähnlich pflegten Schreiber ihre Texte zu verinnerlichen und die Tätigkeit des Abschreibens mit einer „oralen Mentalität“ auszuüben, was ihnen die Freiheit gab, im Schreibvorgang abweichende oder zusätzliche Passagen in den jeweiligen Text einarbeiteten. Person kann mit Blick auf die israelitisch-jüdische Schreibkultur ganz im Sinne der mündlichen Kommunikationsweise von scribal performance, scribal memory , und composition-in-performance sprechen. Die Vorstellung, dass antike Texte nicht nur auf Papyrus festgehalten, sondern auch im Gedächtnis der Schreiber eingeschrieben waren, ist höchst bedenkenswert. Der Kopiervorgang war dann nicht lediglich vom Wortlaut des Referenzmanuskripts determiniert, sondern zugleich auch von der kulturellen und memorialen Beheimatung des Schreibers in einem breiten Traditionsstrom. Aus diesem Blickwinkel dokumentiert die frühe handschriftliche Überlieferung einmal mehr die enorme Vielschichtigkeit der antiken Kommunikationsgeschichte. Wir haben chirographisch dokumentiertes Material vor uns, das sich zugleich einem spezifisch oralen Verhalten verdankt und in Übereinstimmung mit oralen Konventionen funktionierte. Mit welchem Begriff wäre dieses Phänomen zu erfassen, das von scribal memory, oral-scribal interfaces , und einer mouvance (Bewegtheit) der Tradition bestimmt ist? Ein neuzeitliches Textverständnis, das wesentlich durch das Printmedium determiniert ist, wird hier schwerlich zu einem angemessenen Verständnis finden. Schriftlichkeit, Oralität und Gedächtnis kooperierten und interagierten in der Anfertigung und Performanz der Papyri auf eine Art und Weise, die für uns nur schwer definierbar ist. Streng genommen haben wir für dieses kommunikative Phänomen bislang keinen historisch adäquaten Begriff. 117 5.4 Erinnerung und Tod Mit Jan Assmann kann man den Tod geradezu als die „,Urszene‘ der Erinnerung“ bezeichnen. 118 Eben weil mit dem Tod vollständige Vergangenheit entsteht, löst er einen aktiven Prozess retrospektiver Besinnung aus. Man wird nicht umhinkönnen anzunehmen, dass Jesu gewaltsamer Tod wie kein anderes Ereignis in der frühen Jesustradition hohe Anforderungen an das Gedächtnis stellte. Das 116 R.F. Person, The Ancient Israelite Scribe as Performer, SBL 117/ 4 (1998), 601-609, hier: 608. 117 Eine medientheoretisch überaus kenntnisreiche Studie über antike Kommunikationskulturen ist A. Kirk, “Manuscript Tradition as a Tertium Quid: Orality and Memory in Scribal Practices,” in T. Thatcher, hg., Jesus, the Voice, and the Text: Beyond the Oral and the Written Gospel, Waco, Texas, 2008, 215-234; wieder abgedruckt in A. Kirk, Memory and the Jesus Tradition, 114-137. 118 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 33. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 127 „Was“ und das „Wie“ des Erinnerns muss eine Frage von größter Dringlichkeit gewesen sein. Wie konnte das Gedächtnis mit dem Trauma der Kreuzigung umgehen, und wie konnte es die Erinnerung an das Geschehene verarbeiten, formulieren und inszenieren? Bekanntermaßen vertraten die Formgeschichtler die These, dass die Passionsgeschichte des Markus sehr früh und in zeitlicher und räumlicher Nähe zu den Ereignissen selbst entstanden ist. Karl Ludwig Schmidts Formulierung fand weithin Zustimmung: „Ehe die Überlieferung Zeit hatte, an den Dingen herumzufeilen, wie das bei dem Stoff außerhalb der Leidensgeschichte geschehen ist, war der Bericht über das Leiden und Sterben Jesu schon fixiert“. 119 Zur Stützung dieser These beriefen sich die Formgeschichtler meist auf die erzählerische Kohärenz der Passionsgeschichte. Doch hier ist einzuwenden, dass die zusammenhängende Erzählung in erster Linie ein Indiz für narrative Kompetenz ist und nichts über den frühen oder späteren Zeitpunkt der Komposition aussagt. Wichtiger sind Erwägungen psychodynamischer Art. Ist es vorstellbar, dass es ausgerechnet die traumatische Erfahrung des Todes Jesu war, der zuallererst eine zusammenhängende Darstellung evozierte? Oder ist nicht im Gegenteil eine gewisse zeitliche, örtliche, und emotionale Distanzierung erforderlich, ehe Erinnerung sich konsolidieren und verschriftlichen kann? Wird hier möglicherweise im Interesse eines geradlinigen Zugriffs auf die früheste Historie der mühevolle memoriale Rekurs auf das traumatische Geschehen des Todes Jesu verkürzt und trivialisiert? Wie unter 4.1 ausgeführt, kann Vergangenheit nur in selektiver und vermittelter Form und als erinnerte Vergangenheit aktualisiert werden. Machen wir uns einmal mehr klar: Der Erinnerungsprozess ist nicht mit der direkten Replikation unvermittelter Fakten, nicht mit dem Nachschlagen in einem Buch und nicht mit dem Download von Daten vergleichbar. Nach Halbwachs ist Erinnerung an die cadres sociaux (Rahmenbedingungen, frames of reference ) gebunden. Hierüber herrscht unter den Gedächtnistheoretikern Maurice Halbwachs, Jan Assmann, Aleida Assmann, Sandra Hübenthal und Alan Kirk Einigkeit: Vergangenheit ist nur als Erinnerungskonstrukt erinnerungsfähig und bedeutungstragend. Diese Einsicht dürfte für die Erinnerung an den Tod Jesu von hoher Relevanz sein, denn dieser ist in seiner rohen Aktualität nicht erinnerungsfähig. Wenn irgendein Datum der frühen Jesustradition einer Vermittlung bedürftig war, dann war es Jesu gewaltsamer Tod. Auf der Suche nach einem Referenzrahmen, der für die Erinnerung der Passion Jesu leitend gewesen sein könnte, ist Lothar Ruppert in einer Reihe von Studien aus den frühen 70er Jahren des vergangenen Jh.s auf den Motivkomplex 119 K.L. Schmidt, Der Rahmen der Geschichte Jesu, Darmstadt 1964, 305 (Berlin, 1 1919). 128 Werner H. Kelber der passio iusti (bzw. iustorum ) gestoßen. 120 Das von ihm gesichtete Material über den oder die unschuldig Leidenden erstreckt sich über einen Zeitraum eines ganzen Jahrtausends und umfasst Texte aus der hebräischen Bibel, der Septuaginta, dem hellenistischen Judentum, Qumran und der apokalyptischen Literatur. Es gelang ihm, aus der Fülle und Variationsbreite des Materials das zeitübergreifend bemerkenswert stabile Paradigma des unschuldig Leidenden und seiner Rechtfertigung herauszuarbeiten. Augenscheinlich handelt es sich um ein zeitübergreifendes menschliches Erfahrungs- und Deutungsmuster, das sich in einem relativ stabilen Traditionskomplex niedergeschlagen hat. Unabhängig von Ruppert hat George Nickelsburg innerhalb eines wesentlich kleineren Quellenbereichs den Motivkomplex der Rettung und Rechtfertigung des unschuldig Verfolgten beschrieben und damit ein Feld näher untersucht, das Ruppert bereits erschlossen hatte. 121 Auch Nickelsburg analysierte einen Motivzusammenhang von hoher thematischer Kohärenz, der es erlaubte, von einer eigenen literarischen Gattung zu sprechen, die, wie zumal die Analyse der mk. Passionsgeschichte zeigt, aus dem motivischen Reservoir der passio justi schöpfte. 122 Die Leidensgeschichte des MkEv beruht also auf einer konventionellen und weithin bekannten narrativen Grundstruktur. Das missing link , das die Gattung der passio justi mit der Gedächtnisthematik verband, sollte die Forschung im weiteren Verlauf noch beschäftigen: Richtungsweisend waren hier Arbeiten von Arthur Dewey. 123 Mit Inventing the Passion gelang es ihm in herausragender Weise, die weitere Erforschung der Passionsgeschichte aus dem historisch-kritischen Rahmen herauszulösen und aus der Perspektive der Gedächtnisforschung neu in den Blick zu nehmen. Nach seiner Auffassung hat sich die historische Forschung mit der Leitfrage nach der historischen Referenz des Erzählten den Zugang zur Passionsgeschichte in nicht geringem Maße verbaut und ihr Grundanliegen dementsprechend nicht unwesentlich verzeichnet. Für Dewey, der die Passionserzählungen der Evangelien auf dem Hintergrund einer tief in Memoria/ Mnemosyne verwurzelten Kommunikationskultur las, verdankt sich die Erzählung von Jesu Tod nicht 120 L. Ruppert, Der leidende Gerechte: Eine motivgeschichtliche Untersuchung zum Alten Testament und zwischentestamentlichen Judentum, Würzburg 1972; Ders., Jesus, der leidende Gerechte? , Stuttgart 1972; Ders., Der leidende Gerechte und seine Feinde: Eine Wortfelduntersuchung, Würzburg 1973. 121 G.E. Nickelsburg, The Genre and Function of the Markan Passion Narrative, HTR 73 (1980), 153-184. 122 Ders., The Genre and Function, 163. 123 A.J. Dewey, The Locus for Death: Social Memory and the Passion Narratives, in: A. Kirk / T. Thatcher (Hg.), Memory, Tradition, and Text. Uses of the Past in Early Christianity, Semeia Studies 52 (2005), 119-128; Ders., Inventing the Passion: How the Death of Jesus was Remembered, Santa Rosa 2017. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 129 primär historischen, sondern memorialen Impulsen. Wichtig für ein historisch adäquates Verständnis ist somit nicht die Frage „was ist geschehen“, sondern „was wurde weitergegeben“ und insbesondere „wie wurde es vermittelt“. Die Kernfrage war, wie das Trauma des gewaltsamen Todes der Erinnerung zugänglich gemacht werden konnte. Eine Antwort fand Dewey in der Anwendung seines gedächtnistheoretischen Ansatzes auf die antike Rhetorik. Von den fünf Kategorien der antiken Redekunst interessierte ihn vorrangig die inventio , d. h. die Auffindung der Argumente, die gedächtnistheoretisch betrachtet mit dem Finden eines Gedächtnisortes ( memory place ) einhergeht. Mit inventio ist folglich ein aktiver Prozess der Erkundung und Konstruktion bezeichnet, nicht eine passive Reproduktion gegebener Daten. Mit Dewey gesprochen war das antike Gedächtnis „heuristisch und nicht einfach mimetisch“ tätig. 124 Die Vorstellung einer konstruktiven Gedächtnisleistung steht, wie nochmals zu betonen ist, im Einklang mit den von Halbwachs, Jan Assmann, Aleida Assmann, Hübenthal und Kirk analysierten Funktionsweisen des Gedächtnisses innerhalb einer oral-memorialen Kultur. Wie Dewey zutreffend beobachtet hat, geht das Erinnerungsparadigma die Passionsgeschichte mit ganz anderen Grundvoraussetzungen an als die historisch-kritische Methode: „Natürlich steht die Vorstellung des Gedächtnisses als einer Konstruktionsleistung in erheblichem Widerspruch zu den Prämissen vieler moderner Bibelwissenschaftler“. 125 Deweys letzter und entscheidender Schritt bestand darin, die Konventionen der antiken Rhetorik als eine Funktionsweise des kulturellen Gedächtnisses zu beschreiben. 126 Auf diesem Hintergrund erschließt sich die Gattung der passio iusti als vom Markusevangelisten angewendetes Verstehensmuster, das das Unausdenkbare in eine erzählbare Form zu fassen vermochte. Ganz im Sinne der rhetorischen inventio „fand“ er einen Gedächtnisort, an dem sich die Erinnerung an den gewaltsamen Akt der Hinrichtung Jesu realisieren ließ, oder anders ausgedrückt einen cadre social , der das Unfassbare in einen narrativen Deutungsrahmen fassen konnte. Psychodynamisch betrachtet kann man sagen, dass das Trauma durch einen Rückgriff auf eine konventionelle Form medialisiert und dadurch gewissermaßen „normalisiert“ wurde, denn Medialisierung bedeutet immer auch Normalisierung. 124 Dewey, The Locus for Death, 126. 125 Ebd. 126 Deweys Konzept des Gedächtnisses basiert auf M. Carruthers, The Book of Memory: A Study of Memory in Medieval Culture, Cambridge 1990. 5.5 Das Evangelium als kulturelles Gedächtnis Wir haben voranstehend Betrachtungen über die kaum zu überschätzende Bedeutung und vielgestaltige Funktionsweise von Gedächtnis und Erinnerung in der gesamten antiken Kommunikationsgeschichte unter besonderer Berücksichtigung der jüdischen und frühchristlichen Traditionen angestellt und damit Aspekte der Überlieferungsgeschichte des frühchristlichen Traditionsstoffs in den Blick genommen, die in der historischen Forschung einschließlich der Formkritik und Textkritik nur sehr geringe Beachtung gefunden haben. Unsere Beobachtungen reichten von der mnemonischen Sprechkultur der Worte Jesu und deren memorialer Bindung an seine eigene jüdische Tradition über die memoriale Funktionsweise der mündlichen Überlieferungsprozesse und die Rolle des Gedächtnisses in der chirographisch-papyrologischen Überlieferung bis hin zum Verständnis von Überlieferungsgeschichte als Erinnerungsgeschichte . Damit ist bereits der Bogen zum letzten gedanklichen Schritt geschlagen, nämlich zur Frage, ob und inwieweit auch auf der Ebene der Endgestalt der narrativen Komposition der Evangelien Implikationen memorialer Gestaltungsprozesse erkennbar sind. Dass im historisch-kritischen Paradigma gar nicht in diese Richtung gefragt wurde, hat, wie hier unter Hinweis auf den ersten Abschnitt dieses Beitrags über die „typographische Gefangenschaft der historisch-kritischen Forschung“ nochmals in Erinnerung zu rufen ist, wesentlich auch damit zu tun, dass mit Aufkommen der Druckerpresse Texte ohne jegliches Zutun von Gedächtnisprozessen einen Stand nie dagewesener Perfektion erreichen konnten. Die Mechanismen der Druckerpresse hatten gewissermaßen das Gedächtnis aus seinem Dienst entlassen. Angesichts der augenfällig makellosen Konsolidierung und Perfektionierung der typographischen Textgestaltung mussten die Stabilisierungsversuche formelgeprägter Sprache als unprofessionell und geradezu antiquiert gelten. Der Verlust jeglicher Sensibilität für oral-memoriale Prozesse war medientheoretisch betrachtet eine der vielen gravierenden epistemologischen Folgen einer systematischen Durchsetzung des typographischen Mediums. Wiederum ist eine gewisse Ironie unverkennbar, die mit der engen Vernetzung des historischen Paradigmas mit dem typgraphischen Medium einherging. Dasselbe Paradigma, das die Erforschung der Historie auf seine Fahnen geschrieben hatte, ließ es zu, dass einige der maßgeblichsten Komponenten der antiken Kommunikationskultur vernachlässigt bzw. ignoriert wurden, wie Sandra Hübenthal klar gesehen hat: In historischer Würdigung der antiken Zeugnisse „hätte der Begriff der Erinnerung eine leitende Kategorie werden können“. 127 Pointiert gesagt hieße das, dass die historisch-kritische Hermeneu- 127 Hübenthal, Das Markusevangelium, 16-19, hier: 18 mit Hinweis v. a. auf Justin, 1 Apol. 66,3; 63, 7 und Dial. 100,4; 101,3; 102,5; 103,6,8; 104,1; 105,1,5f; 106,1,3f; 107,1 und auf 130 Werner H. Kelber Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 131 tik in gewisser Hinsicht nicht historisch genug ist. Umso wichtiger ist der Hinweis, dass seit einiger Zeit neue Positionen in die Diskussion gebracht werden, die geeignet sind, Raum für den Erinnerungsdiskurs zu schaffen. Seit den 1970er Jahren ist die narrative Kritik der Evangelien zu einem unaufgebbaren Bestandteil biblischer Interpretation geworden. Narrative Hermeneutik begegnet uns in zwei verschiedenen Ausprägungen. (1) Zum einen manifestiert sie sich als ein formalisiertes Programm, das die Analyse der autonomen narrativen Welt der Texte zu ihrer Aufgabe gemacht hat. 128 Hier geht es um ein synchrones Verständnis des Textes. Die narrative Kritik untersucht mit oft penibler Genauigkeit den Plot des Evangeliums, etwa die Organisation, Abfolge und thematischen Interaktionen der erzählenden Handlung. Sie gewinnt mit großem analytischen Scharfsinn und Vergnügen wieder und wieder neue Einblicke in die Erzählung und erschließt eine schier unendliche Vielfalt von Interpretationsmöglichkeiten: Dynamiken der Erfüllung und der Nichterfüllung, gezielte Polemiken, zahlreiche narrative Arrangements und Strategien, thematische Entwicklungen, Charakterisierungen, narrative Kausalzusammenhänge und vieles mehr. Kurzum, die narratologische Sichtweise erschloss einen Reichtum an exegetischen und interpretativen Erkenntnissen, von dem man bisher kaum etwas geahnt hat. (2) Ein anderer Zweig der narrativen Kritik erarbeitet rezeptions- und wirkungsgeschichtlich ein diachrones Verständnis der Texte. 129 Zusammen mit Gedächtnistheorie, Kommunikations- und Medienanalyse, Rhetorik, sound mapping , 130 Diskursanalyse und performance criticism 131 hat der rezeptionsgeschichtliche Ansatz die hermeneutische Orientierung in Richtung auf Leser und Hörer gelenkt. Wo diese Methoden zur Anwendung kommen, geschieht ein hermeneutischer Perspektivwechsel von der Erzählung zum Diskurs , vom sinnbildenden Inhalt zum sinnbildenden Ereignis und von einem Denken in der Kategorie des Raumes hin zur Kategorie der Zeit . Ähnlich wie die synchrone Papias Frag. V (Euseb. h.e. III, 39,15). 128 Ich halte die Arbeiten von E.M. Struthers für besonders repräsentativ für diese Richtung; vgl. E.K. Broadhead, (Hg.), Let the Reader understand. Essays in Honor of Elizabeth Struthers Malbon, London 2018. 129 Zur Richtung des reader-response criticism bzw. audience criticism vgl. v.a R.M. Fowler, Let the Reader Understand. Reader-Response Criticism and the Gospel of Mark, Minneapolis, 1991. 130 Die Methode des Sound mapping untersucht den Charakter von Klang und Ton der griechischen Texte des NT, vgl. M.E. Lee / B.B. Scott, Sound Mapping the New Testament, Salem 2009. 131 Performance criticism macht Ernst mit der Tatsache, dass viele der alten Texte Rezitationstexte waren, vgl. D.M. Rhoads, Performance Criticism: An Emerging Methodology in Second Testament Studies, BTB 36/ 4 (2006), part 1: 118-133, part 2: 164-184. 132 Werner H. Kelber Narratologie des ersten Typs hat auch die rezeptionsgeschichtliche Methode eine bunte Palette von narrativen Strategien entdeckt. Allerdings sind diese diachron ausgerichtet und dienen dazu, Leser und Hörer anzusprechen, einzuladen, zu orientieren und auch zu desorientieren. Hübenthal ist in ihrer Studie über Das Markusevangelium als kollektives Gedächtnis ausführlich den im Erzähltext eingebauten Familiarisierungsangeboten nachgegangen, die einen Prozess der Leserlenkung arrangieren. Zu Recht wurde die rezeptionsgeschichtliche Orientierung auch Rezeptionsästhetik genannt, denn sie formuliert ganz im Gegensatz zur historischen Kritik und im Unterschied zur synchron ausgerichteten narrativen Kritik eine neue Ästhetik der narrativen Hermeneutik. Die aus der narrativen Kritik und der rezeptionstheoretischen Betrachtungsweise hervorgegangenen Arbeiten führen klar vor Augen, dass den Evangelien auf der Ebene historisch beschreibbarer Kausalzusammenhänge nicht beizukommen ist. Sobald wir aber den narrativen Konstruktionswillen beachten, dem die Evangelien ihre heutige Gestalt verdanken, stellt sich die Frage nach ihren memorialen Entstehungsbedingungen. Systematisch lassen sich vier Modi der Erinnerung unterscheiden, die am Kompositionsprozess der Evangelien mitwirken: Ein strategisch orientiertes Gedächtnis, das die narrative Makrostruktur überwacht, ein traditionsorientiertes Gedächtnis, das die Jesustradition je und je aktualisiert, ein archäologisches Gedächtnis 132 , das die Bindung zur israelitisch-jüdischen Tradition pflegt, und ein rezeptionsorientiertes Gedächtnis, das auf die soziale Umwelt ausgerichtet ist. Alle zusammen sind konstitutiv für die Praxis der Textkomposition und Textgestaltung. Das Markusevangelium steht an einem Brennpunkt der frühen Jesustradition. Der ungefähre Zeitpunkt seiner Entstehung etwa 40 Jahre nach dem Tod Jesu fiel mit einer Epochenwende in der jüdisch-christlichen Erinnerungskultur zusammen. Zum einen markierte das Ende der Periode der Augen- und Ohrenzeugen einen Generationenwechsel, 133 doch kann dieser angesichts der vielfach belegten zeitübergreifenden Kontinuität auch und gerade mündlicher Überlieferungsprozesse nicht schon als hinreichende Bedingung für das Ende der mündlichen Jesustradition angesehen werden. Vielmehr ist ergänzend mit äußeren Faktoren zu rechnen. „[Mündliche] Traditionen werden“, wie Jan Assmann ausführt, „normalerweise nicht verschriftlicht. Geschieht das doch, verweist es auf eine Krise. Die Tendenz zur Verschriftlichung ist in Traditionen nicht unbedingt im Sinne einer inneren Entwicklungslogik angelegt“. 134 Der 132 In „The Works of Memory“, 242, habe ich den Begriff der archaeology of memory eingeführt. Gemeint ist damit eine Erinnerung, die weit hinter die Jesustradition zurück in die Tiefe der israelitisch-jüdischen Traditionen eindringt. 133 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 215-228. 134 Ders., Religion und kulturelles Gedächtnis, Zehn Studien, München 2000, 82. Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte 133 namhaft gemachte Generationenwechsel kann also nicht allein die Erklärung für die Verschriftlichung der Jesusüberlieferung liefern. Der Anstoß musste von außen gekommen sein, und „von daher ist es sinnvoll, nach solchen äußeren Anlässen zu fragen“. 135 Man muss nicht lang Ausschau halten, bis der Blick auf die Zerstörung Jerusalems und des Tempels im Jahre 70 fällt. Für das Markusevangelium heißt das: Zur Krise des Todes Jesu und dem Aussterben der Augen- und Ohrenzeugen kommt als weitere Krisenerfahrung die Zerstörung Jerusalems und seines Tempels. Hieran orientiert sich auch das von Sandra Hübenthal entwickelte gedächtnistheoretisch-idealtypische Modell. 136 Die kritische Epochenschwelle von 40 Jahren, so ihre These, war von einer Gedächtniskrise gekennzeichnet, die einen Umbruch vom sozialen zum kollektiven Gedächtnis zur Folge hatte. Angesichts des Generationenwechsels erwies sich der multiperspektivische, gegenwartsbezogene, episodisch-diskursive und vorwiegend mündliche Gedächtnisdiskurs als nicht mehr tragfähig, und er wurde von einem Gedächtnismodell abgelöst, das auf narrative Kohärenz angelegt war, auf eine Gesamtperspektive, die Vergangenheit als einen „Gründungsmythos“ etablierte und hierbei einen Medienwechsel vollzog. Mediengeschichtlich betrachtet zeigt das Markusevangelium, dass „Krisenerfahrungen zur Transformation der Erinnerungen und zu ihrer Überführung in andere Medien führen“. 137 Das Markusevangelium unternimmt einen Rückgriff über den Bruch hinweg, um mit Hilfe einer rekonstituierten Vergangenheit eine Neuorientierung zu anzustoßen. „Jeder tiefere Kontinuitäts- und Traditionsbruch kann zur Entstehung von Vergangenheit führen, dann nämlich, wenn nach solchem Bruch ein Neuanfang versucht wird“. 138 Sowohl der Medienwechsel von einer dominant oralen Überlieferungsgeschichte zur Verschriftlichung wie auch die Wahl der narrativen Form dokumentieren einerseits das Schwergewicht der Krise und andererseits die gestaltende Kraft des Neuanfangs. Anstelle des primär Mündlichen griff man zu einem neuen Medium, um Vergangenheit neu konstruieren zu können. Ergebnis dieser Neukonstruktion war die für die gegenwärtige Generation nacherzählte und auf neue Weise in Erinnerung gebrachte Jesusgeschichte, die geeignet war, die traumatische Erfahrung des Todes Jesu, das Aussterben der Augen- und Ohrenzeugen und die erlittene Katastrophe der Zerstörung Jerusalems in einen kohärenten Erzählzusammenhang zu bringen. Der Tod Jesu und das Ende des Tempels wurden erstmals miteinander in einen inneren Zusammenhang gebracht: Jesus selbst sagte die Zerstörung des Tempels voraus, und er kam nach seinem Angriff auf den Tempelbetrieb und seine Hierarchie ums Le- 135 Ebd. 136 Hübenthal, Das Markusevangelium, 142-150. 137 Ebd., 146. 138 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 32. 134 Werner H. Kelber ben. Das im MkEv so sonderbar sich durchhaltende Motiv des Jüngerversagens kann als Reflex des Generationenwechsels verstanden werden: Die Bedeutung der Augen- und Ohrenzeugen wird problematisiert, und zugleich funktioniert das offene Ende der Erzählung so, dass mit der Nachfolge und dem Zeuge-Sein nun diejenigen betraut werden, die das Evangelium (vor)lesen und hören. Mit dem Markusevangelium erreicht somit ein Prozess seinen vorläufigen Höhepunkt, der die frühe Jesustradition als Erinnerungsgeschichte fortführt und von dem Impuls beseelt ist, die Vergangenheit je und je in ein orientierendes, sinnstiftendes Verhältnis zu Gegenwart zu bringen, die sich fortwährend wandelt. Das Markusevangelium stellt den Versuch dar, für die Zeit nach der großen Krise Jesus und seine Botschaft wieder erinnerungsfähig zu machen. Zeitschrift für Neues Testament 22. Jahrgang (2019) Heft 43 / 44 Kontroverse Wie sicher ist die Q-Hypothese? Einleitung in die Kontroverse Manuel Vogel Die Kontroverse dieses Heftes trägt dem Umstand Rechnung, dass zwischen Vertretern der Zweiquellen-Hypothese und der Farrer-Goulder-Hypothese gegenwärtig die lebhaftesten Diskussionen geführt werden: Ist eine je unabhängig voneinander erfolgte Benutzung des MkEv und der Logienquelle durch den Matthäus- und den Lukasevangelisten nach wie vor eine sinnvolle und anderen Erklärungsmodellen überlegene Annahme, oder ist diese Annahme bei näherer Betrachtung nur haltbar durch eine Reihe von Zusatzhypothesen, die wie Türme und Türmchen, Erker und Erkerchen ein Traumschloss zieren? Wird, wie Werner Kahl anhand beachtlicher forschungsgeschichtlicher Schlaglichter illustriert, die Zweiquellen-Hypothese durch das ihr von Anbeginn anhaftende Interesse der historischen Sicherung der Jesustradition gegen radikal kritische Ansätze des 19. Jh.s zwar nicht falsifiziert, jedoch hinsichtlich ihres Beharrungsvermögens allzu durchschaubar? Oder ist ihr diachrones Differenzierungspotenzial mit den nur so möglichen Durchblicken auf älteste Tradition ein Gewinn, der, wie Markus Tiwald insistiert, nicht leichtfertig in den Wind geschlagen werden sollte? Beide Verfasser sehen sehr wohl die unscharfen Ränder der von ihnen vertretenen Hypothesen. Die von Kahl in modifizierter Weise vertretene Farrer-Goulder-Hypothese muss sich v. a. die Frage gefallen lassen, warum Lukas bestimmte 136 Manuel Vogel durchkomponierte Blöcke des MtEv wie etwa die Bergpredigt, wenn er das MtEv denn gekannt und benutzt hat, derart zerlegt haben sollte. Die damit aufgebürdete Beweispflicht wird von Kahl (nicht nur, aber auch) mit dem Argument zurückgewiesen, dass man über die Motive und Intentionen eines antiken Verfassers im Umgang mit seinen Quellen schlicht vieles nicht wissen kann und außerdem auch nicht wissen muss, um zu belastbaren Annahmen und Ergebnissen zu gelangen. Bemerkenswert ist, wie Tiwald umgekehrt die mannigfachen und in der Tat nicht auf die leichten Schulter zu nehmenden Einwände gegen die Zweiquellen-Hypothese kontert, die sich, wie Kahl beispielhaft vorführt, im Detail auf Schritt und Tritt ergeben: Tiwald reklamiert im Blick auf die von der Zweiquellen-Hypothese angenommene je eigenständige Benutzung des MkEv angesichts der problematischen Übereinstimmungen von Mt und Lk gegen Mk im Mk-Stoff neuere Einsichten in die hohe Fluidität der frühchristlichen Textüberlieferung bis mindestens ins 3. Jh. und beendet damit die leidige und für Vertreter der Zweiquellen-Hypothese missliche Wahl zwischen Proto- und Deuteromarkus mit dem Argument, dass wir für die Anfangszeit mit einer Mehrzahl, wenn nicht gar einer Vielzahl von unter einander differierenden Handschriften des MkEv rechnen müssen, ebenso mit dem Faktor der „sekundären Mündlichkeit“, d. h. dem Mitwirken mündlicher Überlieferungsprozesse an den textgenetischen Beziehungen zwischen den Synoptikern. Wer sich zwischen beiden Positionen einstweilen nicht entscheiden will, sei auf die durchaus vorhandenen Schnittmengen hingewiesen: Es gibt bei Vertretern der Zweiquellen-Hypothese auch Stimmen, die sich für eine lk Benutzung des MtEv neben Q aussprechen, d. h. für ein Mischmodell, und umgekehrt konzediert Kahl die Möglichkeit, dass Lk eine Quelle mit früher Jesustradition benutzt hat, die auch Mt vorlag, nur dass dies nicht erweisbar sei. Aber Aussichtslosigkeit ist wohl öfter ein Stimulus für Wissenschaft gewesen als ein Hindernis. Die scharfen Angriffe, die Kahl wider die Zweiquellen-Hypothese führt, sind nicht leicht von der Hand zu weisen. Die in Kenntnis von derlei Argumenten formulierte Position Tiwalds lässt aber vermuten, dass die Vertreter der Zweiquellen-Hypothese alles andere als unbeweglich sind und sich so schnell nicht geschlagen geben, wenn überhaupt. Die Leserinnen und Leser sind nun eingeladen, sich anhand der Kontroverse dieses Heftes der ZNT über den Sachstand einer Debatte zu informieren, die derzeit erheblich in Bewegung geraten ist. Zeitschrift für Neues Testament 22. Jahrgang (2019) Heft 43 / 44 Q als Fiktion Zur Plausibilität und Bedeutung des Synoptischen Integrationsmodells Werner Kahl 0. Einführung Die folgenden Ausführungen möchte ich verstanden wissen als Beitrag zur Klärung der synoptischen Abhängigkeitsverhältnisse. Eine kritische Reflexion der Voraussetzungen der Zweiquellentheorie (im Folgenden: 2QT) und eine neutrale Vergleichung der synoptischen Evangelien legen m. E. zweierlei nahe: Erstens die Relativierung der Gültigkeit der 2QT und zweitens die Beschreibung eines Alternativmodells. Dieses sollte mit weniger Unsicherheiten als das herkömmliche Modell behaftet sein und gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Standards genügen. Als ein solches Alternativmodell stelle ich hier das von mir so genannte Synoptische Integrationsmodell (im Folgenden: SIM) zur Diskussion. 1 Wie wohl die meisten deutschsprachigen Theologen und Theologinnen hatte ich bereits in der gymnasialen Oberstufe die 2QT kennengelernt - allerdings nicht als eine Theorie unter anderen, sondern quasi als nicht hinterfragbare Tatsache. Die Logienquelle Q erschien als Faktum. Dies wurde uns Studierenden dann in Pro- und Hauptseminaren an der Universität Göttingen so weitervermittelt. In vager Erinnerung ist mir wohl ein Hinweis des von mir sehr geschätzten Neutestamentlers Hartmut Stegemann Mitte der achtziger Jahre geblieben, dass das synoptische Problem letztlich nicht bewältigt sei und einer überzeugenden Lösung harre. Trotzdem lernten wir Studierende die 2QT als alternativ- 1 Damit ist die Farrer-Goulder-Hypothese gemeint, die Francis Watson als L/ M Hypothesis bezeichnet, s. sein Beitrag in diesem Heft. 138 Werner Kahl loses Modell anzuwenden. In der neutestamentlichen Einleitungsliteratur jener Jahre gab es gelegentlich kurze Hinweise auf andere Lösungsvorschläge, die als Kuriosa präsentiert und knapp abgefertigt wurden. Noch in meiner Emory Dissertation von 1992 ging ich von der Existenz von Q als nicht zu hinterfragender Tatsache aus. In jener Arbeit untersuchte ich die neutestamentlichen Wundererzählungen differenziert nach den Evangelien und eben Q. 2 Nachdem in der letzten Generation neutestamentlicher Forschung eine ganze Reihe von tiefgreifenden Paradigmenwechseln vollzogen wurden - Third Quest in der Jesusforschung, Neue Paulusperspektive, überhaupt die Überwindung antijüdischer Vorurteile in der Forschung, Aufwertung synchroner Interpretationsmethoden gegenüber diachronen - ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten vor allem in Großbritannien, in den USA und in Skandinavien nun selbst die 2QT zunehmend in den Fokus einer kritischen Auseinandersetzung geraten. Das ist auf den ersten Blick umso bemerkenswerter angesichts der Tatsache, dass seit dem Jahr 2000 zum ersten Mal mit der Critical Edition of Q 3 (im Folgenden: CEQ) die Logienquelle als verbindlich rekonstruierter Standardtext vorliegt - so zumindest nach Anspruch des International Q-Project (im Folgenden: IQP). 4 Im selben Jahr, als das IQP gegründet wurde und seine Arbeit aufnahm - 1989, erschien mit Michael D. Goulders, Luke. A New Paradigm, der umfängliche Versuch einer Bestreitung der Existenz von Q im Rahmen einer grundsätzlichen Kritik der 2QT. 5 Es ist das Verdienst von Michael Goodacre, in seiner Dissertation aus dem Jahr 1996 aufgrund eines umsichtigen Vergleichs der Stärken und Schwächen der 2QT mit denen des von Michael Goulder im Detail 1989 ausgearbeiteten Modells - das LkEv ist das Resultat einer intentional-kritischen Verschränkung von MkEv und MtEv unter Voraussetzung sowohl der Priorität des MkEv als auch der Nicht-Existenz von Q - das von Goulder vertretene Modell als das triftigere erwiesen zu haben. 6 Mittlerweile sind eine Reihe von Einzelstudien erschienen, 2 W. Kahl, New Testament Miracle Stories in their Religious-Historical Setting A Religionsgeschichtliche Comparison from a Structural Perspective (FRLANT 163), Göttingen 1994, 222. 3 J.M. Robinson / P. Hoffmann / J.S. Kloppenborg (Hg.), The Critical Edition of Q. Synopsis including the Gospels of Matthew and Luke, Mark and Thomas with English, German, and French Translations of Q and Thomas, Leuven / Minneapolis 2000; vgl. P. Hoffmann / C. Heil (Hg.), Die Spruchquelle Q. Studienausgabe. Griechisch und Deutsch, Darmstadt / Leuven 2002. 4 Vgl. C. Heil, Die Q-Rekonstruktion des Internationalen Q-Projekts: Einführung in Methodik und Resultate, in: Novum Testamentum XLIII (2001), 128-143, hier 137 f. 5 ( JSNT.S 20) Sheffield. 6 M. Goodacre, Goulder and the Gospels: An Examination of a New Paradigm, JSNTSup 133, Sheffield 1996; M. Goulder, Luke. A New Paradigm , JSNTSup 20, Sheffield 1989. Q als Fiktion 139 die die Grundposition von Goulder, die letztlich auf Austin M. Farrer zurückgeht, 7 auch wenn ähnliche Überlegungen bereits bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückreichen, 8 zu Ungunsten der 2QT stützen. 9 Alle Erklärungsversuche bezüglich der Genese des synoptischen Beziehungsgeflechts stehen allerdings grundsätzlich unter Vorbehalt. Es ist nämlich weder möglich zu wissen, in welcher genauen Textgestalt die synoptischen Evangelien im ersten und zweiten Jahrhundert vorgelegen haben noch welche weiteren schriftlichen und mündlichen Quellen sie jeweils für die Jesus-Christus-Erzählung benutzten. Wir haben aus dem ersten und dem beginnenden zweiten Jahrhundert nur die im späteren Kanon des Neuen Testaments bezeugten Jesus-Christus-Erzählungen in Form der vier Evangelien vorliegen, wobei deren jeweilige ursprüngliche Gestalt textkritisch nur annäherungsweise rekonstruierbar ist. Auch ist nicht durchgehend plausibel zu machen, aus welchen Gründen und mit welcher Intention ein möglicherweise späterer Evangelienverfasser 7 A.M. Farrer: On Dispensing with Q, in: D.E. Nineham (Hg.): Studies in the Gospels: Essays in Memory of R. H. Lightfoot , Oxford 1955, S. 55-88. 8 J.H. Scholten, Das Paulinische Evangelium. Kritische Untersuchung des Evangeliums nach Lucas und seines Verhältnisses zu Marcus, Matthäus und der Apostelgeschichte , Elberfeld 1881 (holl. Original: 1870); A. Jacobsen, Untersuchungen über die synoptischen Evangelien , Berlin 1883. 9 Vgl. die folgende Auswahl: Kahl, Erhebliche matthäisch-lukanische Übereinstimmungen gegen das Markusevangelium in der Triple-Tradition - ein Beitrag zur Klärung der synoptischen Abhängigkeitsverhältnisse, in: ZNW 103/ 1 (2012), 20-46; F. Watson, Gospel Writing. A Canonical Perspective , Grand Rapids / Cambridge 2013; F. Damgaard, Rewriting Peter as an Intertextual Character in the Canonical Gospels , Abington / New York 2016; J.C. Poirier / J. Peterson (Hg.), Marcan Priority Without Q. Explorations in the Farrer Hypothesis , London / Oxford / New York 2016; M. Müller / J. Tang Nielsen (Hg.), Luke’s Literary Creativity, London / Oxford / New York 2016; M. Müller / Heike Omerzu (Hg.), Gospel Interpretation and the Q-Hypothesis, London / Oxford / New York 2018. Prof. Dr. Werner Kahl, Jahrgang 1962, studierte Evangelische Theologie in Bochum, Göttingen und an der Emory University in Atlanta, Georgia, wo er 1992 promoviert wurde. Nach Vikariats- und Pastoratszeit in der Rheinischen Landeskirche unterrichtete er von 1999 bis 2001 Neues Testament an der staatlichen Universität von Ghana in Legon, Accra. Er habilitierte sich 2004 an der Universität Frankfurt a. M. Dort unterrichtet er als apl. Professor. Seit 2006 ist er Studienleiter an der Missionsakademie an der Universität Hamburg. Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind Wunder im Neuen Testament, Synoptische Frage, Interkulturelle Hermeneutik, Bibel und Koran. 140 Werner Kahl den Text eines möglicherweise vorliegenden Evangeliums beibehalten oder verändert hätte. Deshalb müssen synoptische Erklärungsmodelle immer vorläufig sein und hypothetisch bleiben. Sie können bestenfalls verschiedene Grade von Wahrscheinlichkeit beanspruchen. Angesichts dieser Sachlage ist die 2QT im Vergleich zum benannten Alternativmodell insofern wissenschaftstheoretisch grundsätzlich im Nachteil, als sie - mindestens - eine hypothetische Quelle, d. h. Q, einführt und somit die Hypothetizität des Erklärungsmodells steigert und damit seine Aussagekraft schwächt. Tatsächlich wird aber im Rahmen der 2QT fast immer mit mehreren hypothetischen Quellen gerechnet - neben Q noch mit weiteren hypothetisch erschlossenen (deutero-)markinischen Versionen und/ oder einer Anzahl von schriftlichen oder mündlichen Nebenquellen: „Damit wird unter der Hand aus der klassischen Zweiquellentheorie inklusive einer nicht-hypothetischen Quelle (unserem MkEv) zuweilen eine 2- oder mehr-Quellen Theorie inklusive keiner nicht-hypothetischen Quelle“. 10 Die wissenschaftstheoretische Problematik solcher Thesenanhäufungen wird von Vertretern der 2QT kaum bedacht. Das von mir präferierte Alternativmodell 10 Vgl. Kahl, Übereinstimmungen, 26. Eine „reine“ 2QT ist von ihrem Erfinder, dem Philosophen Christian Hermann Weiße in seinem Werk Die Evangelische Geschichte kritisch und philosophisch bearbeitet , 2 Bände, Leipzig 1838, vertreten worden. Eine weniger spekulative Würdigung von mt.-lk. Übereinstimmungen im gemeinsamen Markusstoff bewegte ihn allerdings zwei Jahrzehnte später dazu, eine Ur-Markushypothese einzuführen, vgl. Weiße, Die Evangelienfrage in ihrem gegenwärtigen Stadium , Leipzig 1856, 156 f. Auch H.J. Holtzmann, Die synoptischen Evangelien. Ihr Ursprung und geschichtlicher Charakter , Leipzig 1863, hatte anfangs eine Ur-Markushypothese vertreten. Aber auch Holtzmann, der eigentliche exegetische Begründer der 2QT, vollzog in den folgenden zwei Jahrzehnte einen Positionswechsel, indem er sich von der Ur-Markushypothese zugunsten der Annahme einer nebenläufigen Benutzung des MtEv durch Lukas verabschiedete, vgl. Holtzmann, Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in das Neue Testament , Freiburg 1885, 339. Eine Tendenz zu dieser Modifikation der 2QT lässt sich für Holtzmann seit 1878 dokumentieren, vgl. Kahl, The Gospel of Luke as narratological improvement of synoptic pre-texts. The narrative introduction to the Jesus Story (Mark 1.1-8 parr.), in: Müller / Omerzu, Gospel Interpretation , 223-244, hier 229, Anm. 26-30. Ende des 19. Jahrhunderts hat dann P. Wernle, Die synoptische Frage , Freiburg 1899, gegen die im Rahmen der 2QT weit verbreitete Ur-Markushypothese (S. 223) für eine möglichst unkomplizierte Fassung der 2QT argumentiert, allerdings unter Annahme verschiedener Redaktionen von Q, die Matthäus und Lukas vorgelegen hätten (S. 253). E.J. Schmid, Matthäus und Lukas. Eine Untersuchung des Verhältnisses ihrer Evangelien (Biblische Studien 23), Freiburg 1930, hat gut einhundert Jahre nach Weißes klassischem Werk exegetisch versucht, eine gewissermaßen „reine“ 2QT etablieren, d. h. unter Verzicht auf weitere hypothetische Quellen. Schmid verfährt exegetisch recht „grob“ und apodiktisch. Die „einfache Lösung“ wird heute vertreten etwa von M. Tiwald, Die Logienquelle. Text. Kontext, Theologie , Stuttgart 2016. In Konkurrenz dazu steht das von U. Schnelle skizzierte „differenzierte“ Modell, nach dem Matthäus und Lukas neben jeweiligen Sondergutquellen ein Deutero-MkEv und unterschiedliche Redaktionen von Q benutzt hätten, vgl. Schnelle, Synoptische Frage, in: RGG 4 7 (2004), 1978-1985, hier 1983. Q als Fiktion 141 im Anschluss an Farrer, Goulder und Goodacre setzt die uns im Kanon vorliegenden synoptischen Evangelien voraus, wenn auch in der benannten textlichen Ungesichertheit. Es kommt ohne hypothetische Quellenannahmen aus. Darin besteht seine Stärke. Austin Farrer hat dies so prägnant wie bestechend auf den Punkt gebracht: „Die Q-Hypothese ist eine Hypothese. Das ist ihre Schwäche. Um diese zu beseitigen, benötigen wir keine konträre Hypothese. Wir müssen lediglich den lukanischen Gebrauch des Matthäusevangeliums verständlich machen. Und um nachzuvollziehen, wie Lukas das Matthäusevangelium verstand, müssen wir nur betrachten, wie Lukas sein eigenes Buch verstand. Das lukanische Buch ist nun keine hypothetische Größe. Hier liegt eine Ausgabe von ihm auf meinem Schreibtisch“. 11 Tatsächlich aber kommt auch diese Theorie nicht ohne hypothetische Annahmen aus. Sie setzt an die Stelle hypothetischer Quellen die ebenfalls hypothetische und nur mehr oder weniger plausible Erklärung der Verfahrensweise eines späteren Evangelienverfassers im Verhältnis zu ihm vorliegenden Evangelien. Allerdings ist das Alternativmodell gegenüber der zur Konvention gewordenen 2QT wissenschaftstheoretisch im Vorteil: 1. Die veranschlagte Interpretationstätigkeit des Lukas kann aufgrund vorliegender Texte allgemein überprüft werden. 2. Auch die 2QT agiert - und zwar über die Eruierung von hypothetischen Quellen hinaus - mit hypothetischen Annahmen bezüglich der Vorgehensweise der beiden späteren Evangelienverfasser „Matthäus“ und „Lukas“ in Bezug auf das MkEv und auf Q. Dies ist für Q in besonders problematischer Weise evident: zum einen hinsichtlich der Eruierung von Q aus einem kritischen Vergleich von MtEv und LkEv und zum anderen hinsichtlich der Interpretation der so gewonnenen Logienquelle durch die Verfasser von MtEv und LkEv. Damit liegt im Vergleich zum Alternativmodell die nicht zu umgehende Hypothetizität von synoptischen Klärungsversuchen im Rahmen der 2QT zu einem gesteigerten Grad vor. Anders herum formuliert heißt das: Das Ausufern von Hypothetizität wird im Alternativmodell im Gegenüber zur 2QT eingehegt. Aufgrund der relativen Unbestimmtheit der Textgestalt, der Quellenlage und der Verfasserintentionen wird es in der Interpretation der synoptischen Benutzungsverhältnisse darum gehen müssen abzuwägen, ob die Klärungen, die das Alternativmodell bezüglich einer hinreichend großen Anzahl von synoptischen Passagen ermöglicht, als triftig erscheinen oder ob sich bei einer diesbezüglichen Negativentscheidung 11 Farrer, Dispensing, 66: „The Q hypothesis is a hypothesis, that is its weakness. To be rid of it we have no need of a contrary hypothesis, we merely have to make St. Luke's use of St. Matthew intelligible; and to understand what St. Luke made of St. Matthew we need no more than to consider what St.Luke made of his own book. Now St. Luke’s book is not a hypothetical entity. Here is a copy of it on my desk“. 142 Werner Kahl der Rekurs auf Modelle, die einen höheren Grad an Hypothetizität mit sich bringen wie z. B. die 2QT, empfiehlt. Die insbesondere in der deutschsprachigen Exegese lange Zeit vorherrschende Ausblendung einer kritischen Reflexion der Triftigkeit der 2QT im Vergleich zu Alternativmodellen ist angesichts der gegenwärtigen internationalen Debattenlage jedenfalls obsolet. 12 Im Folgenden werde ich zunächst erstens das Projekt einer CEQ aus editionswissenschaftlicher bzw. literaturwissenschaftlicher Perspektive problematisieren. Im Kontext einer kulturwissenschaftlichen Begründung und Ausrichtung aller Geisteswissenschaften inklusive der Theologie sind in Bezug auf die Analyse und Erklärung der synoptischen Beziehungsverhältnisse in der neutestamentlichen Exegese Methoden in Anwendung zu bringen, die gegenwärtig akzeptierten wissenschaftlichen Standards in verwandten Fächern wie der Literatur-, Editions- und Geschichtswissenschaft und Altphilologie entsprechen. Es ist der neutestamentlichen Wissenschaft - nicht nur im Hinblick auf die synoptische Problematik - zum Schaden geraten, dass sie im 20. Jahrhundert durch deutschsprachige Forscher dominiert wurde, die seit den zwanziger Jahren Exegese tendenziell losgelöst vom interdisziplinären oder auch internationalen Diskurs trieben. Es wird deutlich werden, dass sowohl die 2QT als auch Q wissenschaftstheoretisch problematische und kaum haltbare Konstrukte darstellen. Die Akzeptanz, deren sich die 2QT trotz ihrer allgemeinen wissenschaftstheoretischen Problematik und ihrer auch von ihren Verfechtern eingestandenen „großen Schwäche“ 13 - den so genannten Minor Agreements (im Folgenden: MA) - seit gut einhundertfünfzig Jahren erfreut, erklärt sich im Zusammenhang ihrer Entstehungsgeschichte. Die verworrene und durchaus spannende Geschichte der vorgeblichen Lösung des synoptischen Problems im 19. Jahrhundert, als welche die 2QT weithin gilt, werde ich deshalb zweitens anhand ihrer markantesten Wendepunkte nachzeichnen. Grundsätzlich gilt dabei: Die Kontextualität ihrer Entstehung invalidiert per se noch nicht die Triftigkeit der 2QT. Sie lässt aber zweierlei verständlich werden: erstens, die Vehemenz, mit der bis in die Gegenwart hinein an der 2QT festgehalten wird, auch wenn in deutschsprachigen Veröffentlichungen der letzten Jahre der Totalitätsanspruch, mit dem die 2QT lange Zeit vertreten wurde, zurückzutreten und einer 12 Dass Tiwald, Logienquelle , diese Forschung sowie alle kritischen Anfragen an die 2QT beinahe komplett ausblendet, ist angesichts der derzeitigen internationalen Diskussionslage bemerkenswert, vgl. auch seine aus der Zeit gefallene Behauptung: „Die am weitesten verbreitete Erklärung ist die Zweiquellentheorie , mit der heute so gut wie alle seriösen Bibelwissenschaftler arbeiten (daher auch nicht ,Zweiquellen hypothese ‘, sondern ,Zweiquellentheorie‘)“ (17). 13 So als Vertreter der 2QT M. Ebner, Die synoptische Frage, in: ders. / S. Schreiber (Hg.), Einleitung in das Neue Testament, Stuttgart 2008, 67-84, hier 78. Q als Fiktion 143 wachsenden Diskussionsbereitschaft zu weichen beginnt; 14 zweitens, die Unbekümmertheit, mit der wissenschaftstheoretische Einwände gegen die 2QT im Allgemeinen und gegen die so genannte Rekonstruktion von Q im Besonderen ignoriert werden. Drittens werde ich das Phänomen der MA diskutieren und zwar in zweierlei Hinsicht: zum einen erweise ich den Begriff MA als irreführende Bezeichnung, die letztlich systemstabilisierend verhindert, dass die eigentlichen Probleme der 2QT zu Tage treten - es handelt sich dabei um eine self-fulfilling prophecy ; zum anderen stelle ich eine differenzierende Neudefinition dieser Kategorie vor, die dem Befund angemessener ist. Die synoptischen Texte sind einer neuen Vergleichung zu unterziehen, und zwar unter Umgehung der bisherigen Perspektive der 2QT, denn diese kann nur zu Ergebnissen kommen, die mit den sie bestimmenden Vorentscheidungen kompatibel sind. Viertens stelle ich die Methodik eines neutralen Textvergleichs vor, bei dem keinerlei Vorentscheidungen über die Richtung einer Abhängigkeit des einen vom anderen Synoptiker getroffen wird. Hier geht es um die neutrale Erhebung aller wechselseitigen Übereinstimmungen und Unterschiede. Fünftens werde ich von Vertretern der 2QT gegen SIM regelmäßig vorgebrachten Argumente diskutieren, um sechstens und abschließend das auf Farrer und Goulder zurückgehende, von Goodacre und Watson kritisch ausdifferenzierte Modell, das ich als Synoptisches Integrationsmodell bezeichne, zu würdigen. 1. Die editionstheoretische Problematik der Critical Edition of Q Der Critical Edition of Q liegen editionstechnische Prinzipien zugrunde, die dem gegenwärtigen diesbezüglichen Forschungsstand in den Literaturwissenschaften und in der Altphilologie nicht gerecht werden. 15 Der Rekonstruktionsversuch von Q kann sich nämlich nicht auf eine Hauptüberlieferung in Form von „vollständigen oder fragmentarischen Kopien des zu edierenden Textes“ 16 14 Vgl. dazu etwa die unpolemische Diskussion von Alternativentwürfen zur 2QT auf der einen und das Eingeständnis der Problematik der 2QT auf der anderen Seite durch Ebner, Die synoptische Frage, 78-82. 15 Vgl. A. Bohnenkamp, Textkritik und Textedition, in: Grundzüge der Literaturwissenschaft, hg. v. H.L. Arnold / H. Detering, München 2 1997, 179-203, bes. 181 f.; M.L. West, Textual Criticism and Editorial Technique applicable to Greek and Latin texts, Stuttgart 1973; E. Pöhlmann, Textkritik und Texte im 19. und 20. Jh., in: Einführung in die Überlieferungsgeschichte und in die Textkritik der antiken Literatur. Bd. II: Mittelalter und Neuzeit, hg. v. ders., Darmstadt 2003, 137-182, bes. 139 f. 16 Bohnenkamp, Textkritik, 181. 144 Werner Kahl stützen, sondern nur auf Formen von Nebenüberlieferung (Zitate, Exzerpte, Parodien, Paraphrasen, Übersetzungen etc.). Die Editionswissenschaftlerin Anne Bohnenkamp hält Rekonstruktionsversuche auf der Basis von Nebenüberlieferung wissenschaftlich für nicht vertretbar: „Im Zusammenhang mit der Edition sogenannter ‚unfester’ Texte, für deren Überlieferung […] zahlreiche Textmutationen […] und mehrfache Redaktionen […] charakteristisch sind, kommt eine Archetypus-Rekonstruktion grundsätzlich nicht in Frage. Das Bemühen um ein ‚Original‘ verliert hier seine Berechtigung“. 17 Das wissenschaftstheoretische Problem in Bezug auf die Rekonstruktion von Q ergibt sich in diesem Zusammenhang aus einer Reihe von Faktoren: 1. Die Existenz von Q ist rein hypothetischen Charakters; Q ist kirchengeschichtlich nicht belegt, es sei denn man nähme dafür die Referenz auf τά λόγια in der bei Eusebius überlieferten Papiasnotiz zum Matthäusevangelium in Anspruch - das aber wird mit guten Gründen selbst in der heutigen Q-Forschung weithin abgelehnt. 18 2. Es gibt keine auch nur fragmentarisch erhaltenen Kopien von Q - die Spruchsammlung wäre bereits im 1. Jh. verloren gegangen; das ist bei einer so wichtigen Quelle, die immerhin die „Sprüche des Herrn“ bewahrt hätte und die so weit verbreitet gewesen seien müsste, dass sie an geographisch weit auseinander liegenden Orten unabhängig voneinander von Matthäus und von Lukas benutzt werden konnte, nicht plausibel. 19 3. Die Vorlage wird zu rekonstruieren versucht mittels der unsicheren literarkritischen Methodik einer Trennung von Redaktion und Tradition in den jeweiligen mt und lk Passagen, die für Q aufgrund der Vorentscheidungen der Zweiquellentheorie veranschlagt werden sowie aufgrund der Vergleichung der betreffenden Passagen im MtEv und LkEv. 20 Michael Wolter hat 17 Ebd., 184. 18 Nach Heil (Einleitung, in: Spruchquelle Q, 11-28, hier 12) handelte es sich bei der Gleichsetzung von τά λόγια mit jener von der Zweiquellentheorie vorausgesetzten Logienquelle im 19. und 20. Jh. um einen „kreativen Irrtum“. Vgl. dazu J.M. Robinson, History of Q Research, in: Critical Edition, xix-lxxi, bes. xx-xxxiii. 19 Vgl. Kahl, Vom Ende der Zweiquellentheorie oder: Zur Klärung des synoptischen Problems, in: Kontexte der Schrift. Band II: Kultur, Politik, Religion, Sprache. FS Wolfgang Stegemann, Stuttgart 2005, 404-442, hier 409; so auch B. Adamczewski, Q or not Q? The So-called Triple, Double, and Single Traditions in the Synoptic Gospels, Frankfurt 2010, bes. 84. 20 Die Problematik wird noch verschärft, wenn Exegeten in weiteren Arbeitsschritten versuchen, Q in Q Mt und Q Lk zu differenzieren, bzw. wenn in diesem „Archetypus“ seinerseits Q als Fiktion 145 scharfsinnig auf die diesem Verfahren zugrunde liegende problematische, weil „völlig unbegründete Petitio principii“ hingewiesen, denn „[d]ie vorliegenden Rekonstruktionen setzen durchweg voraus, dass in einer der beiden Formulierungen der Q-Wortlaut erhalten ist“. Ein „Vergleich der lk-mt Wortlautrezeption des MkEv“ zeigt aber, dass „[i]n nahezu der Hälfte der Fälle […] die mk Formulierung weder bei Matthäus noch bei Lukas bewahrt“ ist. 21 Darüber hinaus wären - das lehren die so genannten Minor Agreements - selbstverständlich auch mt-lk Übereinstimmungen gegen die angenommene Redequelle zu veranschlagen. 22 Tatsächlich wird die Problematik des Verfahrens zur Rekonstruktion von Q greifbar bei dem analogen Versuch, aus dem MtEv und dem LkEv das MkEv zu rekonstruieren: Dieses Vorhaben gelänge nur rudimentär und mit größten Verzerrungen. Um sich auch nur einigermaßen auf sicherem Boden bewegen zu können, müsste sich die Rekonstruktion auf - vergleichsweise eher spärlich auftretende - identische Sequenzen und Wörter des MtEv und LkEv beschränken. Und selbst innerhalb dieses Bereichs verhinderten die Minor Agreements sowie die Double-Tradition ein auch nur annähernd zutreffendes Resultat. Das International Q-Project setzt sich bei dem Versuch der Rekonstruktion von Q in editionstheoretisch naiver Weise über die angezeigte Problematik hinweg: Unter Ausblendung der Differenz von Haupt- und Nebenüberlieferung wird der Anspruch erhoben, mit der so genannten Critical Edition of Q einen Archetypus vorgelegt zu haben, der hinsichtlich seiner Qualität den textkritisch rekonstruzwischen Redaktion und Tradition unterschieden wird und dabei die Sprachgrenze vom Griechischen (Q Hell.) ins Aramäische (Q Pal.) übersprungen wird, vgl. die schematische Darstellung der Zweiquellentheorie in Schnelle, Einführung in die neutestamentliche Exegese, Göttingen 5 2000, 84. Dem gegenüber setzt nach Auskunft von Heil, Q-Rekonstruktion, 134 das International Q-Project „die Zweiquellentheorie in ihrer idealen Form voraus“, d. h. die Differenzierung in Q Mt und Q Lk wird ebenso abgelehnt wie Proto- oder Deutero-Mk-Hypothesen. M. Labahn (Der Gekommene als Wiederkommender. Die Logienquelle als erzählte Geschichte [ABG 32], Leipzig 2010) hält sich in seiner Arbeit an das Modell von Schnelle (vgl. 39 u. 158 f.), legt ihr aber gleichzeitig als Textbasis die Critical Edition of Q zugrunde (vgl. 155), ohne die damit gegebene Problematik zu reflektieren. 21 M. Wolter, Das Lukasevangelium (HNT 5), Tübingen 2008, 13. Wolter, der grundsätzlich an der Zweiquellentheorie festhält, notiert in seinem Kommentar rund 250 mitteilenswerte Minor Agreements, für deren jeweiliges Zustandekommen regelmäßig verschiedene in der Literatur vertretene Möglichkeiten der Erklärung angeführt werden. 22 So zutreffend Wolter, Lukasevangelium, 13: „Außerdem ist damit zu rechnen, dass es wie im Mk-Stoff auch im Q-Stoff lk-mt Agreements gibt, die nicht vorlageninduziert sind, so dass es selbst dort, wo wir wortlautidentische lk-mt Doppelüberlieferungen vorfinden, immer eine Restunsicherheit gibt, ob wir es wirklich mit einer Q-Formulierung zu tun haben“. Vgl. auch Adamczewski, Q or not Q, 85 Anm. 264. 146 Werner Kahl ierten neutestamentlichen Schriften im „Nestle-Aland“ in nichts nachstände. 23 Gleichzeitig wird damit der hypothetische Charakter der Zweiquellentheorie weithin ausgeblendet. Die durch das IQP an den Tag gelegte Gewissheit hinsichtlich der Rekonstruierbarkeit eines Archetypus von Q zerbricht angesichts erheblicher - und nicht zuletzt: wissenschaftstheoretischer - Probleme bezüglich der Voraussetzungen und der Vorgehensweise dieses Unternehmens. Es bleibt zu betonen: Die Zweiquellentheorie ist eine durchaus interessante und äußerst wirkmächtige Theorie, aber Q ist keine Tatsache, sondern ihre Existenz stellt eine Arbeitshypothese dar. In der Vergangenheit gerne mit autoritativem Anspruch versehen, vermag die Superioritätsbeteuerung in Bezug auf die 2QT heute nicht mehr so einfach zu verfangen in einem universitären Umfeld von Theologie und Exegese, in dem in den Kulturwissenschaften sich Internationalisierung und interdisziplinäre accountability zunehmend als positive Werte etablieren. Wie aber kam es überhaupt zur Entstehung und Durchsetzung der 2QT? Wie ist ihre Attraktivität zu erklären, aufgrund derer sie über einhundertfünfzig Jahre zum fast unwidersprochenen exegetischen Standardmodell werden konnte? 23 So Heil, Q-Rekonstruktion, 140: „Wie in der Textkritik der Nestle-Aland die Ausgangsbasis bildet, mit der man übereinstimmt oder von der man sich kritisch absetzt, sollte nun die IQP-Rekonstruktion den Standardtext von Q darstellen, von dem alle weitere Q-Forschung kritisch ausgeht“. Vgl. auch ebd., 137 f., wo Heil die textliche Qualität der CEQ nicht nur mit dem „Nestle-Aland“ Text des NT, sondern auch mit der Göttinger Septuaginta Ausgabe positiv vergleicht. Gegen diesen Vergleich werden sich die Verantwortlichen der Münsteraner und Göttinger Unternehmen verwahren, basieren ihre editionswissenschaftlich verantworteten Projekte doch auf Formen von Hauptüberlieferung . Nur aufgrund der Nichtbeachtung der editionswissenschaftlich wesentlichen Unterscheidung von Haupt- und Nebenüberlieferung vermag sich Heil zur Rechtfertigung etwaiger Unsicherheiten der CEQ ausgerechnet auf ein demütiges Eingeständnis der grundsätzlichen Vorläufigkeit editionstechnischer Arbeit von Seiten des äußerst umsichtig und ausgesprochen konservativ vorgehenden vormaligen Herausgebers des Septuaginta Unternehmens, J.W. Wevers, zu beziehen (ebd., 138 Anm. 37), der als eminenter Linguist und Altorientalist die begrenzten Möglichkeiten in der Rekonstruktion antiker Texte genau im Blick hatte. Editionstheoretisch müsste das Argument genau anders herum lauten: Wenn selbst bei so sorgsam erarbeiteten Texteditionen wie dem „Nestle-Aland“ oder der Göttinger Septuaginta, die ihren Rekonstruktionen Stränge von Hauptüberlieferung zugrunde legen, letzte Sicherheiten nicht beansprucht werden können, so muss die CEQ als absolut unsicheres Projekt gelten, da es ausschließlich auf Nebenüberlieferung zurückgreifen kann. Q als Fiktion 147 2. Zur Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte der Zweiquellentheorie Die Lösung des synoptischen Problems in Form der klassischen 2QT ist in direkter Reaktion auf das Werk von David Friedrich Strauss, Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet, aus den Jahren 1835/ 36 erarbeitet worden. 24 Christian Hermann Weiße veröffentlichte sein für die 2QT grundlegendes Werk, Die evangelische Geschichte, kritisch und philologisch bearbeitet , im Jahr 1838. Als Quellentext des MtEv und des LkEv tritt hier neben unser MkEv eine aus dem MtEv und dem LkEv zu rekonstruierende Spruchsammlung als eine in die Zeit Jesu zurückreichende, als weithin zuverlässig aufgefasste schriftliche Quelle. Dieser Entdeckung bzw. Konstruktion kam nach Weiße die ausdrückliche Funktion zu, die radikalen Urteile von Strauss bezüglich der mythischen Darstellung Jesu in den Evangelien zu relativieren. 25 Für die Plausibilisierung der 2QT konnte Weiße dabei auf bereits vorliegende Forschungsergebnisse zurückgreifen. 26 Diese fügte er zu einem System zusammen, das - verglichen mit z.T. sehr komplizierten Er- 24 Dieser Lösungsvorschlag steht allerdings in einer Entwicklungslinie mit ähnlich gelagerten Erklärungsversuchen seit dem letzten Quartal des 18. Jh.s: Zur Sicherung der grundsätzlichen Historizität der Darstellung Jesu in den Evangelien - zunächst mittels verschiedener Urevangeliumshypothesen - sahen sich deutschsprachige Exegeten insbesondere seit der postumen Veröffentlichung der radikalen Bibelkritik von H.S. Reimarus durch G.E. Lessing (1774-1778) herausgefordert, vgl. dazu St. Alkier, Urchristentum. Zur Geschichte und Theologie einer exegetischen Disziplin (BHTh 83), Tübingen 1993, 81 f.; W. Schmithals, Einleitung in die drei ersten Evangelien, Berlin 1985, 196. Im weiteren Verlauf dieses Forschungsstranges begannen sich verschiedene Dokumentenhypothesen durchzusetzen: Erste Vorstöße in Richtung der Annahme der Markuspriorität unternahm G.C. Storr (Über den Zweck der evangelischen Geschichte und der Briefe Johannis, Tübingen 1786; De fontibus evangeliorum Matthhaei et Lucae, Tübingen 1794). K.A. Credner, in dessen Werk Einleitung in das Neue Testament (Halle 1836) wesentliche Grundentscheidungen getroffen wurden, die dann in Vereinfachung von Weiße 1838 zur 2QT umgeformt wurden, scheint noch nicht auf Strauss zu reagieren. 25 Weiße, Die evangelische Geschichte, 6-8; vgl. 94: „So haben wir also in den drei synoptischen Evangelien einen Kreis von Berichten über das Leben und die persönliche Lehre Jesu, der in seiner Entstehung seinen wesentlichen Bestandtheilen nach unverkennbar das Gepräge nicht des Dichterischen oder Mythischen, sondern des Geschichtlichen trägt, wenn gleich er freilich nicht […] für frei von allerhand unhistorischen Beimischungen erkannt werden kann“. 26 Insbesondere die durch K. Lachmann 1835 wahrscheinlich gemachte Markuspriorität und die Benutzung einer Redequelle zumindest von Matthäus, wie sie 1832 unter dem Eindruck der Lektüre der entsprechenden Papiasnotiz von Schleiermacher beschrieben wurde; vgl. dazu Schmithals (Einleitung, 70 f.) und das zutreffende Urteil von Holtzmann, Die Synoptiker (HCNT 1), Freiburg 3 1901, 16 f.: „Erstmals hat diese Quelle (die Redequelle, W.K.) Schleiermacher entdeckt […], indem er das Zeugnis des Papias nicht sowohl auf unseren Mt, als vielmehr auf eine Sammlung von logia tou kyriou bezog. Durch Verbindung dieser ältesten apost. Schrift mit der ursprünglichsten Form der apost. Tradition bei 148 Werner Kahl klärungsmodellen jener Zeit 27 - in relativ einfacher Weise die Beziehungen der Synoptiker zueinander als literarische verständlich machen konnte. Dabei setzte Weiße im Anschluss an Karl Lachmann und zeitgleich mit Christian G. Wilke die Markus-Priorität voraus - eine Annahme, die im 19. Jh. über weite Strecken vor allem in Form einer Ur-MkEv-Hypothese auf wachsende Akzeptanz stieß. 28 Die Differenzierung von MkEv und Ur-MkEv erfüllte dabei eine Doppelfunktion: Zum einen konnten Widersprüche und mythische Züge, d. h. insbesondere die Wundertraditionen, einem späteren Redaktor zugewiesen werden. Zum anderen war es auf diesem Wege möglich, die MA und auch einige größere mt-lk Übereinstimmungen zu erklären, deren Zuweisung zur Spruchquelle sich als problematisch erwies. 29 Unter der Annahme, dass Matthäus und Lukas nicht unser MkEv, sondern ein verloren gegangenes Ur-MkEv benutzt hätten, konnte verständlich gemacht werden, dass die MA aus Stoff des Ur-MkEv herrührten, der dann in einer später überarbeiteten Version - unserem MkEv - weggefallen wäre. Der Zielsetzung der Überwindung der Strauss’schen Radikalposition wusste sich noch eine Generation später Heinrich J. Holtzmann mit seiner umsichtigen Begründung der 2QT verpflichtet - ein Indiz dafür, wie nachhaltig sowohl das erste Leben Jesu von Strauss als auch die noch radikalere, sich zudem die These der Mk-Priorität zu eigen machende Kritik der evangelischen Geschichte der Synoptiker von Bruno Bauer aus dem Jahre 1841 die Grundfeste der historisch-kritisch orientierten Forschung am NT erschüttert hatten. Bereits der Untertitel des Erstlingswerks von Holtzmann aus dem Jahre 1863 kommuniziert sein Anliegen: Die synoptischen Evangelien. Ihr Ursprung und geschichtlicher Charakter . In direkter Auseinandersetzung mit Strauss diente die hier ausführlich entfaltete 2QT dem Zweck, „die geschichtliche Gestalt [ Jesu] [ ] in einer Weise nachzuzeichnen, die allen gerechten Ansprüchen der fortgeschrittenen historisch-kritischen Wissenschaften genügt ( )“. 30 Damit war der Anspruch an- Mc konnte schon vor Weiße bei Lachmann […] und Credner […] die Zweiquellentheorie in ihren einfachsten, seither nur immer allseitiger gefestigten Formen auftreten“. 27 Vgl. etwa den Versuch von Credner (Einleitung, 203-206), der ebenfalls unter dem Eindruck der Papiasnotiz auf eine Logienquelle rekurriert, die zusammen mit einem Ur- MkEv und mündlicher Überlieferung von einem Redaktor zum MtEv zusammengefügt worden sei, das das älteste der synoptischen Evangelien darstelle. Das LkEv speise sich aus diesem MtEv, aus dem späteren MkEv, einem Ur-MkEv und der Logienquelle. Tendenziell ist die 2QT somit bei Credner schon angelegt. 28 Sie wurde insbesondere vertreten von Holtzmann, Die synoptischen Evangelien. Ihr Ursprung und geschichtlicher Charakter, Leipzig 1863. 29 Vgl. Wernle, Die synoptische Frage, Freiburg 1899, 218: „In der That sind jene Stücke dem Urmr zugewiesen worden bloßs zur Erleichterung des synoptischen Problems“. 30 Holtzmann, Die synoptischen Evangelien, 1. Q als Fiktion 149 gemeldet, mittels der 2QT zuverlässige Quellen zur Erfassung des historischen Jesus gewinnen zu können: „Wir dürfen es vielleicht als den schätzbarsten Gewinn unserer Untersuchung bezeichnen, dass wir durch sie in Stand gesetzt sind, ein irgendwie bestimmtes Bild von dem historischen Charakter der Person Jesu und des, seinen Lebensrahmen erfüllenden, Inhalts zu geben. Darin erblicken wir zugleich den entschiedensten Fortschritt, womit wir, ohne zu den abgestumpften Waffen einer, auf dogmatischen Voraussetzungen beruhenden, Apologetik greifen zu müssen, die Resultate der Tübinger Schule ein für allemal hinter uns liegen lassen“. 31 Oder noch deutlicher, aber problematischer, da gewissermaßen entlarvend: „[W]ir unternehmen es, die synoptischen Evangelien so zu bearbeiten, dass sie schliesslich auf die Frage, inwiefern sie als Quellen für ein aufzustellendes synoptisches Christusbild gelten können, eine vollkommen gesicherte und nach allen Seiten gerechtfertigte Antwort ergeben muss “. 32 Einigermaßen unverblümt kommuniziert Holtzmann hier sein Anliegen: Es geht um die Absicherung eines historischen Jesusbilds. Diesem Ziel dient die 2QT. 33 Die zwei postulierten Quellen - Spruchsammlung und (Ur-)MkEv - der beiden späteren Großevangelien haben also nach Weiße und Holtzmann die Funktion, die grundsätzliche Historizität dessen, was in theologisch aufgeklärter Perspektive als wesentlich in den synoptischen Evangelien erschien, zu verbürgen, und zwar als Versuch der Überwindung der radikalen mythenkritischen Negierung dieser Historizität insbesondere durch Strauss. Es ging hierbei um nichts weniger als um den Versuch der Rettung der Gestalt Jesu und des Christentums unter dem Paradigma der Moderne. 34 31 Ebd., 468. 32 Ebd. 9 (Hervorhebung W.K.) 33 Vgl. D. Lührmann, Die Logienquelle und die Leben-Jesu-Forschung, in: A. Lindemann (Hg.), The Sayings Source Q and the Historical Jesus, Leuven 2001, 191-206, hier 191: „Die Zwei-Quellen-Theorie ist im 19. Jahrhundert entwickelt worden zur Sicherung eines historisch begründbaren Jesusbildes“. Demselben Zweck diente im 19. Jh. auch die Annahme eines Ur-MkEv, welches sich dadurch ausgezeichnet hätte, dass - ähnlich wie in der Redequelle - hier nur rudimentär Wunderreferenzen vorgelegen hätten. Zur kritischen Neubewertung der ntl. Wundererzählungen innerhalb der 2QT, vgl. Holtzmann, Die synoptischen Evangelien, 497-514. 34 Die von I. Broer in seiner Einleitung in das Neue Testament (Bd. I. Die synoptischen Evangelien, die Apostelgeschichte und die johanneische Literatur, Würzburg 2006) unter der problematischen Überschrift „die Findungsgeschichte der Logienquelle“ (ebd., 54; Hervorhebung W.K.) kommunizierte Behauptung zur Entstehung der 2QT widerspricht der diesbezüglichen Forschungsgeschichte: „Die Zweiquellentheorie war das Ergebnis der Suche nach den Gründen für die großen Übereinstimmungen zwischen den ersten drei 150 Werner Kahl Nachdem sich mit der liberalen Theologie eine Ethisierung des Vermächtnisses Jesu Bahn gebrochen hatte und die Mythisierungsbedrohung durch die Tübinger Schule überwunden schien, löste sich die weitere Diskussion um die 2QT ab dem letzten Quartal des 19. Jh. von ihrer Gründungsproblematik. 35 In dem Maße, wie das MkEv ab etwa der Jahrhundertwende zunehmend als historisch zuverlässiges Zeugnis angezweifelt wurde, 36 stieg die Wertschätzung von Q. 37 Die aufgezeigte identitätsvergewissernde Relevanz der 2QT für die historisch-kritische Exegese und die liberale Theologie insgesamt ließ ihre Vertreter sorgsam darauf achten, dass diese Theorie nicht untergraben würde. Interessanter Weise erwog Holtzmann selbst im Jahre 1878 - also nur 15 Jahre nach dem Erscheinen seiner Grundlegung der 2QT - öffentlich die von ihm vorher explizit verworfene Möglichkeit, 38 dass die Annahme eines Ur-MkEv zur Er- Evangelien im 19. Jahrhundert […]“. (ebd., 54). Dass auch historisch-kritische Forschung im 19. Jh. - und selbstverständlich darüber hinaus - trotz der Beteuerung wissenschaftlicher Objektivität in der Regel unbewusst interessengeleitet und von problematischen, da letztlich dogmatischen Anliegen abhängig betrieben wurde, ist im 20. Jh. zutreffend insbesondere von der Dialektischen Theologie angemahnt worden, vgl. O. Weber, Grundlagen der Dogmatik, 1. Bd., Neukirchen 1955, 201: „Im Grunde hat die historisch-kritische Arbeit der beiden letzten Jahrhunderte immer eine offene oder versteckte Tendenz zur Sicherung - nicht zur Sicherung des überlieferten ‚Christentums’, wohl aber zur Sicherung jenes im Hintergrund stehenden Eigentlichen. In der Regel wirkt auch ein Werturteil mit: man ist überzeugt, dass das historisch Früheste auch das inhaltlich Reinste sei: ihm kann man dann das Prädikat der ‚Offenbarung‘ zuerkennen! “ Zur Forschungsgeschichte bezüglich der Entstehung und Durchsetzung der 2QT im 19. Jh. in einem weiteren akademischen Kontext, in dem in den Philologien die Suche nach ältesten Quellen zum Verständnis vorliegender Texte als wesentlich erachtet wurde, vgl. J.C. Poirier, The Q Hypothesis and the Role of Pre-Synoptic Sources in Nineteenth-Century Scholarship, in: Goodacre / N. Perrin (Hg.), Questioning Q, London 2004, 13-27. 35 Vgl. Wernle (Die synoptische Frage), der die Auseinandersetzungen mit der Tübinger Schule nicht einmal mehr erwähnte. Sein Buch diente vor allem der ausführlichen Verteidigung der 2QT gegen sie modifizierende Versuche synoptischer Klärungen der vorangegangenen Jahrzehnte. 36 Vgl. das epochale Werk von W. Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. Zugleich ein Beitrag zum Verständnis des Markusevangeliums, Göttingen 1901; vgl. dazu das Referat von K.L Schmidt, Der Rahmen der Geschichte Jesu. Literarkritische Untersuchungen zur ältesten Jesusüberlieferung, Berlin 1919, 15 f. 37 Vgl. A. von Harnack, Sprüche und Reden Jesu. Die zweite Quelle des Matthäus und Lukas, Leipzig 1907, 173: „Wer ist wertvoller? […] Die Spruchsammlung und Markus müssen in Kraft bleiben, aber jene steht voran. Vor allem wird die Übertreibung des apokalyptisch-eschatologischen Elements in der Verkündigung Jesu und die Zurückstellung der rein religiösen und moralischen Momente hinter jenes immer wieder ihre Widerlegung durch die Spruchsammlung finden. Sie bietet die Gewähr für das, was in der Verkündigung Jesu die Hauptsache gewesen ist: die Gotteserkenntnis und die Moral zu Buße und Glauben, zum Verzicht auf die Welt und zum Gewinn des Himmels - nichts anderes“. 38 Holtzmann, Die synoptischen Evangelien, 163 f. Q als Fiktion 151 klärung der MA unnötig sei, wenn man stattdessen und vorzugsweise davon ausginge, dass Lukas neben dem MkEv und der Logienquelle auch noch das MtEv benutzt hätte. 39 Damit reagierte er auf sehr überzeugende Infragestellungen seiner Ur-MkEv Hypothese, wobei er die von seinem Kritiker Bernhard Weiss vorgebrachte Alternative, wonach bereits Markus die durch Erzählstoff erweiterte Redequelle benutzt hätte, umgehen konnte. 40 Als dann - auf dem Hintergrund dieser Problematik! 41 - sein Doktorand, der spätere praktische Theologe Eduard Simons, in seiner 1880 in Bonn erschienenen Untersuchung, Hat der dritte Evangelist den kanonischen Matthäus gekannt? , diese Frage ausdrücklich affirmativ beantwortete, machte der Explikator der klassischen 2QT sich eben diese Modifikation zu eigen, 42 und er vertrat sie seither durchgängig in seinen Lehrbüchern und Kommentaren. 43 39 Holtzmann, Rezension: G. Meyer, La Question Synoptique. Essai sur les rapports et l’origine des trois premier évangelique canonique (Paris 1878), in: ThLZ 3 (1878), 553-554. Diese Idee war seit Mitte des 19. Jh. bereits vor allem von zwei prominenten Theologen ventiliert worden: A. Ritschl, Über den gegenwärtigen Stand der Kritik der synoptischen Evangelien, in: ders., Gesammelte Aufsätze, Freiburg / Leipzig 1893, 1-51, bes. 48 f. (Erstveröffentlichung: ThJ 1851); H.A.W. Meyer geht gegenüber den ersten beiden Auflagen seines 1832 erstmals erschienenen Werks, Kritisch exegetisches Handbuch über die Evangelien des Markus und Lukas (KEKNT, Göttingen), seit der dritten Auflage von 1855 davon aus, dass das MtEv aufgrund der ihm von Anfang an zuerkannten Autorität „dem Luk. bei seinen Forschungen schwerlich unbekannt und unberücksichtigt bleiben konnte: so ist zwar auch unser erstes Evangel. zu den Quellen des Luk. zu rechnen, doch jedenfalls mit der Beschränkung, dass ihm der mehr urevangelische und weniger judaisirende (sic! ) Markus von grösserem Gewicht war, und dass er überhaupt in seinem Verhältnisse zu Matth. mit einer kritischen Selbstständigkeit zu Werke ging […]“ (hier zitiert nach der vierten Auflage von 1860, 217 f.). Diese Kehrtwende deutet sich bereits 1853 in der dritten Auflage seines entsprechenden Kommentars zum Matthäusevangelium gegenüber den vorangehenden beiden Auflagen an: ders., Kritisch exegetischer Kommentar über das Neue Testament das Evangelium des Matthäus umfassend, Göttingen, 27 f. Holtzmann hatte diese Positionsveränderung 1863 noch kritisch notiert, vgl. ders., Die synoptischen Evangelien, 40 Anm. 4. Vor Ritschl und Meyer hatte allerdings Credner (Einleitung) bereits 1836 in seinem Vorläufermodell der 2QT Lukas die Logienquelle, das MkEv (d. h. MkEv und Ur-MkEv) und das MtEv benutzen lassen. 40 Vgl. die Diskussion und die Nachweise in B. Weiss, Lehrbuch der Einleitung in das Neue Testament, Berlin 2 1889, 484 f., 542; vgl. dazu das Referat in Schmid, Matthäus und Lukas. Eine Untersuchung des Verhältnisses ihrer Evangelien, Freiburg 1930, 8-9. 41 Vgl. die Ergebnisformulierung von Simons, Hat der dritte Evangelist, 112: „Wir gewinnen einen Standort, von welchem aus ein im weitesten Umfang primärer Charakter des Mr.-Textes sich mit Erfolg vertheidigen lässt“. 42 Holtzmann in seiner Rezension des Werks von E. Simons, in: ThLZ 6 (1881), 180-183. 43 Ders., Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in das Neuen Testament, Freiburg 1885, 339 (und nachfolgende Auflagen); vgl. auch die diesbezügliche persönliche Mitteilung in ders., Die Synoptiker (Hand-Commentar zum Neuen Testament 1), Tübingen / Leipzig 3 1901, IVf. 152 Werner Kahl Dieser Positionswechsel wurde wohl von vielen, aber nicht von der Mehrzahl der maßgebenden Neutestamentler jener Zeit mit vollzogen, da die Annahme einer auch nur beiläufigen Benutzung des MtEv durch Lukas die Rekonstruktion und Sicherung der Logienquelle erschweren und letztlich ihre Existenz bedrohen würde, wie Bernhard Weiss in den 1880er Jahren gegen diese „jüngste Wendung der Markushypothese“ 44 warnend einwandte: „Wenn man neuerdings um dieser Erscheinungen willen [ ] die Voraussetzung der gesammten an Weisse anknüpfenden Kritik wieder fallen lassen [ ] und eine Bekanntschaft des Lucas mit dem ersten Evangelium, ja eine, wenn auch nur gedächtnissmässige, Benutzung desselben zugeben will, so wird damit jeder sichere Anhaltspunkt für die Ermittelung der vom ersten und dritten Evangelisten gemeinsam benutzten Redequelle aufgegeben [ ]“. 45 Das Risiko, die zwischen kirchlichem Dogmatismus einerseits und Tübinger Radikalkritik andererseits unter großem Aufwand errungene Plattform historisch-kritischer Synoptikerexegese und liberaler Theologie wieder in Frage stellen zu lassen, wurde von der Mehrzahl der Exegeten nicht eingegangen. Hatte Holtzmanns Buch von 1863 46 wesentlich zur Durchsetzung der 2QT beigetragen, so konsolidierte Paul Wernle 1899 in seinem Werk, Die synoptische Frage , abschließend die klassische 2QT, wie sie Weiße vorgetragen hatte, indem er sie gegen Versuche der Aufweichung verteidigte. Wernle widmet sich darin u. a. der Zurückweisung der durch Simons repräsentierten Alternative. 47 Die Annahme einer nebenherlaufenden Benutzung des MtEv durch Lukas wurde - berechtigter Weise - als eine beträchtliche Bedrohung für die 2QT und damit für die Existenz von Q und also für die Möglichkeit eines Rückgangs zum historischen Jesus erachtet. Gleichzeitig war im letzten Quartal des 19. Jh.s - exemplarisch 44 B. / J. Weiss, Die Evangelien des Markus und Lukas (KEK), Göttingen 8 1892, 275. An dieser Stelle ist fälschlicher Weise das Buch von Simons in das Jahr 1890 datiert worden. 45 B. Weiss, Lehrbuch, 542; vgl. auch ders. / J. Weiss, Evangelien, 277: „[..I]n dem Augenblick, in welchem man die Voraussetzung aufgiebt (sic), dass Mt und Lk einander nicht gekannt haben, fällt natürlich die Berechtigung, eine dem 1. und 3. Ev. gemeinsame Quelle neben Mk anzunehmen, unwiderruflich dahin“. 46 Siehe Anm. 28. 47 Vgl. Wernle, Synoptische Frage, 50-54. Er nennt in seinem Vorwort (IV) Simons und Jacobsen undifferenziert nebeneinander als diejenigen, die „die Abhängigkeit des Lc von Mt begründet“ hätten. Es ist aber zu beachten, dass Simons und Jacobsen unter ganz verschiedenen Vorentscheidungen zu diesem Ergebnis gekommen waren, wobei sich ersterer innerhalb des Paradigmas der 2QT bewegte, während sich letzterer von der 2QT verabschiedete, indem er die Logienquelle als unnötige Annahme ausschied. Dem alleinigen Anliegen, die wechselseitige Unabhängigkeit von LkEv und MtEv innerhalb der klassischen 2QT zu erweisen, wusste sich Schmid (Matthäus und Lukas) verpflichtet. Q als Fiktion 153 durch B. Weiss 48 , den späteren Holtzmann 49 und Wernle 50 - die die exegetischen Diskussionen jenes Jh.s so bestimmende These eines Ur-MkEv zugunsten der synoptischen Priorität unseres MkEv überwunden, wenn auch mittels unterschiedlicher Argumentationslinien. Darüber hinaus war die Redequelle als feste Größe etabliert worden. Das Problem einer überzeugenden Erklärung der MA aber ist bis heute bestehen geblieben. 3. Das Problem und die Problematik der Minor Agreements Mit den Begriffen Minor Agreements bzw. kleine Übereinstimmungen werden im Rahmen der 2QT jene Übereinstimmungen des MtEv und des LkEv gegen das MkEv bezeichnet, die in der Triple-Tradition begegnen, d. h. in denjenigen Textpassagen, die allen drei Synoptikern gemein sind. MA werden unterschieden von großen Übereinstimmungen . Bei diesen handelt es sich um die der sog. Double-Tradition zugerechneten Passagen, d. h. um denjenigen Stoff, den MtEv und LkEv jenseits der Triple-Tradition gemein haben und aus dem herkömmlicher Weise die Spruchquelle Q rekonstruiert wird. Wie unten gezeigt werden wird, ist die Differenzierung in MA einerseits und große Übereinstimmungen andererseits uneindeutig und von durchaus problematischen Vorentscheidungen abhängig. Die MA würden für die 2QT dann ein Problem darstellen, wenn es sich bei ihnen nicht um wenige bzw. geringfügige und zufällige Übereinstimmungen handelte. Tatsächlich ziehen sie sich durch den gesamten synoptischen Stoff: von Mk 1,1 bis 16,8 parr. Eine konservative Zählung, die auf der Notierung allein formidentischer Wörter beruht, kommt auf eine Anzahl von 637 MA. 51 48 Einleitung, 542: In der Spruchquelle, von Weiss „apostolische Quelle“ genannt, hätte bereits sich mit dem MkEv überlappender Erzählstoff befunden, und Markus hätte Q gekannt. 49 Einleitung, 2 1886, 357 (so schon in der ersten Auflage von 1885, 339): Da Lukas neben der Spruchsammlung und dem MkEv auch das MtEv gekannt hätte, „kommen wenigstens die meisten Motive zur Unterscheidung eines Urmarcus von Mr in Wegfall“ (vgl. noch die Ausführungen ebd., 363-365). 50 Wernle (Die synoptische Frage) widerspricht den Erklärungsversuchen sowohl von Weiss als auch von Holtzmann (vgl. ebd., 208-219) und kommt zu dem Ergebnis: „Also hat die Urmarcushypothese aus der synoptischen Frage auszuscheiden; der Wahrheitskern, von dem sie ausgeht, gehört in die Textgeschichte“ (ebd., 223). 51 Nach A.M. Honoré, A Statistical Study of the Synoptic Problem, in: NovTest 10 (1968), 95-147, hier 98; vgl. noch A.D. Baum, Der mündliche Faktor und seine Bedeutung für die synoptische Frage. Analogien aus der antiken Literatur, der Experimentalpsychologie, der Oral Poetry-Forschung und dem rabbinischen Traditionswesen (TANZ 49), Tübingen 2008, 21-24, bes. 23. A. Ennulat (Die „Minor Agreements“: Untersuchungen zu einer 154 Werner Kahl Aber nicht nur in quantitativer Hinsicht stellen MA die 2QT vor Schwierigkeiten. Angesichts der Qualität einer nicht geringen Anzahl von MA und ihres oft clusterhaften Auftretens 52 bedeuten sie eine ernsthafte Herausforderung für die 2QT, denn bei der vorausgesetzten Annahme einer voneinander unabhängigen Benutzung des MkEv und der Logienquelle durch Matthäus und Lukas wären wohl gelegentlich zufällige Übereinstimmungen zu erwarten, aber solch eine Fülle von bedeutenden Übereinstimmungen des MtEv mit dem LkEv gegen das MkEv im Markus-Stoff müsste ausgeschlossen sein. 3.1. Erklärungsversuche Im Rahmen der 2QT ist seit Mitte des 19. Jh. ganz unterschiedlich mit dem Phänomen der MA umgegangen worden bzw. es sind unterschiedliche Erklärungsversuche bemüht worden. Die markantesten seien im Folgenden benannt: 1. Die MA wurden als Problem schlichtweg ignoriert bzw. hinsichtlich ihrer Anzahl und Qualität heruntergespielt 53 ; 2. Sie sind auf zufälliges Zusammentreffen der Seitenreferenten zurückgeführt 54 oder 3. textkritisch erklärt worden 55 ; 4. Sie gaben Anlass zur Konstatierung zusätzlicher, aber sonst unbekannter, mündlicher oder schriftlicher Quellen, die auf das MtEv und das LkEv eingewirkt hätten. 56 5. Q wurde nach vorne und nach hinten um Erzählstoff erweitert, um als Quelle für MA in angenommenen Doppelüberlieferungen mit dem MkEv dienen zu können. 57 offenen Frage des synoptischen Problems [WUNT II/ 62], Tübingen 1994, 10) kommt auf insgesamt 1183 positive und negative - aufgrund gemeinsamer Auslassungen - sog. MA. 52 Ich identifiziere 110 solcher Cluster von mt-lk Übereinstimmungen innerhalb der Triple-Tradition, siehe Kahl, Erhebliche matthäisch-lukanische Übereinstimmungen, 32-35. 53 Z.B. H. Conzelmann / Lindemann, Arbeitsbuch zum Neuen Testament, Tübingen 14 2004, 74. 54 Z.B. Wernle, Synoptische Frage; Schmid, Matthäus und Lukas; F. Neirynck, The Minor Agreements and the Two-Source Theory, in: Strecker, Minor Agreements, 25-62. 55 Z.B. C.M. Tuckett, The Minor Agreements and Texual Criticism, in: Strecker, Minor Agreements, 119-141; tendenziell so bereits A. Jülicher, Einleitung in das Neue Testament, Tübingen 1931, 350. 56 Z.B. T. Schramm, Der Markus-Stoff bei Lukas. Eine literarkritische und redaktionsgeschichtliche Untersuchung, Cambridge 1971. 57 Z.B. B. Weiss, Einleitung, 542; ders., Die Quellen des Lukasevangeliums, Stuttgart / Berlin 1907, 193 f.; ders. / J. Weiss, Markus und Lukas, 277 f. Q als Fiktion 155 6. Es wurde im 19. Jh. ein nicht mehr existentes Ur-MkEv 58 und im 20. Jh. verstärkt ein verloren gegangenes Deutero-MkEv 59 postuliert, auf dessen jeweilige Benutzung durch Matthäus und Lukas die MA zurückgingen. 7. Es wurde ein direkter, wenn auch nebenher laufender Einfluss des MtEv auf das LkEv angenommen, wodurch die Ur-MkEv These überwunden schien. 60 8. Es wurden und werden Kombinationen der obigen Erklärungsversuche vertreten. 61 Die Vorgehensweisen 1. bis 3. werden durch die Evidenz der MA deutlich invalidiert. Erklärungsversuche 4. bis 6. argumentieren mit über Q hinausgehenden hypothetischen Quellenkonstruktionen, die sich einzig dem Zweck verdanken, die MA zu erklären. Das 7. Modell läuft - wie gezeigt - in der Konsequenz auf eine Infragestellung der Existenz von Q hinaus. 62 In der „Beseitigung“ 63 der durch die sog. MA gegebenen Störung der 2QT kommt es zuweilen selbst in Veröffentlichungen mit hohem wissenschaftlichen Anspruch zu so willkürlichen wie kuriosen Lösungsvorschlägen. So etwa, wenn Walter Schmithals in der TRE unter Rekurs auf die UrMk-Hypothese die folgende Überlegung zu zwei der markantesten mt-lk Übereinstimmungen gegen das MkEv anstellt: „So scheinen die signifikantesten positiven Übereinstimmungen von Mt und Lk gegen Mk, nämlich gegen Mk 14,65 und 14,72, darauf zurückzugehen, daß ihre Mk-Hand- 58 Z.B. Holtzmann, Die synoptischen Evangelien. 59 Z.B. Ennulat, Minor Agreements; in radikaler Ausführung: A. Fuchs, Die „Seesturmperikope“ Mk 4,35-41 parr im Wandel der urchristlichen Verkündigung, in: Strecker, Minor Agreements, 65-91. 60 Ritschl, Über den gegenwärtigen Stand, 47-49; Simons, Hat der dritte Evangelist; Holtzmann in diesbezüglichen Veröffentlichungen nach 1878; vgl. ders., Einleitung, 2 1886, 363: „Sollten also insbesonderheit Mt und Mr zugleich bei Lc vorausgesetzt sein, so würde sich für diejenigen Fälle, wo beide Seitenreferenten gegen den Urevangelisten bald in Auslassungen oder Zuthaten, bald auch im gemeinsam von ihm abweichenden Ausdruck übereinstimmen, eine sehr einfache Erklärung ergeben und damit wenigstens das weitaus wichtigste Motiv für Unterscheidung eines Urmarcus in Wegfall kommen“. Zur Erklärung der sog. MA ist diese Position nach umfänglichen statistischen Analysen als Mittelweg zwischen der klassischen 2QT und der sog. Farrer(-Goulder) These (siehe unten unter Punkt 5) vertreten worden in dem wichtigen und in der diesbezüglichen Forschung zu Unrecht vernachlässigten Werk von R. Morgenthaler, Statistische Synopse, Zürich / Stuttgart, 1971. 61 Z.B. P. Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur. Einleitung in das Neue Testament, die Apokryphen und die Apostolischen Väter, Berlin/ New York 1975, 274 f.; Schmithals, Einleitung, 209. 62 Vgl. dazu oben unter Punkt 2 die Ausführungen zu A. Jacobsen. 63 So die beredte Wortwahl von Schmid, Matthäus und Lukas, 169, 180 u.ö. 156 Werner Kahl schriften authentische Überlieferung boten, während der kanonische Mk auf eine Handschrift zurückgeht, die ein bei 14,65 und 14,72 an derselben Stelle beiderseits defektes Blatt enthielt, das ein früher Abschreiber wenig glücklich (Mk 14,65 und 14,72 sind unverständlich) korrigierte“. 64 Dass die aufgezeigte Divergenz von nicht allgemein durchsetzungsfähigen Lösungsversuchen und ein mit ihnen verbundenes hohes Maß an Hypothetizität bezüglich der Erklärung der sog. MA in der neutestamentlichen Wissenschaft akzeptabel ist, macht lediglich die grundlegende Bedeutung transparent, die der 2QT zuerkannt wird. 3.2. Minor Agreements als problematische Kategorie Die Problematik der Kategorie MA wird greifbar anhand der verbreiteten Methodik einer einseitigen , sozusagen systemstabilisierenden Eruierung von MA: Im Zusammenhang des MkEv eingebettete mt-lk Übereinstimmungen, welche Überschüsse in Form eines Satzes bzw. mehrerer Sätze darstellen, gelten z. B. nicht mehr als MA, sondern werden der Spruchquelle zugeschlagen, vgl. etwa die sog. Bußpredigt des Täufers (Mt 3,7-10/ Lk 3,7-9) oder die Messianische Verkündigung des Täufers (Mt 3,11b-12/ Lk 3,16b-17), aber auch die ausgeführten Versuchungen Jesu (Mt 4,2-11/ Lk 4,2b-13). 65 Damit ergeben sich freilich weitere Schwierigkeiten, etwa hinsichtlich des Charakters der vorgeblichen Quelle mit Sprüchen Jesu , die dann exakt parallel zum MkEv nicht nur narrativ eingesetzt hätte, sondern auch noch ausgerechnet mit der Täufer überlieferung. 66 Und gerade hinsichtlich dieser Beobachtung widerspricht das Thomasevangelium , das gelegentlich zur Plausibilisierung der Existenz von Q herangezogen wird, der postulierten Logienquelle. Im koptisch 64 Schmithals, Art. Evangelien, Synoptische, in: TRE 10 (1982), 570-626, hier 596. 65 Vgl. dazu die Beobachtungen von Goodacre, The Synoptic Problem. A Way Through the Maze, London / New York 2001, 128-131. 66 Vgl. dazu die m. E. unhaltbaren, der Rettung von Q dienenden Hypothesenanhäufungen durch Lindemann, Die Logienquelle Q. Fragen an eine gut begründete Hypothese, in: ders., Sayings Source, 3-26, bes. 5-8. Während Lindemann erwägt, dass Q erst mit der Bergpredigt/ Feldrede begonnen hätte, schlägt jüngst Labahn (Der Gekommene) unter Rekurs auf Erkenntnisse der literaturwissenschaftlichen Pragmatik den umgekehrten Weg ein, indem er Q als intentional offene Erzählung begreift: „In der vorangegangenen Perspektive ist der sparsame Einsatz direkter Erzählinformationen und Erzählerkommentare mit Anliegen und literarischem Charakter des Dokuments in Einklang zu bringen. Der beklagte Mangel an narrativer Struktur wird so von der crux zum clue des opus“ (564). Danach gilt - unter Verweis auf Wolfgang Iser: „Der implizite Leser ist als ein verständiger Leser konstruiert, der die im Text auftretenden gaps inhaltlich füllt“ (565). Die quellenkritische Not in der Rekonstruktion von Q wandelt sich in diesem Entwurf zur narratologischen Tugend. Q als Fiktion 157 überlieferten Text des Thomasevangeliums sind nämlich ausschließlich Sprüche Jesu überliefert, die nur äußerst spärlich mit narrativen Markern versehen sind. Aufgrund der beschriebenen Vorgehensweise der Trennung von längeren und kürzeren mt-lk Übereinstimmungen lassen sich dann tatsächlich keine längeren MA in der Triple-Tradition finden, denn die sind gerade aufgrund jener Trennung ausgesondert worden. Daraus wird dann im Arbeitsbuch zum Neuen Testament von Hans Conzelmann und Andreas Lindemann ein Argument für die Annahme der gegenseitigen Unabhängigkeit von MtEv und LkEv: „an keiner Stelle liegen über Mk hinausgehende gemeinsame ganze Sätze vor“. 67 Das aber ist ein Zirkelschluss. Allerdings ist schon die Behauptung, wonach MtEv und LkEv in der Triple-Tradition „niemals ganze Sätze über Mk hinaus“ enthielten, selbst im Rahmen der 2QT nicht korrekt: Mit dem bekannten MA Mt 26,68/ Lk 22,64b - „Wer hat dich geschlagen? “ - liegt ein „ganzer“ Satz als MA vor! Es ließen sich drei weitere Beispiele anführen. 68 Aber das Argument von Conzelmann/ Lindemann trägt noch nicht einmal im Hinblick auf die in diesem Zusammenhang ungeprüft vorausgesetzte Unterstellung, wonach etwa Lukas aus dem MkEv häufig und deutlich erkennbar „ganze Sätze“ übernommen hätte. Was hier suggeriert wird, lässt sich nämlich am Text nicht erhärten - ganz im Gegenteil: Neben einigen Halbsätzen weist das LkEv exklusiv mit dem MkEv in der Triple-Tradition nur drei mehr oder weniger identische, ganze Sätze auf. 69 Innerhalb des 2QT-Diskurses bedeuten MA einen Restbestand an Material, der mehr oder weniger als Problem ernst genommen wird, der die 2QT aber nicht wirklich in Frage stellen kann . Die MA sind nämlich eine Funktion dieser Theorie . Allein der Begriff MA, definiert als geringfügige mt-lk Übereinstimmungen, ist gewisser Maßen eine self-fulfilling prophecy , die die 2QT stützt, denn er setzt bereits voraus, dass Matthäus und Lukas das MkEv unabhängig voneinander benutzt hätten. Unter dieser Prämisse werden kürzere mt-lk Übereinstimmungen gegen das MkEv im Mk-Stoff aufgespürt, die dann über ihren Status als mehr oder weniger minor auch nicht hinauskommen können . Der Modus des synoptischen Vergleichs, wie er unter der Voraussetzung der 2QT zur Anwendung kommt, erweist sich insgesamt als problematisch, führt er doch zu einer verzerrten Wahrnehmung der synoptischen Verhältnisbestimmung, d. h. eine, die mit der 2QT kompatibel ist. Wissenschaftlich erforderlich ist ein neutraler Vergleich der Texte. 67 Conzelmann / Lindemann, Arbeitsbuch, 74. 68 Mt 3,12/ Lk 3,17 („Q“); 21,44/ 20,18; 26,75c/ 22,62. 69 Mk 9,38b-39a/ Lk 9,49b-50a; 9,40/ 9,50b; 10,15/ 18,17. 158 Werner Kahl 4. Zur Methodik eines neutralen Textvergleichs Nun ergibt eine vorbehaltlose Vergleichung der Triple-Tradition bzw. besser des gesamten synoptischen Stoffs ein ganz anderes Bild: Vergleicht man dieses Material nämlich neutral miteinander nach allen wechselseitigen Differenzen und Übereinstimmungen, so ergibt sich, dass in vielen Passagen, in denen nach der 2QT MA konstatiert werden, es tatsächlich noch weniger exklusive Übereinstimmungen zwischen dem LkEv und dem MkEv(! ) gibt. Anders gesagt: In vielen Perikopen der Triple-Tradition weist das LkEv insgesamt mehr Übereinstimmungen mit dem MtEv als mit dem MkEv auf. Diese Tatsache konnte bisher bei dem weithin üblichen Verfahren einer isolierten Betrachtung allein der exklusiven Übereinstimmungen zwischen MtEv und LkEv im Markusstoff - also unter Ausblendung der diesbezüglichen exklusiven Übereinstimmungen zwischen MtEv und MkEv einerseits und zwischen LkEv und MkEv andererseits 70 - nicht in den Blick treten. Sie ist mit der 2QT auch nicht kompatibel zu machen, sondern stellt sie in Frage. Bei dem hier empfohlenen neutralen Vergleich wird zunächst keine Vorentscheidung getroffen über die Richtung einer etwaigen schriftlichen Abhängigkeit. D.h. das Material, das alle drei Synoptiker in einer parallelen Perikope identisch haben, wird wohl notiert; es scheidet aber als richtungweisend aus! Diese Übereinstimmungen möchte ich als inclusive agreements (IA) bezeichnen. Unter der Voraussetzung der 2QT hätte Lukas diesen Stoff immer aus dem MkEv übernommen. Ein neutraler Vergleich kann darüber zunächst keine Entscheidung treffen, denn im Fall, dass Lukas das MtEv gekannt hätte, könnte er diesen Stoff auch aus diesem haben. Um neutral Tendenzen einer literarischen Abhängigkeit feststellen zu können, wäre es um der Wissenschaftlichkeit des Verfahrens geboten, die IA zunächst zu isolieren. Übrig blieben dann Sondergut sowie Übereinstimmungen von je zwei Synoptikern gegen den dritten. Diese 70 Bereits Morgenthaler (Statistische Synopse, 281) stellte 1971 unter positiver Bezugnahme auf das statistisch-analytische Werk von B. de Solages (Synopse grecque des Évangiles. Méthode nouvelle pour réssoudre le problème synoptique, Leiden 1959) fest: Jene Zweierverbindungen „sind bis dahin selten oder nie untersucht und den Koinzidenzen Mt-Lk gegenübergestellt worden“. Diese Beobachtung trifft eine Forschergeneration später noch immer zu. Eine Ausnahme ist Baum (Der mündliche Faktor, 22-24), der seiner Arbeit die synoptischen Analyseergebnisse von Honoré (Statistical Study) aus dem Jahr 1968 zugrunde legt. Schramm (Markus-Stoff) erkennt in seinen gründlichen synoptischen Analysen von 1971 wohl zahlreiche gewichtige Übereinstimmungen zwischen MtEv und LkEv in Perikopen des Markusstoffs, führt sie aber, um grundsätzlich im Rahmen der 2QT bleiben zu können, zurück auf eine Vielzahl mündlich wie schriftlich umlaufender mk Traditionsvarianten, auf die dann Matthäus und Lukas unabhängig voneinander rekurriert hätten. Q als Fiktion 159 Übereinstimmungen bezeichne ich als exclusive agreements (EA), die ihrerseits differenziert werden in EA Mk-Mt , in EA Mk-Lk und in EA Mt-Lk . Erst auf der Grundlage dieser differenzierten Betrachtung wäre dann der Versuch zu unternehmen, Abhängigkeitsverhältnisse zu bestimmen. Ein solcher Vergleich aller der der Triple-Tradition zuerkannten Perikopen ergibt folgendes Ergebnis - an dieser Stelle sind inklusive und exklusive Übereinstimmungen konservativ quantifiziert anhand formidentischer Wörter : Im synoptischen Beziehungsverhältnis weisen MtEv und MkEv - gemessen allein an der Anzahl formidentischer Wörter - eine relativ größere Nähe zueinander auf (1908 EA Mk-Mt ) als LkEv und MkEv zueinander (1039 EA Mk-Lk ) oder - noch deutlicher - als MtEv und LkEv (637 EA Mt-Lk ) zueinander. Die Differenz in der Anzahl der jeweiligen EA ist dabei wohl deutlich, aber alles andere als gravierend: MtEv-MkEv weisen etwa dreimal so viele EA auf wie MtEv-LkEv; aber die EA Mk-Lk machen nur etwa anderthalbmal so viele aus wie die EA Mt-Lk . 71 Bedeutet diese Erhebung bereits eine ernstzunehmende Herausforderung für die 2QT, so kommt eine detaillierte synoptische Vergleichung von Perikopen der Triple-Tradition zu einem Ergebnis, das die 2QT nachhaltig erschüttert. Jetzt werden nämlich außer den exklusiven Übereinstimmungen formidentischer Wörter auch sämtliche relative Nähen bzw. Distanzen in Bezug auf Wortwahl und Aussageinhalt zweier Evangelien gegen das jeweils dritte notiert. 72 Über die Erfassung dieser Indikatoren kann so ein Gesamtbild über das tatsächliche Verhältnis der synoptischen Evangelien - hier beschränkt auf die Triple-Tradition - zu einander gewonnen werden. All diese Beobachtungen unterminieren die bisher von Vertretern der 2QT als gültig erachtete Einschätzung, wonach „in allen gemeinsamen Abschnitten der drei Synoptiker ausnahmslos Lk viel enger mit Mk zusammengeht als mit Mt, und dass seine Übereinstimmungen mit Mt gegen Mk immer nur einen ganz geringen Prozentsatz seiner Übereinstimmungen mit Mt bilden […]“. 73 Robert Morgenthaler, der aufgrund der Häufungen von EA Mt-Lk in einigen Perikopen sowie aufgrund der Tatsache, dass diese Übereinstimmungen in beinahe der gesamten Triple-Tradition zu beobachten sind, eine modifizierte 2QT vertritt, wonach Lukas auch das MtEv benutzt hätte, hält eine „Alternativlösung zur Q-Hypothese“ mit dem Hinweis darauf nicht für geboten, dass es sich hier 71 Vgl. das Schaubild bei Kahl, Erhebliche matthäisch-lukanische Übereinstimmungen, 29. 72 Zur Ausführung vgl. ebd., 30-35. 73 Schmid, Matthäus und Lukas, 176 (Hervorhebungen: W.K.); so auch Labahn, Der Gekommene, 33. 160 Werner Kahl aufs Ganze gesehen doch nur um „kleinere Übereinstimmungen“ handelte. 74 Wenn sich diese Minimierung der EA Mt-Lk aufgrund der vorangehenden Beobachtungen nicht länger halten lässt, dann ist damit die Aufgabe nach einer Alternativlösung des synoptischen Beziehungsverhältnisses sehr wohl gestellt. 5. Die kritischen Anfragen an das Synoptische Integrationsmodell Im bisherigen Verlauf der Darstellung sind bereits zwei der drei von Conzelmann/ Lindemann vorgebrachten typischen Argumente gegen eine direkte literarische Beziehung MtEv-LkEv entkräftet worden: 75 Es konnte erstens entgegen ihrer Behauptung gezeigt werden, dass es unter den sog. MA sehr wohl „über Mk hinausgehende gemeinsame ganze Sätze“ gibt. 76 Zweitens ist ihre Einschätzung, wonach „die Zahl der ‚positiven‘ minor agreements im ganzen doch sehr gering ist“ 77 , kaum haltbar angesichts einer Anzahl von wenigstens 637 positiven EA Mt-Lk , die an 110 Stellen clusterförmig auftreten, also an den meisten Stellen sicher nicht zufällig zustande gekommen sind. 78 Das von Conzelmann/ Lindemann vorgebrachte dritte Argument, wonach „der beiden gemeinsame nicht aus Mk stammende umfangreichere Stoff […] bei Lk niemals an derselben Stelle wie bei Mt in den Mk-Faden eingefügt ist“, 79 74 Morgenthaler, Statistische Synopse, 303. 75 Zur Widerlegung dieser, sowie weiterer Einwände, vgl. Goodacre (The Synoptic Problem, 122-161) und schon Larfeld, Evangelien, 73-78. 76 Conzelmann / Lindemann, Arbeitsbuch, 74; vgl. oben unter Punkt 3.2. 77 Ebd., 74. 78 J.C. Hawkins (Horae Synopticae. Contributions to the Study of the Synoptic Problem, Oxford 2 1909, 208-210) kommt auf 238 von ihm identifizierte “MA”, von denen er 218 als zufällig zustande gekommen erklärt. Es bleiben 20 dieser Übereinstimmungen in 20 Perikopen übrig. Theoretisch hält es Hawkins neben anderen Erklärungen auch nicht für unmöglich, dass „one of these compilers [was] able to consult the work of the other“ (211). Aber dieses Szenario erklärt er dann doch für unwahrscheinlich angesichts des „very small bulk of the additions and alterations, compared with the whole amount of the matter of these sections“ (212). Wenn es nun aber viel mehr - und nicht so leicht weg zu diskutierende! - EA Mt-Lk gibt und sehr häufig relative bis größte Nähen zwischen dem MtEv und dem LkEv, so legte sich nach der Argumentation von Hawkins sehr wohl nahe, dass zwischen MtEv und LkEv ein direktes Benutzungsverhältnis besteht. Die - Conzelmann/ Lindemann analoge - willkürliche Vorgehensweise der Reduzierung ernsthafter EA Mt-Lk auf wenige Fälle wird von Hawkins komplementiert durch die hypothetische Annahme einer deutero-mk Rezension (212). An diesem Beispiel wird Folgendes anschaulich: Die 2QT erscheint als Resultat der Kombination nicht-textgestützter Behauptungen mit Hypothesenhäufungen . 79 Ebd., 74 (Hervorhebung im Original). Q als Fiktion 161 sei im Folgenden noch einmal ausführlicher im Zusammenhang mit der Infragestellung einer möglichen Kenntnis der mt Bergpredigt durch Lukas diskutiert. Gegen die Annahme einer lk Benutzung des MtEv wird in der diesbezüglichen exegetischen Literatur vor allem eingewandt: „Why would so literary an artist as Luke want to destroy the Matthean masterpiece of the Sermon on the Mount? “ 80 Dieser Einwand verfängt nicht. Holtzmann, der ihn 1863 selbst vorgebracht hatte, 81 entlarvte ihn Mitte der achtziger Jahre des 19. Jh. als Scheinargument, welches auf einem gewohnheitsmäßigen, ästhetischen Urteil beruht: „Und doch spricht aus solchem Urtheil nur die eingewurzelte Gewohnheit, in Mt eben die maassgebende Gestalt der evangel. Geschichte, die vollkommenste Ausprägung der Reden Jesu u.s.w. zu erblicken, davon nicht zu begreifen wäre, wie sie einem Schriftsteller, der sie kannte, so wenig gewichtig vorkommen konnte, um in vielen ihrer Bestandteile gänzlich ignorirt zu werden“. 82 Die Bergpredigt erfreut sich erst seit der aufgeklärten Theologie des 18./ 19. Jh.s großer Beliebtheit: Sie konnte geradezu als das Herzstück des MtEv und als jesuanische Grundlage einer christlichen Gesinnungsethik erachtet werden. 83 Wir haben aber keinerlei Evidenz dafür, dass diese Anschauung schon in den 80 J.A. Fitzmyer, The Gospel According to Luke I-IX. Introduction, Translation, and Notes (AB 28), New York 1981, 74; Ebner (Die synoptische Frage, 82) zitiert zustimmend Fitzmyers Diktum; vgl. Schmithals, Einleitung, 173. Dieses ästhetische Argument wandert in Variation mindestens seit Mitte des 19. Jh. durch die diesbezügliche Literatur, vgl. H.W.J. Thiersch, Die Kirche im apostolischen Zeitalter und die Entstehung der neutestamentlichen Schriften, Frankfurt / Erlangen 1852, 179 f.: „Andererseits hat Lukas sicher den Matthäus nicht vor sich gehabt; er hätte bei seinem Streben nach Vollständigkeit nicht so manchen herrlichen Stoff aus Matthäus unbenutzt gelassen“; vgl. Holtzmann, Die synoptischen Evangelien, 163 f.: „Alle Stellen, die Lucas mit Matthäus über A (Apostolische Quelle, d. h. Ur-MkEv, W.K.) hinaus gemein hat, stammen aus Λ (Logienquelle, W.K.) und erklären sich in der That auch nur so , da man […] annehmen müsste, dass Lucas den schön geschlossenen Zusammenhang der matthäischen Kunstwerke fast muthwillig durchbrochen hätte […]. Unnatürlich im höchsten Grad wäre es gewesen, wenn Lucas förmlich darauf ausgegangen sein sollte, die schön verbundenen Redecyclen in ihre Elemente aufzulösen , sie in einzelne Spruchfragmente zu zerreissen und dann diesen besondere Veranlassungen anzudichten“ (Hervorhebungen: W.K.). Historisch aufschlussreich sind diese Aussagen nur insofern, als sie einerseits Auskunft geben über den literarischen Geschmack Holtzmanns und zumindest einiger seiner gebildeten Zeitgenossen und andererseits über einen Mangel an Reflexionsvermögen hinsichtlich der kulturellen Distanz zur Enzyklopädie der mediterranen Antike. Zwanzig Jahre später wird Holtzmann dem eigenen Geschmacksurteil deutlich widersprechen, s. die übernächste Anm. 81 S. die vorangehende Anm. 82 Holtzmann, Einleitung, 2 1886, 364; vgl. ausführlicher die Begründung in Simons, Hat der dritte Evangelist, 109 f. 83 Vgl. Strecker, Bergpredigt, 16 f.; vgl. z. B. A. von Harnack, Sprüche und Reden Jesu. Die zweite Quelle des Matthäus und Lukas, Leipzig 1907, 173. 162 Werner Kahl ersten drei Jahrhunderten geteilt wurde - ganz im Gegenteil. 84 Allein der Begriff „Bergpredigt“ als Titel für die Perikopen, die wir nach unserer Kapiteleinteilung seit dem Mittelalter in Mt 5-7 finden, begegnet vor Augustins Schrift De sermone Domini in Monte aus dem Jahr 394 nicht, zumal mit dieser Schrift der älteste uns bekannte separate Kommentar dieser mt Redekomposition vorliegt. Wenn wir weiter in Betracht ziehen, wie eigenständig Lukas mit seiner mk Vorlage im Allgemeinen und mit längeren Redekompositionen im Besonderen umgeht 85 , dann erschließt sich analog nicht nur die Möglichkeit, sondern geradezu die Notwendigkeit einer so kritischen wie kreativen Adaption auch der mt Bergpredigt (Kürzung, Aufsplittung, Re-Gruppierung, Umformulierung) durch Lukas als Selbstverständlichkeit. 86 Die direkte Benutzung der mt Bergpredigt durch Lukas legt sich auch aufgrund folgender struktureller und inhaltlicher Beobachtungen nahe: Entgegen einem verbreiteten exegetischen Urteil fügen nämlich beide Seitenreferenten diese Rede im selben Markuszusammenhang ein, indem „Mt (4,25; 5,1) und Lk (6,17ff) die gleiche Mk-Stelle (3,7ff.) für die Rahmung der Bergpredigt/ Feldrede verwenden, dabei sogar die gleichen Elemente aus Mk 3 für die Einleitung der Predigt in Anspruch nehmen. Das kann schwerlich Zufall sein“. 87 Wenn Conzelmann/ Lindemann hingegen geltend zu machen versuchen, dass „Mt […] die bei Mk fehlende Bergpredigt hinter Mk 1,20 ein[fügt], Lk dagegen […] seine der Bergpredigt entsprechende Feldrede (6,20-49) erst nach Mk 3,19“, 88 dann ignorieren sie deutliche Indizien einer Aufnahme von Motiven aus Mk 1,28.32.34.39; 3,7f.13 in Mt 4,23-5,1. 89 Damit ist ein markantes Beispiel 84 K. Beyschlag, Zur Geschichte der Bergpredigt in der Alten Kirche, in: ZThK 74 (1977), 291-322. 85 So reduziert Lukas in 8,4-18 das Gleichniskapitel Mk 4,1-34 im Markuszusammenhang auf die Darstellung und Deutung eines Gleichnisses. Er lässt einiges aus und transloziert das Gleichnis vom Senfkorn nach 13,18-19 - allerdings in markanter Veränderung, die ko-textuell bedingt ist unter dem thematischen Fokus der Inklusion der Heiden (13,18- 30); vgl. dazu treffend Goulder, Luke, 41-43; 566-570. 86 Vgl. dazu die Ausführungen von Goulder (Luke, 38-41) sowie M. A. Matson, Luke’s Rewriting of the Sermon on the Mount, in: Goodacre / Perrin, Questioning Q, 43-70. 87 Schramm, Markus-Stoff, 113. Dem - so Schramm - „erstaunlichen Phänomen“ der Einfügung dieser Rede an derselben Stelle im MkEv versucht er (ebd.) durch die Annahme Rechnung zu tragen, „daß bereits die hinter Bergpredigt und Feldrede liegende Quelle eine Mk 3,7ff. entsprechende Rahmennotiz enthielt“, hier also eine Traditionsvariante vorläge; vgl. so auch Wolter, Lukasevangelium, 241. Holtzmann (Die synoptischen Evangelien, 75 f.) nahm diese mt-lk Übereinstimmung in der Lokalisierung zum Anlass, die Bergpredigt als Bestandteil eines Ur-MkEv zu postulieren, eingefügt nach Mk 3,13-19. 88 Conzelmann / Lindemann, Arbeitsbuch, 72; vgl. Schmid, Matthäus und Lukas, 212. 89 Zur Analyse vgl. U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1-7) (EKK I,1), Neukirchen-Vluyn 5 2002, 245, 266, wobei Luz allerdings die frappierenden Übereinstimmungen Q als Fiktion 163 dafür benannt, dass Lukas durchaus „gemeinsame[n] umfangreiche[n] Stoff […] an derselben Stelle innerhalb des Mk-Fadens“ einfügt wie Matthäus, 90 was freilich auch an der Täuferüberlieferung und Jesu Versuchung in Mk 1,1-13 parr verifizierbar ist. Zudem wird deutlich: Lukas lässt dieser mit Seligpreisungen anhebenden Rede Jesu wie Matthäus die narrativ entfalteten Themen Jüngerberufung 91 und Heilungssummarium vorangehen (Mt 4,18-22.23-25/ Lk 6,12-16.17-19), und zwar gegen Mk 3,7-12.13-19 und mit dem MtEv in umgekehrter Reihenfolge. Dabei erscheint die lk Vorbereitung der Rede als erzähllogische Korrektur des MtEv, denn nach dem narrativen Verlauf des MtEv können als die Adressaten dieser Lehre nach 5,1 nur die vier Jünger gemeint sein, die Jesus bis dato berufen hatte (4,18-22). 92 Die mt Einleitung zur Bergpredigt in 5,1f. steht außerdem in einer gewissen Spannung zur Notiz im Anschluss an die Rede in 7,28f., wonach vorausgesetzt ist, dass eine Vielzahl von Leuten die Adressaten der Lehrpredigt sind. In 5,1f. bleibt nämlich unklar, ob die Jünger die einzigen Adressaten sind, oder ob Jesu Worte auch für die Vielzahl von Leuten (5,1) bestimmt sind. Gegenüber dieser Unbestimmtheit erscheint die lk Inszenierung als Glättung. Lukas lässt nämlich im Anschluss an Mk 3,7-19 diese Rede ausdrücklich vor einer größeren Anzahl von Jüngern stattfinden, unter denen in Lk 6,13-16 zwölf als Apostel auserwählt worden waren. Dabei ist gleichzeitig die Anwesenheit einer großen Volksmenge (6,17) mitgedacht. Der Abschluss der Feldrede in 7,1 ist dazu kompatibel. Diese Korrekturen entsprechen der lk Vorgehensweise und dem Anliegen, welches Lukas in seinem Proömium (1,3f.) mitteilt: Damit der Adressat sich der Stichhaltigkeit dessen, was ihm erzählt worden war, vergewissern kann, hält es der Autor für nötig, alles in - wohl: kritischer - Orientierung an ihm vorliegenden Traditionen für Theophilos der Reihe nach aufzuschreiben. Lukas kommuniziert damit sein Bemühen, die von ihm bemerkten Inkonsistenzen in den ihm vorliegenden Jesuserzählungen in seiner Darstellung des Wirkens Jesu zu beheben. mit dem LkEv nicht diskutiert. Die identische Einfügung der Rede deutete im letzten Quartal des 19. Jh. Simons (Hat der dritte Evangelist, 36) als Indiz dafür, dass Lukas das MtEv benutzt hat; vgl. ähnlich auch Jacobsen (Untersuchungen, 6) und im 20. Jh. Morgenthaler, Statistische Synopse, 304 f. Dem Sachverhalt der identischen Einfügung der Rede in den mk Zusammenhang trägt die Aland-Synopse Rechnung, vgl. 73 f., 101 ff. Die Huck-Greeven-Synopse hingegen lokalisiert die Bergpredigt im narrativen Verlauf zwischen Mk 1,39-40 und die Feldrede nach Mk 3,19. 90 Vgl. Conzelmann / Lindemann, Arbeitsbuch, 72, 74. 91 Nach Mt 4,18-22 allerdings beschränkt auf die Berufung der vier ersten Jünger. 92 Schon Jacobsen (Untersuchungen, 6) stellte zurecht die kritische Frage nach der Anzahl der nach Mt 5,1 anwesend gedachten Jünger und moniert: „Hier liegt eine wenig befriedigende Skizze vor“. 164 Werner Kahl In der unmittelbaren szenischen Vorbereitung der nachfolgenden großen Rede Jesu orientierten sich im übrigen beide Seitenreferenten in Mt 4,24-5,1 und Lk 6,17-20a an der Vorlage Mk 3,7-13a. Auch in diesem Abschnitt begegnen EA Mt-Lk , die die Vermutung erhärten, dass Lukas neben dem MkEv auch das MtEv vorliegen hatte (vgl. Mt 4,24/ Lk 6,18; Mt 4,25/ Lk 6,17; Mt 5,1/ Lk 6,19, sowie die gemeinsame Auslassung von Mk 3,9.11b-12. 93 Außerdem heilt Jesus sowohl nach Mt 4,24 als auch nach Lk 6,19 „alle“ - im Unterschied zu „viele“ nach Mk 3,10. Dass die Feldrede (Lk 6,20-49) das Resultat einer kritischen Benutzung der mt Bergpredigt durch Lukas darstellt, scheint mir evident z. B. in Bezug auf seine gegenüber Matthäus entspiritualisierte und verkürzte Version der Seligpreisungen, derer Vierzahl Lukas eine Viererreihe von Unheilsansagen an die Reichen korrespondieren lässt. Die hier manifeste Materialität des Heils in Verbindung mit der Ansage der eschatologischen Umkehrung bestehender ungerechter Ordnungen stellt ein durchgängiges Merkmal der lk Darstellung des Evangeliums dar. 94 6. Abschließende Würdigung des Synoptischen Integrationsmodells In Bezug auf das Verhältnis von MtEv zu Q kommt Ulrich Luz als Vertreter der 2QT aufgrund detaillierter Analysen in seinem Matthäuskommentar zu folgender Beobachtung: „Zwischen Q und dem Matthäusevangelium gibt es nicht nur eine sprachliche und theologische, sondern auch eine kirchensoziologische und historische Kontinuität“. 95 Diese Nähen veranlassen ihn zu der These, dass die mt Gemeinde in Syrien von Repräsentanten der Q-Tradition gegründet worden sei, es sich also bei den Q-Traditionen um „eigene“ Traditionen der mt Gemeinde handelte. 96 Für die Stützung der 2QT ist dies allerdings eine Behauptung von zweifelhafter Qualität. Sie weist vielmehr in Richtung der Position Goulders, denn: Wenn es so große Nähen von Q und MtEv gibt, dass sich Q von der mt Redaktion kaum trennen lässt, dann indiziert das eher die Identität von Q und MtEv in Bezug auf die betreffenden Passagen. 97 Dies wird bestätigt - im Nachhi- 93 Mk 3,10-11a ist in modifizierter Motivdislozierung verarbeitet in Mt 4,24. 94 Vgl. S. Alkier, Die Realität der Auferweckung in, nach und mit den Schriften des Neuen Testaments (NET 12), Tübingen / Basel 2009, 126. 95 Luz, Matthäus, Bd. 1, 89. 96 Ebd., 90. 97 Goulder, Self-Contradiction in the IQP, in: JBL 118/ 3 (1999), 506-517, hier 517: „if Q writes and thinks like Matthew, and lived in the same area in the same decade, perhaps we should dispense with the Q hypothesis altogether“. Q als Fiktion 165 nein und nicht intendiert, wenn auch in diesem Zusammenhang in begrüßenswerter Weise! - durch die Analyseergebnisse meiner eingangs erwähnten Dissertation zu den ntl. Wundererzählungen. Dort stellte ich fest, dass sowohl in Q als auch im MtEv in den Wundererzählungen der Fokus auf der Positionierung zum Wundertäter Jesus zu liegen kommt, nicht etwa auf der Wundertat selbst: „In this tendency Mathhew’s miracle tradition appears to be in close proximity to Q“. 98 Dabei reflektieren beide deutlich Konventionen jüdisch palästinischer Wunderüberlieferungen. 99 Mit der Bezeichnung des hier favorisierten Erklärungsmodells - Synoptisches Integrationsmodell - soll zum Ausdruck gebracht werden: Das synoptische Beziehungsverhältnis ist vor allem das Ergebnis von Prozessen kreativer Re-Lektüren und einer kritischen Integration von je schriftlich Vorliegendem, was insgesamt zu einer Zunahme an Stofffülle geführt hat. Nach dieser Benutzungstheorie verlief die Entwicklung vom MkEv zum MtEv und dann zum LkEv, der beide als Vorlagen benutzte. So wie der Autor des MtEv die Erzählung des MkEv einer kritisch-kreativen Re-Lektüre unterzogen und sie mit weiterem Material, dessen Herkunft und ursprünglicher Wortlaut uns unbekannt ist, angereichert hat, hat der Autor des LkEv sowohl das MkEv als auch das MtEv kritisch-kreativ bearbeitet, auf bestimmte Weise ineinander verschränkt und mit weiterem Stoff angefüllt. 100 Ich halte es darüber hinaus - auch angesichts des lk Prologs - für sehr wahrscheinlich, dass Lukas zahlreiche Erzählungen seines Sonderguts, insbesondere im sog. Reisebericht, aus weiteren, uns unbekannten Quellen schöpfte. Dabei wird er auf ähnliche Weise, wie er das MkEv und das MtEv verarbeitete, kritisch-kreativ fortgeschrieben und ineinander integriert haben, was er jeweils vorfand. Das m. E. plausible und sich aufgrund der Analyse des synoptischen Texts nahelegende Synoptische Integrationsmodell sei anhand der folgenden Skizze veranschaulicht. Ein Großteil des Stoffes, den das MtEv über das MkEv hinaus aufweist, dürfte auf von Matthäus gestaltete Jesusüber- 98 Kahl, Miracle Stories, 225. 99 Ebd., 222, 226. 100 So auch Goodacre, The Case Against Q , Harrisburg 2002, 188. Für das Johannesevangelium lässt sich im Anschluss an Hartwig Thyen, Das Johannesevangelium , HNT 6, Tübingen, 2005, in Bezug auf sein Verhältnis zu den in ihm reflektierten synoptischen Evangelien eine differente Verfahrensweise konstatieren. Auch der Autor des JohEv integriert seine Vorlagen kritisch-kreativ, allerdings in einem viel stärkeren Maß als Lukas dies tut in Bezug auf seine Quellen. Die Quellen des JohEv lassen sich kaum mehr erkennen. Für seine Vorgehensweise in Bezug auf die Verarbeitung der synoptischen Evangelien schlage ich die Bezeichnung Synoptisches Umschreibungsmodell (SUM) vor. Diese tendenziell kritisch-systematisierende Vorgehensweise brachte es mit sich, dass die bis zum LkEv aufgrund einer tendenziell kritisch-additiven Verfahrensweise stetig angewachsene Stofffülle wieder abnehmen konnte. 166 Werner Kahl lieferungen zurückgehen. Unter Rekurs auf die Papiasnotiz zum MtEv verweise ich mit λóγια auf solche für uns nicht näher greifbaren Überlieferungen. In Ernstnahme der Information des Lukasprologs (Lk 1,1), wonach bereits Viele entsprechende Erzählungen verfasst hatten, umfasst πολλοí sowohl das MkEv als auch das MtEv und darüber hinaus noch weitere Zeugnisse, die uns im Einzelnen unbekannt sind, die aber insbesondere im Sondergut des Lukas und vor allem in seinem sog. Reisebericht begegnen, selbstverständlich in kritisch-kreativer Adaption durch Lukas. Schaubild: Das Synoptische Integrationsmodell Es spricht theoretisch prinzipiell nichts gegen die Möglichkeit, dass der Verfasser des LkEv auch das MtEv benutzt haben könnte, und tatsächlich weisen viele Indikatoren darauf hin, dass Lukas das MtEv benutzt hat. Nur im Rahmen der innerhalb der 2QT vorausgesetzten Vorentscheidungen verbietet sich diese Möglichkeit kategorisch. Es ist indes gar nicht auszuschließen, dass sich unter den schriftlichen Jesuserzählungen, von denen Lukas Kenntnis hatte (vgl. Lk 1,1), auch eine Schrift mit Jesustraditionen befunden hat, die - in welcher Form auch immer - auch Matthäus vorgelegen und die dieser in seine Darstellung eingearbeitet hatte. Nur lässt sich diese Annahme aufgrund der Benutzung des MtEv durch Lukas nicht verifizieren. Sie ist unnötig und aufgrund der Tatsache, dass eine solche Quelle weder handschriftlich noch durch schriftstellerische Verweise für die Antike bezeugt ist, eher unwahrscheinlich. Wie gezeigt, weist die 2QT auf verschiedenen Ebenen erhebliche Schwierigkeiten auf. Das SIM wird dem synoptischen Befund besser gerecht als die 2QT. Das SIM erlaubt es, die Fortschreibungsaktivitäten sowohl von Matthäus als Q als Fiktion 167 auch von Lukas angemessener als unter dem Paradigma der 2QT möglich zu würdigen, nachzuvollziehen und auch zugrunde liegende Motivationen und Intentionen zu verstehen. 101 Bezüglich seiner Vorgehensweise hält sich Lukas generell an die im Mk-Ev und auch im Mt-Ev vorgegebene Struktur, innerhalb derer er Einfügungen und Perikopenumstellungen vornehmen kann. Im Durchgang durch beide Quellen schließt sich Lukas manchmal stärker an das Mk-Ev, manchmal stärker am das Mt-Ev an: Orientiert er sich z. B. in 1,5-4,30 am Mt-Ev, so gibt er in 4,31-6,19 dem Mk-Ev den Vorzug, um sich dann der mt. Bergpredigt zu widmen, die er in aller schriftstellerischen und theologischen Freiheit steinbruchartig benutzt. 102 Diese Veränderungen sind ganz unterschiedlich motiviert: Kürzungen, Auslassungen und Fokussierung ergehen vor allem aus Gründen der Ökonomie in Bezug auf den zur Verfügung stehenden Schreibplatz - das Lk-Ev ist aufgrund der Verschränkung seiner beiden Hauptvorlagen hinsichtlich seines Stoffumfangs die längste Schrift im NT. Einige Veränderungen gegenüber Mk-Ev und Mt-Ev haben die Funktion, Sinnzusammenhänge herzustellen und Leerstellen auszufüllen (etwa durch Umstellungen und Erweiterungen). Andere sind inhaltlich-theologisch bestimmt: Auslassungen oder Verminderung der - innerjüdischen - antijüdischen Polemiken des Mt-Ev, die in einem außerpalästinischen Rezeptionshorizont des Lk-Ev missverstanden werden könnten und auch dem integrativen Anliegen des Lukas in paulinischer Tradition entgegenliefen; Translozierung und Modifizierung des mk.-mt. rein-unrein Diskurses in Apg 10-15; Präferenz Gottes für die Armen; Heilsuniversalismus. Andere Veränderungen gründen in literarisch-rhetorischen Konventionen, mit denen Lukas Erwartungen seines vorausgesetzten Adressaten bedient (vgl. Prolog, historische Informationen, stilistische Verbesserungen). Kein Modell - auch nicht das hier vertretene SIM - kann dabei alle Fragen hinreichend erhellen. Goulder etwa beanspruchte in seinem Lukas-Kommentar, jede einzelne Bezugnahme von Lukas auf seine Prätexte MkEv und MtEv erklären zu können. Ein solcher Anspruch ist so problematisch wie unnötig. Angesichts der komplexen Sachlage muss es genügen, in einer hinreichend großen und weitgestreuten Anzahl von Fällen unter einem geringeren Konstruktionsaufwand als er unter dem Paradigma der 2QT an den Tag gelegt wird, die Existenz der EA Mt-Lk nachvollziehbar zu machen. Nicht zuletzt aufgrund des enormen enzyklopädischen Abstands zur Antike vermögen wir Heutigen es nicht, die Motivation der späteren Evangelisten in der vielfältigen Aufnahme 101 Damit ist selbstverständlich eine entsprechende Kommentierung der synoptischen Evangelien neu aufgegeben. 102 Vgl. Goulder, Luke, 197. von Impulsen aus ihren Prätexten in jedem Einzelfall zu erkennen. Aber: Es ist wissenschaftstheoretisch vertretbarer, den Versuch zu unternehmen, die kritische Aufnahme eines uns vorliegenden Prätextes durch einen späteren Autor einer uns ebenfalls vorliegenden Schrift plausibel zu machen, als seine Beziehung gegenüber einem hypothetischen, uns nicht vorliegenden Prätext, der zudem jenseits wissenschaftlicher Standards konstruiert wurde. Die schwerere Beweislast liegt auf jeden Fall auf Seiten derer, die hypothetische Quellentexte zur Klärung des synoptischen Problems einführen. Das Synoptische Integrationsmodell hingegen scheint mir das Modell zu sein, das sowohl dem synoptischen Befund als auch gegenwärtigen kultur- und literaturwissenschaftlichen Standards noch am ehesten gerecht wird. Aber auch in theologischer Hinsicht scheint mir das Synoptische Integrationsmodell angemessen und sinnvoll zu sein. Es handelt sich hierbei ja nicht, wie von Markus Tiwald in seinem in diesem Heft vorliegenden Votum für die Sicherheit der Q-Hypothese nahegelegt, um „ein Aufgeben der Geschichtlichkeit unseres Heils“. Die vorliegenden Evangelien sind doch aufeinander in bestimmter Weise diachron bezogene geschichtliche Textzeugen frühchristlichen Glaubens. Sie bezeugen - allerdings im Plural! - interessengeleitete und kontextuelle Evangeliumsverständnisse. Insofern handelt es sich hierbei um so markante wie prägnante und Orientierung gebenden Beispiele dafür, dass und in welcher Breite Evangelium zu aktualisieren und also immer wieder neu ins Leben zu ziehen sei. Die Evangeliumswahrheit im eigens konstruierten historischen Ursprung finden zu wollen, hat wie gezeigt den Diskurs der 2QT von Anfang an bestimmt. Die Interpretationsgeschichte von Q zeigt die Anfälligkeit eines solchen Anliegens und einer entsprechenden Vorgehensweise für Projektionen eigener Vorlieben in vorgebliche Urtexte hinein. Q leistet bereits auf der Ebene ihrer problematischen Rekonstruktion unkontrollierbaren modernen Einträgen Vorschub. Dies potenziert sich auf der Ebene der Erhebung vorgeblicher Interpretationen von Q im Mt-Ev und im Lk-Ev einerseits und von zur Zeit im Trend liegenden narratologischen oder soziologischen Untersuchungen zu Q, die auf äußerst tönernen Füßen stehen, andererseits. 103 Die Versuche in Vergangenheit und Gegenwart, die markanten Übereinstimmungen von MtEv und LkEv im Rahmen der 2QT zu erklären, muten geradezu abenteuerlich an. In der Ausweglosigkeit darüber, ihrem Vorhandensein Rechnung tragen zu müssen, haben Vertreter der 2QT seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart insbesondere weitere hypothetische Quellen postuliert 103 Vgl. meine Rezension von D.T. Roth, R. Zimmermann und M. Labahn (Hg.), Metaphor, Narrative, and Parables in Q (WUNT 315), Tübingen 2014, in: ThLZ Juli/ August 2016, 776-778. 168 Werner Kahl Q als Fiktion 169 und eine Vielzahl einander widersprechender Zusatzhypothesen eingeführt. In einem binnensystemischen Diskurs geht hier jegliches wissenschaftlich verantwortbare Augenmaß verloren. Mit allen Mitteln wird sozusagen ein Zaun um die 2QT gezogen, um sie abzusichern. Die 2QT ist orthodox und zum Selbstzweck geworden. Sie verstellt den Blick auf das, was evident ist und bis auf weiteres die wahrscheinlichste Lösung des synoptischen Problems darstellt: Lukas hat sowohl das MkEv als auch das MtEv benutzt und sie auf seine Weise ineinander verschränkt. Q ist fiction , die nicht mehr trägt. Die lange währende Vermutung der Existenz von Q und die Hypothese von zwei synoptischen Quellen verdanken sich einem exegetischen Diskurs, der einerseits in der Bestreitung der Historizität der neutestamentlichen Wundererzählungen ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gründet und andererseits in der rationalistischen Leben-Jesu-Forschung des 19. Jahrhunderts. 104 Dieser Diskurs ist selbst zum Mythos geworden. Es ist an der Zeit, ihn zu entmythologisieren. 105 104 Zur Geschichte der Entwicklung der 2QT von Reimarus bis Harnack, vgl. Kahl, Improvement, 223-232. Es ist insofern nicht zufällig, sondern war integraler Bestandteil der Frage nach den Quellen hinter den Synoptikern, dass die beiden wichtigsten Proponenten der 2QT im 19. Jahrhundert in ihren diesbezüglichen Grundlagenwerken in eigenen Kapiteln ausdrücklich die Wunderfrage diskutieren: Weiße, Evangelische Geschichte , Bd. 1, 334-376, und Holtzmann, Die synoptischen Evangelien, 497-514. Beide favorisieren die „Priorität der Lehrthätigkeit Jesu vor der Wunderthätigkeit“, so Weiße (XI) und ähnlich Holtzmann (505). 105 Vgl. treffend L.A. Foster, The „Q“ Myth in Synoptic Studies , BEThS (8/ 1964), 111-119, hier 111: „Demythologizing is a real need here“. Zeitschrift für Neues Testament 22. Jahrgang (2019) Heft 43 / 44 Wie sicher ist die Q-Hypothese? Markus Tiwald 1. Die synoptische Frage Die synoptische Frage (griech. σύνοψις, syn-opsis , „Zusammenschau“ i. S. einer literarischen Abhängigkeit), ist eines der dornigsten Themen neutestamentlicher Bibelwissenschaft: Wie kommt es, dass die drei Evangelien nach Markus, Matthäus und Lukas in weiten Passagen wortwörtlich miteinander übereinstimmen? Die Antworten darauf fielen in Geschichte und Gegenwart unterschiedlich aus. Alleine die Frage, welcher der drei Evangelisten als erster sein Werk verfasste, wurde in der Vergangenheit anders beantwortet als heute. Seit dem Kirchenvater Augustinus (354-430) war es bis ins 18. Jh. üblich, das Matthäusevangelium als ältestes anzusetzen. Der vermeintliche Augenzeuge und Apostel Matthäus hätte als erster sein Evangelium verfasst und von ihm die beiden Nicht-Augenzeugen Mk und Lk abgeschrieben. 1 Diese Abfolge hat sich bis heute in den Bibelausgaben erhalten, wo noch immer das MtEv an erster Stelle gereiht ist. Eine historische Priorität des noch immer 1 Vgl. Augustinus, De consensu evangelistarum I,2,4. 172 Markus Tiwald so bezeichneten „ersten“ Evangelisten Matthäus wie auch dessen Augenzeugenschaft sind jedoch wissenschaftlich nicht haltbar. Erst mit dem 18. Jh. kam neue Bewegung in die synoptische Frage. Der Weimarer Theologe Johann Gottfried Herder (1744-1803) führte die Ähnlichkeit der drei Synoptiker auf ein mündliches Urevangelium in aramäischer Sprache zurück ( Traditionshypothese ). 2 Tatsächlich aber legen die zumeist wortwörtlichen Übereinstimmungen eine schriftliche Abhängigkeit der drei Evangelien nahe. Daher vermuteten Gotthold Ephraim Lessing (1729-1784) und Johann Gottfried Eichhorn (1752-1827) ein schriftliches aramäisches Urevangelium ( Urevangeliumshypothese ), das von den drei Synoptikern unterschiedlich ins Griechische übersetzt worden sei. Allerdings scheitert auch diese Annahme an den starken wortwörtlichen Übereinstimmungen auf griechischer Sprachbasis. Die in Folge vorgebrachten Benutzungshypothesen rechnen mit unterschiedlichen literarischen Abhängigkeiten der Texte. So sieht die Griesbachhypothese (benannt nach Johann Jakob Griesbach, 1745-1812) im MtEv das älteste Evangelium, welches der Autor des LkEv benutzt habe, Mk hingegen beide vorangehenden. Das MkEv wird nach dieser Annahme lediglich zu einer Zusammenfassung der beiden anderen Evangelien degradiert. Dass Mk so bedeutsame Passagen wie 2 Zu J.G. Herder vgl. F. Frey, Herder und die Evangelien, in: M. Keßler / V. Leppin (Hg.), Johann Gottfried Herder. Aspekte seines Lebenswerkes, Berlin 2005, 47-91, hier 60 f. Herder hatte zunächst ein schriftliches Urevangelium (Urevangeliumshypothese) vermutet und später erst ein mündliches Urevangelium postuliert. Zur detaillierten Analyse der Urevangeliumshypothese bei J. G. Herder und dann bei G. E. Lessing siehe M. Tiwald, Die Suche nach dem „Urevangelium“ als Frage nach der Authentizität der Jesusüberlieferung, in: J.S. Kloppenborg / J. Verheyden (Hg.), Theological and Theoretical Issues in the Synoptic Problem (LNTS), Bloomsbury (im Erscheinen), passim. Zu den folgenden Überblicken vgl. I. Broer / H.-U. Weidemann, Einleitung in das Neue Testament, Würzburg 4 2016, 44-78; G. Harb, Die eschatologische Rede des Spruchevangeliums Q. Redaktions- und traditionsgeschichtliche Studien zu Q 17,23-37 (BToSt 19), Leuven 2014, 5-7; U. Bauer, Das synoptische Problem und die Zweiquellentheorie, in: BiKi 54 (2/ 1999) 54-62; C. Heil, Einleitung, in: P. Hoffmann / C. Heil (Hg.), Die Spruchquelle Q. Studienausgabe Griechisch und Deutsch, Darmstadt 3 2009, 11-14; M. Tiwald, Die Logienquelle. Text, Kontext, Theologie, Stuttgart 2016, 15-22. Wie sicher ist die Q-Hypothese? 173 die Bergpredigt, die Kindheitsgeschichten und die Osterevangelien aus seinen Vorlagen hinausgekürzt habe, macht diesen Ansatz extrem unwahrscheinlich. Eine „Neo-Griesbach-Hypothese“ wird heute nur mehr vereinzelt im angelsächsischen Bereich vertreten und als „Two-Gospel-Hypothesis“ bezeichnet. Mit der Entdeckung der Mk-Priorität war in der synoptischen Forschung ein Meilenstein gesetzt, hinter den nicht mehr zurückzugehen ist. Karl Lachmann (1793-1851) hatte in seinem 1835 publizierten Artikel, „De ordine narrationum in evangeliis synopticis“ , bemerkt, dass Mt und Lk in ihrer grundsätzlichen Anordnung der Perikopen dort übereinstimmen, wo sie auch mit Mk identisch sind. Dort wo Mt oder Lk den mk Faden verlassen, weicht auch deren Perikopenanordnung voneinander ab. Lachmann folgerte, dass Mk das damals postulierte „Urevangelium“ am getreuesten wiedergäbe und Mt und Lk von ihm abhängig sind. Nach heutigem Forschungsstand ist die Markus-Priorität kaum mehr zu erschüttern. Recht präzise lässt sich beweisen, dass sowohl Mt als auch Lk das MkEv kannten, dieses allerdings stilistisch überarbeiteten, inhaltlich ergänzten, theologisch weiterführten und in einen je neuen erzähltechnischen Rahmen spannten. So übernimmt Mt 90 % des Mk-Stoffes, Lk hingegen nur 55 %, da zwischen Lk 9,17 und 9,18 (dort, wo Mk 6,45-8,26 seinen Platz gehabt hätte) der Mk-Text fehlt. Diese „große Lücke“ wird heute zumeist als bewusste Auslassung (daher auch „große Auslassung“) des dritten Evangelisten gewertet, da Lk Dubletten vermeidet (vgl. den ausgelassenen Text Mk 8,1-10 mit der Dublette in Mk 6,34-44) und die mit der Israelthematik verbundenen Fragen (z. B. die Univ.-Prof. Dr. Markus Tiwald, Jahrgang 1966, studierte Katholische Theologie in Wien, Lyon (Frankreich) und Jerusalem (Israel). 1994 Priesterweihe danach Kaplansjahr, 1995- 1998 Lizentiatsstudium am Studium Biblicum Franciscanum in Jerusalem, danach Assistent an der Universität Wien. Ebendort 2001 Promotion zum Doktor der Theologie und 2007 Habilitation für das Fach Neutestamentliche Bibelwissenschaft. Von 2008 bis 2019 zunächst Vertretungsprofessor und dann Lehrstuhlinhaber für Biblische Theologie und ihre Didaktik/ Schwerpunkt Neues Testament an der Universität Duisburg-Essen, seit September 2019 Professor für Neutestamentliche Bibelwissenschaft an der Universität Wien. Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind das Parting of the Ways zwischen Juden und Christen, das Frühjudentum und die Anfänge des Christentums, Synoptische Studien, die Logienquelle sowie die Kontextuierung von Paulus in seinem frühjüdischen Kontext. 174 Markus Tiwald Frage nach rein und unrein, Mk 7,1-23; die Heidin im Kontrast zu Israel, Mk 7,24-31; der Sauerteig der Pharisäer und des Herodes, Mk 8,15) erst in der Apg thematisiert (etwa Apg 10,1-11,18). 3 Bedingt durch die Priorität des MkEv vor Mt und Lk haben sämtliche Hypothesen, die diesem Faktum keine Rechenschaft tragen, auszuscheiden. 4 Die Farrer-Goulder-Hypothese wurde von Austin Farrer (1904-1968) entwickelt und dann von Michael Douglas Goulder (1927-2010) weitergeführt. Sie geht von der Mk-Priorität aus und stellt die wichtigste konkurrierende Alternative zur Zweiquellentheorie dar. Sie postuliert, dass Mt das MkEv benutzt habe, Lk sowohl das MkEv wie das MtEv. Unbeantwortet bleibt hier, warum Lk das mt Sondergut sowie das für die mt Redaktion typische Material weggelassen habe. Demzufolge hätte Lk die bei Mt groß angelegten Reden auseinandergebrochen (etwa die mt Bergpredigt), 5 die Kindheitsevangelien Mt 1-2 durch sein eigenes (konkurrierendes) Konzept ersetzt und auch in den Ostergeschichten ein komplett anderes Schema bevorzugt. Könnte man alle diese Fragen noch durch eine - wenn auch sehr eigenwillige - lk Redaktion begründen, bleibt in diesem Konzept unerklärlich, warum Lk die laut Zweiquellentheorie als Mk- und Q-Traditionen identifizierten Texte, die bei Mt zumeist ineinander vermischt wurden, wieder fein säuberlich aus- 3 Vgl. dazu L. Oberlinner, Die Verwirklichung des Reiches Gottes - Entwicklung beim Gleichnis von der selbstwachsenden Saat Mk 4,26-29, in: U. Busse / M. Reichardt / M. Theobald (Hg.), Die Memoria Jesu. Kontinuität und Diskontinuität der Überlieferung (BBB 166), Bonn 2011, 197-214, hier 198. 4 Weitere Argumente für die Mk-Priorität sind die sprachlichen und sachlichen Verbesserungen, die Mt und Lk an holprigen Mk-Passagen vornehmen. Obendrein gilt die Regel, dass heilige Texte nicht gekürzt werden, sondern wachsen. Die lectio brevior Regel der Textkritik sagt, dass die kürzeste Textvariante zumeist die älteste ist, vgl. K. Aland / B. Aland, Der Text des Neuen Testaments. Einführung in die wissenschaftlichen Ausgaben sowie in Theorie und Praxis der modernen Textkritik, Stuttgart 2 1989, 285. 5 Vgl. dazu J.A. Fitzmyer, The Gospel According to Luke I-IX (AncB 28), Garden City 1981, 74: „Why would so literary an artist as Luke want to destroy the Matthean masterpiece of the Sermon on the Mount? “ Wie sicher ist die Q-Hypothese? 175 einandergenommen hätte. 6 Natürlich erklärt die Farrer-Goulder-Hypothese die Q-Traditionen mit Mt-Sondergut, doch hätte Lk dann alle Stellen, wo das von der Zweiquellentheorie veranschlagte Q-Material bei Mt untergebracht war, wieder „rückbauen“ und anders anordnen müssen. 7 Hier ist es doch sinnvoller anzunehmen, Lk habe das MtEv gar nicht gekannt, doch die dem Mt ebenso bekannte Logienquelle eigenständig benützt. Hier setzt die Zweiquellentheorie an. Auch sie geht von der Mk-Priorität aus, erweitert diese erste Quelle aber noch durch eine zweite Quelle, die sogenannte „Logienquelle“. Die Existenz solch einer Quelle wurde zuerst von Christian Hermann Weisse (auch: Weiße, 1801-1866) in seinem 1838 erschienenen Werk, „Die evangelische Geschichte kritisch und philosophisch bearbeitet“ , postuliert. Der Gehalt dieser Quelle - bestehend aus den Übereinstimmungen von MtEv und LkEv über den Mk-Text hinaus - enthält größtenteils Aussprüche und Reden Jesu, was auf Griechisch logia , „Sprüche“, heißt - daher der Name „Logienquelle“. Ursprünglich meinte man, in der Logienquelle die von Papias von Hierapolis zu Beginn des 2. Jh. erwähnten logia , 8 eine angebliche Sammlung von aramäischen Jesus-Sprüchen, gefunden zu haben. 9 Allerdings kann das nicht der Fall sein, da die Übereinstimmungen zwischen MtEv und LkEv über den Markustext hinaus (also die Logienquelle) auf griechischer Sprachbasis funktionieren, nicht aber auf aramäischer. Dieser „kreative Irrtum“ führte dazu, dass Heinrich Julius Holtzmann (1832-1910) das Sigel Λ (den griechischen Buchstaben lambda ) als Abkürzung für logia verwendete und der Zweiquellentheorie mit seinem 1863 erschienenen Werk, „Die synoptischen Evangelien, ihr Ursprung und geschichtlicher Charakter“ , in weiten Kreisen zum Durchbruch verhalf (die Tübinger Schule favorisierte auch weiterhin die Griesbach-Hypothese). Eduard Simons (1855-1922) verwendet erstmals 1880 in „Hat der dritte Evangelist den kanonischen Matthäus genutzt? “ für diese logia das Sigel „Q“ (für „Quelle“), bald darauf gefolgt von Johannes Weiß (1863-1914) 1890 in seinem Beitrag, „Die 6 Vgl. M. Ebner, Die synoptische Frage, in: ders. / S. Schreiber (Hg.), Einleitung in das Neue Testament (KStTh 6), Stuttgart 2 2013, 68-85, hier 83. 7 Vgl. auch U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 9 2017, 237f: „Die grundlegende Schwäche dieser Theorie besteht darin, dass die Prinzipen des abwechselnden Gebrauchs von Markus und Matthäus durch Lukas nicht plausibel gemacht werden können. Vor allem die Mt-Rezeption wäre höchst merkwürdig, denn warum sollte Lukas die mt. Reden zerschlagen (vor allem die Bergpredigt! ) und Teile des Materials ohne erkennbares Anordnungsprinzip einfach über sein Evangelium verteilen? “ 8 Vgl. das Papias-Fragment 5,16, überliefert bei Eusebius, HE 3,39. Zur Frage nach der Historizität des Papiaszeugnisses vgl. U.H. Körtner, Papiasfragmente, in: ders./ M. Leutzsch (Hg.), Papiasfragmente. Hirt des Hermas (SUC 3), Darmstadt 2011, 1-103, hier 9-49. 9 Vgl. dazu Heil, Die Q-Rekonstruktion des Internationalen Q-Projekts. Einführung in Methodik und Resultate, in: NT 43 (2001) 128-143, hier 128 f. 176 Markus Tiwald Verteidigung Jesu gegen den Vorwurf des Bündnisses mit Beelzebul“. 10 Ab 1899 setzte sich mit der Monographie von Paul Wernle (1872-1939), „Die synoptische Frage“ , das Sigel „Q“ für die Logienquelle durch. Die Zweiquellentheorie sieht demnach folgendermaßen aus: Neben den beiden schriftlichen Quellen des Markusevangeliums und der Logienquelle Q haben Mt und Lk auch je eigenes Sondergut (Sondergut des Matthäus = S Mt / Sondergut des Lukas = S Lk ) verwendet. Im deutschsprachigen Raum ist das Urteil zu dieser Theorie recht eindeutig: Ingo Broer und Hans-Ulrich Weidemann sprechen davon, dass die Zweiquellentheorie die „[…] heute vor allem im europäischen Raum fast einhellig oder zumindest ganz überwiegend akzeptierte“ Lösung der synoptischen Frage darstellt. 11 Ähnlich Ulrich Luz: Wer die Zweiquellentheorie „[…] in Frage stellen will, muß einen Großteil der seit 1945 geleisteten redaktionsgeschichtlich orientierten Forschung an den Synoptikern widerlegen - ein wahrhaft mutiges Unterfangen, das mir weder nötig noch möglich zu sein scheint“. 12 Und Andreas Lindemann urteilt 2015 nach einem detaillierten Forschungsüberblick zu neuerer Literatur und aktuellen Positionen in der synoptischen Frage über die Zweiquellentheorie: „[…] eine plausiblere Hypothese, die tatsächlich allen Teilfragen gerecht würde, wird offenbar nicht gefunden“. 13 10 Vgl. dazu F. Neirynck, Note on the Siglum Q, in: F. van Segbroeck (Hg.), Evangelica II. 1982-1991. Collected Essays by Frans Neirynck (BEThL 99), Leuven 1991, 474; J.M. Robinson, Introduction, in: ders./ P. Hoffmann / J.S. Kloppenborg (Hg), The Sayings Gospel Q in Greek and English with Parallels from the Gospels of Mark and Thomas (Biblical Exegesis & Theology 30), Leuven 2001, 11-72, hier 23 f. 11 I. Broer / H.-U. Weidemann, Einleitung, 49. 12 U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus. Bd. 1: Mt 1-7 (EKK I/ 1), Neukirchen-Vluyn 5 2002, 47. 13 A. Lindemann, Neuere Literatur zum „Synoptischen Problem“, in: ThR 80 (2015) 214-250. Siehe auch den Forschungsüberblick bei ders., Neuere Literatur zur Logienquelle Q, in: ThR 80 (2015) 377-424, passim. Wie sicher ist die Q-Hypothese? 177 2. Die Minor Agreements Als stärkstes Argument gegen die Zweiquellentheorie muss die Existenz der Minor Agreements angesehen werden. Wie der Name schon sagt, sind damit „kleinere Übereinstimmungen“ gemeint und zwar überall dort, wo Mt und Lk ihre Mk-Vorlage in gleicher Weise abgeändert haben. Diese dürfte es nach der Zweiquellentheorie allerdings nicht geben, da dieser zufolge Mt und Lk einander nicht kannten. Wie viele dieser Agreements es wirklich gibt, ist umstritten. Frans Neirynck hat eine umfassende Liste von allen je in der exegetischen Diskussion erwähnten Minor Agreements erstellt, 14 die von Andreas Ennulat in seiner einschlägigen Monographie mit geringfügigen Modifikationen weiterverwendet wurde. 15 Es gibt positive Minor Agreements , das sind von Mt und Lk übereinstimmend gesetzte Hinzufügungen oder Abänderungen gegenüber dem Mk-Text und negative Minor Agreements , wo Mt und Lk übereinstimmend eine Passage von Mk ausgelassen haben (Texte, die als markinisches Sondergut bezeichnet werden). Die quantitative Auswertung allerdings ist umstritten: Bei der Auslassung eines längeren mk Textabschnittes könnte theoretisch jedes einzelne Wort als Agreement gezählt werden oder der gesamte Text als nur ein einziges. Das erklärt die starken Unterschiede der in der Literatur genannten Zahlen, die zwischen 175 und 2354 Minor Agreements rangieren. 16 Fraglich ist aber auch, ob das Weglassen eines Markustextes (die negativen Minor Agreements) immer als Argument gegen die Zweiquellentheorie gewertet werden muss. Problematische Passagen oder Ausdrücke könnten Mt und Lk auch gut eigenständig „entsorgt“ haben. Die Episode vom „nackten Jüngling“ bei der Gefangennahme Jesu (Mk 14,51f.) wurde sowohl von Mt wie auch von Lk ausgelassen. Offensichtlich konnten beide Evangelisten in einem solch dramatischen Moment keinen „Nackt-Flitzer“ gebrauchen! Auch das unverständliche Wort vom „Gesalzen werden mit Feuer“ (Mk 9,49) lässt sich als unabhängige Auslassungen gut erklären. Dass Jesus von seinen Verwandten für verrückt gehalten wird (Mk 3,20f), war wohl zu anstößig, die Heilungswunder in Mk 7,32-36; 8,22-26 zu mirakelhaft. 17 Problematisch hingegen bleibt die Tilgung der selbstwachsenden Saat (Mk 4,26-29), der Belehrung über das Gebet (Mk 9,29) oder der Bestätigung des Todes Jesu durch den römischen Zenturio (Mk 15,44). 14 Vgl. F. Neirynck, The Minor Agreements of Matthew and Luke Against Mark with a Cumulative List (BEThL 37), Leuven 1974, 51-195. 15 Vgl. A. Ennulat, Die „Minor Agreements“. Untersuchungen zu einer offenen Frage des synoptischen Problems (WUNT II 62), Tübingen 1994, 3-18. 16 So I. Broer / H.-U. Weidemann, Einleitung, 55; Ebner, Frage, 81 nennt „zwischen 175 und 1000“; Ennulat, Agreements, 417, untersucht tausend Minor Agreements. 17 Siehe weitere Beispiele bei Ebner, Frage, 80 f., und Schnelle, Einleitung, 213. 178 Markus Tiwald Wenn man nur die „harten Fälle“ in Betracht zieht, kann man von etwa 50 wirklich wichtigen Minor Agreements sprechen. 18 Diese stellen allerdings ein ernst zu nehmendes Problem für die Zweiquellentheorie dar. Als mögliche Lösung wird hier gerne die Deuteromarkus-These angeführt: Mt und Lk habe nicht das uns heute bekannte MkEv vorgelegen, sondern eine überarbeitete Fassung, ein „Deuteromarkus“ (also „zweiter Markus“ von δεύτερος, deuteros , „zweiter“; abgekürzt: DtMk). Problematisch ist bei dieser Annahme, dass sie keinerlei Anhalt im handschriftlichen Befund hat - was allerdings auch für die Logienquelle gilt: Weder ein Exemplar von Q noch ein Exemplar von DtMk wurde je gefunden. Grundsätzlich muss das kein Problem darstellen, denn der Großteil antiker Literatur ist uns nicht erhalten geblieben. Der Text der Logienquelle kann aus den über die Mk-Vorlage hinausgehenden übereinstimmenden Passagen aus Mt und Lk rekonstruiert werden. Für DtMk ist dies schwieriger, es stellt sich die Frage welchen Umfang er gehabt hätte. In der maximalen Variante könnte DtMk auch schon die Logienquelle umfasst haben, doch bleibt hier die Frage nach den Q-Mark-Overlaps - Material, das bei Q und Markus in ähnlicher Weise, doch unabhängig bearbeitet vorkommt (das sind die Passagen Mk 1,2; 1,7-8; 1,12-13; 3,22-26.27-29; 4,21.22.24.25; 4,30-32; 6,7-13; 8,11.12; 8,34-35; 8,38; 9,37.40.42.50; 10,10-11; 10,31; 11,22-23; 12,37b-40; 13,9.11.33-37). 19 Diese Perikopen tauchen bei den „Seitenreferenten“ (also Mt und Lk) als Doppelüberlieferung (beide Seitenreferenten haben die Doppeltradition erhalten) oder Dubletten (nur einer der Seitenreferenten hat die Doppelung bewahrt) auf - ein wichtiges Argument zugunsten der Zweiquellentheorie. Hätte bereits DtMk jenes Material enthalten, das die Zweiquellentheorie für Q veranschlagt, wären diese Doppelungen schwer zu erklären. Wollte man dies trotzdem vertreten, hätte wohl auch schon DtMk diese Texte aus einer schriftlichen Quelle eingearbeitet, da aufgrund der mechanistischen Doppelungen nur dies in Betracht kommt. Somit hätte man die Existenz der Logienquelle nicht negiert, sondern deren Benutzung einfach von Mt und Lk auf DtMk verschoben. Schwer zu erklären wäre dann allerdings, warum Mt und Lk zumeist dem ursprünglichen MkEv folgen und das Q-Material so unterschiedlich einbauen (Lk neigt ja dazu, Mk und Q blockweise zu verwenden, Mt hingegen verarbeitet beide Quellen ineinander). Will man mit DtMk rechnen, ist man also gut beraten, diesen nicht allzu weit vom heutigen kanonischen Markustext zu entfernen. Schließlich handelt es sich bei den Minor Agreements ja nur um „kleinere“ Übereinstimmungen! 18 So Ebner, Frage, 81, und Broer / Weidemann, Einleitung, 55. Vgl. auch C. Tuckett, The Minor Agreements and Textual Criticism, in: G. Strecker (Hg.), Minor Agreements. Symposium Göttingen 1991 (GTA 50), Göttingen 1993, 119-142, hier 124: „Thus one cannot count Mas [sc. minor agreements] purely mechanically“. 19 Vgl. Schnelle, Einleitung, 259 f. Wie sicher ist die Q-Hypothese? 179 Eine andere Erklärung der Minor Agreements wird mit der Annahme von Secondary Orality ( Sekundärmündlichkeit ) geboten, einer zur schriftlichen Überlieferung parallel weiterlaufenden mündlichen Tradition. 20 Man muss annehmen, dass die meisten Menschen damals Analphabeten waren 21 und auch des Lesens Kundige zumeist auswendig rezitierten, da Schriften teuer und nur im Besitz von Reichen anzutreffen waren. Daher könnte auch eine kontrastierende mündliche Überlieferung in die schriftliche Form der Texte interferiert haben. Christoph Heil unterstreicht dazu, dass in der Antike auch nach der Verschriftlichung von Texten „nicht […] die wortwörtliche Wiederholung eines kanonischen Textes […], sondern […] die inspirierte, emphatische Aufführung“ im Mittelpunkt stand. 22 Damit verschwimmen die Grenzen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit: „Manche Varianten in der Textüberlieferung gehen dann nicht auf unabsichtliche Abschreibfehler oder absichtliche Redaktionen zurück, sondern auf Varianten in der mündlichen Überlieferung“. 23 Wenn man bedenkt, dass die Fassung des MkEv damals noch nicht kanonisch fixiert war, so lässt sich gut annehmen, dass unterschiedliche orale Varianten in Umlauf waren. Da die Minor Agreements allerdings gleichmäßig über den gesamten Stoff des MkEv verteilt sind, 24 bleibt fraglich, ob Sekundärmündlichkeit alleine eine ausreichende Begründung dieses Phänomens bieten kann. Als eigenständigen Erklärungsversuch zu den Minor Agreements möchte der Autor dieses Beitrags eine Kombinationsthese von Secondary Orality und DtMk vorschlagen, ausgehend vom Wissen um die grundsätzliche Fluidität biblischer Texte im ersten Jahrhundert n. Chr. Bereits Tuckett hat angemerkt, dass zwischen der Text- und der Quellenkritik fließende Grenzen bestehen. 25 Die ältesten Manuskripte der synoptischen Evangelien sind bis auf wenige Ausnahmen erst ins ausgehende zweite Jahrhundert zu datieren. Die für heutige Textkritik greifbare Textüberlieferung setzt also zumeist erst hundert Jahre nach der Erstabfassung 20 Vgl. Heil, Antike Textverarbeitung. Zum Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit bei Homer und im Spruchevangelium Q, in: C. Wessely / A.D. Ornella (Hg.), Religion und Mediengesellschaft. Beiträge zu einem Paradoxon, Innsbruck 2010, 93-104, hier 103 unter Bezug auf ein 1982 entwickeltes Konzept von J.W. Ong, Orality and Literacy. The Technologizing of the World, London 1982, 135-137. Vgl. dazu auch G. Theißen, Die Entstehung des Neuen Testaments als literaturgeschichtliches Problem (SPHKHAW 40), Heidelberg 2 2011, 41-46, der hier „primär- und sekundärmündliche Überlieferung“ unterscheidet. 21 Vgl. dazu die Studie von C. Hezser, Jewish Literacy in Roman Palestine (Texts and Studies in Ancient Judaism 81), Tübingen 2001, passim. 22 Heil, Textverarbeitung, 101. 23 Ebd., 103. 24 Vgl. Ennulat, Agreements, 10, 18; Schnelle, Einführung, 215. 25 Vgl. Tuckett, Agreements, 138. 180 Markus Tiwald der Evangelien ein. 26 Die großen Textformen, zu welchen die uns heute bekannten kanonischen Evangelien kanalisiert und redigiert wurden, entstanden überhaupt erst gegen Ende des dritten Jh.s. 27 Dass die Texte bis zu diesem Zeitraum einer gewissen Fluidität unterlagen, muss mit gutem Grund angenommen werden. 28 Manche der Minor Agreements könnten somit auf die Redaktionsarbeit von frühen Schreibschulen zurückgehen, manche auf mündliche Interferenzen der Secondary Orality . Dringend anzunehmen ist aber auch, dass abweichende schriftliche Versionen des Markusevangeliums zirkulierten. Die Formulierung „Deuteromarkus“ scheint mir dafür jedoch zu hoch gegriffen - legt sie doch nahe, dass diese Version eine bewusste redaktionelle und theologische Verbesserung des ursprünglichen Textes war, welche die vorangehende Version ersetzen wollte. In diesem Fall müsste man tatsächlich erklären, warum sich die heute kanonische Form des MkEv und nicht DtMk erhalten hat. Allerdings ist aufgrund der damaligen Textfluidität sehr wohl mit unterschiedlichen Varianten des MkEv zu rechnen. Wenn man bedenkt, dass selbst der Text der LXX eine „relative Konstanz“ erst „im 2. und 3. Jh. d. chr. Z.“ gefunden hat 29 und es davor „keine zwei identischen oder fast identischen Rollen eines Buches der LXX“ 30 gab, dann ist eine ähnliche 26 Ebd., 127: „The gap of over 100 years between the writing of the autographs and the earliest of our extant manuscripts cannot be overlooked. Further, one must remember that it was precisely in this period that the NT writings were not regarded as sacrosanct or canonical […]“ 27 So Aland / Aland, Text, 60: „Gewiss gab es im Ausgang des dritten bzw. am Beginn des vierten Jahrhunderts (wahrscheinlich ist dafür die 40jährige Friedenszeit nach dem Aufhören der decisch-valerianischen Verfolgung bis zum Beginn der diokletianischen 303 anzunehmen) durchgreifende Bearbeitungen neutestamentlicher Handschriften“. 28 Tuckett, Agreements, 127: „It is therefore inherently very likely that changes were made to the texts in this period“. 29 E. Tov, E., Die griechischen Bibelübersetzungen, in: W. Haase (Hg.), ANRW II 20.1, Berlin 1987, 121-189, hier 133. 30 Ebd., 133. Vgl. auch Ebd., 165: Die LXX-Zitate „im NT, bei Philo von Alexandria, bei Josephus und bei vielen Kirchenvätern“ geben „Rezensionen verschiedenster Art wieder […]“. Während D.-A. Koch in einer 1993 erschienenen Publikation noch behaupten konnte „[…] daß für die vorneutestamentliche Zeit […] mit einem relativ stabilisierten Septuagintatext zu rechnen ist“ (ders., Die Überlieferung und Verwendung der Septuaginta im ersten nachchristlichen Jahrhundert. Aspekte der neueren Septuagintaforschung und deren Bedeutung für die neutestamentliche Exegese, in: ders./ H. Lichtenberger (Hg.), Begegnung zwischen Christentum und Judentum in Antike und Mittelalter. Festschrift für Heinz Schreckenberg, Göttingen 1993, 215-244, hier 229), zerbröselt diese Meinung immer mehr unter dem Druck der neueren Septuagintaforschung: „[…] à l’époque de rédaction des écrits du NT les textes grecs de la Bible circulaient sous plusiers formes textuelles […]. Il n’est donc pas étonnant que nous trouvions dans les écrits du NT des citations de l’AT sous des formes différentes“ (M. Harl, La Septante aux abords de l’ère chrétienne, in: G. Dorival / M. Harl / O. Munnich, La Bible Grecque des Septante, Paris 1988, 269-288, hier 276). Ebenso: M. Tilly, Einführung in die Septuaginta, Darmstadt Wie sicher ist die Q-Hypothese? 181 Bandbreite auch für die Evangelien anzunehmen. Variae lectiones waren somit für das MkEv nicht der Ausnahmefall, sondern die Norm! Dass sich nicht alle abweichenden Lesarten in den uns überlieferten Handschriften erhalten haben, hängt mit den verschlungenen Wegen der Textüberlieferung zusammen, die für die synoptischen Evangelien in signifikantem Maßstab ja erst ab 200 n. Chr. einsetzt und um 300 n. Chr. noch einmal „durchgreifende Bearbeitungen“ 31 erfuhr. So rechnet auch Schnelle mit einem „Deuteromarkus“, allerdings nicht als „neue Evangelienausgabe“, sondern als „eine veränderte Version“. 32 Zu Recht befindet er, dass man von DtMk im Sinne einer neuen Evangelienausgabe nur reden könne, „[…] wenn sich eine deuteromarkinische Theologie nachweisen lässt“. 33 Albert Fuchs und Andreas Ennulat meinten, eine solche ausmachen zu können, 34 doch sollte man hier mit dem Gros der Exegeten zurückhaltend bleiben. 35 Die Erkenntnis der Textfluidität in den ersten drei christlichen Jahrhunderten bietet genügend Erklärungsmöglichkeiten für Minor Agreements. Die von Ennulat genannten Tendenzen zur „‚Ent-Menschlichung‘ Jesu“, also das Tilgen von Gefühlsregungen oder die „Eliminierung von neben Jesus als Subjekt auftretenden Personen, so daß Jesus allein als handelndes Subjekt des Geschehens erscheint“, 36 liegen im Trend dessen, wie man Texte im mündlichen Vortrag oder in schriftlicher Überlieferung pointierter zuspitzen konnte (man denke nur an die Variationsbreite von Witzen, deren Pointe prägnanter gefasst oder auf neue Situationen hin aktualisiert wird). Eine eigenständige und bewusst konzipierte Neuschreibung des MkEv muss damit nicht intendiert sein - solche Änderungen liegen in der Bandbreite damals 2005, 63: „Zudem gab es im Judentum zu keiner Zeit eine zentrale Kontrollinstanz, die in der Lage gewesen wäre, einen autoritativen und normativen griechischen Standardtext gegenüber den alternativen Übersetzungen durchzusetzen“. 31 Aland, Text, 60. So auch Ennulat, Agreements, 430. 32 Schnelle, Einleitung, 216. Ebenso Luz, Matthäus I, 50, der als Lösungsvorschlag zu den Minor Agreements meint: „Vor allem aber sollte man ernst nehmen, daß auch von Mk leicht unterschiedliche Fassungen existiert haben konnten“. Anders Konradt, Matthäus, 20, der gegen eine Mk-Rezension optiert und nur Sekundärmündlichkeit als Lösung für die Minor Agreements veranschlagt: „Auf Zusatzhypothesen zur Zweiquellentheorie wird in diesem Kommentar verzichtet. Dies gilt in Sonderheit für die These, dass Matthäus und Lukas nicht das kanonische Mk vorlag, sondern eine deuteromarkinische Rezension […]. Im Blick auf jene ‚minor agreements‘ […] ist vielmehr zu bedenken, dass Matthäus und Lukas mit dem vom Mk gebotenen Stoff im Regelfall schon vertraut gewesen sein werden, bevor sie das Mk kennenlernten, und die mündliche Tradierung der Jesusüberlieferung mit der Abfassung des Mk keineswegs abriss“. 33 Schnelle, Einleitung, 216. 34 Vgl. Ennulat, Agreements, 422-424; A. Fuchs, Spuren von Deuteromarkus I-V (SNTU NF 1-5), Münster 2004-2007, hier Deuteromarkus IV, 125-129. 35 Auch Schnelle, Einleitung, 216, teilt diese Zurückhaltung. 36 Ennulat, Agreements, 422 f., 424. Ähnliche Kriterien nennt Fuchs, Deuteromarkus IV, 125-129. 182 Markus Tiwald gängiger variae lectiones. Auf dem Hintergrund solcher Überlegungen scheinen die Minor Agreements mit der Zweiquellentheorie versöhnbar - und in jedem Fall weniger komplex als die oben genannte Farrer-Goulder-Hypothese . 3. Die Logienquelle 3.1 Die Logienquelle und der historische Jesus Die Existenz der Logienquelle war zunächst nur ein „Nebenprodukt“ der Zweiquellentheorie: Vorrangiges Ziel war es, die Abhängigkeit der synoptischen Evangelien zu erklären. Sehr bald schon rückte die Logienquelle aber selbst ins Zentrum des Interesses. So legte 1907 Adolf von Harnack (1851-1930) mit „ Sprüche und Reden Jesu. Die zweite Quelle des Matthäus und Lukas“ die erste vollständige Rekonstruktion der Logienquelle vor. In „ Das Wesen des Christentums“ (Auflagen 1900-1929, jeweils um Anmerkungen erweitert) offenbart Harnack das dahinter stehende Anliegen, wenn er schreibt: „Vor sechzig Jahren glaubte David Friedrich Strauß die Geschichtlichkeit auch der drei ersten Evangelien fast in jeglicher Hinsicht aufgelöst zu haben. Es ist der historisch-kritischen Arbeit zweier Generationen gelungen, sie in großem Umfang wiederherzustellen“ (Ebd., 65 f.). Harnack bezieht sich hier auf Strauß’ Publikation „ Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet“ (Band 1: 1835, Band 2: 1836), in der die Historizität der Jesusüberlieferung in Frage gestellt wird. Dem widerspricht Harnack nun, denn „[…] in der dem Matthäus und Lukas gemeinsamen Quelle [sc. der Logienquelle] sowie in zahlreichen Abschnitten des Markus besitzen wir allerdings umfangreiche und wesentlich [sic] zuverlässige Sammlungen von Sprüchen und Taten Jesu“ (Ebd., 66). Auch wenn sich die Sichtweise nicht zu halten vermochte, dass die Logienquelle eine Art Sammlung von Jesusworten im O-Ton sei, 37 so ist doch unumstritten, wie wich- 37 So noch D. Lührmann, Die Logienquelle und die Leben-Jesu-Forschung, in: A. Lindemann (Hg.), The Sayings Source Q and the Historical Jesus (BEThL 158), Leuven 2001, 191-206, hier 205: „Es handelt sich um ein Dokument der ersten Generation, und Q enthält im wesentlichen Worte Jesu, die im Unterschied zu Erzählungen von ihm ein höheres Maß an Authentizität vermitteln“. Zu Recht aber J. Schröter, Die Frage nach dem historischen Jesus und der Charakter historischer Erkenntnis, in: A. Lindemann (Hg.), The Sayings Source and the Historical Jesus (BEThL 158), Leuven 2001, 207-254, hier 245: „… daß es fragwürdig ist in dem auf uns gekommenen Material zwischen der Erzähl- und der Wortüberlieferung in der Weise unterscheiden zu wollen, daß die letztere mehr Anspruch auf Authentizität besitze, weil in ihr tatsächlich von Jesus gesprochene Worte bewahrt worden sein können, wogegen die Schilderung der Szenen von anderer Hand stammen muß“. Wie sicher ist die Q-Hypothese? 183 tig die Logienquelle gemeinsam mit dem MkEv für die Rückfrage nach dem historischen Jesus ist. 38 Dabei ist zu beachten, dass „historische Realität […] stets nur als gedeutete zugänglich“ 39 ist und auch die Logienquelle (ähnlich wie das MkEv) bereits innergemeindliche Fortschreibungen der Jesusfigur vorgenommen hat. So wird Jesus in Q bereits mit dem „Menschensohn“ identifiziert, doch noch nicht mit dem Christustitel bedacht. 40 Damit wird die Logienquelle zu einer Art missing link zwischen dem Jesus der Historie und dem Christus der späteren Kirche. 41 3.2 Die Logienquelle als in sich geschlossener theologischer Entwurf Lange Zeit galt Q nur als eine „Materialsammlung“, sozusagen „ein größeres Notizbuch“, das „[…] jederzeit einen Einschub von neuen Blättern“ zuließ, aber „[…] nicht ein literarisches Dokument“, das eine innere Ordnung besaß. 42 Diese Sichtweise konnte durch rezente narratologische Studien widerlegt werden. Michael Labahn kommt in seiner 2010 publizierten Habilitationsschrift, „ Der Gekommene als Wiederkommender. Die Logienquelle als erzählte Geschichte“ , zum Schluss, dass „das Dokument Q […] mehr als eine zufällige Aneinanderreihung von Sprüchen“ 43 darstellt, wie dies etwa beim Thomasevangelium der Fall ist, sondern „[…] eine innere Struktur - einen plot - hat“. 44 Ähnlich urteilen auch John Kloppenborg Verbin („we can speak of Q as a ‚literary unity‘“) 45 und Udo Schnelle („Die Endfassung der Logienquelle […] lässt eine bewusste literarische Gestaltung erkennen“ und weist eine „bewusste theologische Komposition“ auf) 46 . Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch die Habilitationsschrift von Hildegard Scherer, „Königsvolk und Gotteskinder. Der Entwurf der sozialen Welt im Material der Traditio duplex“ (2016), nämlich, „dass das Material der Traditio du- 38 Dazu Heil, Rekonstruktion, 141: „Das Markusevangelium und Q gelten als wichtigste Zeugnisse für die Rekonstruktion des historischen Jesus. Aber: Markus und Q müssen natürlich kritisch gelesen werden, da auch sie schon die Überlieferung gemäß ihrer je eigenen Theologie redigieren“. Ebenso Ebner, Die Spruchquelle Q, in: ders. / S. Schreiber (Hg.), Einleitung in das Neue Testament (KStTh 6), Stuttgart 2 2013, 86-112, hier 86; Robinson, Der wahre Jesus? Der historische Jesus im Spruchevangelium Q, in: PZB 6 (1997) 1-14, hier 2 f. 39 Schröter, Der „erinnerte“ Jesus. Erinnerung als geschichtshermeneutisches Paradigma der Jesusforschung, in: ders. / C. Jacobi (Hg.), Jesus Handbuch, Tübingen 2017, 112-124, hier 121. 40 Siehe dazu ausführlich, Tiwald, Logienquelle, 151-166. 41 Vgl. dazu die Ausführungen bei Tiwald, Logienquelle, 144-146. 42 Luz, Matthäus I, 48. 43 M. Labahn, Der Gekommene als Wiederkommender. Die Logienquelle als erzählte Geschichte (Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte 32), Leipzig 2010, 574. 44 Labahn, Wiederkommender, 575. 45 Kloppenborg Verbin, Excavating, 135. 46 Schnelle, Einleitung 251. 184 Markus Tiwald plex [sc. der Logienquelle] einen eigenständigen […] in sich sinnvoll vernetzten Entwurf sozialer Identifikationsgrößen bietet […]“. 47 Zuletzt hat auch der Autor dieses Beitrags in seinem Kommentar zur Logienquelle (2019) versucht, den narrativen Gesamtduktus von Q zu erheben. 48 Als Textbasis der rekonstruierten Logienquelle dient dabei die Critical Edition of Q (CEQ) , herausgegeben 2000 von J. M. Robinson, P. Hoffmann, J. S. Kloppenborg und M. Moreland als Ertrag des 1989 gegründeten Internationalen Q-Projekts (IQP). 49 Von dieser Edition wurde „[…] ein insgesamt eher ‚konservativer‘ Q-Text hergestellt, der frei ist von extravaganten Spekulationen“. 50 In dem für Q zu veranschlagenden Material zeichnet sich ein eindeutiger narrativer Duktus, eine durchgehende theologische Vision und ein einheitlicher soziologischer Hintergrund ab, 51 Aspekte, die auch für die Rekonstruktion der Anfänge des Christentums von hoher Bedeutung sind. 3.3 Die Logienquelle als Dokument jüdischer Jesusjünger/ innen In jüngster Zeit mehren sich Stimmen, die für die Logienquelle noch keinen Bruch mit dem Judentum veranschlagen. 52 Damit sind wir in der glücklichen Situation, ein (wenn auch nur rekonstruiertes) Dokument aus der Zeit zu besitzen, da die Jünger Jesu noch Juden waren! Somit ist die Logienquelle nicht nur ein missing link zwischen dem Jesus der Historie und dem Christus der späteren Kirche, sondern auch zwischen dem Frühjudentum und dem beginnenden Christentum. Für die heute intensiv diskutierte Frage nach dem Parting of the Ways (Wann schieden sich die Wege zwischen Judentum und Christentum und wie stark sind unsere jüdischen Wurzeln? ) 53 stellen die Studien zur Logienquelle einen unschätzbaren Wert dar. Aber auch in der Rückfrage nach dem historischen Jesus setzt das Studium der Logienquelle neue Impulse. Gerade an Q wird deutlich, dass weder ein unkritisches Suchen nach dem „wahren Jesus“, der aus den Texten herausgefiltert wird (sozusagen „als nachträgliche Präsentation des zuvor 47 H. Scherer, Königsvolk und Gotteskinder. Der Entwurf der sozialen Welt im Material der Traditio duplex (BBB 180), Göttingen 2016, 546. 48 Vgl. Tiwald, Kommentar zur Logienquelle, Stuttgart 2019, 31-44. 49 Zu IQP und CEQ vgl. Heil, Rekonstruktion, 133-138, und Tiwald, Logienquelle, 35-38. 50 Heil, Rekonstruktion, 137. 51 Zur soziologischen Verortung der Trägergruppe hinter Q vgl. Scherer, Königsvolk, passim, und die von Tiwald edierten Sammelbände Q in Context I. The Separation between the Just and the Unjust in Early Judaism and in the Sayings Source (BBB 172) und Q in Context II. Social Setting and Archeological Background of the Sayings Source (BBB 173) , beide Bonn 2015. 52 Vgl. dazu den Literaturüberblick und die intensive Diskussion bei Tiwald, Logienquelle, 94-117. 53 Siehe dazu Tiwald, Das Frühjudentum und die Anfänge des Christentums. Ein Studienbuch (BWANT 208), Stuttgart 2016, 25-52. Wie sicher ist die Q-Hypothese? 185 erforschten Materials“ 54 ), noch ein ebenfalls a-historisches Außer-Acht-Lassen der Gewachsenheit unserer Traditionen dieser Rückfrage gerecht wird. In der deutschen „Exegeten-Szene“ wird mir von Kollegen bisweilen gesagt: „Auch ich glaube, dass es so etwas wie die Logienquelle gab, aber arbeiten möchte ich mit solchen Hypothesen nicht! “ Diese Zurückhaltung ist verständlich, aber falsch. Ein Abgehen von der Quellenfrage unserer Jesustraditionen hieße auch ein Aufgeben der Geschichtlichkeit unseres Heils - ein Ignorieren der Wachstumsprozesse läuft Gefahr, ein Stück der Menschwerdung Gottes selbst zu verlieren. Auch wenn wir in der Geschichtswissenschaft keine hundertprozentigen Sicherheiten bieten können, ist es doch der Redlichkeit geschuldet, „Quellen, die sich an die Spuren der Vergangenheit gebunden wissen, von solchen Überlieferungen […], die sich als legendarische Einkleidungen der Jesusfigur erweisen […]“ 55 zu scheiden. Ansonsten würden wir vor dem „garstigen breiten Graben“ kapitulieren, den Lessing zwischen dem Jesus der Historie und dem Christus des Glaubens zeichnete. 56 Denn Lessing hatte noch befunden: „[…] zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von nothwendigen [sic] Vernunftswahrheiten nie werden“. 57 Die reine Vernunftreligion benötigt nach Lessing gar keinen historischen Anker , sie muss zeitlos gültig sein. Hier schon zeigt sich ein Grundmerkmal der „Leben-Jesu-Forschung“ des 18. Jh.s - diese war in ihren Anfängen paradoxerweise a-historisch konzipiert. Doch Jesus und die von ihm erzählenden Evangelien sind keine a-historischen Ideen, sondern der Historizität mit all ihren Konsequenzen unterworfen. Natürlich ist man „auf der sicheren Seite“, wenn man rein synchron (also unter Ausblendung der diachronen Entstehungsgeschichte) etwa die Erzählpragmatik eines Lukas oder Matthäus untersuchen will. Aber selbst diese können wir nur voll und ganz würdigen, wenn wir wissen, wie viel die beiden Seitenreferenten ihren Quellen verdanken und wie weit sie diese auch regruppiert und neu ausgerichtet haben. Bleibe ich ausschließlich in der Synchronie stecken, werde ich den Texten als historischen Dokumenten nicht gerecht. Es war ein großes Verdienst in der Folge der Aufklärung, die Evangelien als gewachsene Texte zu verstehen und nicht als wortwörtliches Gottesdiktat. Dieses Stück historisch geerdeten Glaubens sollten wir uns nicht nehmen lassen, sondern unsere Arbeit als Teil des „historischen Verstehens im Sinne deutender Erinnerung“ 58 betrachten. 54 So die berechtigte Kritik bei Schröter, Frage, 224. 55 Schröter, Erinnerung, 121. 56 G.E. Lessing, Ueber den Beweis des Geistes und der Kraft (1777), Edition: Karl Lachmann, dritte Neuauflage durch Franz Muncker (ed.), Gotthold Ephraim Lessings sämtliche Schriften, Bd. 13, Leipzig 1897, 1-8. Digitalisat (abgerufen: 19.05.2019): https: / / ia801409. us.archive.org/ 10/ items/ smtlicheschrif13lessuoft/ smtlicheschrif13lessuoft.pdf. 57 Ebd., 5. 58 Schröter, Frage, 224. Zeitschrift für Neues Testament 22. Jahrgang (2019) Heft 43 / 44 Hermeneutik und Vermittlung Die Zwei-Quellen-Theorie in der Religionspädagogik Hanna Roose 1. Die Zwei-Quellen-Theorie in aktuellen Schulbüchern 1.1 Darstellung Während in der Grundschule einzelne biblische ( Jesus-) Erzählungen und (alttestamentliche) Erzählkomplexe (Mose, Josephsnovelle) vorgesehen sind, thematisiert der schulische Religionsunterricht in Klasse 5 erstmals die Bibel als Ganzes. Aufbau, Entstehung, Sprachen und Kanon werden thematisch. Hier haben Theorien zur Entstehung des Alten und Neuen Testaments ihren Ort. Wie kommt die Zweiquellentheorie in Schulbüchern vor? Ein Blick in einige aktuelle Religionsbücher für die Sekundarstufen I und II ergibt folgenden Befund: 1.1.1 Die Schulbuchreihe „Moment mal! “ Das Schulbuch „Moment mal! “ für die Klassenstufen 5 und 6 1 präsentiert eine Doppelseite zur Frage „Wie ist die Bibel entstanden? “ Auf der ersten Seite findet sich ein Zeitstrahl, auf den in verschiedenen Farben Ereignisse aus der Weltgeschichte (gelb), Ereignisse aus der Geschichte Israels (grün) und biblische 1 B. Husmann / R. Merkel (Hg.), Moment mal! Evangelische Religion 1. Schülerband, Stuttgart u. a. 2013, 94 f. 188 Hanna Roose Bücher, die von diesem Zeitraum erzählen (blau), aufgetragen sind. Auf der zweiten Seite findet sich ein knapper Informationstext zum Neuen Testament: „Im Neuen Testament erfahren wir etwas über das Leben und Wirken Jesu von Nazareth. Die ältesten Bücher im NT sind die Briefe des Paulus, der wenige Jahre nach Jesu Tod Christ wurde. Neben Paulus haben andere Christen alles aufgeschrieben, was sie über Jesus wussten. Das können wir in den vier Evangelien von Matthäus, Markus, Lukas und Johannes nachlesen. Da sich die vier Evangelisten wahrscheinlich nicht begegnet sind, ist es verständlich, dass es zwischen ihren Jesuserzählungen auch Unterschiede gibt. Das älteste Evangelium ist das von Markus. Man geht wegen vieler wörtlicher Übereinstimmungen zwischen Mk und Mt und zwischen Mk und Lk davon aus, dass Matthäus ebenso wie Lukas das Markusevangelium kannte“. 2 Im zugeordneten Aufgabenteil werden die Schülerinnen und Schüler dazu aufgefordert, Mk 6,45-52 mit Mt 14,22-33 zu vergleichen und Gemeinsamkeiten und Unterschiede in einer Tabelle darzustellen. Zu dieser Aufgabe heißt es im Lehrerband: Sie dient dazu, den Schülerinnen und Schülern zu verdeutlichen, „dass es sich bei den Evangelien um historisch gewachsene Texte handelt, die von verschiedenen Glaubenserfahrungen durchaus unterschiedlich erzählen. Auf dieser Grundlage können die Schülerinnen und Schüler in späteren Jahrgangsstufen einen synoptischen Vergleich durchführen“. 3 Vorgesehen ist dieser Schritt für die Klassen 7-9. In dem entsprechenden Band 2 aus der Reihe „Moment mal! “ findet sich ein hermeneutisch ausgerichtetes Kapitel zur Frage: „In welchen Sprachen redet die Bibel? “ 4 Im Rahmen dieses Kapitels thematisiert eine Doppelseite die Frage: „Haben biblische Autoren voneinander abgeschrieben? “ 5 Hier wird die Zwei-Quellen-Theorie folgendermaßen eingeführt: „Aufgrund solcher synoptischer Vergleiche [der Begriff wird vorher erläutert] haben Wissenschaftler im 19. Jahrhundert die bis heute gültige ‚Zwei-Quellen-Theorie‘ entwickelt. Am genauesten ist ein synoptischer Vergleich mit den ‚Original-Texten‘ in Griechisch. Aber auch im Deutschen lässt sich mit einem synoptischen Vergleich die Zwei-Quellen-Theorie nachvollziehen“. 6 2 Ebd., 95. 3 B. Husmann / R. Merkel (Hg.), Moment mal! Evangelische Religion 1, Lehrerband, Stuttgart u. a. 2013, 102. 4 B. Husmann / R. Merkel (Hg.), Moment mal! Evangelische Religion 2. Schülerband, Stuttgart u. a. 2013, 130-149. 5 Ebd., 142-143. 6 Ebd., 142. Die Zwei-Quellen-Theorie in der Religionspädagogik 189 Es folgt eine Grafik zur Zwei-Quellen-Theorie, die mit kariertem Papier grau hinterlegt ist. Zur Erläuterung heißt es: „Die Grafik veranschaulicht, dass Matthäus und Lukas jeweils drei Quellen für ihr Evangelium benutzt haben: Beiden lag das Markusevangelium und eine Quelle vor, die vor allem Aussprüche Jesu enthielt (‚Q‘). Als drittes hatte jeder noch eine ganz eigene Quelle (‚Sondergut‘)“. 7 Eine der zugehörigen Aufgaben lautet: „Gib die Zwei-Quellen-Theorie mit eigenen Worten wieder. Nenne mehrere Gründe, warum es eine Theorie ist“. 8 Laut Lehrerband sollen die Schülerinnen und Schüler die Theorie anhand eines synoptischen Vergleichs zur Erzählung von der Heilung der Schwiegermutter des Petrus (Mk 1,29-30par) überprüfen. Zusätzlich sollen sie Mt 20,29-34 mit Mk 10,46-52 vergleichen. Dazu heißt es: „Aufgabe 4 bringt mit der Erzählung von der ‚Heilung des Blinden von Jericho‘ ein weiteres, einfaches Beispiel für die Stichhaltigkeit dieser klassischen Theorie, da bei Mt im Gegensatz zu Mk plötzlich von zwei Heilungen die Rede ist“. 9 Im „Moment-mal-Kästchen“, in dem das Schulbuch Anregungen zum Weiterdenken gibt, heißt es: „Warum benutzen und lesen wir alle drei synoptischen Evangelien, wenn Markus eindeutig ‚das Original‘ war? “ 10 7 Ebd. 8 Ebd., 143. 9 B. Husmann / R. Merkel (Hg.), Moment mal! Evangelische Religion 2, Lehrerband, Stuttgart u. a. 2014, 142. 10 Husmann / Merkel (Hg.), Moment mal! Evangelische Religion 2. Schülerband, 143. Prof. Dr. Hanna Roose, Studium der Ev. Theologie, Romanistik und Musik an der Universität und Musikhochschule des Saarlandes, 1997 Promotion an der Universität des Saarlandes (Neues Testament), 2002 Habilitation an der Universität Heidelberg (Neues Testament), von 1997-2000 Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, von 2000-2004 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Koblenz-Landau, von 2004-2015 Professorin für Neues Testament und Religionspädagogik an der Universität Lüneburg, seit 2015 Professorin für Praktische Theologie/ Religionspädagogik an der Universität Bochum. 190 Hanna Roose 1.1.2 Das Kursbuch Religion für berufliche Schulen Das Kursbuch Religion für berufliche Schulen behandelt in dem Kapitel „Bibel“ 11 auch den synoptischen Vergleich und die Zwei-Quellen-Theorie. Zur Zwei-Quellen-Theorie 12 findet sich zunächst eine Tabelle, in der vergleichend zusammengestellt ist, wie viele „Markus-Verse“, „Jesus-Sprüche“ (diese Kategorie zielt auf die Logienquelle) und „eigene Verse“ das Matthäus- und das Lukasevangelium umfassen. Anschließend heißt es: „Bibelwissenschaftler erklären diesen Befund mit der Zwei-Quellen-Theorie: Markus ist das älteste Evangelium. Neben dem Markusevangelium entstand eine (verloren gegangene) Sammlung von Worten Jesu, die Logienquelle (Logien = Worte, Sprüche) Q. Matthäus und Lukas haben jeweils Markus als Vorlage benutzt und zusätzlich 235 Verse aus der Quelle Q eingefügt. Da Matthäus und Lukas also zwei Quellen benutzt haben, redet die Bibelwissenschaft von einer Zwei-Quellen-Theorie“. 13 Im dazugehörigen Materialband wird ein Lückentext angeboten, in dem es zur Zwei-Quellentheorie heißt: „Das älteste Evangelium ist das Markusevangelium. Es entstand ca. 70 n. Chr. Neben diesem Evangelium ist wahrscheinlich um die gleiche Zeit eine Sammlung von Jesus-Worten entstanden, die verloren gegangen ist. Diese verloren gegangene Quelle nennt man Logienquelle Q. Das Matthäusevangelium ist ca. 80 n. Chr., das Lukasevangelium ca. 90 n. Chr. entstanden. Matthäus und Lukas haben jeweils 235 Verse aus der Logienquelle Q eingefügt. Da Matthäus und Lukas also zwei Quellen benutzt haben, redet die Bibelwissenschaft von der Zwei-Quellen-Theorie“. 14 1.1.3 Das Kursbuch Religion für die gymnasiale Oberstufe Betrachten wir zum Schluss ein Buch für die Oberstufe. Hier beschäftigt sich eine Doppelseite mit der historisch-kritischen Methode. 15 Der synoptische Vergleich erhält hier einen eigenen Unterpunkt: „Im synoptischen Vergleich werden Abhängigkeiten von Texten innerhalb der Testamente selbst untersucht. Besonders anschaulich wird das für das Neue Testament. 11 W. Eilerts (Hg.), Kursbuch Religion. Berufliche Schulen. Schülerband, Stuttgart / Braunschweig 2013, 165-174. 12 Ebd., 172-173. 13 Ebd., 173. 14 W. Eilerts (Hg.), Kursbuch Religion. Berufliche Schulen, Lehrerband, Stuttgart / Braunschweig 2014, 336-337. 15 H. Rupp / V.-J. Dieterich (Hg.), Kursbuch Religion. Sekundarstufe II, Stuttgart / Braunschweig 2014, 168-169. Die Zwei-Quellen-Theorie in der Religionspädagogik 191 Hier kann die sog. Zweiquellentheorie am besten erklären, dass Matthäus und Lukas erkennbar den groben Erzählplan und die größten Stücke aus Markus entlehnt haben. Sie müssen aber auch Stücke aus einer anderen Quelle (sog. Logienquelle Q) verwendet haben, da Markus diese Stücke nicht führt, sie aber bei Matthäus und Lukas in ganz ähnlichem Wortlaut auftauchen“. 16 1.2 Auswertung der Schulbuchkapitel Die Art der Darstellung der Zwei-Quellen-Theorie weist in den unterschiedlichen Schulbüchern, die für ganz unterschiedliche Schulformen und Klassenstufen konzipiert sind, eine wesentliche Gemeinsamkeit auf: In keinem Schulbuch - auch nicht in dem Buch für die Oberstufe - wird eine alternative Theorie zur Entstehung der synoptischen Evangelien präsentiert. Einzelne Formulierungen deuten immerhin an, dass es andere Theorien gibt. So spricht das Oberstufenbuch davon, dass die Zwei-Quellen-Theorie die Beobachtungen aus dem synoptischen Vergleich „am besten“ 17 erklären könne. Damit ist immerhin impliziert, dass es andere Theorien gibt, die den synoptischen Befund weniger gut erklären. Der Lehrerband zum Band 2 von „Moment mal! “ spricht von der „Stichhaltigkeit“ der Zwei-Quellen-Theorie, die durch einen synoptischen Vergleich nachvollzogen werden soll. 18 Beobachtungen, die diese Stichhaltigkeit in Frage stellen könnten - also etwa „minor agreements“ - werden ausgeblendet. Das Religionsbuch für berufliche Schulen spricht pauschal davon, dass „Bibelwissenschaftler“ (nicht: „viele Bibelwissenschaftler“, „einige Bibelwissenschaftler“ oder „v.a. deutsch-sprachige Bibelwissenschaftler“) den synoptischen Befund mit der Zwei-Quellen-Theorie erklären. 19 Der Charakter der Zwei-Quellen-Theorie als einer Theorie (neben anderen) droht durch das Weglassen möglicher Alternativen verdunkelt zu werden. Dieser Eindruck verschärft sich dort, wo aus der Darstellung nicht klar hervorgeht, dass es sich bei der Logienquelle um eine hypothetische Quelle handelt, die uns so gar nicht vorliegt. Das ist v. a. in der Schulbuchreihe „Moment mal! “ der Fall. Insofern ist es erstaunlich, dass die Schülerinnen und Schüler dazu aufgefordert werden zu begründen, „warum es eine Theorie ist“. 20 Wie sollen sie das begründen - ohne Wissen um alternative Theorien, um die „minor agreements“, um die Hypothetik der Logienquelle? Der Lehrerband zum Kursbuch für berufliche Schulen weist zwar explizit darauf hin, dass die Logienquelle „verloren gegan- 16 Ebd., 168. 17 Ebd. 18 Husmann / Merkel (Hg.), Moment mal! Evangelische Religion 2. Lehrerband, 142. 19 Eilerts (Hg.), Kursbuch Berufliche Schulen. Schülerband, 173. 20 Husmann / Merkel (Hg.), Moment mal! Evangelische Religion 2. Schülerband, 143. 192 Hanna Roose gen“ sei. 21 Er setzt damit aber unhinterfragt voraus, dass es diese Quelle gab. Das Kursbuch für die gymnasiale Oberstufe weist den hypothetischen Charakter der Logienquelle nur sehr versteckt aus, wenn es formuliert: Die Synoptiker „[…] müssen aber auch Stücke aus einer anderen Quelle (sog. Logienquelle Q) verwendet haben, da Markus diese Stücke nicht führt, sie aber bei Matthäus und Lukas in ganz ähnlichem Wortlaut auftauchen“. 22 Genau genommen ist damit impliziert, dass die Logienquelle das Produkt eines indirekten Schlussverfahrens - und nicht eines archäologischen Fundes - darstellt. Ob Schülerinnen und Schüler das aus dieser Formulierung jedoch erschließen können, bleibt fraglich. Obwohl die Schulbücher also durchgehend von der Zwei-Quellen- Theorie sprechen, bleibt der theoretische Charakter in der Darstellung unterbelichtet. Alle Schulbücher thematisieren über den synoptischen Vergleich zumindest in Ansätzen den Begründungszusammenhang der Zwei-Quellen-Theorie. Ihr Entdeckungszusammenhang klingt dagegen kaum an. „Moment mal! “ Bd. 2 ordnet die Entstehung der Zwei-Quellen-Theorie knapp historisch ein: „Aufgrund solcher synoptischer Vergleiche haben Wissenschaftler im 19. Jahrhundert die bis heute gültige ‚Zwei-Quellen-Theorie‘ entwickelt“. 23 Gegen welche anderen Theorien sich die Zwei-Quellen-Theorie damals durchgesetzt hat und dass sie bis heute nicht unumstritten ist - davon erfahren die Schülerinnen und Schüler im Schulbuch nichts. Vollständig ausgeblendet bleibt die Dimension des Rezeptionszusammenhanges. 24 Wie wird der betreffende Inhalt (in unserem Fall: die Zwei-Quellen-Theorie) heute rezipiert? Wo wird er Gegenstand eines (kritischen) Diskurses - und wo nicht? Durch die Ausblendung dieses Zusammenhanges erscheint die Zwei-Quellen-Theorie als geschlossener Informationsbaustein, der so zur Kenntnis zu nehmen, nachzuvollziehen und anzuwenden, nicht aber kritisch zu hinterfragen ist. 2. Die Frage nach der Bildungsrelevanz der Zwei-Quellen-Theorie Was aus neutestamentlicher Sicht ein klares Defizit darstellt, verdient aus religionspädagogischer Sicht weitere Aufmerksamkeit. Denn für die Religionspädagogik kann es nicht darum gehen, den aktuellsten Forschungsergebnissen (nicht 21 Eilerts, Kursbuch berufliche Schulen, Lehrerband, 336-337. 22 Dietrich / Rupp (Hg.), Kursbuch Sekundarstufe II. Schülerband, 168. 23 Husmann / Merkel (Hg.), Moment mal! Evangelische Religion 2. Schülerband, 142. 24 Vgl. dazu G. Büttner / V.-J. Dieterich / H. Roose, Einführung in den Religionsunterricht. Eine kompetenzorientierte Didaktik, Stuttgart 2015, 25-26. Die Zwei-Quellen-Theorie in der Religionspädagogik 193 nur) zur Entstehung des Neuen Testaments gleichsam „hinterher zu hecheln“. Entscheidend ist für sie vielmehr die Frage nach der Bildungsrelevanz eines Themas: „Nicht nur Neutestamentler, auch Alttestamentler und Kirchengeschichtler, Systematiker und Religionswissenschaftler produzieren eine unglaubliche Menge an Wissen. […] Welche fachwissenschaftlichen Erkenntnisse, die an den Universitäten produziert werden, sind aber nun wirklich bildungsrelevant? “ 25 2.1 Die Zwei-Quellen-Theorie als Gegenpart zu ahistorischen (biblizistisch-fundamentalistischen) Hermeneutiken Zur Bildungsrelevanz der Zwei-Quellen-Theorie gibt es im Lehrerband aus der Religionsbuchreihe „Moment mal! “ einen Hinweis, wenn es dort heißt: Sie dient dazu, den Schülerinnen und Schülern zu verdeutlichen, „[…] dass es sich bei den Evangelien um historisch gewachsene Texte handelt, die von verschiedenen Glaubenserfahrungen durchaus unterschiedlich erzählen“. 26 Diese Formulierung ist v. a. deshalb interessant, weil sie das Weglassen alternativer literarkritischer Entstehungsmodelle indirekt didaktisch zu plausibilisieren vermag: Als impliziter Gegenhorizont erweisen sich in der Formulierung nicht etwa alternative literarkritische Theorien zur Entstehung des Neuen Testaments, sondern unkritische Auffassungen, nach denen es sich bei den Evangelien nicht um historisch gewachsene Texte handele. Diese Auffassung wird v. a. in biblizistischen und fundamentalistischen Milieus vertreten. 27 Vor diesem Hintergrund zeigt sich nun die didaktische Funktion des Weglassens alternativer literarkritischer Theorien in den Schulbüchern: Je betonter die Zwei-Quellen-Theorie als eine nach wie vor umstrittene Theorie dargestellt wird, desto weniger hat sie möglicherweise der biblizistisch-fundamentalistischen Auffassung, nach der die biblischen Texte „direkt“ von Gott kommen (und auch so zu deuten sind! ), entgegenzusetzen. Es handelt sich eben „nur“ um eine Theorie, bei der sich noch nicht einmal die Bibelwissenschaftler einig sind! 25 M. Rothgangel im Dialog mit F. Wilk, Wahrnehmung Jesu. Ein neutestamentlich-religionspädagogischer Dialog, in: M. Rothgangel / E. Thaidigsmann (Hg.), Religionspädagogik als Mitte der Theologie? Theologische Disziplinen im Diskurs, Stuttgart 2005, 228-246; 240-241. 26 Husmann / Merkel (Hg.), Moment mal! Evangelische Religion 1, Lehrerband, 102. 27 Vgl. Roose, Wer kommt (nicht) ins Paradies? Anregungen zur Einübung eines nicht-fundamentalistischen Umgangs mit biblischen Texten: Entwurf 1/ 2010, 24-29. M. Weinrich, Christlicher Fundamentalismus, in: J. Kuhn (Hg.), Fundamentalismus. Begriff, Phänomen, Tendenzen, Beurteilung, Bovenden 1996, 262-283. 194 Hanna Roose Die Vorstellung einer ahistorischen Entstehung der Bibel wird nicht explizit thematisiert. Offenbar soll ahistorischen Modellen kein Diskussionsraum eröffnet werden. Diese grundlegende didaktische Entscheidung entspricht einer Festlegung der EKD zu ihren „Grundsätzen“, nach denen das Fach gemäß Art. 7 Abs. 3 Satz 2 GG zu unterrichten ist. Die EKD bestimmt seit 1971 ihre „Grundsätze“ nicht mehr im Sinne positiver Lehrsätze und Dogmen, sondern sie betont den Prozess der Auslegung, den die Lehrkraft in Rückbindung an das biblische Zeugnis von Jesus Christus und seiner Wirkungsgeschichte „[…] auf wissenschaftlicher Grundlage und in Freiheit des Gewissens“ didaktisch verantwortet. 28 Die Anerkennung der historisch-kritischen Methode ist im Zuge dieser Vereinbarung ein hartes Kriterium für die Erteilung der Vocatio. Bei der Alternative „historisches vs. ahistorisches Bibelverständnis“ handelt es sich also auf Seiten der Lehrkräfte nicht um eine Alternative, die sie für sich offen entscheiden könnten. Frag-würdig bleibt allerdings, ob diese Alternative den Schülerinnen und Schülern als eine diskussionswürdige überhaupt eröffnet werden sollte oder nicht. Die potenzielle Bildungsrelevanz der Zwei-Quellen-Theorie liegt also zu einem wesentlichen Teil in ihrem Widerspruch gegen biblizistische und fundamentalistische Haltungen. 29 Dieser Widerspruch lässt sich in drei - miteinander zusammenhängende - Richtungen entfalten: (1) Die Zwei-Quellen-Theorie betont exemplarisch die Zeitgebundenheit biblischer Texte. (2) Die Zwei-Quellen-Theorie betont exemplarisch die Mehrstimmigkeit biblischer Texte. (3) Die Zwei-Quellen-Theorie widerspricht exemplarisch einer Lesart biblischer Texte als historischer Protokolle. Zu (1): Die Zwei-Quellen-Theorie veranschaulicht das historische Gewordensein biblischer Texte. Biblische Texte sind je für sich zeitgebunden. Besonders deutlich wird dieser Gedanke im Kursbuch Religion für berufliche Schulen, das die synoptischen Evangelien und die Logienquelle (! ) mit Angabe von runden 28 Vom Rat der EKD in seiner Sitzung am 7./ 8. Juli 1971 zustimmend entgegengenommen. Kirchenamt der EKD (Hg.), Denkschriften der EKD 4/ 1: Bildung und Erziehung, Gütersloh 1987, 56-63; hier 60-61. Vgl. B. Schröder, Konfessionalität und kooperativer Religionsunterricht aus evangelischer Perspektive, in: J. Woppowa u.a. (Hg.), Kooperativer Religionsunterricht, Stuttgart 2017, 26-44. 29 Roose, Paradies, 24-29. Die Zwei-Quellen-Theorie in der Religionspädagogik 195 Jahreszahlen historisch einordnet. In didaktischer Hinsicht hat die Einsicht in die historische Gebundenheit biblischer Texte u. a. erhebliche ethische Relevanz. Denn sie warnt davor, unreflektiert zeitlose ethische Maßstäbe aus den biblischen Texten herausfiltern zu wollen. Insofern sind Ent stehen und Ver stehen von biblischen Texten auch aus didaktischer Sicht nicht vollständig voneinander zu entkoppeln. 30 Zu (2): Die Mehrstimmigkeit biblischer Texte kann den biblischen Kanon seinen Leserinnen und Lesern als vielstimmiges Gesprächsangebot vor Augen stellen, das differenziert wahrgenommen werden will und sich einer pauschalen Zustimmung oder Ablehnung widersetzt. Das kommt heutigen Schülerinnen und Schülern, die sich mehrheitlich nicht als „christlich“ oder „nicht-christlich“, sondern eher als „Suchende“ begreifen, durchaus entgegen. 31 Zu (3): Die Vielfalt biblischer Stimmen, Quellen und Traditionen kann theologischen Laien auch klar machen, dass wir es bei biblischen Texten nicht mit „objektiven“ historischen Tatsachenbehauptungen zu tun haben, dass biblische Texte also nicht als historische Protokolle zu lesen sind. Diese Tatsache ist bereits mit Blick auf die Grundschule relevant. Dazu ein Beispiel aus der Schulpraxis: Zu Weihnachten klagen Grundschullehrkräfte nicht selten darüber, dass sie in der dritten und vierten Klasse nicht recht wüssten, was sie noch machen sollten, weil die Weihnachtsgeschichte ja bereits in der ersten und zweiten Klasse Thema gewesen sei. Oft weichen sie dann auf „Weihnachten in anderen Ländern“ aus. Mein Vorschlag, in den höheren Grundschulklassen die lukanische und die matthäische Geburtserzählung als zwei unterschiedliche perspektivische Auslegungen, als „narrative Christologie“ 32 zu thematisieren, wurde als zu anspruchsvoll zurückgewiesen. Aufschlussreich ist hier, welches Problem die Lehrkräfte antizipieren: Die Kinder könnten fragen, „was stimmt“. In dieser Befürchtung zeigt sich deutlich die implizite Engführung der Wahrheitsfrage biblischer Texte auf den Grad ihrer Übereinstimmung mit dem, was „tatsächlich“ passiert ist. Eine zentrale bibeldidaktische Aufgabe besteht darin, diese hermeneutische Engführung in Richtung eines perspektivischen Wahrheitsverständnisses zu erweitern. Christian Bühler macht für den didaktischen Argumentationszusammenhang ein erfahrungsbezogenes Wahrheitsverständnis stark: 30 Gegen T. Nicklas, Neutestamentliche Texte als Teil des Buches „Bibel“ lesen: Rhs 48 (2005), 151-159; 157. 31 H. Roose, Den biblischen Kanon produktiv zur Geltung bringen: G. Büttner / V. Elsenbast / Dies. (Hg.), Zwischen Kanon und Lehrplan (Schriften aus dem Comenius-Institut 20), Münster 2009, 38-52; 41-42. 32 C. Böttrich, Themen des Neuen Testaments in der Grundschule. Ein Arbeitsbuch für Religionslehrerinnen und Religionslehrer, Stuttgart 2001, 35-51. 196 Hanna Roose „Wenn der Bezug eines biblischen Textes auf Erfahrung ‚wirklich‘ gelingt, dann zeigt sich seine ‚Wahrheit‘: seine Aussagerichtung, sein Sinn, seine Weisung. Unter dieser Voraussetzung ist jeder biblische Text ‚wahr‘. Schöpfung etwa als Antwort auf die Frage: Worin besteht der tragende Grund unseres Lebens? Gibt es ein Leben vor dem Tod? “ 33 Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen ist es als positiv zu werten, dass die oben angeführten Schulbücher für die Sekundarstufenbereiche I und II im Zusammenhang mit der Zwei-Quellen-Theorie auch Fragestellungen aus der Redaktionskritik thematisieren. Im Lehrerband zu „Moment mal! “ Bd. 1 wird das ausdrücklich formuliert. Die Schülerinnen und Schüler sollen verstehen, „dass es sich bei den Evangelien um historisch gewachsene Texte handelt, die von verschiedenen Glaubenserfahrungen durchaus unterschiedlich erzählen. Auf dieser Grundlage können die Schülerinnen und Schüler in späteren Jahrgangsstufen einen synoptischen Vergleich durchführen“. 34 Im „Moment-mal-Kästchen“ aus dem Schülerband für die 7.-9. Klasse werden die redaktionskritische Frage und die damit zusammenhängende hermeneutische Problemstellung direkt adressiert, wenn es heißt: „Warum benutzen und lesen wir alle drei synoptischen Evangelien, wenn Markus eindeutig ‚das Original‘ war? “ 35 Was aus neutestamentlicher Sicht problematisch erscheint, die Aussage, nach der das Markusevangelium „eindeutig ‚das Original‘ war“, wird in seiner didaktischen Funktion plausibel: Jenseits der Frage nach alternativen literarkritischen Entstehungsmodellen, jenseits der Frage, inwiefern überhaupt sinnvoll vom Markusevangelium als dem „Original“ gesprochen werden kann, geht es um die Einsicht, dass die Evangelien Gotteswort in Menschenwort sind und zeitlich gebunden je unterschiedlich von Jesus Christus erzählen. Der Religionsunterricht bewegt sich hier allerdings auf einem schmalen Grat. Denn die historisch-kritische Exegese - samt der Zweiquellentheorie - kann zwar ahistorischen Hermeneutiken etwas entgegensetzen, sie kann aber auch ungewollt zum Relevanzverlust der Bibel beitragen. Gerade gegenüber Schülerinnen und Schülern, die der Bibel kaum etwas abgewinnen können, kann die Betonung des hypothetischen Charakters der Zwei-Quellen-Theorie kontraproduktiv wirken. Was Bernd Schröder für die historisch-kritische Methode generell feststellt, gilt auch für die Zwei-Quellen-Theorie im Besonderen: 33 C. Bühler, Ist die Bibel wahr? In: G. Lämmermann / C. Morgenthaler / K. Schori u. a. (Hg.), Bibeldidaktik in der Postmoderne, Festschrift für K. Wegenast, Stuttgart 1999, 44-49; hier 48. 34 Husmann / Merkel (Hg.), Moment mal! Evangelische Religion 1, Lehrerband, 102. 35 Husmann / Merkel, Moment mal! Evangelische Religion 2. Schülerband, 143. Die Zwei-Quellen-Theorie in der Religionspädagogik 197 „Richtete sich die Kraft dieser Methode über Jahrhunderte gegen ein dogmatisch überformtes, ahistorisches Verstehen der Bibel und vermochte sie dadurch, dass sie die Wahrnehmung von Spannungen innerhalb der Texte, für eigenartige Sprachformen und für die bewusst theologische Gestaltung von Texten und Kanon schärfte, für viele Zeitgenossen befreiend zu wirken, läuft dieser kritische Gestus angesichts einer veränderten Adressatenschaft Gefahr, eine ohnehin vorhandene Haltung der ideologiekritischen Skepsis und der Erwartungslosigkeit gegenüber dem ‚religiösen‘ Potential biblischer Texte lediglich zu unterstreichen“. 36 Die Frage aus dem Schulbuch „Moment mal! “ für die 7./ 8. Klasse greift diese Problematik auf, wenn sie die Zwei-Quellen-Theorie unter die Überschrift stellt: „Haben biblische Autoren voneinander abgeschrieben? “ 37 Schülerinnen und Schüler dürfen in schulischen Prüfungssituationen nicht voneinander abschreiben. In wissenschaftlichen Kontexten gilt das stillschweigende Abschreiben als wertlose Fälschung, als Plagiat. Diese Zusammenhänge sind älteren Schülerinnen und Schülern durchaus geläufig. Insofern werfen literarkritische Modelle zur Entstehung der synoptischen Evangelien spezifische hermeneutische Fragen auf: Was sind „abgeschriebene“ Texte wert? Wie verhalten sich „Original“ und „Abschrift“ zueinander? Die Bibeldidaktik steht also vor der Aufgabe, die Zwei-Quellen-Theorie zwischen den „Abgründen“ von ahistorischem Verstehen einerseits und einer Relevanzlosigkeit biblischer Texte andererseits hermeneutisch im Sinne einer perspektivischen Deutung der Wirklichkeit 38 stark zu machen. Dieses Bemühen ist in den dargestellten Schulbüchern deutlich erkennbar, es ist aber dadurch „erkauft“, dass alternative literarkritische Entstehungstheorien verschwiegen werden. 2.2 „Pädagogische Kosten“: Die Zwei-Quellen-Theorie als (unhinterfragter) Wissensbaustein Die „pädagogischen Kosten“ für diese Vereindeutigung sind hoch: Wenn Theorien als „fertige“ Informationsbausteine präsentiert werden, kann das die Neugier der Schülerinnen und Schüler dämpfen. Das Ausblenden des Entdeckungszusammenhangs von Theorien ist ein Phänomen, das nicht nur Schulbücher des Religionsunterrichts betrifft. Der Pädagoge Horst Rumpf kritisiert in einem 36 B. Schröder, Hintergrundwissen. Historisch-kritische Methode und Praktische Theologie, ZThK 114 (2017), 210-242; 241. 37 Husmann / Merkel (Hg.), Moment mal! Evangelische Religion 2. Schülerband, 142-143. 38 Vgl. P. Wick, Exegese und Realität. Über das Wirklichkeitsverständnis eines multimethodischen Ansatzes, in: G. Gelardini (Hg.), Festschrift für E. Stegemann, Stuttgart 2005, 267-281. historischen Rückblick auf Schulbücher des Physikunterrichts, dass es [das Schulbuch] „[…] in einer Art Intentionsumkehr, leicht zu einem Medium der Dämpfung von neugierigen Vergleichen zwischen eigenen Erfahrungen und von der Wissenschaft gefundenen, infolgedessen für wahr zu haltenden Lehrsätzen“ wird. „Das Subjekt - in Konfrontation mit Wissensergebnissen - lernt, seine Neugier stillzustellen, um zur Kenntnis zu nehmen. Es ist das eine Grundschwierigkeit jeden wissenschaftsorientierten Unterrichts, auch in den sogenannten Geistes- und Sozialwissenschaften, die, beschleunigt, auf die Spur der von dieser Wissenschaft für recht befundenen Ergebnisse gebracht werden sollen“. 39 Hier wird ein zweites didaktisches Problem erkennbar: Das rasante Anwachsen wissenschaftlicher Erkenntnisse erfordert in zunehmendem Maß eine Beschleunigung der Wissensaneignung in schulischen Lernprozessen, um (zumindest im gymnasialen Kontext) den Anschluss an den wissenschaftlichen Diskurs zu ermöglichen. Diese Zielsetzung tritt in Spannung zu einem fundamentalen Grundsatz des Beutelsbacher Konsenses. Der Beutelsbacher Konsens - eine Vereinbarung aus der Politikdidaktik, der sich auch die Religionsdidaktik verpflichtet fühlt - postuliert: „Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen“. 40 Darstellungen der Zwei-Quellen-Theorie in aktuellen Schulbüchern lösen diesen Anspruch nicht ein. Weder stellen sie alternative literarkritische Entstehungstheorien vor, noch thematisieren sie explizit die biblizistisch-fundamentalistische Vorstellung einer ahistorischen göttlichen Herkunft der Bibel als einer diskussionswürdigen Alternative zu literarkritischen Modellen - egal welcher Couleur. Diese Vorstellung taucht nur indirekt als Gegenhorizont im Lehrerband auf. Der schulische (Religions-) Unterricht kann nicht alles, was in der Wissenschaft kontrovers ist, im Unterricht kontrovers darstellen. Er muss didaktisch begründet Entscheidungen treffen, die möglichst transparent darzulegen sind. Im Blick auf die Zwei-Quellen-Theorie fällt diese Entscheidung mit der Gewichtung zweier didaktischer Anliegen, die in Spannung zueinander stehen: einerseits dem Anliegen, ahistorischen Vorverständnissen zur Bibel entgegenzuwirken, andererseits dem Anliegen, den theoretischen Status der Zwei-Quellen-Theorie nicht auszublenden. 39 H. Rumpf, Die übergangene Sinnlichkeit. Drei Kapitel über die Schule, München 2 1988, 120-121. 40 H. Schneider, Der Beutelsbacher Konsens, in: W.W. Mickel (Hg.), Handbuch zur politischen Bildung, Bonn 1999, 173-174. Vgl. für den Religionsunterricht: G. Büttner / V.-J. Dieterich, Religion als Unterricht. Ein Kompendium, Göttingen 2004, 178-179. 198 Hanna Roose Zeitschrift für Neues Testament 22. Jahrgang (2019) Heft 43 / 44 Buchreport Manuel Vogel Mogens Müller, Heike Omerzu (Hrsg.) Gospel interpretation and the Q-Hypothesis London u.a.: Bloomsbury T&T Clark 2018 (Library of New Testament Studies 573) X, 302 S., gebunden ISBN 978-0-5676-7004-5 200 Buchreport Der hier zu besprechende Sammelband geht auf eine Tagung im dänischen Roskilde im Jahr 2015 zurück, die von Heike Omerzu und Mogens Müller veranstaltet wurde. Der Umfang der Besprechung bedarf eines Wortes der Erklärung: Er ergab sich aus dem Wunsch des Rezensenten, der Bedeutung des Bandes für den aktuellen Forschungsstand dadurch Rechnung zu tragen, dass die einzelnen Beiträge in einer Ausführlichkeit zur Kenntnis genommen werden können, die auch Nicht-Spezialisten die Möglichkeit eröffnet, die darin dokumentierten Fortschritte und Positionen so gründlich selbst nachzuvollziehen, dass der Ertrag der Lektüre des Buchreports fast schon an den der Lektüre des Buches selbst heranreicht, ohne sie freilich vollgültig zu ersetzen. Der Rezensent hat sich bis auf einige wenige Stellen mit eigenen Meinungsäußerungen weitestgehend zurückgehalten und statt dessen alle Mühe darauf verwendet, den Leserinnen und Lesern der ZNT den im zu besprechenden Band erreichten Diskussionsstand möglichst gründlich zu referieren, und zwar in der Erwartung, dass die Mühe der Lektüre dieses Buchreports dadurch bei weitem aufgewogen wird, dass auf diese Weise auch Positionen zur Sprache kommen, die im Heft sonst keinen oder nur wenig Raum haben. John S. Kloppenborg bietet in seinem Beitrag „Conceptual Stakes in the Synoptic Problem“ (13-42) eine eingehende forschungsgeschichtliche und methodologische Standortbestimmung der gegenwärtigen Forschung zur synoptischen Frage. Einleitend stellt er im Blick auf die gegenwärtig meistdiskutierten Modelle (Zweiquellen-Hypothese, Farrer-Hypothese und Neo-Griesbach-Hypothese - mit der Markion-Priorität befasst er sich freilich nicht -) fest: „I am not of the view that definitive arguments for or against any of these hypotheses or variations of these are in fact possible“ (13), und er formuliert abschließend als ein Anliegen seines Beitrags, „to inject a degree of humility into our musing about the S[ynoptic] P[roblem] and to caution against the hybris that announces that certain hypotheses have been ,discredited‘ when in fact the particular complexion of data that is available hardly admits the language of deductive testing and disproof “. Allerdings gibt es auch kein „freefor-all of groundless speculation“ (42). Vielmehr ist eine Methodenreflexion zur Synoptischen Frage („Methodological Issues“, 14-29) umso dringender nötig. Unstrittig ist für Kloppenborg, dass die synoptischen Evangelien ein „layered text“ sind, „in which prior construals are engaged and submerged, eirenically or otherwise, in a new configuration of textual elements“. Zwar sind synchrone Zugänge wertvoll, doch seien für das Textverständnis diejenigen Stellen wichtig, „at which predecessor materials are manipulated, suppressed, enhanced, or qualified“. Methodologisch geht es zunächst um die Frage der „Primary Data for the Synoptic Problem“ (14). Zwar werden schon lange ,außerkanonische‘ Buchreport 201 bzw. ,apokryphe‘ Texte, allen voran das Thomasevangelium, auf ihre Beziehungen zu den synoptischen Stoffen hin befragt, aber „it is one thing to argue that some of the sayings of Thomas are early and show no dependence on the Synoptics“, jedoch „quite another matter to integrate“ - wie von Francis Watson gefordert - „Thomas into a stemma of Synoptic relationship and to posit an early version of Thomas as one of the sources of the Synoptics“ (18). Unabhängig vom Umfang der Primärdaten der Synoptischen Frage trifft das Ansinnen einer neutralen Beschreibung dieser Daten auf die doppelte Schwierigkeit (a) der textgeschichtlichen Fluidität, die sich in den von Ausgabe zu Ausgabe des Nestle-Aland immerzu veränderten textkritischen Apparaten niederschlägt, und (b) der Unmöglichkeit einer neutralen synoptischen Präsentation des Synoptischen Stoffs, wie an erheblichen Unterschieden in Text, paralleler Perikopenanordnung und textkritischem Apparat der in Gebrauch befindlichen Synopsen deutlich wird (18-20). Eine weitere Schwierigkeit besteht nach Kloppenborg darin, dass etwa bei der Analyse der Übereinstimmung von Mt und Lk gegen die Markus-Akoluthie mehrere „logically possible configurations“ (20) möglich sind und dass auch bei anderen synoptischen Streitfragen kein logisch zwingendes Schlussverfahren zur Verfügung steht. So wurde gegen Michael Goulders Nachweis matthäischen Vokabulars bei Lk, mit dem die Unabhängigkeit des Lk von Mt zwingend widerlegt werden sollte, eingewendet, dass es umgekehrt bei Mt lukanisches Vokabular gebe (20 f.). Der Anspruch, eine gegenteilige Hypothese zwingend „widerlegt“ oder „falsifiziert“ zu haben, sei „at best rhetorical, attempting to manufacture unearned credibility for one’s own hypothesis, and at worst simply fallacious“. Ob etwas „plausibel“ ist, hänge von den jeweiligen „canons of plausibility“ ab, die von Forschungsposition zu Forschungsposition differieren. Methodologisch sei angesichts dessen geboten „to discipline one’s own ingenuity in generating possible editorial scenarios“. Ein s.E. verbreiteter Fehlschluss, den Kloppenborg mit „Renaming the Problem“ bezeichnet, liege etwa dann vor, wenn Goulder die Verteilung matthäischen Materials bei Lk mit der lk „block policy“ (blockweise abwechselnde Verwendung von Mk und Mt als Primärquelle) und seiner weiteren „policy“, mit Mt im Kontext eines Q-Logions niemals übereinzustimmen, erklärt. „This, however, is not an explanation; it only renames the problem. Luke’s disagreement with Matthew is converted into a set of aesthetic preferences of Luke with the help of Goulder’s assumption of Luke’s dependence of Matthew“ (22). Zu sagen „he did so, because he wanted to“ sei kein Argument (23 Anm. 35). Dagegen wird eine Erklärung dann „persuasive if not compelling“, wenn sie sich auf ein „coherent set of data“ bzw. auf eine an anderen Texten aufweisbare Regelhaftigkeit berufen kann. Kloppenborg unterscheidet hier „[c]oherence arguments“ (24), d. h. solche, die auf einem ganzen Netz von Transformationen innerhalb eines Dokuments beruhen - wobei auch 202 Buchreport diese nicht selten einander ausschließende Theorien unterstützen (25) - und „[e]xternally buttressed arguments“, die editorische Prinzipien, die für die synoptischen Evangelien angenommen werden, mit denen anderer Textcorpora vergleichen, so etwa Thomas Longstaff ( Evidence of Conflation of Mark? A Study in the Synoptic Problem , 1977), der auf diese Weise die für die Neo-Griesbach-Hypothese entscheidenden mt-lk-Textverschmelzungen („conflations“) durch Markus plausibilisieren will (25). Freilich könne der Vergleich nur die (auch von der Zweiquellen- und der Farrer-Hypothese angenommene) Verbindung von Textblöcken erweisen, nicht die für Mk angenommene „microconflation“ unterhalb der Satzebene (26). Einen der „more promising ways to ,normalize‘ our imaginations about the kinds of editorial operations that are plausible and those that are not“ (27), findet Kloppenborg in der Orientierung an Stilgesetzen antiker Progymnasmata und anderer zeitgenössischer Rhetorik-Handbücher, etwa Klarheit ( perspicuitas ) und textinterne und -pragmatische Stimmigkeit ( aptum ). So sei immerhin gewährleistet, dass antike rhetorische Konventionen maßgeblich sind anstatt subjektiver moderner Geschmacksurteile. Im zweiten Teil seines Beitrages geht es Kloppenborg um Fragestellungen einer s.E. noch ausstehenden „Critical History of the Synoptic Problem” (29-42), die wissenssoziologisch die „conceptual frameworks“ freilegt, die die einen Modelle favorisieren, andere aber als unplausibel ausgrenzen (30). Wie hinreichend bekannt ist, ging es bei der synoptischen Frage nie nur um literarische, sondern auch um theologische und historische Probleme. Am Anfang stand Lessings „Urevangelium“ als direkte Antwort auf Reimarus’ Angriff auf die Glaubwürdigkeit der Evangelien (30 f.). Erst im Laufe des 19. Jh.s ging es in zunehmender Verfeinerung auch um literarische Fragen, doch auch hier dienten hypothetische literarische Quellen dazu „as much to exorcize the ghost of Reimarus as they did to solve specific textual problems“ (31). Erst Holtzmann ging es um die Synoptische Frage primär als ein Problem der Textgenese der Synoptiker, doch war der Siegeszug der von ihm erarbeiteten Zweiquellen-Hypothese insofern dezidiert theologiebildend, als er für die Dauer von vier Jahrzehnten die Grundlage für eine lange Reihe liberaler Leben-Jesu-Darstellungen bildete, die das Markusevangelium psychologisierend der romantischen „großen Persönlichkeit“ anverwandelten, die im Laufe erlittener Krisen ihren moralisch exzellenten Charakter entfaltete (32). Freilich: Die theologischen Implikationen der im Laufe des 19. Jh.s vorgetragenen Antworten auf die Synoptische Frage entwerten nicht ihren literarischen Ertrag (33)! Gegenwärtig stehen, so Kloppenborg, v. a. die Fragen (a) nach dem ,historischen Jesus‘ und (b) der „conceptual landscape“ der frühen Jesusbewegung zur Debatte (33). Buchreport 203 (a) In die Vorgeschichte hierzu gehört die Erschütterung des Vertrauens in das MkEv durch Wrede, die ersatzweise Favorisierung der Logienquelle durch Harnack und die damit eröffnete lange Hochphase der Q-Forschung (33 f.). Wenn freilich Robinson das älteste Stratum von Q für das zuverlässigste hält, werden, so der Q-Forscher Kloppenborg, unzulässigerweise Kompositionsmit Traditionsgeschichte vermischt und das editorische Verfahren der Q-Tradenten fälschlich für die Unterscheidung zwischen authentischem und nichtauthentischem Jesusgut in Anspruch genommen (34). Dagegen tritt für Michael Goulder wieder stärker das MkEv in den Vordergrund, hinter dem er altes „Peter-James-John material“ vermutet. Mt und Lk seien dagegen keine Sammler von (zusätzlicher) Tradition, sondern jeweils Urheber einer eigenen „Komposition“ (composing). Damit reduziere sich, so Kloppenborg, „the volume of material upon which to construct a portrait of the historical Jesus […] to almost nothing“. Anders wiederum bei William Farmer als Vertreter der Neo-Griesbach-Hypothese, der sich ganz auf das MtEv stützt und dem s.E. von Mt abhängigen LkEv keinen Zugang zu nicht- oder gar vormt. Material zutraut (34 f.). Die erheblichen Konsequenzen des Goulder’schen wie des Farmer’schen Modells werden beispielhaft anhand der aus Sicht der Zweiquellentheorie für genuin jesuanisch gehaltenen Seligpreisung der Armen in Lk 6,20b deutlich, die dann eben für die Frage nach dem historischen Jesus unversehens ausscheidet (35). Für Goulder ist die Option für die Armen überhaupt erst eine lk. Bildung. Jesus und seine Jünger seien keineswegs arm gewesen, hatten vielmehr „respectable middle-class backgrounds“! Für eine gewisse Entkoppelung von synoptischer Frage und historischer Jesusforschung hat sich William E. Arnal in einem Aufsatz von 2008 („The Synoptic Problem and the Historical Jesus“) ausgesprochen, mit dem Argument, dass „editorial choices“ in Q, Mk, Mt oder Lk nicht notwendigerweise Schlüsse auf Alter oder Authentizität des verwendeten Materials zulassen, schlicht aber auch deshalb, weil „there are […] too many unknowns in the S[ynoptic] P[roblem]“ (36). Auch die Ansicht Marc Goodacres ist hier zu nennen, der als Vertreter der Farrer-Hypothese gleichwohl die Möglichkeit zulässt, Lk könnte von Fall zu Fall Zugang zu „orally transmitted material“ gehabt haben, „that might be more primitve than Matthew’s versions“. (b) Im Blick auf die „[c]onceptual [l]andscape of the [e]arly Jesus [m]ovement” (38) hängt an der Q-Hypothese die Annahme eines Dokuments „that is far less invested in christological apologetics and in advancing an explantation of Jesus’ death (which flows from christological apologetics) than any of the intracanonical gospels“. Wird die Q-Hypothese aufgegeben, entfällt eine anschauliche Ausprägung frühchristlicher Pluralität. Ebenso entfällt die Unterscheidung des in Q greifbaren ländlichen Settings innerhalb des jüdischen Milieus der galiläischen Dörfer einerseits, in dem Beschneidung, Sabbat und Speisegebote 204 Buchreport noch unproblematisch waren, vom späteren städtischen Umfeld andererseits, das bereits Spuren der Annäherung an Nichtjuden erkennen lässt, die Fragen der Toraobservanz aufwirft (38-40). Bei Zugrundelegung der Farrer- oder der Neo-Griesbach-Hypothese wird diese Unterscheidung unscharf und im Blick auf die Christologie entsteht dann „a different impression: that christology was at the heart of the Jesus movement from its very beginning“ (40). Im Blick auf die intellektuellen Milieus, die hinter der synoptischen Tradition in den einzelnen Stadien ihrer Genese stehen, sieht Kloppenborg noch erheblichen Forschungsbedarf. Als vielversprechendes Beispiel nennt er Giovanni Bazzana, „Kingdom of Bureaucracy: The Political Theology of Village Scribes in the Sayings Gospel Q“ (2014), der das ägyptische Milieu dörflicher Schreiber als komparativen Kontext verwendet, um zu begründeten Hypothesen zum sozialen Umfeld der Logienquelle - „if such a thing ever existed“ (41) - zu gelangen. Keine synoptische Hypothese ist, wie Kloppenborg abschließend feststellt, „innocent of ideological commitments. The most comfortable of those hypotheses are likely the least innocent“ (42). Stefan Alkier, „Sad Sources. Observations from the History of Theology on the Origins and Contours of the Synoptic Problem“ (43-77), unternimmt eine weit gespannte theologiegschichtliche Einodnung der Synoptischen Frage. Der Beitrag im vorliegenden Band der ZNT fußt auf diesem Text. Seine Bedeutung liegt m. E. darin, dass er die Unterscheidung „vorkritischer“ Epochen der Bibelauslegung von der „kritischen“ ebenso relativiert wie diejenige „wissenschaftlicher“ und „unwissenschaftlicher“ oder „historischer“ und „unhistorischer“ Herangehensweisen, u. zw. nicht mit dem Ziel einer Herabwertung „kritischer“, „wissenschaftlicher“ und „historischer“ Exegese, sondern umgekehrt in Würdigung der philologischen, methodologischen, historischen und literarischen Leistungen neutestamentlicher Exegese nicht erst seit Semler oder Reimarus, sondern bereits seit der Alten Kirche. Andererseits wird freilich sehr deutlich, dass auch die historisch-kritische Epoche der Erforschung des Neuen Testaments sich an keiner Stelle von theologischen Vorannahmen und Interessen ihrer Zeit gelöst hat, sondern stets mit ihren theologie- und kirchenwie auch handfesten zeitgeschichtlichen Kontexten eng verbunden war. Dies ist deshalb wichtig, weil die Exegese des Neuen Testaments zumal im akademischen Lehrbetrieb ansonsten in der Gefahr steht, im Habitus interesselos-objektiver Wissenschaftlichkeit wahrgenommen zu werden, der sich ein glaubensgebundener Zugang zu den Texten stets nach- und unterzuordnen hat und sich von einer angeblich „objektiven“ Methode sagen lassen muss, welche Interpretationen „historisch statthaft“ sind und welche nicht. Vielmehr verhält es sich, wie Alkier in einem konzentrierten Durchgang durch die Forschungs- Buchreport 205 geschichte zeigt, so, dass historisch-kritische Exegese ausnahmslos auf theologischen Vorannahmen beruht. Diese sind nicht unstatthaft und schmälern nicht den jeweiligen wissenschaftlichen Ertrag, müssen aber offengelegt werden, weil wissenschaftliche Objektivitätsprätentionen immer einschüchternd wirken. Im Blick auf die Alte Kirche ist festzustellen, dass bereits bei Papias (46 f.) insofern ein „kritischer“ Umgang mit den Evangelien zu verzeichnen ist, als hier bereits von einem „sekundären“ Arrangement der synoptischen Stoffe entgegen tatsächlicher Ereignisfolgen und von der Vermitteltheit der Jesusüberlieferung - der Markusevangelist war selbst kein Augenzeuge - ausgegangen wurde. Freilich: Als Mitarbeiter des Apostels und Augenzeugen Petrus ist Markus für Papias gleichwohl als Garant zuverlässiger Überlieferung ausgewiesen (was sein Evangelium übrigens noch nicht in den Rang einer „Heiligen Schrift“ hebt, 47). Das Interesse an zuverlässiger historischer Überlieferung teilt die Alte Kirche aber mit der historischen Kritik der Moderne, nur dass diese ausgefeiltere Modelle entwickelt hat. Interessant ist auch, was das Muratorische Fragment zum JohEv sagt, dass es sich nämlich um ein inspiriertes Gemeinschaftswerk handelt, mithin eines, das ohne das Konzept der individuellen Autorschaft verstanden werden kann (48). Dass die Vielfalt der frühchristlichen Jesusüberlieferung als problematisch empfunden werden konnte (49 f.), ist zuerst im Prolog des LkEv (Lk 1,1-4) greifbar, der das Programm der Vereinheitlichung divergierender Jesusdarstellungen formuliert, sodann bei Markion, der einzig ein von ihm bearbeitetes LkEv gelten lassen wollte (oder hat umgekehrt Lukas das Evangelium des Markion bearbeitet? ), und schließlich bei Tatian, der aus den vier ntl. Evangelien und anderer Jesustradition eine Evangelienharmonie schuf. Der apologetische Hintergrund dieser Strategien der Vereinheitlichung (51-54) wird erstmals bei Justin greifbar, der sich mit dem Vorwurf der Widersprüchlichkeit auseinandersetzte, der von nichtchristlicher Seite gegen Mt, Mk und Lk erhobenen wurde. Angriffe dieser Art kamen zumal von Kelsos, der in seiner wider die Christen gerichteten Schrift alēthēs logos („Wahre Lehre“) ein intensives Studium der biblischen Schriften erkennen lässt. Origenes, der sich mit Kelsos’ Angriffen auseinandergesetzt hat, war dank seiner Auffassung vom mehrfachen Schriftsinn in der Lage, die Differenzen zwischen den Evangelien als inspirierte Verschiedenheit gelten zu lassen. Auch Augustin konnte seine Auseinandersetzung mit der Christenschrift des Porphyrius führen, ohne sich an der Pluralität der Jesusdarstellungen in den Evangelien zu stören. Er unterschied zwischen der invarianten „Geschichte“ der Evangelien und ihren je unterschiedlich ausgeprägten „Erzählungen“. Augustin war dabei der erste, der eine literarische Abhängigkeit zwischen den Evangelien annahm, nämlich eine Benutzung von Mt durch Mk. In einer Weiterentwicklung dieser Benutzungshypothese zählte er später auch das LkEv zu den Quellen des Mk. Im 18. Jh. wurde dieses Modell 206 Buchreport von Johann Jakob Griesbach vertreten, und im 20. Jh. in Gestalt der Neo-Griesbach-Hypothese von William Farmer und anderen. Auch die exegetischen und hermeneutischen Entscheidungen der Reformation erschließen sich erst im geschichtlichen Kontext ihrer Zeit. So ist Luthers Rede von der „Klarheit“ ( perspicuitas ) der Schrift, die seine Forderung des sola scriptura begründete (55-58), auf dem Hintergrund von über Jahrhunderte sich erstreckenden Debatten über das Verhältnis von Schrift und Tradition zu sehen. Seit Augustin gab es einen nur relativen Vorrang der Autorität der Schrift gegenüber der Autorität der Tradition, die immer dann zu Rate zu ziehen war, wenn Schriftstellen als unverständlich galten. Wenn Luther demgegenüber die Klarheit der allein gültigen Schrift behauptete, meine er damit freilich nicht, dass die Schrift immer einfach zu verstehen sei. „Luther’s sola scriptura […] was a call to methodological instruction in Biblical interpretation, which began with the text and always took Biblical intertexts into account“ (57). Damit verschiebt sich freilich bereits unter der Hand der Schwerpunkt von der „Klarheit der Schrift“ zur „Klarheit der Analyse“, und an die Stelle der früher beherrschenden „Tradition“ tritt nun das exegetische Expertenwissen, mit der historisch-kritischen Exegese als ihrer modernen Erscheinungsform, „which has more in common with Celsus and Porphyry than with Origen and Augustin“ (58). Dass die Lehre von der Klarheit der Schrift damit beinahe ihre eigene Idee zerstört hat, nennt Alkier das „protestantische Paradox“ (58). Gewissermaßen im Vorgriff darauf reagierten katholische Gelehrte, hier v. a. Richard Simon (1638-1712), auf die reformatorisch behauptete perspicuitas der Bibel mit dem Nachweis ihrer vielfachen Unverständlichkeit, der nur durch den Rekurs auf die autoritative Tradition der Kirche beizukommen sei. Nicht zufällig gilt der Katholik Richard Simon als Pionier der historischen Kritik! (59). Für deren weitere Entwicklung verweist Alkier auf die Religionskriege zwischen 1618 und 1648, die aus Sicht europäischer Intellektueller jeden autoritären Rekurs auf religiöse Wahrheit und den unantastbaren Bibelkanon völlig desavouierten. Die Deklaration des apokryphen Barnabas-Evangeliums durch John Toland (1670-1722) als ursprüngliches Evangelium (60 f.) ist ein sprechendes Beispiel für die intellektuelle Stimmungslage dieser Zeit. Während Henry Owen seine 1764 erschienenen Observations on the Four Gospels noch in den Dienst des Aufweises der Klarheit der Schrift stellte (61 f.), verfolgten Johann Salomo Semler (1725-1791) und Hermann Samuel Reimarus (1694-1768) Strategien der Disharmonisierung (62-66). Semler plädierte in Abwehr religiös legitimierter Kriege für Diversität und für Toleranz und Respekt gegenüber anderen Weisen der Gottesverehrung und fand diese Diversität dementsprechend auch in den frühchristlichen Texten. Kanon und Verbalinspiration, worin er ein Instrument kirchlicher Machtpolitik sah, lehnte er ab. Schon Jesus selbst habe seine Verkündigung auf unterschied- Buchreport 207 liche Adressaten abgestimmt, mithin nicht immer nur dasselbe gesagt, und für die Ausbreitung des Christentums sei die Diversität seiner Glaubensweisen und Gruppen entscheidend wichtig gewesen. Als Modell für die Entstehung der Synoptischen Evangelien - das JohEv, von Semler übrigens für das früheste gehalten, steht hier beiseite - entwickelte Semler seine Fragmenten-Hypothese, denn literarisch entspricht der Diversität das Fragment als Grundbaustein der evangelischen Tradition. Erst die erstarkende katholische Kirche habe die frühchristliche Vielfalt unterbunden und vereinheitlicht. Für Semler hing die Zukunft der Kirche an der Wiederentdeckung ihrer ursprünglichen Vielfalt. „Historical Criticism served to demonstrate that the polyphony of Christian voices was theologically acceptable. He thus employed his study of the diversity of early Christianity for normative purposes, advocating freedom of religion and tolerance for all forms of Christian faith“ (65). Mit Reimarus beginnt insofern ein neuer Abschnitt der Forschungsgeschichte, als er dort, wo Semler zu begrüßende Vielfalt sah, „with a sharper polemical edge“ (66) die Kategorie des „Betrugs“ in die weitere Diskussion einführte. Reimarus „transformed the diversity that Semler had seen in early Christianity into a ,problem‘ and turned the hermeneutic of suspicion into a trademark of historical-critical hermeneutics“ (66). Wie tief die Gegensätze zwischen Semler und Reimarus waren, kann man daran ermessen, dass Reimarus mit einer 350 Seiten starken Entgegnung auf die Fragmente eines Ungenannten reagierte. Mit Voltaire, Hume und Edward Gibbon betraten sodann Philosophen und Historiker die Bühne, die die Frühgeschichte des Christentums zum Gegenstand säkularer Geschichtsschreibung machten, und die aus Sicht eines sich selbst an das Ende des historischen Prozesses setzenden progressiven Geschichtsverständnisses an die christlichen Anfänge keinen besonderen Wahrheitsanspruch stellten und Unterschiede und Widersprüche bedenkenlos offenlegten. Auch darin sah kirchliche Theologie eine Provokation. Johann Jakob Griesbach (1745-1812) und sein Schüler Johann Gottfried Eichhorn (1752-1827) reagierten auf Reimarus mit „Strategien der Reharmonisierung“ (67-71). Griesbach, der mit seiner Commentatio, qua Marci Evangelium totum e Matthaei et Lucae commentariis decerptum esse monstratur ( Jena, 1789-90) auf Henry Owens Observations on the four Gospels fußte, verfasste gleichwohl keine weitere Evangelienharmonie, sondern die erste wissenschaftliche Synopse ihrer Art. In Anknüpfung an Augustin sah er im MkEv eine Kompilation aus Mt und Lk, der Matthäusevangelist galt ihm als Augenzeuge, der Markusevangelist als intelligenter Autor eines speziell für Heidenchristen konzipierten Evangeliums, Widersprüchliches zwischen den Evangelien als erklärbar, die Schrift als klar und zuverlässig. Griesbachs Hypothese konkurrierte lange Zeit mit der Urevangeliums-Hypothese seines Schülers Eichhorn, bis diese im Zuge der maßgeblich von Herder beförderten 208 Buchreport Ursprungs-Romantik, die das Ursprüngliche mit dem Essentiellen identifizierte, der Griesbach-Hypothese schließlich den Rang ablief. Eichhorn sah in dem von ihm postulierten „Urevangelium“ das authentische Dokument einer konsistenten Lehre Jesu, die erst durch spätere Übermalungen der Evangelisten entstellt worden, exegetisch jedoch rekonstruierbar sei. Eichhorn trat damit in einen Gegensatz zu Semler: Hatte Semler frühchristliche Diversität geschätzt, galt sie Eichhorn als Verzeichnung des ursprünglichen und widerspruchsfreien Urevangeliums Jesu. Auf dieser Linie liegt auch Lessings Nazarenerevangelium, das nach seiner Auffassung allen anderen Evangelien zugrunde lag. Stets ging es darum, einen Ausgangspunkt zu finden, von dem aus die spätere Diversität erklärbar und auf die sie rückführbar war. „Historical-critical observations about diversity were thus transformed into an anxious quest for historical certainty“ (72). Frühchristliche Vielstimmigkeit wird um der einen und einzigen ipsissima vox willen geopfert. Herder, der die einfachere, kürzere Form gegenüber der komplexeren, längeren zur ursprünglicheren erklärte, fand im MkEv das früheste Dokument der synoptischen Tradition, das sich aus einzelnen, ursprünglich mündlich tradierten „Diegesen“ zusammensetzte. Ein Urevangelium im Stil Eichhorns war Herder demgegenüber zu hypothesenträchtig. Dass sich die Markuspriorität in der Folgezeit weitgehend durchsetzte, ist Christan Hermann Weisse, Die evangelische Geschichte kritisch und philosophisch bearbeitet von 1838 und Christian Gottlob Wilke, Der Urevangelist oder die exegetisch kritische Untersuchung über die Verwandtschaftsverhältniß der drei ersten Evangelien (ebenfalls 1838) geschuldet, der Siegeszug der darauf aufbauenden „Zweiquellentheorie“ - von Alkier in Anführungszeichen gesetzt, weil die angeblich einfache Hypothese tatsächlich ein kompliziertes Hypothesengebäude ist (75) - dem Einfluss von Heinrich Julius Holtzmann, Die synoptischen Evangelien (1863). Diese Namen gewissermaßen am Vorabend einer Epoche der Synoptikerforschung, die von weitestgehender Akzeptanz der Zweiquellentheorie bestimmt war, machen dreierlei deutlich: (a) Der Titel von Weisses Buch lässt einen in seiner Zeit augenscheinlich unhinterfragten „philosophischen“ Anteil an der Synoptischen Frage erkennen. (b) Der Umstand, dass Holtzmann in einem späteren Werk seine forschungsgeschichtlich so einflussreiche Hypothese selbst modifizierte - in seinem Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in das Neue Testament von 1886 notiert er, dass Lukas doch wohl „seine beiden Vorgänger gekannt“ habe (398)! - ist ein Schlaglicht auf die Reversibilität auch noch der etabliertesten Modelle. (c) Von einer irgendwie gearteten „Klarheit der Schrift“ kann nun längst nicht mehr die Rede sein. An ihre Stelle tritt der Wettbewerb der klarsten Analysen, der sich freilich als unentscheidbar erwiesen hat. Was bleibt, sind die von Alkier im Titel seines Aufsatzes so genannten „sad sources“, Buchreport 209 die, so mag man das Bild weiterdenken, ihres jahrhundertelangen Traktiertwerdens längst müde sind. Mogens Müller fragt im Titel seines Beitrages: „Were the Gospel authors Really ,simple Christians without literary gift‘ (Albert Schweitzer)? “ und diskutiert hierzu „arguments for the quest for sources behind the Gospels“ (79-96). In der „Introduction“ (79 f.) konstatiert er „two main tendencies“ in der gegenwärtigen Synoptikerexegese, deren eine darin besteht, die Frage nach den verwendeten Quellen maximal zu gewichten und dementsprechend die „independent creativity“ der Evangelienverfasser als sehr gering einzuschätzen. Dagegen steht die Tendenz, „primarly with the actual texts“ zu arbeiten und sie als Werke unabhängiger und kreativer Autoren anzusehen. Hier sieht er die Frage nicht nach Quellen, sondern nach „mutual literary dependence“ der Synoptiker als vorherrschend. Maßgeblich war von Anfang an die Suche der Aufklärung nach dem historischen Urgestein der authentischen Jesustradition, auf der aufgeklärtes Denken die Religion gründen wollte. Das Johannesevangelium wurde, wiewohl theologisch vielfach geschätzt, als mögliche Quelle schon früh ausgesondert, und auf dem Feld der Synoptiker wurden ihre Verfasser als „vehicles of tradition“ angesehen. Dagegen markieren die Stichworte „Form-history“, „Redaction history“, „Redaction criticism“ und „reception criticism“ forschungsgeschichtliche Etappen, an deren Ende die „relative independence and creativity“ der Evangelienverfasser stärker gewürdigt wird. Den dann anschließenden forschungsgeschichtlichen Überblick gliedert Müller in vier Phasen, deren erste „from the Urevangelium hypothesis to the Mark hypothesis [d. i. Mk-Priorität, M.V.]“ (80) reicht. Wichtige Namen sind hier Griesbach (Abhängigkeit des Mk von Mt und Lk) sowie Gottlob Christian Storr (1746-1805) als früher Vertreter der Mk-Priorität. Demgegenüber nahm Lessing keine literarische Abhängigkeit zwischen den Synoptikern an, sondern ein altes aramäisches oder hebräisches Evangelium als gemeinsame Grundlage. Die relative Kürze von Mk führte Lessing darauf zurück, dass Mk eine kürzere Version dieses Evangeliums zur Verfügung hatte. Man sieht, wie schnell jede synoptische Hypothese auf Zusatzhypothesen angewiesen ist! Auch Eichhorn ging von einem solchen Urevangelium aus, da s.E. zur „Simplification des christlichen Lehrbegriffs“ beitrug (Eichhorn bei Kümmel, Das Neue Testament, Freiburg 1958, 93) und es erlaubte, innerhalb der Evangelien das Spätere auszuscheiden. Für Eichhorn wäre ein „Verräther der Religion“, der „sich der Bemühung widersetzen wollte, die Evangelien auf ihre apostolischen Theile allein wieder zurückzubringen, und die späterhin bey ihrer Umarbeitung hinzugekommenen Zusätze und Vermehrungen wieder abzusondern“. Ein weiterer Vertreter der Urevangeliums-Hypothese war Herder, der diesem Evangelium jedoch, der roman- 210 Buchreport tischen Hochschätzung der Mündlichkeit entsprechend, eine mündliche Form zuschrieb, nämlich der Predigt. Zugleich votierte er dafür, auch die Evangelien in ihrer schriftlichen Endgestalt als eigene Stimmen zu würdigen und zu hören: „Vier Evangelisten sind, und einem jeden bleibe sein Zweck, seine Gesichtsfarbe, seine Zeit, sein Ort“ (Herder bei Kümmel, 94). In der geprägten Form der mündlichen Stoffe erkannte Herder die Bedingung ihrer Memorierbarkeit und damit ihrer Zuverlässigkeit: „Leute, wie die meisten Apostel waren, erinnerten sich leichter eines Spruches, einer Parabel, eines Apophthegmas, das ihnen auffallend gewesen war, als zusammenhängender Reden“ (bei Kümmel, 97). Indem Herder die einfachere Form als die ursprüngliche ansah, bereitete er auf lange Sicht der Markus-Priorität und damit der Zweiquellentheorie den Boden, ohne selbst eine literarische Abhängigkeit der Synoptiker untereinander anzunehmen. Wie bei Eichhorn liegt auch bei Herder innerhalb des synoptischen Stoffs eine kritische Unterscheidung vor, nun diejenige zwischen der „Religion Jesu“, zu der die Forschung zurückführen müsse, und der „Religion an Jesum“, dem urchristlichen Christusglauben. Nicht dieser, sondern nur jene lehrt, so Herder, dass „sein Gott unser Gott, sein Vater unser Vater“ ist (bei Kümmel, 99). Freilich: Herder erkennt die Evangelien (allen voran das JohEv! ) an als „necessary interpretation of the historical memory in the light of the resurrection faith“ (86). Die zweite von Müller in Augenschein genommene forschungsgeschichtliche Phase ist dadurch charakterisiert, dass „the Markan hypothesis is supplemented by the two-source-hypothesis“ (86-89). Hier ist Karl Lachmann (1793-1851) zu nennen, der den Boden bereitete für die Annahme einer von Mt und Lk benutzten zweiten Quelle, sowie Christian Gottlob Wilke (1786-1854), der Mk zwar im Rang des „Urevangelisten“ sah, im MkEv jedoch nur den „Schein eines geschichtlichen Zusammenhangs“ fand und es vielmehr als „künstliche Komposition“ betrachtete, die durch „vorausgedachte allgemeine Sätze“ geprägt ist (bei Kümmel, 182). Auch Christian Hermann Weisse (1801-1866) richtete sein Augenmerk auf diese zweite Quelle, die er im MtEv treuer bewahrt sah und sie deshalb „Spruchsammlung des Matthäus“ nannte (bei Kümmel, 185). Dass es bis zum endgültigen Durchbruch der Zweiquellentheorie noch 25 Jahre dauerte, nämlich bis zu Heinrich Julius Holtzmanns Die Synoptischen Evangelien. Ihr Ursprung und geschichtlicher Charakter von 1863, hat mit dem Einfluss Ferdinand Christian Baurs und der Tendenzkritik seiner Tübinger Schule zu tun, die an der Matthäuspriorität festhielt. Im Blick auf Albert Schweitzer als Chronisten der Leben-Jesu-Forschung und Kenner der synoptischen Frage ist bemerkenswert, dass Schweitzer selbst Mk und Mt für gleich zuverlässig hielt, Mt aber für ergiebiger: „Die Berichte der beiden ältesten Evangelien sind ihrer Art nach gleichwertig. Das des Matthäus ist aber als das Vollständigere das wertvollere“ Buchreport 211 (Geschichte der Leben-Jesu Forschung, Vorrede zur sechsten Auflage, Tübingen 1950, XII). In der dritten Phase melden sich „alternative voices“ (89-91) zu Wort, die den Optimismus ihrer Zeit, mit einer Lösung der synoptischen Frage zu einer stabilen Quellenbasis für das Leben Jesu vordringen zu können, nicht teilten. Müller verweist auf den von Schweitzer mit einem ganzen Kapitel gewürdigten, von Kümmel wegen der Radikalität seiner historischen Skepsis dagegen in eine einzige Fußnote gebannten Bruno Bauer (1809-1882), sowie auf Gustav Volkmar (1809-1893), der im Markusevangelium eine narrative Umsetzung paulinischer Theologie sah, und erst dann William Wrede (1859-1906), der das Vertrauen der liberalen Theologie in den Quellenwert des MkEv endgültig erschütterte. Mit der Etappe der „continuations of the two-sources-hypothesis“ (91-94) kommt die formgeschichtliche Forschung in den Blick, die ihr Interesse auf geprägte, anonyme und mündlich tradierte Überlieferungen als Quellenmaterial der Synoptiker richtete. Für Martin Dibelius, Karl-Ludwig Schmidt und Rudolf Bultmann, die „three ,fathers‘ of the form-critical approach inside gospel-scholarship“ (91), verstanden die synoptischen Evangelien als „Kleinliteratur“ ohne literarische Ambitionen auf Seiten ihrer Verfasser. Aus der Erhebung eines „Sitzes im Leben“ der von den frühen Formgeschichtlern erhobenen Kleingattungen versprach man sich stattdessen einen Einblick in die gemeindlichen Situationen, die diese Gattungen hervorgebracht hatten. Einflussreich in der angelsächsischen Welt war Burnett H. Streeter (1874-1937), der für Mt und Lk einen Proto-Lukas als weitere Quelle neben Mk und Q annahm, und der dementsprechend dem kanonischen LkEv besondere Bedeutung beimaß. In der „Conclusion“ (92-94) nimmt Müller auf dem erarbeiteten forschungsgeschichtlichen Hintergrund die einleitend beschriebenen „tendencies“ wieder in den Blick. Im linguistic turn seit den 1970er Jahren sieht er einen Grund dafür, dass ein Verständnis der Evangelien als „coherent compositions“ gegenwärtig starke Befürworter hat und die Auffassung von den Evangelien als bloßen Vehikeln der ihnen zugrunde liegenden Tradition praktisch aufgegeben wurde. Die Einsicht der Formgeschichte, dass die synoptischen Evangelien aus disparaten Einzelüberlieferungen zu einer „only seemingly […] continuous story“ zusammengefügt wurden, tut dem keinen Abbruch, denn „[a]lready this […] is a literary achievement“. Für das Mk hält es Müller für denkbar, dass er nicht auf eine vormk. Passionsgeschichte zurückgegriffen, sondern diese selber komponiert hat. Die bereits erwähnte These Volkmars von der im MkEv verarbeiteten paulinischen Theologie hält er für sehr nachdenkenswert, ebenso die Überlegung, dass Mt und Lk ihre Kindheits-Kapitel nach dem Modell einer „biblical history“ frei komponiert haben. Der „rewritten Scripture“ gibt er gegenüber der antiken Biographie trotz unbestreitbarer Gemeinsamkeiten als literaturgeschichtlicher 212 Buchreport Vergleichsgröße den Vorzug. Er verbindet dies mit der Erwägung einer Spätdatierung des LkEv „to sometime between 120 and 140 AD“. Dann wäre die Unkenntnis des MtEv durch Lk unwahrscheinlich und eine der Grundannahmen der Zweiquellentheorie entscheidend geschwächt. Als Abschlussfrage formuliert Müller „whether the acknowledgement of the originality of the single gospel author is not contributing to making probable that the Two-Source-hypothesis is unnecessary, and that no relevant source has been lost“. Ein kleines, aber feines Stückchen Forschungsgeschichte präsentiert Francis Watson in seinem Beitrag „Q and the Logia: On the Discovery and Marginalizing of P.Oxy.1“ (97-113). Watson setzt ein mit Austin Farrers Auffassung von Q als einer nach Ockhams Sparsamkeitsprinzip entbehrlichen Zusatzhypothese, sobald die Möglichkeit hinreichend plausibilisiert werden kann, dass Lk das MtEv gekannt und benutzt hat. Watson stimmt dem zu, verweist aber darauf, dass dann wieder die Frage offen ist, wie die Lücke zwischen Worten Jesu um das Jahr 30 und ihre Inkorporation in Mt und Lk rund ein halbes Jahrhundert später geschlossen werden kann, wenn man nicht von einem rein mündlichen Überlieferungsvorgang über einen solch langen Zeitraum oder eine Komposition dieses Spruchgutes durch Matthäus ausgehen will. Auch unter Zugrundelegung der von ihm geteilten Farrer-Hypothese hält es Watson für „entirely possible for Matthew to have drawn on a written collection of Jesus’s sayings“ (98), mithin eines Exemplars der Gattung „Spruchsammlung“, für die das Thomasevangelium „a late but fully extant example“ darstellt. Eigentliches Thema seines Beitrages ist, zu zeigen, „that this possibility was already discussed in late nineteenth-century Oxford“. Anhand einer „long-forgotten episode in the history of scholarship“ will Watson auf den Umstand aufmerksam machen, dass die Zweiquellen-Hypothese eine rein innerkanonische Lösung des Synoptischen Problems favorisiert und damit die kanonische Situation vom Ende des zweiten Jh.s unter der Hand ans Ende des ersten zurückdatiert. Außerdem erkennt Watson eine „radikale“ und „konservative“ Doppelrolle von Q, die ihren forschungsgeschichtlichen Erfolg mit erkläre. Einerseits wird Q insofern als nichtkanonischer Text gehandelt, als er der frühchristlich dominierenden Betonung auf Tod und Auferstehung Jesu widerspricht, aber gleichwohl insofern als ein völlig kanonischer Text, als es in Q nichts gibt, was es nicht auch bei Mt und Lk gibt. Die Attraktivität von Q bestehe außerdem darin, dass sie das Prinzip der „alternating primitivity“ (99) zulässt, das es erlaubt, wechselweise bei Mt und Lk die „ursprünglichere“ Fassung einen Q-Logions zu finden (was unter Zugrundelegung der Farrer-Hypothese logischerweise ausscheidet). Im Ergebnis hat sich zumal im britischen Kontext seit den 1890er Jahren Q als „critical orthodoxy“ (100) etabliert. In diese Zeit fiel - das ist die Buchreport 213 „long-forgotten episode“ - die Entdeckung Oxyrhynchos-Papyrus P.Oxy 1, von seinen Herausgebern Grenfell und Hunt „ΛΟΓΙΑ ΙΗΣΟΥ: Sayings of our Lord“ genannt (London 1897). Es handelt sich um das Fragment eines Kodex mit Jesus-Logien, die einzeln mit „Jesus spricht“ eingeleitet werden. Später erwiesen sich diese Logien als Teil des Thomasevangeliums, weshalb P.Oxy 1 heute keine eigene Rolle mehr spielt. Watson will aber anschaulich machen, wie P.Oxy 1 in der Zeit seiner ersten Publikation wahrgenommen wurde, als man von einem Thomas-Evangelium noch nichts wusste: Erstmals gab es eine Quellengrundlage für die Annahme, dass Spruchsammlungen, die bisher z.T. völlig unbekanntes, d. h. außerkanonisches, „apokryphes“ Spruchgut enthielten, für die Genese der kanonischen Evangelien eine Rolle gespielt haben könnten. Diese Annahme unterlag der sich mehr und mehr etablierenden Q-Hypothese, die vorschrieb, dass „the most important lost text is to be extracted not from the sands of Egypt but from within the canonical gospels themselves“ (101). Grenfell und Hunt sahen dagegen eine Verbindung zu den von Papias kommentierten λόγια κυριακά. In der Tat kann P.Oxy 1 als Beleg für ein solches Genre gewertet werden, also nicht für einen Einzeltext, sondern für mehrere oder gar viele Texte dieser Gattung, die dann keinesfalls vollständig in die kanonischen Evangelien Eingang gefunden haben können. Noch in 1897, dem Jahr der Veröffentlichung von P.Oxy 1, wies Rendel Harris in einer eigene Publikation ergänzend auf Apg 20,25 hin, wo vom Erinnern der λόγοι τοῦ κυρίου Ἱησοῦ die Rede ist, mit der P.Oxy 1 verwandten Zitationsformel ὅτι αὐτός εἴπεν, sowie auf die Aufforderung in 1Clem 13,2, sich der λόγοι τοῦ κυρίου Ἱησοῦ zu erinnern, auch hier mit einer Zitateinleitung οὕτως γὰρ εἴπεν und einem dann folgenden Jesuslogion in erkennbarer Unabhängigkeit vom kanonischen Evangelienstoff. Die Hinweise auf eine Gattung „Spruchsammlung“ bringt die Q-Hypothese insofern in Verlegenheit, als Q ja gar keine reine Spruchsammlung ist, sondern eher eine Sammlung von Redestoffen mit narrativen Anteilen. Das Thomasevangelium scheidet, so Watson, aufgrund der evidenten Gattungsdifferenz jedenfalls als Beleg für die Möglichkeit von Q aus. Watson zeichnet dann die Oxforder Reaktionen auf die Publikation von P.Oxy 1 nach, die maßgeblich durch William Sanday bestimmt waren, einen der einflussreichsten Vertreter der Zweiquellenhypothese in England. Für Watson stellt sich die Diskussionslage so dar, dass Sanday erkennbar bemüht war, die Bedeutung dieses Textfundes möglichst herunterzuspielen, einschließlich des Gebrauchs von Autoritätsargumenten oder Andeutungen auf das junge Lebensalter von Greenfell und Hunt, die damals 27 und 26 Jahre alt waren. Sanday steht als Akteur einer „[p]olitics of Q“ (110) für die Etablierung der Q-Hypothese (die sich übrigens einem Analogie-Argument verdankt: Wenn Mt und Lk das MkEv als „erste“ Quelle unabhängig voneinander verwendet haben, dann per 214 Buchreport Analogieschluss auch Q als deren zweite) als „an already existing orthodoxy“ (112). Watsons Urteil fällt deutlich aus: „Sanday’s contribution to the Synoptic Problem lies not in any reasoned scholarly argument but in his rhetoric“ (113). Demgegenüber sei die Einbeziehung nichtkanonischer Evangelienstoffe in der weiteren Erforschung der Ursprünge der Evangelien „the more challenging possibility“. Die beiden folgenden Beiträge von Christopher M. Tuckett, „Watson, Q and ,L/ M‘“ (115-118) und Francis Watson, „Seven Theses on the Synoptic Problem, in disagreement with Christopher Tuckett“ (139-147) bieten eine Kontroverse zwischen zwei gewichtigen Vertretern der Q-Hypothese (Tuckett) und der Farrer-Hypothese (Watson): Erklären sich die Gemeinsamkeiten von Mt und Lk gegen Mk aus einer je eigenständig benutzten gemeinsamen Quelle oder durch die Benutzung nicht nur des MkEv, sondern auch des MtEv durch Lk? Der Beitrag von Tuckett setzt sich kritisch mit methodischen Grundentscheidungen der Forschungen Watsons zur synoptischen Frage auseinander, und Watson antwortet auf diesen Beitrag unter Verwendung der Seitenzahlen des Bandes, was der Nachvollziehbarkeit der Kontroverse zustattenkommt. Gleichwohl bleibt als stärkster Eindruck, dass hier eine Diskussion geführt wird, die sich nicht ohne Nebentöne der Gereiztheit an Sachfragen abarbeitet, die anhand der Quellentexte jedenfalls nicht in einer Klarheit entschieden werden können, die nötig wäre, um festgefahrene Positionen in einem neuen Anlauf wieder in ein offenes Gespräch zu bringen. Die von beiden Autoren wider einander vorgebrachten Argumente können im Rahmen dieser Buchbesprechung nicht annährend vollständig dargestellt, geschweige denn geprüft werden, wenn sie nicht in einen eigenen Forschungsbeitrag ausarten soll. Ich begnüge mich damit, ausgewählte Runden des Schlagabtauschs vorzustellen: Tuckett sieht bei Watson insofern einen konzeptionellen blinden Fleck, als er „always refuses to provide explanations for ommissions […] by a secondary evangelist“, mit Bezug auf Watson, „Q as hypothesis“, 403: „little if nothing should be read into an ommission“, und er insistiert darauf, dass Auslassungen für das Verständnis redaktioneller Prozesse mit zu berücksichtigen sind (117). Sodann diskutiert Tuckett die Frage der Beweislast. Watson erhebe (zu Recht) die Forderung einer Gleichbehandlung beider Hypothesen, dergestalt, dass die (von Watson so bezeichnete) L/ M-Hypothese bei Aufweis einer plausiblen Texterklärung an diesem Punkt als der Q-Hypothese gleichwertig zu betrachten sei, gehe aber selber gelegentlich so vor, dass ein Erweis der Plausibilität eines Details der lk. Redaktion unter Zugrundelegung der L/ M-Hypothese bereits deren Überlegenheit demonstriere, so etwa Watson, „Q as hypothesis“, 407: „if the L/ M redactional procedure is judged to be no less plausible than Buchreport 215 the alternative [as implied by the 2ST]“, this „ undermines the Q-hypothesis“. Forschungsgeschichtlich mag dies, so Tuckett, insofern zutreffen, als die Zweiquellen-Hypothese, so zu Recht Watson, in dem Maße stark geworden ist, wie die Hypothese der Benutzung zweier Evangelien durch einen anderen sich als schwierig erwies. Dann wäre tatsächlich der Umkehrschluss denkbar, dass die Zweiquellen-Hypothese mit der Beseitigung dieser Schwierigkeiten geschwächt würde (118). Für die Gegenwart gelte aber, dass „[w]e […] should […] not prejudge the issue by implying that one ,plausible‘ explanation […] ipso facto rules out alternative hypotheses“. Wo immer Tuckett und Watson auf dieser Ebene diskutieren, entsteht der Eindruck, dass hier nicht nur äußerst komplexe (und möglicherweise unentscheidbare) Sachfragen entschieden werden sollen, sondern dass es auch darum geht, ein Spiel zu gewinnen, bei dem man ständig mit Argusaugen auf das Fair-play des Gegners achtet. So lautet ein Vorwurf Tucketts an Watson, dass er entgegen der von ihm geforderten Gleichbehandlung beider Hypothesen zu seinen eigenen Analysen selten die Gegenprobe auf Grundlage der Q-Hypothese mache. Einen weiteren Kritikpunkt Tucketts, dass Watson redaktionelle Prozesse stets nur „beschreibe“, nicht aber „erkläre“, mindestens als Element eines erkennbaren redaktionellen Musters (119), weist Watson sehr entschieden zurück, wenn er Tucketts permanent vorgetragene „question why …? “ und die Parole „,[p] lausibility‘ involves giving reasons“ als „inquisitorial rhetoric“ charakterisiert, die einzig dazu da sei, der L/ M-Hypothese ein „total lack of explanatory power“ zu unterstellen (140). Gegen Tucketts Forderung, Plausibilität sei an „a coherent overall activity“ (119) des Redaktors Lk gebunden, stellt Watson die These, dass nur „general tendencies“ zu erheben seien, nicht eine „rigid uniformity“ (140), auf die auch die Zweiquellen-Hypothese im Übrigen nicht verweisen könne. Mit Blick auf die Kindheitsgeschichten und Genealogien in Mt und Lk stellt Tuckett (120-124) die Unähnlichkeiten heraus, die s.E. die Annahme einer Benutzung von Mt durch Lk wegen der dann anzunehmenden gravierenden Änderungen des Mt-Stoffes durch Lk verbieten. Dagegen betont Watson die Gemeinsamkeiten, die s.E. die Annahme einer voneinander unabhängigen Komposition der mt und lk Eingangskapitel vor unüberwindliche Schwierigkeiten stellen. Tuckett wiederum führt diese Gemeinsamkeiten, v. a. in der Abfolge, auf die Gegebenheiten der chronologischen Stoffanordnung zurück (124 f.). Eine weitere Gemeinsamkeit, die nach Watson die L/ M-Hypothese stützt, ist die gemeinsame Platzierung von Bergpredigt bzw. Feldrede nach einer aus Mk 3,7f entnommen Einleitung, obwohl die Markusstelle nichts von einem Lehren Jesu verlauten lässt. Tuckett räumt ein, dass „[t]he phenomenon may appear striking“ (126), arbeitet dann aber in einer von Watson m. E. zur Recht als spitzfindig beanstandeten Unterscheidung von „context“ und „setting“ erhebliche Unterschiede in 216 Buchreport der weiteren redaktionellen Gestaltung dieser Übereinstimmung heraus. Wiederum wäre dann die Gemeinsamkeit, die durch Übernahme eines Details aus Mt durch Lk erklärt werden kann, durch erhebliche Unterschiede, die die L/ M-Hypothese zu Annahme weitreichender Freiheiten des Lk gegenüber dem Mt-Stoff nötigen (und nach Tuckett in Verlegenheit bringen), mehr als aufgewogen. Zu Tucketts Beobachtung, dass die Verwendungsweisen dieser gemeinsamen mk Einleitung zu Bergpredigt bzw. Feldrede unterschiedlich sind, bemerkt Watson: „Of course they are! Did Tuckett suppose I failed to notice that? “ (142). Für wenig wahrscheinlich hält Tuckett, dass (so die L/ M-Hypothese) Lk mit seinen beiden Quellen so unterschiedlich umgegangen sein soll: konservativ mit Mk und außerordentlich frei mit Mt: „[W]hy would Luke treat his sources in such radically different ways? “ (130). Watson hält dem entgegen, dass ein „flexible treatment of […] sources“ (141) auch für die Zweiquellen-Hypothese unverzichtbar ist (141). Im Blick auf die Doppelüberlieferungen (Mk, Q) hält Tuckett fest, dass diese nicht nur für die Zweiquellen-Hypothese Probleme bereiten, sondern auch für die L/ M-Hypothese, ja bisweilen noch größere: Wo nach der Zweiquellen-Hypothese bei einer Doppelüberlieferung Lk der (von Mk unabhängigen) Logienquelle folgt, Mt dagegen Mk und Q kombiniert, müsste entsprechend der L/ M-Hypothese angenommen werden, dass Lk in einem „complex ,unpicking‘ process“ mk-nahe Matthäusstoffe von allen mk Ähnlichkeiten gereinigt habe (136). Was aus Sicht der Zweiquellen-Hypothese bei Mt eine Kombination aus Mk und Q ist, bei Lk aber ein Q-Stoff unter Außerachtlassung der mk Version der Doppelüberlieferung, ist aus Sicht der L/ M-Hypothese bei Lk Matthäusstoff, dem sein Mk-Anteil von Lk redaktionell entzogen wurde (136 f.). Watson redet dagegen nicht von „unpicking“, sondern von „selecting“ von nicht-mk Material bei Mt, und er sieht nicht, was an „such a simple procedure“ (143) übermäßig kompliziert sein sollte. Der an die L/ M-Hypothese gerichteten Forderung nach einer nachprüfbar kohärenten Verfahrensweise der lk. Redation im Umgang mit dem mt Stoff hält Watson die These entgegen, dass „[e]vangelists may simultaneously ,agree‘ and ,disagree‘ with their sources“ (141), wie es doch auch üblich sei, dass „two parties […] agree about one aspect of an object of shared concern but disagree about one another“. Die erheblichen Abweichungen etwa der lk von den mt Kindheitskapiteln zeigen aus dieser Sicht lediglich, dass Lk einiges aus Mt übernommen, anderes aber eben ganz anders gesagt hat. Warum Lk so vorgegangen ist, entziehe sich dem, was man sicher wissen kann, und dementsprechend entzieht sich Watson auch Tucketts permanent vorgetragener Forderung nach Gründen. „To say (as I am severely criticized for doing) that it seemed good to him to do what he did is a Lukan way to suggest that, like definitions, explanations must come to an end somewhere“ (146). Buchreport 217 Die Kontroverse zwischen Tuckett und Watson ist ein anschauliches Beispiel dafür, dass die tiefere Befassung mit dem synoptischen Problem einem Labyrinth gleicht, in dem man sich früher oder später notwendigerweise verirrt, und es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis diejenigen, die darin unterwegs sind, einander die Schuld dafür geben, dass sie nicht mehr herausfinden. Der Beitrag von Eve-Marie Becker „Mark with and against Q: The earliest gospel narrative as a counter-model“ (151-163) skizziert ein mögliches literaturgeschichtliches Verhältnis zwischen dem MkEv und der (als gegeben vorausgesetzten) Logienquelle. Becker macht zunächst darauf aufmerksam, dass die Q-Forschung von hohem Interesse für die Mk-Forschung ist, sofern die literarische Vorgeschichte des MkEv „will always overlap with Q studies“ (152), mit Hinweis u. a. auf den Aufsatz von W. Schenk „Der Einfluss der Logienquelle auf das Markusevangelium“ (ZNW 70/ 1979, 141-165). Einen Vorteil der Q-Hypothese sieht Becker darin, dass sie unser Bild von den „socio-religious diversification of transmission processes“ in der Jesusbewegung (153 f.) und den „multiple processes of identiy formation“ (154) wesentlich bereichert, und sie verknüpft dies mit der Frage, inwiefern die Mk-Forschung zu diesem Bild ihrerseits etwas beitragen kann. Allerdings will Becker die Frage nach dem Verhältnis von Mk und Q aus der quellenkritischen Engführung, die „hardly any convincing result“ erbracht habe (155), zugunsten einer literaturgeschichtlichen Perspektive herauslösen (155). Ohne also das Mk-Q-Verhältnis quellenkritisch minutiös nachzeichnen zu müssen (bzw. zu können), kann von folgendem Szenario ausgegangen werden: „While Mark intends to narrativize and interpret the storyline, the Q concept reflects a more traditional claim of documenting and collecting authoritative words“ (156). Die weitergehende Frage lautet dann, „how Mark’s composition […] must conceptually have been affected by Q as a (possible) forerunner document“ (156 f.). Wird diese Frage gar nicht gestellt, entweder mit dem Fokus der Farrer-Hypothese, die Lk ohne Q verstehen will, oder im Kontext einer Mk-Forschung, die ihr Terrain gegen die Q-Forschung absteckt, erscheint Mk als „the first writer who has transformed a diversity of [oral] Jesus traditions […] into a written account“ (157), mithin eine wenig wahrscheinliche „ creatio ex nihilo “, zumal wenn man die Ergebnisse der neuer Mk-Forschung zur literarischen Qualität dieses Evangeliums in Rechnung stellt (158). Diese ist besser verstehbar, wenn man von einer „productive coexistence“ der Q-Endredaktion und des MkEv ausgeht. Dass Mk die Logienquelle als „slightly forerunnig piece of literature“ nicht gekannt haben könnte, hält Becker angesichts der „vital networks of interaction existent within and between various groupings of Jesus followers and Christ believers“ (159) für unwahrscheinlich. Wie kann man sich dann aber das Verhältnis des Markusevangelisten zur Logienquelle und 218 Buchreport ihrem Trägerkreis vorstellen? Die Möglichkeit, die Becker durchspielt, lautet: Mk hat „Q’s text-producers as literary competitors “ (160) angesehen und deshalb diese Gruppe(n) in der Figuration der erzählten Zeit seines Evangeliums im Unterschied zu zahlreichen anderen Gruppen nicht zu Wort kommen lassen. Für dieses Verfahren lassen sich in der römischen Historiographie anschauliche Vergleichsgrößen finden (162 f.). Im Blick auf Q könnte für Mk die (von Simon J. Joseph, „Jesus, Q and the Dead Sea Scrolls“, Tübingen 2012 erwogene) Nähe zu den Qumranschriften und den von Mk ebenfalls unerwähnt gelassenen Essenern eine Rolle gespielt haben, oder aber allgemeiner wegen einer zwischen Q-Gruppen und Mk-Gruppen bestehenden „religious and/ or literary competition“ (161). Unter den zahlreichen Planspielen der Synoptikerforschung ist das von Becker angemahnte Augenmerk auf das Q-Mk-Verhältnis gewiss eines der lohnenden und wichtigen. Ob es unter den Akteuren der frühchristlichen Literaturproduktion so etwas wie eine „literary competition“ gegeben hat - den Lk-Prolog mit der leicht abschätzigen Referenz auf die „Vielen“ vor dem LkEv kann man so lesen - wäre zu prüfen, und die „religious competition“ ist an den Texten vorzuführen. Dass Becker diese Frage aus der quellenkritischen Umklammerung lösen will, ist zu begrüßen, zumal wenn man ihren Beitrag nach den beiden vorigen liest. Die Frage lautet jedoch, ob die anstehenden Textvergleiche, je minutiöser und kleinteiliger sie ausfallen, früher oder später nicht doch wieder nach quellenkritischer Präzisierung rufen. Etwas disloziert wirkt im thematischen Kontext des Bandes der Beitrag von Claire Rothschild, „Refusing to acknowledge the Immerser (Q 7.31-35)“ (165-183) in allerdings gekonnt doppeldeutiger Formulierung: Die Nichtanerkennung des Täufers ist einerseits Thema der im Titel notierten Q-Spruchgruppe - hier sind es die metaphorisch so genannten „Kinder“, die den Täufer missachten -, andererseits aber auch Thema des Aufsatzes, der die These entfaltet, dass das LkEv dem Täufer die Anerkennung verweigert, sofern es nämlich eine Spruchgruppe zur Hälfte für Jesus beansprucht, die in Q noch ganz auf den Täufer gemünzt war. Zum Thema des Bandes gehört der Beitrag insofern, als seine These auch etwas „about the Synoptic Problem“ (165) sagt, präzis über das Verhältnis von Q und dem LkEv, das im Blick auf den Täufer so zu beschreiben ist, dass Täufer-Material aus Q für das synoptische Jesusbild requiriert wird. Die Q-Hypothese gibt hier beispielhaft die Anschauung von einer Hermeneutik des Verdachts. Der Verdacht besteht konkret darin, dass der historische Täufer im weiteren Verlauf der Genese der Synoptiker sozusagen christologisch über den Tisch gezogen wurde. Aufgabe der Exegese ist es dementsprechend, dies rückgängig zu machen und dem historischen Täufer auf diese Weise Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, mithin die (von Rothschild ironisch formulierte) Devise Buchreport 219 namentlich der lk. Sondergut-Kapitel Lk 1-3, „sich vor Täufer-Traditionen in acht zu nehmen, die inmitten der so geschätzten Traditionen über Jesus lauern“ („to be wary of Baptist traditions lurking among the prized traditions about Jesus”, 183), gerade nicht zu befolgen, sondern dem Täufer zurückzuerstatten, was des Täufers ist. Rothschild bezieht sich in ihrem Beitrag auf Ergebnisse ihres Buches „Baptist traditions and Q“ (Tübingen, 2005) und die darin verwendete „Baptist hermeneutic“ (178). Q 7,31-35 stellt sich dann so dar, dass das Menschensohn-Wort v. 34 („Der Menschensohn kam und aß und trank…“) ursprünglich „ a self-referential expression of John the Baptist“ ist (169) und Johannes „the sole subject and speaker of Luke 7,31-35“ (170). Der Parallelismus in v. 33 f. („kein Brot essen, keinen Wein trinken“ vs „Essen und Trinken“) wäre dementsprechend nicht antithetisch auf Johannes und Jesus zu beziehen, sondern synthetisch auf Johannes, der beides tat, so wie Elia am Horeb (vgl. 1 Kön 19,8), der erst fastete und dann aß (175). Auch das Paar „mit der Flöte Aufspielen und Tanzen“ vs. „Klagelieder und Weinen“ ist dann synthetisch zu verstehen. Hierzu führt Rothschild interessante Belege dafür an, dass altgriechisch auch bei Trauer- und Begräbnisritualen ritueller Tanz üblich war. Interessant ist auch der bei Herodot I,141 überlieferte Fabelstoff von den Fischen, die im Netz zappeln („tanzen“), die aber dadurch ihr Geschick nicht mehr wenden können (172 f.). Mit den beiden Kindergruppen seien die Propheten und Johannes einerseits und die Pharisäer und Schriftgelehrten andererseits gemeint, für die es zu spät ist „to ,dance‘ on Judgement Day“ (174). Die Deutung von Q 7,31-35 allein auf Johannes entsprechend „Q’s predilection for John“ (177) vermag aber in vielen exegetischen Details nicht zu überzeugen. Vielmehr scheint mir die nicht geringe Gezwungenheit der Argumentation die Sperrigkeit der Texte gegenüber der an ihnen ausprobierten These treffend abzubilden. Hermeneutisch steht hier einiges auf dem Spiel: Muss man, wenn man sich auf die Seite des historischen Täufers stellen will, sich zugleich gegen den Endtext von (Mt und) Lk stellen, dem man exegetisch den Nachweis führt, er habe den Täufer christologisch übervorteilt? Dagegen stelle ich die These, dass dieser mit Hilfe oder zumindest auf Basis der Zweiquellentheorie geführte Nachweis den Texten in dem Maße Unrecht tut, als er behauptet, dass sie Johannes Unrecht tun. Wenn Rothschild für die angeblich in Q noch unstrittige und erst von (Mt und) Lk manipulierte Referenz von Q 7,31-35 allein auf Johannes geltend macht, dass nur so die „anomalous equality between John the Baptist and Jesus“ (183) entfalle, dann macht sie m. E. den Evangelienverfassern eine theologische Leistung streitig, die für ihr Täuferbild unbedingt beachtlich ist, nämlich bei fragloser Vorordnung Jesu gegenüber dem Täufer Aspekte der Gleichheit beider Akteure möglichst zahlreich und möglichst deutlich herauszustellen. Lk 7,31-35 (oder meinetwegen auch Q 7,31-35) betont die Geschicksgemeinschaft 220 Buchreport zwischen Johannes und Jesus, die in beider Ablehnung besteht. Rothschilds Beitrag ist im Kontext des Bandes insofern wichtig, als er vorführt, wie man den Evangelisten in bester quellenkritischer Manier unversehens ihr eigenes Wort im Munde herumdreht. Hildegard Scherer, „Coherence and distinctness: Exploring the social Matrix of the double tradition“ (185-200) bringt Ergebnisse ihrer Bonner Habilitationsschrift von 2014 („Der Entwurf der sozialen Welt im Material der Traditio duplex“, Göttingen 2016) in die Diskussion ein. Sie untersucht Mt und Lk gemeinsame Stoffe, d. h. Q-Material, auf mögliche sozialgeschichtliche Besonderheiten, die „some distinctive structure“ und „characteristic threads“ (186) erkennen lassen. Methodologisch beschränkt sich Scherer dabei auf ein „critical minimum“ von „categories and text fragments which are identical in the Matthean and Lukan versions“. Exemplarisch widmet sich Scherer den „social categories related to the ancient household“ (187), die sich in bestimmten Q-Stoffen v. a. darin niederschlagen, dass die Jesus-Anhänger einen „existential loss of household protection“ erfahren (189) und Gott als himmlischer Vater in die Rolle des pater familias tritt und sich als Versorger seiner irdischen Kinder bewährt (188-192). In Q 12,42-46 bilden sich umrisshaft neue Sozialstrukturen innerhalb der Jesusbewegung heraus, in der die (einstigen) Hausväter ihrer Pflicht Speise zu geben (Q 12,42) nun als Sklaven (nämlich Sklaven ihres himmlischen Herrn) nachkommen. Der Vergleich zwischen Q und Mk ist erhellend: In Mk 3,31 geht es nicht um das Versorgtwerden durch den himmlischen Vater, sondern um die Zugehörigkeit zu Jesus. Nach Mk 3,35 (Tun des Willens Gottes) ist Gott nicht Versorger, sondern „norm-giving leader“ (193). In Mk 10,29 wird der himmlische Vater nur ex negativo genannt (nämlich als Leerstelle in der neuen familia dei , die keinen irdischen Vater mehr hat), und der soziale Bruch fällt nicht so scharf aus wie in Q, sofern die berufenen Jünger gleichwohl bei der Schwiegermutter des Petrus einkehren und von ihr versorgt werden (Mk 1,29-31) und Mk an zwei Stellen das Gebot der Elternehrung anklingen lässt (7,10-12) bzw. sogar zitiert (10,19). Weniger markant ist m. E. die in Mk 13,12 vorhandene Differenz, dass „the conflict is not initiated by the followers of Jesus, but by the non-believing family members; moreover it leads straight into capital trial, not into being homeless“ (193). Da Mt, so Scherer, den Q-Stoff im Horizont von Mk 13 interpretiert, wird bei ihm entsprechend das „Schwert“, das durch die Familien geht (Q 12,51), in Mt 10,21 „[b]y implicaition“ zum Schwert des Scharfrichters. Da aber „Luke seems to have kept to the more original interpretation“, fragt Scherer (an die Adresse der Farrer-Hypothese), ob der lk Befund nicht ein anderer wäre, „[i]f Luke had only known Matthew“ (und nicht statt dessen Q als separate Quelle). Hier wird m. E. die Lage sehr unübersichtlich und führt in Endlosschleifen von Buchreport 221 der Art, wie sie auch die bereits referierte Kontroverse zwischen Tuckett und Farrer dokumentieren. Denn Lk kannte ja jedenfalls auch Mk und bietet doch in Lk 21,16 ebenso das in Mk 13,12 enthaltene Motiv der Eskalation familiärer Zerrüttung im Kapitalprozess. „Without a doubt“, räumt Scherer ein, „we could argue about the evaluation of coherences in spite of all the differences“ (194), was zutrifft, und was die Diskussion so schwierig macht, denn in dem Maße, wie Kohärenz und Differenz eine Frage der Gewichtung ( evaluation ) sind, gerät man methodisch auf den schwankenden Grund des zumindest teilweise subjektiven Ermessens dessen, was man als different, und was man als stimmig empfindet. Dass Scherer den Verlust der Familienbeziehungen und die Rolle Gottes als himmlischer Vater und Versorger quellenkritisch als eigenen Motivkreis herausarbeitet und ihn von seiner apokalyptischen Variante (Mk 13,12) unterscheidet, ist erhellend und wichtig. Was besagt aber der Umstand, dass Gottes „food-providing father role“ sich viermal im Q-Stoff findet, außerhalb desselben aber nicht? Soll denn das heißen, dass Mt und Lk dieser Stoff nicht so wichtig war, weil sie redaktionell nicht mehr daraus gemacht haben? Im weiteren Fortgang ihres Beitrages untersucht Scherer die synoptischen Knechtsgleichnisse im Beziehungsgefüge von Mk, Q, Mt, Lk und den Beständen des Sondergutes in Mt und Lk (194-197). Die herausgearbeiteten Spannungen und Brüche innerhalb der einzelnen Gleichnishandlungen sind abermals erhellend, und abermals kann man der Quellenkritik nicht vorwerfen, dass sie keine Ergebnisse erzielt. Die Frage lautet aber, ob hier nicht narratologische Zugangsweisen zu identischen Ergebnissen kommen, ohne die Quellenfrage beantworten zu müssen, die dafür aber Überlegungen anstoßen können, ob die beobachteten Inkonsistenzen möglicherweise erzähltechnisch gewollt und narratologisch sinnvoll interpretierbar sind. Marc Goodacre, „Taking our leave of Mark-Q overlaps: Major agreements and the Farrer theory“ (201-222) befasst sich aus Sicht der Farrer-Hypothese mit Texten, die aus Sicht der Zweiquellentheorie als „Doppelüberlieferungen“ geführt werden, die sowohl in Mk wie auch in Q enthalten waren („Mark-Q overlaps“). Goodacre vertritt die Auffassung, dass diese Doppelüberlieferungen die Zweiquellentheorie vor Schwierigkeiten stellen, die weithin unterschätzt werden (201). Während weiter reichende Übereinstimmungen von Mt und Lk gegen Mk bei Mk-Stoffen („major agreements“) für die Farrer-Hypothese unproblematisch sind, weil angenommen wird, dass Lk den von Mt am Mk-Stoff vorgenommenen Änderungen folgt (nämlich in Kenntnis nicht nur des MkEv, sondern auch des MtEv), muss die Zweiquellen-Hypothese zu der Annahme greifen, dass es zwischen Mk und Q Überschneidungen gibt und es sich bei den „major agreements“ um Q-Stoff handelt, den sowohl die Logienquelle wie auch 222 Buchreport das MkEv bieten (202). Freilich erstrecken sich diese Übereinstimmungen nicht nur auf Formulierungen, sondern auch auf die Anordnung des Stoffs, d. h. Mt und Lk hätten unabhängig von einander an derselben Stelle Mk-Stoff um Q-Stoff ergänzt, „something that is not supposed to happen on the Two-Source Theory“ (204). Als Beispiel nennt Goodacre die Täuferperikope Mt 3,1-12 / Mk 1,1-8 / Lk 3,1-18, wo Mt und Lk den Mk-Text ( Nach mir kommt, der stärker ist als ich; mir steht es nicht zu, mich zu bücken und ihm die Schuhriemen zu lösen. Ich habe euch mit Wasser getauft, er aber wird euch mit heiligem Geist taufen ) nicht nur fast wortidentisch, sondern eben auch an exakt derselben Stelle um und mit Feuer (…). In seiner Hand ist die Wurfschaufel, und er wird seine Tenne säubern. Seinen Weizen wird er in die Scheune einbringen, die Spreu aber wird er in unauslöschlichem Feuer verbrennen (hier zitiert nach Mt) aus Q ergänzt hätten (205 f.). Goodacre sieht in der Täuferperikope ein Beispiel dafür, dass Lk an manchen Stellen der (sogenannten! ) „Mark-Q overlaps“ exakt dieselben redaktionellen Entscheidungen getroffen hat wie Mt, etwas, wovon Vertreter der Zweiquellen-Hypothese versichern, dass Lk dies „niemals“ tue (207). Mit der Täuferperikope als s.E. schlagendem Beweisstück in der Hand moniert Goodacre „the misleading nature of an argument that uses the term ,never‘ when ,sometimes’ is meant“ (208). Auch den immer wieder geltend gemachten pauschalen Verweis auf die inhärente Wahrscheinlichkeit gemeinsamer Stoffe, wenn zwei Traditionsblöcke dieselbe Geschichte erzählen, will Goodacre nicht gelten lassen (208 f.). Die Bezeichnung „Mark-Q overlaps“ beanstandet er als suggestiv (nicht zuletzt für Studierende, die nie etwas anderes kennenlernen als die Zweiquellen-Hypothese), weil sie in die Beschreibung von Daten Vorannahmen eines Modells einfließen lässt, das auf Grundlage dieser Daten allererst zu erproben ist. Der wissenschaftlichen Fairness halber fordert er das Lager der Zweiquellen-Hypothese auf, künftig neutral von „major agreements between Matthew and Luke against Mark“ zu sprechen (210). Freilich gibt es auch hier ein terminologisches Problem: Wenn die Zweiquellen-Hypothese die „minor agreements“ unterschiedlichen Mk-Rezensionen zuschreibt, die „major agreements“ dagegen den Doppelüberlieferungen in Mk und Q, suggeriert sie eine kategoriale Unterscheidung, die die Zweiquellen-Hypothese bereits als gültig voraussetzt (210 f.). Aus Sicht der Farrer-Hypothese gibt es diese Unterscheidung gar nicht, sondern ein „continuum […] in which the supposedly different categories in fact overlap with one another“ (213). Hierfür führt Goodacre wortstatistische Belege an, die zeigen, dass in Einzelfällen Mt/ Lk-Übereinstimmungen gegen Mk, die als „minor agreements“ gelten, sogar höher sind als bei „major agreements“ mit verhältnismäßig wenigen Übereinstimmungen (211-213). Widerlegbar ist für Goodacre sodann die gängige Meinung, dass im Bereich der Doppelüberlieferungen Mt die Q-Fassung und die Mk-Fassung vermischt, Lk dagegen sich eng Buchreport 223 an Q hält. Unter Hinweis u. a. auf das Senfkorn-Gleichnis diagnostiziert etwa Christopher Tuckett „Luke’s apparently almost pathological refusal in some of these texts to use any Markan material at all“ (214). Goodarcre nennt es „one of the curiosites“ in der Erforschung des synoptischen Problems, dass diese durch die Texte s.E. nur dürftig unterlegte Behauptung gleichwohl ständig wiederholt wird, denn es sei „simply not the case that Luke lacks Marcan material in the Mark-Q overlap passages“. In der Taufszene Mt 3,13.16f / Mk 1,9f / Lk 3,21f wie auch im Senfkorngleichnis Mt 13,31f / Mk 4,30-32 / Lk 13,18f verweist Goodacre auf „several agreements between Mark and Luke. There are triple agreements and there are Mark-Luke agreements. Luke’s versions are clearly not Mark-free zones“ (216). Hier wie auch sonst in seinem Beitrag unterlegt er seine Befunde durch die synoptische Darbietung der in Rede stehenden Stellen auf Griechisch und in englischer Übersetzung. Auf einen Nebenschauplatz der Farrer-Hypothese begibt sich Goodacre in der Diskussion der gelegentlich behaupteten „Matthean posteriority“, der These also, nicht Lk habe Mk und Mt benutzt, sondern umgekehrt Mt das LkEv und das MkEv (218-221). Worum geht es bei all dem? Antwort: Es geht um die Validität des Kriteriums der mehrfachen Bezeugung, das für die historische Jesusforschung von nicht geringem Gewicht ist (222), ein Hinweis, mit dem bei Nicht-Spezialisten und theologisch tätigen Zaungästen von außerhalb des Fachs um Verständnis für eine hochspezialisierte Debatte geworben werden soll. Entfällt dieses Kriterium, weil es Q nicht gegeben hat und Lk das MtEv benutzt hat, ist ein wichtiger Zugang zum historischen Jesus versperrt. Man soll aber, meint Goodacre, schwierige Fragen wegen möglicher unbequemer Resultate nicht scheuen (222). Werner Kahl, „The Gospel of Luke as Narratological Improvement of Synoptic Pre-texts: The Narrative Introduction to the Jesus Story (Mark 1.1-8 parr.)“ (223-244) hat als Vertreter der Farrer-Hypothese das von ihm so genannte „Synoptic Improvement Model“ (SIM) entwickelt (230), das er im vorliegenden Heft in Anknüpfung an den hier zu referierenden Aufsatz in einem eigenen Beitrag vorstellt. Das SIM zeigt in Anwendung der Narratologie von A. J. Greimas auf der Linie Mk - Mt - Lk Tendenzen narratologischer Verbesserungen (improvements) auf. Der Erläuterung dieses Modells anhand ausgewählter Synoptikertexte stellt er eine forschungsgeschichtliche Kritik der Q-Hypothese voran: Diese erkennt er nicht als „the result of an objective investigation“ an (224), sei Q doch von Ch. H. Weisse in direkter Reaktion auf D. F. Strauss’ „Leben Jesu“ aufgeboten worden als zuverlässige Quelle der Lehren des historischen Jesus, die das Jesusbild der liberalen Theologie zu Lasten der Wunder Jesu trefflich bestätigte. Zumal seit Wrede die Brauchbarkeit des MkEv als Quelle für den historischen Jesus erschüttert hatte, fiel der Logienquelle die 224 Buchreport ganze Beweislast zu. Die Q-Forschung des 20. Jh.s, die die Logienquelle form- und redaktionsgeschichtlich als komplexes Gebilde zu sehen lehrte, war ihrem Ruf als Garantin einer zuverlässigen Jesusüberlieferung nicht eben zuträglich (225). Inzwischen spricht die Q-Forschung nicht mehr von einer „Spruchsammlung“, sondern von einem „Spruchevangelium“ mit nennenswerten narrativen Anteilen, einschließlich Wunderstoffen. Methodologisch moniert Kahl v. a., dass die kritische Edition eines Textes, für den es keine direkte Handschriftenüberlieferung gibt, editionswissenschaftlich unzulässig sei (226), sodann, dass die angenommenen (intendierten) narrativen Lücken in Q tatsächlich textuelle Lücken sind, die keinen Schluss auf die narrative Architektur von Q zulassen. Im Blick auf den mutmaßlichen Beginn von Q mit einem Ausspruch des Täufers verweist Kahl auf die von Andreas Lindemann vorgetragenen Bedenken, wie eine Sammlung von Jesus-Sprüchen mit einem Täufer-Spruch beginnen könne (227). Lindemann behilft sich mit einer „Einzelüberlieferung“, die von Mt und Lk unabhängig rezipiert wurde (228). Als „Sonderüberlieferung“ wird aus Q auch die Versuchungsperikope ausgegliedert, da diese mit der in Q fehlenden Überlieferung über die Taufe Jesu untrennbar zusammenhänge. Weisse hatte seinerzeit angenommen, die dem Täufer zugeschriebene Äußerung am Beginn der Jesusspruch-Sammlung sei ursprünglich ein Jesuswort gewesen, das auf Jesus umgemünzt wurde (229). Später schrieb Weisse den initialen Täuferspruch dagegen nicht mehr der Spruchquelle, sondern einer verlorenen früheren Version des MkEv zu. Auch Holtzmann sah in der Annahme eines Urmarkus die Lösung für die Übereinstimmungen von Lk und Mt gegen Mk in Mk 1,1-8, gab dann aber die bisher verteidigte Unabhängigkeit zwischen Mt und Lk auf und schloss sich der Auffassung seines Schülers Eduard Simons an, der die minor agreements mit der Benutzung von Mk und Mt durch Lk erklärte - seinerseits ohne die Annahme von Q! (230). Inzwischen haben sich die Fragestellungen des synoptischen Problems aus Kahls Sicht insofern verschoben, als literatur- und kulturwissenschaftliche Ansätze unter dem Einfluss postmoderner Philosophie und der postcolonial studies das Interesse von den Quellen hinter den Texten in Richtung auf die Texte in ihrer heute vorliegenden Form verschoben haben (232). Für das von ihm auf Grundlage der Farrer-Hypothese entwickelte „Synoptic Improvement Model“ (SIM) nimmt er in Anspruch, dass damit dem von Kloppenborg s.E. zu Recht namhaft gemachten „renaming the problem“ bei ästhetischen und ad-hoc -Argumenten (s. o. zum Beitrag von Kloppenborg) begegnet werden kann (232 f.). Das hauptsächlich in der Ethnologie verwendete narratologische Schema von Greimas, das bereits Hendrikus Boers in die ntl. Wissenschaft eingeführt hatte, soll helfen, „possible intended functions of additions, ommissions, translocations, word changes or other alterations of a later Gospel as compared to an Buchreport 225 earlier Gospel“ transparent zu machen (235). Mit der synoptischen Analyse von Mk 1,1-8 / Mt 3,1-12 / Lk 3,1-20 wählt Kahl ein Beispiel aus, das für ihn insofern von Bedeutung ist, als ihm hier erstmals Zweifel an der Zweiquellen-Hypothese kamen und er daraufhin unter Zugrundelegung der Farrer-Hypothese „the whole Greek Synopsis“ studiert und zu der Auffassung gefunden hat, „that the assumption of Q is an unnecessary complication in the attempt of understanding the synoptic interrelatedness“ (236). Kahl ersetzt die Unterscheidung von „minor“ und „major“ agreements durch diejenige von „exclusive“ (EA) und „inclusive“ agreements (IA), diese bei Dreifachbezeugung und jene in allen Fällen wo zwei Synoptiker gegen den jeweils dritten stehen. Eine Quantifizierung von Differenzen und Übereinstimmungen erreicht er dadurch, dass er identische Formulierungen mit dem Wert 1 gewichtet, und ähnliche mit dem Wert 0,5. Für Mk 1,1-8parr ergibt sich, dass die EA Mt-Lk (120) die beiden anderen (EA Mk-Lk : 20,5; EA Mk-Mt : 17,5) und die IA (12) bei weitem überwiegen. Dies entspricht dem Befund, dass in Mk 1,1-8parr „the Gospel of Luke shares with the Gospel of Matthew the rearrangement of Markan material in all instances and Matthean additions to the Gospel of Mark in most instances“ (237). So haben etwa Mt und Lk gegen Mk gemeinsam, dass sie Mk 1,2b „siehe, ich sende meinen Boten…“ (weil der Versteil nämlich gegen die mk Angabe gar nicht aus Jesaja stammt) in das Urteil Jesu über den Täufer (Mt 11,7-11 / Lk 7,24-30 ) verschieben. Hier würde nach dem SIM Lk eine Verbesserung, die Mt an Mk vorgenommen hat, übernehmen. Dagegen liegt in Lk 3,1f eine Verbesserung von Mt durch Lk vor, sofern die mt Angabe „in diesen Tagen“ das Missverständnis zulässt, dass der Täufer zeitgleich mit der Übersiedlung der Eltern Jesu nach Nazareth gewirkt habe. Lk schafft hier durch einen Synchronismus gegenüber Mt Klarheit. Wider anders in Mt 3,5b: Hier ergänzt und verbessert Mt die mk Angabe durch „und das ganze Land am Jordan“, um den bei Mk abrupten Übergang von der Täuferpredigt „in der Wüste“ (1,4a) und seiner Tauftätigkeit „am Jordanfluss“ (1,5b) abzumildern. Lk verbessert nun aber seinerseits Mt, wenn er in Lk 3,2b.3a in der Wüste lediglich die Berufung des Johannes geschehen und ihn dann selbst an den Jordan gehen lässt, wo er verkündigt und tauft. „Here we have an improvement on Matthew’s improvement on Mark“ (243). Als Fazit dieser Textarbeit formuliert Kahl, was er im ersten Teil seines Beitrages forschungsgeschichtlich erläutert hat, nämlich „that it is possible and seems to be most plausible to explain the differences between the Synoptics without recourse to any hypothetical source“. Die Annahme einer Benutzung von Mk und Mt durch Lk „seems sufficient, economical and reasonable“. Shelly Matthews weitet in ihrem Beitrag „Does Dating Luke-Acts into the Second Century Affect the Q Hypothesis“ (245-265) den Blick hinein in 226 Buchreport das 2. Jh., auf den die Diskussion des synoptischen Problems längst nicht mehr verzichten kann, wenn sie mit dem Gang der Forschung Schritt halten will. Freilich wird die synoptische Frage damit nochmals sehr viel komplexer, weil mit Markions Evangelium und möglichen kanonischen Redaktionsprozessen im Lauf des 2. Jh.s weitere Faktoren ins Spiel kommen, die zu weiteren Hypothesenbildungen nötigen. Matthews will an der Zweiquellen-Hypothese im Grundsatz festhalten, diese aber dahingehend modifizieren, dass sie an die Stelle des kanonischen LkEv einen älteren (auch von Markion benutzten) „core Lk“ setzt, dem Q und Mk als Quellen gedient haben, wohingegen erst in einem späteren redaktionellen Stadium Bearbeiter des (im Ergebnis: ) kanonischen LkEv auch vom MtEv Gebrauch gemacht hätten (246). Matthews geht so vor, dass sie zunächst (1) auf Grundlage früherer eigener Arbeiten für bestimmte lk Texte eine Datierung ins 2. Jh. vorschlägt, sodann (2) nach dem Verhältnis des kanonischen LkEv zu Markions Evangelium fragt, um schließlich (3) die Möglichkeit einer „markionitischen“ Lösung des Synoptischen Problems zu diskutieren und hiermit (4) einige m. E. sehr wichtige „Concluding Observations“ zu verbinden. (1) In der Frage der Datierung der Apg tendiert Matthews zu einem „compositional window“ zwischen 115 und 130, eher später als früher, jedenfalls bereits nach dem Briefwechsel zwischen Plinius und Trajan, d. h. in Kenntnis steigender Repressionen gegen Christen (247). Für Lk 24 in seiner jetzigen Gestalt nimmt sie eine Abhängigkeit von Apg an und zieht eine Abhängigkeit zu Joh 21 f. in Betracht (247 f.). Im Blick auf die in Lk 24 vorausgesetzte Schrifthermeneutik (249 f.) und den Zusammenhang von Zeugenschaft der fleischlichen Auferweckung Jesu und apostolischer Autorität (250 f.) sieht sie Lk 24 „in the orbit of the apologists, rather than the earlier evanglists“ (249). (2) Wie verschieben sich nun aber die Kulissen des synoptischen Problems, wenn zum kanonischen Lk auch noch „Marcion’s version of Luke“ ins Spiel kommt? Da das von Tertullian vorgeführte Szenario einer Verstümmlung des kanonischen LkEv durch Markion nicht überzeugt (254 f.), bleiben, so Matthews, zwei Möglichkeiten: Entweder das kanonische LkEv ist eine Erweiterung des Evangeliums des Markion, oder aber beide „have arisen from an earlier form of Luke, which was availible to both authors“ (255). Maßgeblich ist für Matthews, dass sich zwar Lk 1 f. als direkte Bekämpfung markionitischer Ansichten verstehen lasse, nicht aber Lk 24, dessen Akzente weithin nicht erkennbar antimarkionitisch bzw. überhaupt anders gelagert sind. Da mithin das kanonische LkEv zwar auch aber nicht nur als antimarkionitisches Dokument verstanden werden könne, tendiert Matthews „towards the premise of a core Luke, taken over and expanded in different directions in Marcionite circles on the one hand, and in ,Lukan‘ circles on the other“ (260). Buchreport 227 (3) Für das synoptische Problem ist dieser Befund, wie Matthews im Anschluss an Jason BeDuhn ausführt, insofern von Bedeutung, als die minor agreements , die aus Sicht der Q-Kritiker die Q-Hypothese entscheidend schwächen, nun in einem anderen Licht erscheinen. Setzt man nämlich innerhalb des Modells der Zweiquellen-Hypothese den postulierten „core-Luke“ an die Stelle des kanonischen LkEv, teilt jener mit dem MtEv „considerably fewer of the minor agreements“ (261), und die in den kanonischen Evangelien vorhandenen lassen sich unter der Voraussetzung kanonischer Redaktionsprozesse im Laufe des 2. Jh.s als „secondary scribal harmonizations“ verstehen. Hinzu kommt, dass, wenn man Q nicht aus dem kanonischen LkEv, sondern aus „core-Luke“ erhebt, Q erst mit Q 6,20 beginnt, womit ein weiterer Kritikpunkt an Q als einer „Spruchquelle“, dass sie nämlich auch narratives Material enthält, an Gewicht verliert. Die Stücke zu Predigt und Taufe des Johannes und zur Versuchung Jesu wären so erst viel später in das kanonischen LkEv gelangt, nämlich „as part of a later stage of redaction, when the final redactor has a copy of the Gospel of Matthew in hand“ (262). Über den hochgradig hypothetischen Charakter ihrer Überlegungen, die sie in feinem Understatement ein „inelegant proposal“ nennt (263), ist sich Matthews im Klaren, verweist aber auf den auf der Roskilde-Konferenz insgesamt vorhandenen Hypothesenreichtum, der in der Gesamtsicht der Beiträge immerhin dazu animiert, dass man die „fluidity of the textual tradition“ und „the active role of authors, redactors and subsequent scribes in shaping materials known to them“ (263 f.) stärker ins Kalkül zieht. (4) Abschließend gibt Matthews ihrer Hoffnung Ausdruck „that a clearer recognition of the nature of the shifting sands on which we all build hypotheses about the relationships among the canonical gospels might prompt biblical scholars to consider whether it is a reasonable and worthy exercise to continue to frame our hypotheses solely within the bounds of the historical-critical method“, die als allein gültige Methode die Erforschung des NT recht rückständig aussehen lässt, „untouched by the postmodern, poststructuralist, (including feminist) recognition that all knowledge is situated, that the historical narratives we construct are contingent and perspectival, and that especially because we deal with something as theologically/ ideologically weighted as Christian beginnings, our decisions on how to reconstruct these beginnings have consequences“ (264). Matthews führt für die Situiertheit jeder Antwort auf die synoptische Frage ihre eigene Position als Beispiel an: Dass „Lukan scriptural materials were shaped not by a singular hand of ,Luke‘ the evangelist, but by many hands in conversation and contest“, fügt sich zu „the sort of Christianity that appeals to me. Namely, a Christianity that is more fluid, less dogmatic and open to a variety of voices beyond the hegemonic voices of the canon“ (265). Freilich gilt: „[R]ecognition of one’s biases does not necessarily mean they are false“. Steht hinter diesen Überlegungen die unausgesprochene Frage, wie weit es die neutestamentliche Wissenschaft mit dem synoptischen Problem noch treiben will? Es damit angesichts des unleugbaren Aporien- und Hypothesengewirrs gerade jetzt ein Bewenden haben zu lassen, da der Blick weit in das 2. Jh. hinein zusätzliche theologiegeschichtliche Horizonte eröffnet, wäre freilich zu bedauern. Der abschließende Beitrag von Dieter T. Roth, „Marcion’s gospel and the Synoptic Problem in recent schoalrship“ (267-282) befasst sich mit vier neueren Monographien zum Text von Markions Evangelium, wie er u. a. aus Tertullian und Epiphanius in Teilen rekonstruierbar ist, nämlich Jason BeDuhn, The First Testament: Marcion’s Scriptural Canon (Salem 2013); Markus Vinzent, Marcion and the Dating of the Synoptic Gospels (Leuven 2014); Matthias Klinghardt, Das älteste Evangelium und die Entstehung der kanonischen Evangelien (Tübingen 2015) und Judith M. Lieu, Marcion and the Making of a Heretic: God and Scripture in the Second Century (Cambridge 2015). Roth hat mit The Text of Marcion’s Gospel (Leiden 2015) eine eigene Monographie zum Thema vorleglegt. Zusammen mit weiteren Arbeiten, die sämtlich binnen zehn Jahren erschienen sind, dokumentieren sie das gegenwärtig hohe Interesse an Markions Evangelium. Zu Vinzents These, dass Markion geradezu der Erfinder der Evangelienform und alle vier ntl. Evangelien von ihm abhängig waren, verweist Roth auf kritische Rezensionen des Buches (271) und diskutiert seinerseits kritisch Vinzents Rekurs auf bestimmte Tertullian-Passagen, die seine in der Tat radikale These stützen sollen (272). Von Vinzent unterscheidet sich Klinghardt v. a. darin, dass er Markion nicht als Verfasser des von ihm mit der Sigel Mcn bezeichneten Evangeliums annimmt, das s.E. in der „Zeit ab 90“ entstanden sein kann, wie hier direkt aus Klinghardt, Das älteste Evangelium , 380 zu belegen ist. Die kritische Diskussion Roths mit Klinghardt, der ein überaus anspruchsvolles und komplexes Überlieferungsmodell vom s.E. ältesten Evangelium bis zu einer kanonischen Evangelienredaktion Mitte des 2. Jh.s vorgelegt hat, bezieht sich v. a. auf die Möglichkeiten und methodologischen Grundlagen einer Rekonstruktion von Markions Evangelium auch dort, wo der Text nicht direkt bezeugt, sondern nur anhand der ntl. Handschriftenüberlieferung in Kombination mit einem bestimmten Überlieferungsmodell indirekt erschlossen werden kann (273-278). Roth hält in dieser Frage eine größere methodologische Zurückhaltung für angezeigt. Auch gegenüber BeDuhn, der mit seiner Annahme, dass Markion „took up a Gospel already in circulation in multiple copies“ (278), augenscheinlich nä- 228 Buchreport Buchreport 229 her bei Klinghardt steht als bei Vinzent, ist Roth in dem Maße kritisch, wie er Schlüsse auf Textstellen des markionitischen Evangeliums gründet, die nicht direkt (Roth würde wohl sagen: überhaupt nicht) bezeugt sind (279 f.). Zustimmung signalisiert Roth dagegen zu Lieus Auffassung, dass bisher kein Versuch „to integrate Marcion’s ,Gospel‘ directly into any of the conventional theories of the interrelationship and interdependency of the three Synoptic Gospels“ zu überzeugen vermochten (281). Abschließend bekräftigt er seine Auffassung, dass das bereits zur Genüge komplizierte synoptische Problem überall dort unnötig zusätzlich verkompliziert werde, wo „grand theories are constructed on the basis of improbable, and at times even indefensable, reconstructions“ (281 f.). Dass damit freilich kein Schlusswort gesprochen ist, kommt am treffendsten im Titel eines von Roth in der vorletzten Anmerkung seines Beitrages zitierten Aufsatzes von J.K. Elliott aus dem Jahr 2000 zur Geltung: „The New Testament Text in the Second Century: A Challenge for the Twenty-First-Century“. Dass der Band, der hier in großer Ausführlichkeit zu besprechen war, der von Elliott formulierten Herausforderung immerhin in zwei Beiträgen Rechnung trägt, unterstreicht seine Bedeutung für die aktuelle Erforschung des synoptischen Problems.