ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
61
2020
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Dronsch Strecker Vogel46 GABE UND HANDLUNGSMACHT ZNT Heft 46 · 23. Jahrgang · 2020 ZNT Zeitschrift für Neues Testament Das Neue Testament in Universität, Kirche, Schule und Gesellschaft Susanne Luther, Christian Strecker, Manuel Vogel (Hrsg.) 46 GABE UND HANDLUNGS- MACHT www.narr.digital Das Thema „Gabe und Handlungsmacht“ trägt einem neu erschlossenen Forschungsfeld Rechnung, das sich dem Interesse der neutestamentlichen Wissenschaft an philosophischen und anthropologischen Diskursen zum Phänomen der Gabe verdankt. Da die Begriffe „Gnade“ und „Gabe“ semantisch weitreichende Gemeinsamkeiten aufweisen, liegt die Relevanz des Themas für die neutestamentliche Rede von Gott auf der Hand: Gottes Gnade stiftet ebenso wie menschliche Akte des Schenkens bzw. Gebens eine Beziehung, und die Frage lautet, wie weit in den antiken Vorstellungszusammenhängen der neutestamentlichen Schriften die Analogien zwischen göttlicher Gnade und menschlichem Geben reichen. Steht Gottes Gnade für das (menschlich unerreichbare? ) Ideal der „reinen Gabe“ oder hat auch das göttliche Gnadenhandeln einen Verpflichtungs- und Machtcharakter? Mit Beiträgen von Michael Rydryck, John M. G. Barclay, Lutz Doering, François Vouga, Stefan Schreiber, Wolfgang Kraus und Veronika Hoffmann. ZNT_2020_46_Umschlag.indd 3 ZNT_2020_46_Umschlag.indd 3 29.10.2020 09: 07: 51 29.10.2020 09: 07: 51 Inhalt Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 NT aktuell Michael Rydryck Paulus und die Macht. Aspekte von Habitus und Handlungsmacht im Corpus Paulinum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Zum Thema John M.G. Barclay Gnade und Handlungsmacht in den Briefen des Paulus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Lutz Doering Gnade und Erbarmen Gottes im Judentum der hellenistischfrührömischen Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 François Vouga Gottes- und Himmelsherrschaft im Matthäusevangelium. Gerechtigkeit und Verantwortung als Zeit und Raum des Glücks . . . . . . . . . 73 Kontroverse Christian Strecker Ist hilastērion in Röm 3,25 eine Versöhnungsgabe? Einleitung zur Kontroverse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Stefan Schreiber Christus als hilastērion in Röm 3,25: Gottes Versöhnungsgabe . . . . . . . . . . . . 91 Wolfgang Kraus Hilastērion in Röm 3,21-26 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Hermeneutik und Vermittlung Veronika Hoffmann „Du wirst selig sein, denn sie haben nichts, um es dir zu vergelten“? Grundlinien einer Theologie der Gabe mit einem Blick auf Lk 14,12-14 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Buchreport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Editorial Liebe Leserin, lieber Leser, das neue Heft der ZNT trägt mit dem Thema „Gabe und Handlungsmacht“ einem neueren Forschungsfeld Rechnung, das sich dem Interesse der neutestamentlichen Wissenschaft an philosophischen und anthropologischen Diskursen zum Phänomen der Gabe verdankt. Da die Begriffe „Gnade“ und „Gabe“ semantisch weitreichende Gemeinsamkeiten aufweisen, liegt die Relevanz des Themas für die neutestamentliche Rede von Gott auf der Hand: Gottes Gnade stiftet ebenso wie menschliche Akte des Schenkens bzw. Gebens eine Beziehung, und die Frage lautet, wie weit in den antiken Vorstellungszusammenhängen der neutestamentlichen Schriften die Analogien zwischen göttlicher Gnade und menschlichem Geben reichen. Steht Gottes Gnade für das (menschlich unerreichbare? ) Ideal der „reinen Gabe“, oder hat auch das göttliche Gnadenhandeln einen Verpflichtungs- und Machtcharakter? Michael Rydryck widmet sich unter der Rubrik Neues Testament aktuell dem Aspekt der Macht, den er mit Hilfe des Begriffs der agency („Handlungsmacht“) und des Habitus-Konzepts von Pierre Bourdieu erschließt und auf das paulinische Apostolatsverständnis anwendet. Die Beiträge Zum Thema werden von John Barclay eröffnet, ebenfalls anhand von Paulustexten, doch nun mit Bezug auf die paulinische Rede vom Gnadenhandeln Gottes und in hilfreicher Differenzierung des Gnadenbegriffs. Barclay zeigt, dass unterschiedliche Akzente innerhalb dieses Bedeutungsspektrums zu sehr unterschiedlichen Auffassungen von Gottes Gnade führen können. Lutz Doering ergänzt dieses Bild in einer eingehenden Sichtung der reichhaltigen Literatur des antiken Judentums vorrabbinischer Zeit, die ihrerseits ein facettenreiches Bild erkennen lässt. Der Beitrag von François Vouga zum Reich-Gottes-Verständnis im Matthäusevangelium lenkt unseren Blick auf die synoptischen Evangelien. Vouga ver- Zeitschrift für Neues Testament 23. Jahrgang (2020) Heft 46 4 Editorial steht das matthäische „Reich der Himmel“ als „den transzendenten Herrschaftsbereich der befreienden Umsonstheit der Gnade Gottes“ und formuliert damit einen weiteren wichtigen Aspekt eines gabetheoretisch reflektierten Gnadenbegriffs. Die von Christian Strecker eingeleitete Kontroverse zu Röm 3,25 - was genau bezeichnet der griechische Terminus hilastērion? - berührt die eingangs formulierte Frage nach Analogien göttlichen und menschlichen Gebens: „Gibt“ Gott Versöhnung in einer verblüffenden Umkehrung hellenistisch-römischer Konventionen des Umgangs mit dem Göttlichen oder ist für das Verständnis der Stelle ein biblisch-jüdischer Hintergrund aufzurufen? Unter der Rubrik Hermeneutik und Vermittlung trägt Veronika Hoffmann erhellende Beobachtungen zur Phänomenologie zwischenmenschlicher Praktiken des Gebens bei, reflektiert diese im Blick auf den Begriff der Anerkennung und eröffnet ein fruchtbares Gespräch mit Lk 14,12-14. Friederike Oertelt stellt schießlich im Buchreport eine aktuelle Monographie zum Wohltätigkeitskonzept des lukanischen Doppelwerks vor, die das Thema Gabe in einen sozial- und kulturgeschichtlichen Kontext stellt. Aus der Redaktion der ZNT ist mitzuteilen, dass Susanne Luther seit diesem Heft den Platz von Kristina Dronsch im Kreis der Hauptherausgebenden der ZNT einnimmt. Wir danken Kristina Dronsch, die wegen anderweitiger beruflicher Verpflichtungen wieder in den erweiterten Kreis gewechselt ist, für alle engagierte und ideenreiche Mitarbeit, und wir freuen uns auf die Impulse, die Susanne Luther der ZNT geben wird. Unseren Leserinnen und Lesern wünschen wir nun eine anregende Lektüre. Susanne Luther Christian Strecker Manuel Vogel NT aktuell Paulus und die Macht Aspekte von Habitus und Handlungsmacht im Corpus Paulinum Michael Rydryck 1. Paulus, die Forschung und die verdammte Macht Bereits im Jahr 1993 veröffentlichte Manfred Josuttis eine Monographie mit dem provokanten Titel Petrus, die Kirche und die verdammte Macht, die er mit folgendem Befund einleitet: „In der Kirche herrscht die Angst vor der Macht. Viele Phantasien und Gefühle, die das christliche Bewusstsein in früheren Zeiten mit der Sexualität verknüpft hat, sind gegenwärtig in diese Lebenssphäre herübergewandert. Macht ist schmutzig und wirkt deshalb unrein. Macht ist vom Übel und muss deshalb möglichst gemieden werden. Kindliche Unschuld, ehemals durch sexuelle Reinheit charakterisiert, stellt sich vielen Eltern heute als Machtlosigkeit der Kleinen dar. Edel, hilfreich und gut ist im Kern nur ein Mensch, der auf Macht verzichtet. Und wer sich, weil es anders nicht geht, in Machtpositionen begibt und auf Machterfahrungen einlässt, darf dabei auf keinen Fall Lust empfinden.“ 1 Blickt man in die neutestamentliche Paulus-Forschung, so scheint Paulus dem von Josuttis gezeichneten und kritisierten Idealbild des Abstinenten zu ent- 1 M. Josuttis, Petrus, die Kirche und die verdammte Macht, Stuttgart 1993, 7. Dr. Michael Rydryck, Jahrgang 1980, studierte Vergleichende Religionswissenschaft, Philosophie, Alte Geschichte und Evangelische Theologie in Bonn und Frankfurt und wurde 2016 in Frankfurt promoviert. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Neues Testament und Geschichte der Alten Kirche sowie Mitarbeiter im Dekanat im Bereich Studium und Lehre am Fachbereich Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt. Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind Paulus, das lukanische Doppelwerk sowie Fragen der Wunderhermeneutik. Zeitschrift für Neues Testament 23. Jahrgang (2020) Heft 46 6 Michael Rydryck sprechen - sowohl mit Blick auf seine Sexualität als auch mit Blick auf seine Macht: Schon in der klassischen Studie von Adolf Deissmann (1866-1937) Paulus. Eine kultur- und religionsgeschichtliche Skizze sucht man das Stichwort „Macht“ vergebens im Sachindex. 2 Aber auch in neueren Grundlagenwerken wie etwa den Monographien von Udo Schnelle und Michael Wolter, dem von Friedrich W. Horn herausgegebenen Paulus Handbuch, dem von Oda Wischmeyer herausgegebenen Sammelband Paulus. Leben - Umwelt - Werk - Briefe oder dem Sammelband Biographie und Persönlichkeit des Paulus, herausgegeben von Eve-Marie Becker und Peter Pilhofer, fehlen die Stichworte „Macht“ und „Handlungsmacht“ (engl. agency) in den Inhaltsverzeichnissen und Indizes. 3 Wird man doch fündig, wie in Bruce J. Malinas und Jerome H. Neyreys Studie Portraits of Paul. An Archaeology of Ancient Personality, ist der Machtdiskurs ein Diskurs über Machtverzicht 4 ganz im Sinn der von Josuttis konstatierten und kritisierten Positionierung. Eine Ausnahme von diesem weitgehenden Negativbefund stellt die Erörterung der Machtfrage im Kontext des paulinischen Wunderdiskurses in Stefan Alkiers Wunder und Wirklichkeit in den Briefen des Apostels Paulus dar. Wundermacht im Spannungsfeld von menschlichen und göttlichen Akteuren ist für Alkier ein wesentlicher Schlüssel zur Interpretation der paulinischen Briefe. 5 Insgesamt überraschen aber der vorherrschende Negativbefund in der Paulus- Forschung mit Blick auf einen kulturwissenschaftlich, soziologisch, exegetisch und theologisch fundierten Machtdiskurs sowie das weitgehende Fehlen einer entsprechenden textanalytischen respektive biographischen Methodologie angesichts der neuesten Perspektiven auf Paulus, die den frühchristlichen Apostel in immer neuen, soziologisch, althistorisch und theologisch ertragreichen Facetten sichtbar werden lassen: Paulus wird als Gebildeter und Schulhaupt, 6 als Philosoph, 7 2 Vgl. A. Deissmann, Paulus. Eine kultur- und religionsgeschichtliche Skizze, Tübingen 1911, 186-196. 3 Vgl. E.-M. Becker / P. Pilhofer (Hg.), Biographie und Persönlichkeit des Paulus (WUNT 187), Tübingen 2005, 384-392; M. Wolter, Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, Neukirchen-Vluyn 2011, 477-481; O. Wischmeyer (Hg.), Paulus. Leben - Umwelt - Werk - Briefe, Tübingen 2 2012; F. W. Horn (Hg.), Paulus Handbuch, Tübingen 2013, 644-653; U. Schnelle, Paulus. Leben und Denken, Berlin / Boston 2 2014. 4 Vgl. B. J. Malina / J. H. Neyrey, Portraits of Paul. An Archaeology of Ancient Personality, Louisville (Kentucky) 1996, 59 f sowie 95f. 5 Vgl. S. Alkier, Wunder und Wirklichkeit in den Briefen des Apostels Paulus. Ein Beitrag zu einem Wunderverständnis jenseits von Entmythologisierung und Rehistorisierung (WUNT 134), Tübingen 2001. 6 Vgl. T. Vegge, Paulus und das antike Schulwesen. Schule und Bildung des Paulus (BZNW 134), Berlin 2006. 7 Vgl. neben der genannten Studie von Vegge den Sammelband C. Strecker / J. Valentin (Hg.), Paulus unter den Philosophen, ReligionsKulturen 10, Stuttgart 2013, in dem Paulus in vielfältige philosophische Diskurse und Rezeptionen eingezeichnet wird. Paulus und die Macht 7 als religiöser 8 oder handwerklicher 9 Freelancer 10 oder als homo novus 11 beschrieben, als komplexe, bisweilen widersprüchliche und stets facettenreiche Gestalt im Spannungsfeld frühchristlicher, jüdischer und römisch-hellenistischer Lebenswelten. Aber auch im Kaleidoskop dieser neuesten Paulusperspektiven sucht man explizite Machtdiskurse vergeblich und begegnet stattdessen klassischen Ohnmachtsdiskursen. 12 Dabei ist allen hier genannten Facetten gemeinsam, dass sie machtaffin sind, mit anderen Worten, dass Bildung, religiöse bzw. handwerkliche Fertigkeiten und Kompetenzen sowie das Streben nach bzw. das Erringen von sozialem Status Handlungspotentiale und damit Handlungsmacht erzeugen, die wiederum ihrem Träger ein wirksames Agieren, d. h. das Ausüben von Macht, ermöglichen. In diesem Sinne verfügte auch Paulus über Macht, verstanden nicht als Herrschaftssondern als Handlungsmacht, und entfaltete diese wirksam in seiner Lebenswelt. 8 Vgl. H. Wendt, At the Temple Gates. The Religion of Freelance Experts in the Roman Empire, Oxford 2016. 9 Vgl. D. Rohde, Von Stadt zu Stadt. Paulos als wandernder Handwerker und die ökonomisch motivierte Mobilität in der frühen Kaiserzeit, in: S. Alkier / M. Rydryck (Hg.), Paulus - Das Kapital eines Reisenden. Die Apostelgeschichte als sozialhistorische Quelle (SBS 241), Stuttgart 2018, 85-117. 10 Vgl. zu Rollenvielfalt und Mobilität des Paulus: U. Huttner, Unterwegs im Mäandertal. Überlegungen zur Mobilität des Paulus, in: Alkier / Rydryck, Paulus - Das Kapital eines Reisenden, 118-148. 11 Vgl. E.-M. Becker / J. Mortensen (ed.), Paul as Homo Novus. Authorial Strategies of Self- Fashioning in Light of a Ciceronian Term (Studia Aarhusiana Neotestamentica 6), Göttingen 2018. 12 Vgl. exemplarisch E.-M. Becker, Paul als Homo Humilis, in: Becker / Mortensen, Paul as Homo Novus, 115-125. Dr. Michael Rydryck , Jahrgang 1980, studierte Vergleichende Religionswissenschaft, Philosophie, Alte Geschichte und Evangelische Theologie in Bonn und Frankfurt und wurde 2016 in Frankfurt promoviert. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Neues Testament und Geschichte der Alten Kirche sowie Mitarbeiter im Dekanat im Bereich Studium und Lehre am Fachbereich Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt. Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind Paulus, das lukanische Doppelwerk sowie Fragen der Wunderhermeneutik. 8 Michael Rydryck 2. Macht: Habitus und Handlungsmacht In der Forschungsgeschichte der neutestamentlichen Wissenschaft wurde und wird Macht oftmals mit Herrschaft gleichgesetzt. Letztere verfällt allerdings demselben Verdikt, das Manfred Josuttis hinsichtlich der Macht formuliert hat: Herrschaftsdiskurse sind in aller Regel Diskurse über Herrschaftskritik (vgl. hier etwa die Positionen der imperial studies oder des post-colonial criticism). Die Rezeptionsgeschichte von Röm 13 in der Gegenwart oder die Auslegung der Johannesoffenbarung können als zwei besonders prominente Felder für Herrschaftskritik und das Befremden gegenüber Herrschaft und Macht dienen. Doch greifen diese Diskurse über Herrschaft ebenso zu kurz wie die implizite Gleichsetzung von Herrschaft und Macht. Herrschaft ist lediglich ein politischer Teilaspekt von Macht. Daher muss die grundlegende Frage lauten: Was verstehen wir unter Macht? Erst nach Klärung dieser funktional zu beantwortenden Frage können evaluative Fragen nach den Quellen der Macht und dem Gebrauch oder dem Missbrauch von Macht sinnvoll gestellt werden. Denn auch das muss klar sein: Der Machtdiskurs innerhalb der christlichen Theologie kann sich nicht auf eine funktionale Perspektive beschränken, sondern muss Phänomene der Macht immer auch theologisch evaluieren, denn weder ist jede Form von Macht allein von Gott, noch ist sie allein vom Teufel. Der Duden definiert Macht folgendermaßen: Macht ist die „Gesamtheit der Mittel und Kräfte, die jemandem oder einer Sache andern gegenüber zur Verfügung stehen; Einfluss“ 13 . Der Soziologe Pierre Bourdieu (1930-2002) führt die funktionale Bestimmung von Macht weiter aus und zeichnet sie in das Geflecht sozialer Felder ein: „Das Feld der Macht (nicht zu verwechseln mit dem politischen Feld) ist kein Feld wie die anderen: Es ist der Raum der Machtverhältnisse zwischen verschiedenen Kapitalsorten oder, genauer gesagt, zwischen Akteuren, die in ausreichendem Maße mit einer der verschiedenen Kapitalsorten versehen sind, um gegebenenfalls das entsprechende Feld beherrschen zu können, und deren Kämpfe immer dann an Intensität zunehmen, wenn der relative Wert der verschiedenen Kapitalsorten (zum Beispiel der ‚Wechselkurs‘ zwischen kulturellem und ökonomischen Kapital) ins Wanken gerät; vor allem also dann, wenn das im Feld bestehende Gleichgewicht zwischen jenen Instanzen bedroht ist, deren spezifische Aufgabe die Reproduktion des Feldes der Macht ist […].“ 14 13 www.duden.de/ rechtschreibung/ Macht (letzter Zugriff: 16.09.2019). 14 P. Bourdieu, Sozialer Raum und Feld der Macht, in: P. Bourdieu, Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt 10 2018, 51. Paulus und die Macht 9 Macht ist demnach das Handlungspotential eines Akteurs in unterschiedlichen Feldern (politisch, ökonomisch, sozial, religiös, kulturell etc.), in denen unterschiedliche Kapitalsorten (soziale, politische, ökonomische, kulturelle, symbolische etc.), d. h. Handlungspotentiale, von relativem Wert sind. Die im Habitus akkumulierten und inkorporierten Kapitalsorten (Handlungspotentiale) können kultur- und lebensweltabhängig ineinander konvertiert werden. Die Grenzen dieser Konvertierbarkeit bilden die Grenzen der Handlungsmacht eines Akteurs. Die neuere Soziologie hat im Zusammenhang mit solchen Handlungspotentialen den Begriff agency (Handlungsmacht) geprägt und damit die enge Verbindung von Akteuren und deren Handlungspotentialen auf den Begriff gebracht: „Der allen Verwendungen und spezifischen Definitionen von ‚Agency‘ in den Sozialwissenschaften gemeinsame Kern lässt sich so umreißen: der Begriff ‚Agency‘ ist in sehr grundsätzlicher Weise mit den elementaren Fragen der Sozialwissenschaften verbunden, wer mit wem was in welcher Weise macht/ machen kann, wessen Wirkung wem (dem Individuum, der Gesellschaft, anonymen Mächten etc.) zugerechnet werden kann und was in der Macht des Einzelnen steht (faktisch oder als Vorstellung). ‚Agency‘ ist ein Grundbestandteil aller Konzepte, die erforschen oder erklären, wer oder was über welche Art von Handlungsmächtigkeit verfügt oder diese zugeschrieben bekommt bzw. als welchen und wessen Einwirkungen geschuldet etwas zu erklären ist.“ 15 Die Art und Weise, wie sich Akteure diese als Agency verstandene Handlungsmacht zu eigen machen, hat Bourdieu - gerade theologisch und neutestamentlich nicht uninteressant - als das Einverleiben bzw. die Verleiblichung von Handlungspotentialen (Bourdieu: Kapitalsorten) beschrieben 16 und das Ergebnis dieses Einverleibungsprozesses auf den Begriff des Habitus gebracht. 17 Die inkorporierten Handlungspotentiale werden zum Habitus eines Akteurs, der sein Handeln bzw. seine Handlungsmöglichkeiten (Agency) in einem sozialen Feld zwar nicht determiniert, aber entscheidend bestimmt und auch begrenzt: 15 C. Helfferich, Einleitung: Von roten Heringen, Gräben und Brücken. Versuche einer Kartierung von Agency-Konzepten, in: S. Bethmann / C. Helfferich / H. Hoffmann / D. Niermann (Hg.), Agency. Qualitative Rekonstruktionen und gesellschaftstheoretische Bezüge von Handlungsmächtigkeit, Weinheim / Basel 2012, 10. 16 Vgl. G. Fröhlich, Einverleibung (incorporation), in: G. Fröhlich / B. Rehbein (Hg.), Bourdieu Handbuch. Leben - Werk - Wirkung, Stuttgart 2014, 81-90; sowie W. Fuchs-Heinritz / A. König, Pierre Bourdieu. Eine Einführung, 3.- Aufl., Konstanz / München 2014, 106-109. 17 Zu dem für Bourdieu grundlegenden Begriff des Habitus vgl. B. Krais / G. Gebauer, Habitus, Bielefeld 6 2014; B. Rehbein / G. Saalmann, Habitus (habitus), in: Fröhlich / Rehbein, Bourdieu Handbuch, 110-118; Fuchs-Heinritz / König, Pierre Bourdieu, 89-106; B. Rehbein, Die Soziologie Pierre Bourdieus, Konstanz 2 2011, 86-98. 10 Michael Rydryck „Die für einen spezifischen Typus von Umgebung konstitutiven Strukturen (etwa die eine Klasse charakterisierenden materiellen Existenzbedingungen), die empirisch unter der Form von mit einer sozial strukturierten Umgebung verbundenen Regelmäßigkeiten gefasst werden können, erzeugen Habitusformen, d. h. Systeme dauerhafter Dispositionen, strukturierte Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken“. 18 Der Habitus und damit die daraus resultierende Handlungsmacht sind denjenigen Sozialstrukturen angepasst, in denen sie erworben wurden. Die Handlungsmuster der sozialen Akteure sind daher darauf gerichtet, die ihnen vertrauten Strukturen zu reproduzieren, um die eigene Agency zu erhalten. Auf Veränderungsprozesse reagiert der Habitus mit Trägheitseffekten, die Bourdieu unter den Begriff „Hysteresis“ (Hinterherhinken) fasst. 19 Diese Hysteresis kann zu Phänomenen der sozialen Unangepasstheit von Habitus und sozialen Strukturen, ja sogar zum Wandel von Handlungsmacht in Ohnmacht führen, wie sie insbesondere in Zeiten des beschleunigten Wandels oder der revolutionären Veränderung nicht selten sind. Mit Blick auf die neutestamentliche Wissenschaft und insbesondere die Paulus-Forschung ist hier nicht zuletzt die Möglichkeit interessant, den Zusammenhang von biographischen Brüchen, Identitäts- und Machtkonstellationen sowie Hysteresis-Effekten zu untersuchen. Agency ist die - entweder generelle oder aber situative - Konvertierbarkeit der im Habitus inkorporierten Handlungspotentiale in einem bestimmten sozialen Feld (Politik, Wirtschaft, Religion, Kultur etc.). Der Habitus ist dabei immer an ein konkretes Subjekt gebunden. Agency dagegen lässt sich als Handlungsmacht delegieren, ohne jedoch die eigene Macht aufgeben zu müssen, wie ein Blick auf das neutestamentliche Verhältnis von Christus zu seinen Aposteln oder ein Blick in Art. 20 II des Grundgesetzes exemplarisch deutlich machen: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus [Quelle der Macht, Anm. MR]. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen [Agency, Anm. MR] und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt [Delegieren von Agency, Anm. MR].“ 20 Im Kontext der neutestamentlichen Wissenschaft und gerade im Kontext der Paulus-Forschung vermögen die Begriffe Habitus und Agency sowohl die Textinterpretation als auch die daran anschließenden (Macht-)Diskurse zu bereichern: Die Frage nach der Selbstbzw. Fremdzuschreibung von Handlungs- 18 P. Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt am Main 3 2012, 164-165. 19 Vgl. M. Suderland, Hystersis (hystérésis), in: Fröhlich / Rehbein, Bourdieu, 127-129. 20 Grundgesetz Art. 20 Abs. 2, München 50 2019, 14. Paulus und die Macht 11 macht, Wirksamkeit und Verantwortlichkeit ist für die Interpretation der neutestamentlichen Texte theologisch von eminenter Bedeutung. 21 Gerade die Agency-Konstruktionen in autobiographischen Texten, 22 wie den Briefen des Paulus, verdienen hier besondere Beachtung. Bislang oft isoliert betrachtete Perspektiven wie der soziale und der religiöse Status des Paulus, sein Bildungspotential, sein Berufungserlebnis, seine Reisen, sein missionarisches, kybernetisches und theologisches Wirken, seine Briefkommunikation, seine autobiographischen Entwürfe sowie seine Leiden in der Nachfolge Christi können als „strukturierte Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken“, d. h. als Aspekte seines Habitus verstanden und mit Blick auf die daraus resultierende Handlungsmacht interpretiert werden. Diese habituellen Strukturen sind in den Texten des Corpus Paulinum gleichsam in einen Textleib inkorporiert und müssen nicht, wie bisher nicht selten geschehen, in einer hinter den Briefen konstruierten Persönlichkeit oder Intention des Paulus gesucht werden. Die Intentionen auch des Paulus sind mit seinem Tod erloschen und heutiger Forschung bleibend entzogen. Indem aber der Habitus des Paulus einen spezifischen Habitus des Schreibens erzeugt hat und indem seine Briefe Zeugnisse ebenso seiner Handlungsmacht wie seiner autobiographischen Agency-Konstruktionen sind, bilden die paulinischen Briefe die notwendige, unhintergehbare Referenz für die Frage nach dem Habitus und damit nach der Agency des Paulus. Mit Blick auf einige exemplarische Aspekte der Paulus-Forschung werde ich im Folgenden das heuristische Potential der Begriffe Habitus und Agency bei der Interpretation des Corpus Paulinum skizzieren. 3. Gab es einen „vorchristlichen“ und einen „christlichen“ Paulus? Aspekte des Habitus und der Handlungsmacht des Paulus Liest man das Corpus Paulinum als Sammlung autobiographischer Texte und damit als Ausdruck des paulinischen Habitus ebenso wie der paulinischen Agency-Konstruktion, stößt man auf eine Problemkonstellation, die Bourdieu als „biographische Illusion“ gekennzeichnet hat: 21 Vgl. hier exemplarisch die Studie von J. Maston, Divine and Human Agency in Second Temple Judaism and Paul. A Comparative Study (WUNT 297), Tübingen 2010. 22 Vgl. hier die hermeneutischen und methodischen Ansätze bei G. Lucius-Hoene, „Und dann haben wir’s operiert“. Ebenen der Textanalyse narrativer Agency-Konstruktionen, in: Bethmann / Helfferich / Hoffmann / Niermann, Agency, 40-70; sowie die exegetischen Studien bei K. B. Wells, Grace and Agency in Paul an Second Temple Judaism. Interpreting the Transformation oft he Heart (NT.S 157), Leiden 2015. 12 Michael Rydryck „Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass hinter der autobiographischen Erzählung immer zumindest teilweise ein Interesse an der Sinngebung steht, am Erklären, am Auffinden einer zugleich retrospektiven und prospektiven Logik, einer Konsistenz und Konstanz, um derentwillen intelligible Relationen wie die von Wirkung und Ursache zwischen aufeinanderfolgenden Zuständen hergestellt werden, die damit zu Etappen einer notwendigen Entwicklung erhoben sind. […] Der Neigung, sich zum Ideologen des eigenen Lebens zu machen, indem man in Abhängigkeit von einer Globalintention bestimmte signifikante Ereignisse auswählt und Verknüpfungen zwischen ihnen herstellt, die geeignet scheinen, ihr Eintreten zu begründen und ihre Kohärenz zu gewährleisten, solche etwa, wie sie implizit geschaffen werden, wenn man Ereignisse als Ursachen oder, häufiger noch, als Zwecke setzt - dieser Neigung also kommt die natürliche Komplizenschaft des Biographen entgegen, der in jeder Hinsicht, angefangen bei seinen Dispositionen des Berufsinterpreten, geneigt ist, diese künstliche Sinnschöpfung zu akzeptieren.“ 23 Das entscheidende Ereignis einer solchen narrativen Sinngebung in den autobiographischen Zeugnissen des Paulus ist das Damaskuserlebnis, wie es etwa in Gal 1,12-16 oder in Phil 3,3-14 von Paulus entfaltet wird. Viele Biographen sind ihm weitgehend in dieser autobiographischen Narration gefolgt und entwarfen ein biographisches Diptychon mit dem Damaskuserlebnis als Scharnier. Schon Deissmann unterschied zwischen dem Juden Paulus und dem Christen Paulus. 24 Neuere biographische Entwürfe enthalten die analoge Unterscheidung zwischen einem vorchristlichen und dem christlichen Paulus. 25 Das von Paulus als signifikant erlebte und textlich inszenierte Damaskusereignis ist für die biographische Forschung der Dreh- und Angelpunkt einer linear konstruierten Lebensgeschichte, in der sich ein Vorher von einem Nachher klar unterscheiden und sinngebend plausibel machen lassen. Doch diese attraktive, (auto-)biographische Sinnkonstruktion einer durch ein Schlüsselerlebnis zweigeteilten Lebensgeschichte und eines entsprechenden religiösen Identitätswechsels des Paulus ist in der gegenwärtigen Forschung fragwürdig geworden: Zum einen hat der neu entfachte Identitätsdiskurs in Exegese und Altertumswissenschaften die Vielschichtigkeit und Isomorphie jüdischer, christlicher und römisch-hellenistischer Identitätskonstruktionen herausgearbeitet. 26 Zum anderen konnten kultur-, sozial- und ritualwissen- 23 P. Bourdieu, Die biographische Illusion, in: Bourdieu, Praktische Vernunft, 76. 24 Vgl. Deissmann, Paulus, 59-129. Auch in der gegenwärtigen Forschung findet sich diese Unterscheidung noch, etwa bei E. Ebel, Das Leben des Paulus, in: Wischmeyer, Paulus, 114-116. 25 Vgl. Horn, Paulus Handbuch, 43-134; sowie Schnelle, Paulus. Leben und Denken, 39-113. 26 Vgl. S. Alkier / H. Leppin (Hg.), Juden - Heiden - Christen? : Religiöse Inklusion und Exklusion in Kleinasien bis Decius (WUNT 400), Tübingen 2018. Paulus und die Macht 13 schaftliche Arbeiten zeigen, dass biographische und hier insbesondere religiöse Wandlungsprozesse komplexer und zeitintensiver sind als in dichotomischen, an punktuellen Ereignissen bzw. Erlebnissen orientierten Konversionsmodellen angenommen. 27 Auch die Apostelgeschichte, die zwar eine wiederholte Inszenierung des Damaskusereignisses bietet (Apg 9,3-19; 22,6-16; 26,12-18), trägt in sozialwissenschaftlicher Perspektive nur an der Erzähloberfläche eine zweigeteilte Lebensgeschichte des Paulus - darunter ergeben sich zahlreiche Kontinuitäten im Bild des paulinischen Habitus. 28 Wirft man einen Blick auf den Habitus („strukturierte Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken“) des Paulus in seinen Selbst- (Protopaulinen) und den neutestamentlichen Fremdzeugnissen (Apostelgeschichte, Deuteropaulinen 29 ) und die daraus resultierende Agency (Handlungsmacht), lassen sich einige Konturen ausmachen: Paulus hatte berufliche Kompetenz im Handwerk (vgl. Apg 18,1-3) erworben, was ihn in die Lage versetzte, ortsunabhängig einer Erwerbsarbeit nachzugehen und dadurch ökonomisch unabhängig zu agieren (vgl. 1Thess 2,9; 1Kor 9,7-23). Eine damit zusammenhängende habitualisierte Mobilität ist in seinen Briefen breit bezeugt (vgl. etwa Gal 1,15-21; 1Kor 16,5-12; 2Kor 11,26; Röm 15,22-29), ohne die seine missionarische Agency nicht denkbar wäre. Die Briefe legen zudem eindrücklich Zeugnis ab von der Bildungskompetenz, 30 der Schriftgelehrsamkeit und dem kommunikativen Habitus des Paulus - Handlungspotentiale, die sowohl seine Missionsals auch seine Lehrtätigkeit ermöglichten. Soziale, religiöse und kommunikative Netzwerke spielen für die Agency des Paulus eine wichtige Rolle - der Habitus eines Netzwerkers ist in den Briefen deutlich ausgeprägt. 27 Vgl. als grundlegende Studien: C. Strecker, Die liminale Theologie des Paulus. Zugänge zur paulinischen Theologie aus kulturanthropologischer Perspektive (FRLANT 185), Göttingen 1999; Ders., Taufrituale im frühen Christentum und in der Alten Kirche. Historische und ritualwissenschaftliche Perspektiven, in: D. Hellholm (Hg.), Ablution, Initiation, and Baptism. Late Antiquity, Early Judaism, and Early Christianity II (BZNW 176), Berlin / New York 2011, 1383-1440; Ders., Die frühchristliche Taufpraxis. Ritualhistorische Erkundungen, ritualwissenschaftliche Impulse, in: W. Stegemann / R. E. DeMaris (Hg.), Alte Texte in neuen Kontexten. Wo steht die sozialwissenschaftliche Bibelexegese? , Stuttgart 2015, 347-410. 28 Vgl. hier M. Rydryck, Das Kapital des Paulus. Ein Beitrag zur sozialhistorischen Plausibilität der Apostelgeschichte, in: Alkier / Rydryck, Paulus - Das Kapital eines Reisenden, 59-84. 29 Gerade mit Blick auf die sogenannten Deuteropaulinen, die ja textuelle Imitationen des paulinischen Habitus oder genauer des paulinischen Habitus des Schreibens darstellen, besteht m. E. Forschungsbedarf in Sachen Habitus und Agency-Konstruktionen. Ich fokussiere mich daher hier auf die besser erforschte Darstellung des Paulus in der Apostelgeschichte. 30 Vgl. hier die umfassende Studie von Vegge, Paulus und das antike Schulwesen. 14 Michael Rydryck Nach Ausweis der Apostelgeschichte hatte Paulus sowohl das Bürgerrecht der Stadt Tarsus (Apg 21,39), als auch von Geburt an das römische Bürgerrecht (Apg 16,37; 22,28) und damit erhebliche rechtliche Handlungspotentiale auf lokaler und imperialer Ebene inne - das Schweigen darüber in den Selbstzeugnissen bedarf der Erklärung und soll im Folgenden plausibilisiert werden. Der Habitus eines freigeborenen, loyalen Bürgers wird indes auch in den Briefen greifbar (vgl. Röm 13,1-7; 1Kor 9,1-18). Spezifisch religiöse Handlungspotentiale wie die Berufung vor Damaskus, ekstatische Begabung und Erfahrung (vgl. 2Kor 12,1-4), die Leidensfähigkeit in der Nachfolge Christi (vgl. etwa 1Kor 9,24-27; 2Kor 4,7-17; 2Kor 11,23-27; Phil 1,12-30) und vor allem der für Paulus in seiner Agency-Konstruktion so entscheidende Aposteltitel, den er vehement und wiederholt zu verteidigen sucht (vgl. 1Kor 9,1-6; 1Kor 15,6-11; 2Kor 10,12-18; 2Kor 11,12-15), prägen den paulinischen Habitus sowie Konstruktion und Konkretion seiner Handlungsmacht. Die ethnische und religiöse Zugehörigkeit zum pharisäischen Judentum (vgl. 2Kor 11,22; Phil 3,4-5) stellten schließlich Handlungspotentiale zur Verfügung, die es Paulus etwa ermöglichten, synagogale Netzwerke und Ressourcen zu nutzen oder in Jerusalem den Tempel zu betreten. Stellt das Damaskuserlebnis in diesem Horizont von Habitus und Handlungsmacht des Paulus einen fundamentalen Einschnitt dar? Nein und Ja. Nein, denn der Christ Paulus war der Jude Paulus ebenso wie der Bürger und Handwerker Paulus, der weiterhin die Synagogen für seine Mission nutzte, 31 der weiterhin den Tempel betreten durfte und der weiterhin für seinen Lebensunterhalt arbeiten konnte. Weder die Bildungsnoch die Berufskompetenzen und die entsprechenden Handlungsmöglichkeiten des Paulus wurden durch das Damaskuserlebnis verändert; ebenso wenig wie die Handlungsmacht, die ihm durch das Bürgerrecht zur Verfügung stand. Beantwortet man die oben gestellte Frage jedoch mit Ja, ergibt sich dennoch kein Diptychon: Durch das Damaskuserlebnis fügt Paulus seinem Habitus neue, spezifisch religiöse Handlungspotentiale hinzu wie die ekstatische Begabung, die Leidensfähigkeit in der Nachfolge Christi und den Aposteltitel, ohne indes seine bisherigen Handlungspotentiale einzubüßen. Damaskus bedeutet in dieser Hinsicht keinen radikalen biographischen Bruch, sondern eine Erweiterung der paulinischen Agency sowie das Inkorporieren neuer Handlungspotentiale in seinen Habitus. Der eigentliche Bruch hat seinen Ort in der Agency-Konstruktion des Paulus: Nicht der Habitus und die Agency des Paulus ändern sich radikal vor Damaskus, sondern die Perspektive des Paulus auf seinen Habitus (vgl. Phil 3,7-13; Gal 2,19) sowie die Einschätzung der Quelle seiner Handlungsmacht (Gal 2,20): „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich 31 So argumentiert auch Deissmann, Paulus, 67. Paulus und die Macht 15 im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich hingegeben hat.“ 32 Leben kann hier gleichbedeutend mit Agency verstanden werden. Hatte Paulus zuvor seine Agency sich selbst in seinem habitualisierten Eifer für den Gott Israels zugeschrieben (vgl. Gal 1,13-14; Phil 3,4-6), so schreibt er sie nach Damaskus Jesus als dem Christus und Sohn des Gottes Israels zu, als neuem Kern und Agens seines (ansonsten unveränderten bzw. bereicherten) Habitus sowie seiner nun christologisch interpretierten und orientierten Handlungsmacht. 4. Die feinen Unterschiede: Das Ringen um den Titel „Apostel“ Ein zentraler Aspekt des Habitus und der daraus resultierenden Handlungsmacht des Paulus ist der Titel „Apostel“. 33 Dass Titel spezifische Handlungsmacht verleihen und dass sie Teil der habitualisierten Distinktionsstrategien von Akteuren gegenüber anderen Akteuren sind, wird unschwer bei einem Blick in akademische und kirchliche Institutionen deutlich. Bourdieu untersucht die Funktion von Titeln im Gesamtzusammenhang der „feinen Unterschiede“, die eine Gesellschaft strukturieren, indem sie die Verteilung von spezifischer Handlungsmacht (wie das Recht zu predigen, die Sakramente zu spenden, akademische Prüfungsrechte etc.) in gesellschaftlichen Feldern legitimieren und regulieren. 34 Für unseren Kontext spielt es dabei keine Rolle, bis zu welchem Grad der Aposteltitel zur Zeit der Abfassung der paulinischen Briefe bereits institutionalisiert war. Der Fokus auf diese Frage mag auch mit der starken Institutionalisierung von Titeln eben in akademischen und kirchlichen Kontexten zusammenhängen sowie mit dem daraus resultierenden Forschungshabitus. Für Paulus ist dagegen weniger die Institutionalisierung des Aposteltitels als vielmehr die ihm daraus erwachsende Handlungsmacht von Bedeutung - es geht um die feinen Unterschiede: Paulus thematisiert den Aposteltitel in Gal 1,1; 1Kor 1,1; 1Kor 9; 1Kor 15,8-10 und Röm 1,1 als entscheidenden Teil seiner Agency-Konstruktion. Der Aposteltitel ist ein symbolisches Kapital und ein unverzichtbarer Teil des 32 Hier und im Folgenden werden Bibelzitate nach der revidierten Lutherübersetzung von 2017 wiedergegeben. 33 Vgl. zur Einführung in die aktuelle Debatte um den Apostel-Begriff: J. Frey, Paulus und die Apostel. Zur Entwicklung des paulinischen Apostelbegriffs und zum Verhältnis des Heidenapostels zu seinen „Kollegen“, in: Becker / Pilhofer, Biographie und Persönlichkeit des Paulus, 192-227; sowie C. Gerber, Paulus, Apostolat und Autorität oder Vom Lesen fremder Briefe, (ThSt 6), Zürich 2012, 35-51. 34 Vgl. P. Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, 25.-Aufl., Frankfurt am Main 2016, 31-167. 16 Michael Rydryck paulinischen Habitus. Aus Sicht des Paulus verdankt er dieses Kapital allein seiner Berufung durch Christus. Der Grund dafür ist nicht zuletzt in dem Umstand zu suchen, dass der Titel „Apostel“ in der Lebenswelt des Paulus in konkrete Handlungsmacht konvertierbar ist: Ein Apostel hat die von Christus legitimierte Agency zur Verkündigung, zum missionarischen Handeln und zur Gründung von Gemeinschaften von Christusanhängern. 35 Aus diesem Grund kann Paulus zu Beginn des Galaterbriefes, der Korintherbriefe und des Römerbriefes seinen Titel in kommunikative und kybernetische Handlungsmacht umsetzen. Der Aposteltitel ist damit ein wichtiger Bestandteil des paulinischen Habitus des Schreibens. Die Selbstbeschreibung als Apostel (Habitus) ist für Paulus Kern und treibende Kraft (lat. agens) seines missionarischen Wirkens (agency). Kritisch ist in diesem Zusammenhang allerdings die Frage, aus welcher Quelle Paulus das symbolische Kapital seines Titels schöpft: Hat sich Paulus den Aposteltitel einfach selbst zugeschrieben, um seine Handlungsmacht zu begründen und zu mehren? Oder wurde ihm der Titel auf legitime Weise verliehen - und wenn ja, von wem? Die Apostelgeschichte etwa schreibt Paulus den Aposteltitel nicht zu. Und die ständige Betonung der göttlichen Legitimierung des Titels (vgl. etwa 1Kor 1; 2Kor 1 oder Röm 1,1) in den autobiographischen Selbstzeugnissen des Paulus verschärft diesen Befund eher, als dass sie ihn ausgleicht. Explizit wird das Prekäre in der Habitualisierung und Konvertierung des Aposteltitels in der Agency-Konstruktion des Paulus am Beginn des Galaterbriefes (Gal 1,1-2): „Paulus, Apostel nicht von Menschen, auch nicht durch einen Menschen, sondern durch Jesus Christus und Gott, den Vater, der ihn auferweckt hat von den Toten, und alle Brüder und Schwestern, die bei mir sind, an die Gemeinden in Galatien.“ Paulus konstruiert hier eine Distinktion zwischen dem Aposteltitel als sozialem Kapital, das ihm entweder durch eine Gemeinschaft von Christusanhängern („nicht von Menschen“) oder durch den irdischen Jesus selbst im Sinne der apostolischen Sukzession („auch nicht durch einen Menschen“) hätte verliehen werden können, und dem Aposteltitel als symbolischem Kapital, dessen Erwerb Paulus allein der Übertragung von Agency durch den auferweckten Christus und Gott verdankt. Gottes unüberbietbare Handlungsmacht, an der Paulus durch seine Berufung partizipiert, wird hier und andernorts entsprechend deutlich herausgestellt (Röm 1,1-7): „Paulus, ein Knecht Christi Jesu, berufen zum Apostel, ausgesondert zu predigen das Evangelium Gottes, das er zuvor verheißen hat durch seine Propheten in der Heili- 35 Vgl. hierzu C. Gerber, Paulus, Apostolat und Autorität oder Vom Lesen fremder Briefe (ThSt 6), Zürich 2012, 40-41. Paulus und die Macht 17 gen Schrift, von seinem Sohn, der geboren ist aus dem Geschlecht Davids nach dem Fleisch, der eingesetzt ist als Sohn Gottes in Kraft nach dem Geist, der da heiligt, durch die Auferstehung von den Toten - Jesus Christus, unserm Herrn. Durch ihn haben wir empfangen Gnade und Apostelamt, den Gehorsam des Glaubens um seines Namens willen aufzurichten unter allen Heiden, zu denen auch ihr gehört, die ihr berufen seid von Jesus Christus. An alle Geliebten Gottes und berufenen Heiligen in Rom: Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus! “ Eine Infragestellung der legitimen Apostolizität des Paulus würde dagegen eine Beeinträchtigung nicht nur seiner, sondern auch der göttlichen Handlungsmacht darstellen - eine ideologisch tragfähige Legitimierungs- und Distinktionsstrategie. Es geht Paulus also um die Begründung und um die Unterscheidbarkeit seiner Macht gegenüber anderen Akteuren. Dieser Strategie folgend kann Paulus auch keine Machtinterferenzen zulassen, die durch Akteure entstehen, die sich den Aposteltitel aus Sicht des Paulus zu Unrecht anmaßen (2Kor 11,12-15): „Was ich aber tue, das will ich auch weiterhin tun, um denen den Anlass zu nehmen, die einen Anlass suchen, sich zu rühmen, sie seien wie wir. Denn solche sind falsche Apostel, betrügerische Arbeiter und verstellen sich als Apostel Christi. Und das ist auch kein Wunder; denn er selbst, der Satan, verstellt sich als Engel des Lichts. Darum ist es nichts Großes, wenn sich auch seine Diener verstellen als Diener der Gerechtigkeit; deren Ende wird sein nach ihren Werken.“ Nicht alle Macht ist vom Teufel, aber manche schon. Die Herkunft des Titels legitimiert oder delegitimiert die Handlungsmacht der Akteure und entscheidet über die Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit des Habitus. Erst die Übertragung von Agency durch Gott und seinen Christus erzeugt die feinen Unterschiede, die mit dem Aposteltitel verbunden sind. 5. Grenzen der habitualisierten Handlungsmacht oder das Schweigen über das römische Bürgerrecht Nicht von Gott, sondern durch Menschen oder auch durch einen Menschen (seinen Vater) hatte Paulus nach Ausweis der Apostelgeschichte das Bürgerrecht seiner Heimatstadt Tarsus und das römische Bürgerrecht. 36 Gerade das römische Bürgerrecht stellte lebensweltlich ein erhebliches politisches wie rechtliches Kapital dar und prägt in der Apostelgeschichte nicht unwesentlich den 36 Zur offenen Forschungskontroverse in Bezug auf den Bürgerrechtsstatus des Paulus vgl. Ebel, Das Leben des Paulus, in: Wischmeyer, Paulus, 108-113; H. Omerzu, Tarsisches und römisches Bürgerrecht, in: Horn, Paulus Handbuch, 43-134; sowie Schnelle, Paulus. Leben und Denken, 55-58 sowie 40-44. 18 Michael Rydryck Habitus und das Handeln des Paulus. 37 Daher wurde das Schweigen des Paulus über sein Bürgerrecht in den authentischen Selbstzeugnissen immer als Problem empfunden und zum Anlass genommen, der Apostelgeschichte in diesem Punkt Fiktionalität zu unterstellen und dem historischen Paulus das Bürgerrecht abzusprechen. Auf diese alte Problemkonstellation fällt indes neues Licht, betrachtet man sie in der Perspektive von Habitus des Schreibens und Agency des Paulus: Die autobiographischen Passagen in Gal 1-2; 1Kor 9; 2Kor 11; Phil 3; Röm 1 und Röm 15 sind ja keineswegs als Selbstzweck oder gar als sentimentale Retrospektiven aufzufassen, sondern als ein spezifisch paulinischer Habitus des Schreibens, als argumentative und kommunikative Strategien der Selbst- und Agency-Konstruktion des Paulus zu rhetorischen Zwecken. Vor diesem Hintergrund muss die Frage gestellt werden, welche Funktion eine Selbstthematisierung des Bürgerrechtsstatus in den genannten Passagen erfüllt hätte. Die Antwort muss lauten, dass das Bürgerrecht als rechtliches und politisches Kapital keinen Zuwachs an Agency bedeutet hätte, da es auf dem Feld der religiösen und sozialen Kommunikation des Paulus schlicht nicht konvertierbar war. Im Gegenteil hätte sich der Hinweis auf den eigenen Bürgerrechtsstatus auf Argumentation und Agency des Paulus negativ auswirken können, da kaum alle Adressaten auch im Besitz dieses Privilegs gewesen sein dürften. Gerade in den römischen Kolonien Korinth und Philippi sowie in der Hauptstadt Rom hätte Paulus damit eine kontraproduktive soziale Distinktion zwischen sich und seinen Adressaten eingeführt, die seine Handlungsmacht gemindert hätte. Im Brief an die galatischen Gemeinden hätte dagegen ein Versuch das römische Bürgerrecht in Agency zu konvertieren seltsam deplatziert gewirkt, ging es doch hier nicht wie in der Korintherkorrespondenz um identitäre Spannungen zwischen jüdisch-christlichen und römisch-hellenistischen Handlungsmustern, sondern um Spannungen zwischen dem Habitus von nichtjüdischen und jüdischen Christusanhängern. Es ist darum kein Zufall, dass Paulus in der Darstellung der Apostelgeschichte sein Bürgerrecht ausschließlich in juristischen Kontexten (und auch dort strategisch) in Handlungsmacht umsetzt (vgl. Apg 16,16-40; Apg 21,27-25,12). Solche Kontexte sind in den genannten Briefpassagen jedoch nicht im Blick, sodass dort andere Kapitalsorten wie die Berufung durch Gott, der Aposteltitel und nicht zuletzt das inkorporierte Leiden in der Nachfolge Christi textstrategisch zur Sprache kommen. 37 Rydryck, Das Kapital des Paulus, 75-78. Paulus und die Macht 19 6. „Auf Narben weisen“ in der Nachfolge Christi „Sie sind Diener Christi? Ich rede wider alle Vernunft: Ich bin’s weit mehr! Ich habe mehr gearbeitet, ich bin öfter gefangen gewesen, ich habe mehr Schläge erlitten, ich bin oft in Todesnöten gewesen. Von Juden habe ich fünfmal erhalten vierzig Geißelhiebe weniger einen; ich bin dreimal mit Stöcken geschlagen, einmal gesteinigt worden; dreimal habe ich Schiffbruch erlitten, einen Tag und eine Nacht trieb ich auf dem tiefen Meer. Ich bin oft gereist, ich bin in Gefahr gewesen durch Flüsse, in Gefahr unter Räubern, in Gefahr von meinem Volk, in Gefahr von Heiden, in Gefahr in Städten, in Gefahr in Wüsten, in Gefahr auf dem Meer, in Gefahr unter falschen Brüdern; in Mühe und Arbeit, in viel Wachen, in Hunger und Durst, in viel Fasten, in Frost und Blöße; und außer all dem noch das, was täglich auf mich einstürmt, die Sorge für alle Gemeinden. Wer ist schwach, und ich werde nicht schwach? Wer wird zu Fall gebracht, und ich brenne nicht? “ So beschreibt Paulus in 2Kor 11,23-29 die Mühen und Leiden, die er in der Nachfolge Christi und im Zuge seines missionarischen Wirkens erdulden muss. Man könnte und hat diese autobiographische Passage als Beleg für einen Habitus der Niedrigkeit, für Ohnmacht und Machtverzicht des Paulus gewertet, zumal im Anschluss 2Kor 11,30 und 2Kor 12,9-10 die Stichworte für eine solche Lesart zu liefern scheinen. Doch gibt 2Kor 12,10 auch eine andere mögliche Lesart zu erkennen, die mit dem bisher über Habitus und Handlungsmacht des Paulus Gesagten in engem Zusammenhang steht: „Darum bin ich guten Mutes in Schwachheit, in Misshandlungen, in Nöten, in Verfolgungen und Ängsten um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark.“ Wörtlicher übersetzt lautet der letzte Teil: „Wenn ich nämlich schwach bin, so bin ich mächtig (griech. δυνατός).“ Leiden, Mühen, Schwäche und Gefangenschaft sind in der Agency-Konstruktion des Paulus leiblicher Ausdruck der Nachfolge Christi sowie der damit korrelierten Ermächtigung durch Christus. 38 Sie sind gerade kein Zeichen der Ohnmacht oder des Machtverzichts, sondern habitualisiertes symbolisches Kapital. Wer in der römisch-hellenistischen Lebenswelt „auf Narben weisen“ 39 kann, die er sich im Dienst einer höheren Sache - sei es die 38 Vgl. die Analyse der Implikationen dieser Perspektive bereits bei E. Güttgemanns, Der leidende Apostel und sein Herr. Studien zur paulinischen Christologie (FRLANT 90), Göttingen 1966; sowie die Interpretation der paulinischen Leidensaussagen als Machterweise Gottes bei Alkier, Wunder und Wirklichkeit in den Briefen des Apostels Paulus, 226-248. 39 Vgl. zur Semantik und Funktionalität dieses Phänomens E. Flaig, Ritualisierte Politik. Zeichen, Gesten und Herrschaft im Alten Rom (Historische Semantik 1), Göttingen 2 2004, 123-136. 20 Michael Rydryck Polis, die res publica oder sei es Christus - zugezogen hat, erwirbt symbolisches Kapital, das sich in politisches bzw. soziales Kapital und dementsprechend in Handlungsmacht konvertieren lässt. Für Paulus - und offenbar auch für seine ebenso jüdisch-christlich wie römisch-hellenistisch sozialisierten Adressaten - konstituiert dieses Kapital eine spezifisch christologische Agency. Wer um Christi willen wie Christus gelitten hat, der hat gleichsam Christus inkorporiert: „Denn ich bin durchs Gesetz dem Gesetz gestorben, damit ich Gott lebe. Ich bin mit Christus gekreuzigt. Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dahingegeben.“ (Gal 2,19-20). „Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen.“ (Gal 3,27). Die Leidensnachfolge Christi als Inkorporation seiner Leiden erzeugt symbolische und soziale Macht, die Paulus in 2Kor 11-12 und andernorts textstrategisch einzusetzen weiß: „Darum, obwohl ich in Christus alle Freiheit habe, dir zu gebieten, was zu tun ist, will ich um der Liebe willen eher bitten, so wie ich bin: Paulus, ein alter Mann, nun aber auch ein Gefangener Christi Jesu.“ (Phlm 8 f). Dass Christus, für den Paulus christologisch interpretierte Leiden und Gefangenschaft auf sich nimmt, die Quelle dieser Macht ist, legitimiert sie und ihren Träger. Machtkritisch ist hier anzumerken, dass der Einsatz dieser Macht ebenso an Christus zurückgebunden bleibt, mithin ihr Träger Christus und Gott gegenüber verantwortlich ist. Ein christlicher Habitus und eine sich auf Christus berufende Handlungsmacht können und dürfen sich niemals von Christus im Sinne einer autonomen religiösen und sozialen Macht unabhängig machen. Christliche Agency ist immer christologisch begründete und begrenzte Agency. Zum Thema Gnade und Handlungsmacht in den Briefen des Paulus John M.G. Barclay Eines der zentralen theologischen Motive in den Paulusbriefen ist die Gabe - die Gabe Gottes, deren letzter und endgültiger Ausdruck die Gabe (oder Selbsthingabe) Christi ist. Paulus bedient sich einer Vielzahl von Begriffen, um diesen Sacherhalt auszudrücken. Oft spricht er von charis, verwendet aber auch andere Worte aus dem semantischen Feld des Schenkens. „Gnade (charis) sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus, der sich selbst für unsere Sünden dahingegeben hat “ (Gal 1,4); „Denn ihr kennt die Gnade (oder Gunst, charis) unseres Herrn Jesus Christus“ (2Kor 8,9); „Dank sei Gott für seine unaussprechliche Gabe“ (2Kor 9,15); „Gott hat seinen einzigen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle dahingegeben - wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? “ (Röm 8,32). Diese Sprache der Gabe ist in den Paulusbriefen in einer vielfach überlappenden Begrifflichkeit überall vernehmbar (z. B. Gal 2,20-21; 5,4; Röm 4,4,16; 5,15-21; Phil 1,6; Eph 4,7-8; 5,2,25). Es würde in die Irre führen, wenn wir uns einzig auf das Wort charis konzentrierten, das, wie außerdem zu betonen ist, keiner besonderen theologischen Sprache angehört. Vielmehr handelt es sich um ein gebräuchliches griechisches Wort für Geschenk, Gunst oder Dankbarkeit. Es sagt als solches auch noch nicht aus, um welche Art von Geschenk es sich handelt. Für das englische grace war die lateinische Übersetzung von charis mit gratia prägend, und dieser Begriff hat (wie auch das deutsche Gnade) in der christlichen Theologie ein breites Spektrum von Konnotationen gebildet. Aber was bedeutete die Gabe-Terminologie für Paulus? Prof. Dr. John M.G. Barclay, geb. 1958, studierte klassische Philologie und Theologie an der Universität Cambridge (1977-81), wo er auch promoviert wurde (Ph.D., 1985). Von 1984 an war er zunächst Lektor, dann Professor für Neues Testament an der Universität Glasgow. Seit 2003 ist er Lightfoot Professor of Divinity am Department of Theology and Religion der Universität Durham. Gegenwärtig forscht er zu den sozialen Netzwerken antiker Ökonomie, Armenfürsorge und zur paulinischen Theologie der Gabe und der Gemeinschaft. Zeitschrift für Neues Testament 23. Jahrgang (2020) Heft 46 22 John M.G. Barclay Was meinen wir mit „Gnade“? Wenn wir das Wort „Gnade“ hören, assoziieren wir eine „freien Gabe“, aber „frei“ in welchem Sinne? Eine Gabe kann frei von Vorbedingungen sein, ohne Rücksicht auf das Verdienst oder den Wert der Beschenkten, „frei“ also im Sinne von ungeschuldet oder unverdient. Oder (und das ist eben nicht dasselbe) sie wird verstanden als „frei“ von nachträglichen Verpflichtungen, Schulden oder Forderungen, sozusagen „ohne Haken und Ösen“. In dieser Bedeutung entkommt „Gnade“ dem Kreislauf von Gegenseitigkeit und Gegenleistung, der Zirkularität des quid pro quo. Ein solches Verständnis von Gnade könnte dann aber den Aufruf zu Umkehr, Einsatz, Opfer, Dienst und Gehorsam obsolet erscheinen lassen, und man kann mit Recht fragen, ob dies nicht zu dem führen würde, was Bonhoeffer „billige Gnade“ nannte, ein Begriff von Gnade, der sich weigert, moralische Verpflichtungen anzuerkennen. 1 Es scheint angesichts dieser Sachlage am besten, mit dem Anfang anzufangen und dadurch zu einem Verständnis der paulinischen Aussagen zu gelangen, dass wir über den Charakter und die Wirkungsweise einer Gabe nachdenken. 2 Wir können „Gabe“ definieren als die Sphäre freiwilliger, persönlicher Beziehungen, die sich durch wohlwollende Gewährung eines Vorteils oder einer Gunst auszeichnet, sei es ein materieller Nutzen oder ein Dienst. Aber Gaben gibt es in verschiedenen Formen und Weisen des Schenkens. Jede Kultur hat ihre eigenen komplexen, unausgesprochenen Regeln für das Schenken, die sich darauf beziehen, wer wem etwas gibt, wie es gegeben werden soll und was als Gegenleistung erwartet oder sogar verlangt wird oder aber nicht erwartet wird. Tatsächlich ist das Schenken eine Quelle der Faszination für Anthropologen und Historiker, und es ist ein herausragendes Merkmal der meisten religiösen Traditionen, wie sie die Gegenseitigkeit des Schenkens zwischen Menschen und Göttern und die auf menschlicher Ebene zu verteilenden Geschenke strukturieren. 3 Wie auch in den meisten heutigen Kulturen waren in der Welt des Paulus Gaben ein wichtiges Mittel der sozialen Bindung: Sie banden dadurch Menschen aneinander, dass sie Beziehungen der Freundschaft und Verpflichtung stifteten und eine Form der Gegenseitigkeit evozierten, die freiwillig, aber auch für die Fortsetzung der Beziehung notwendig war. Wenn man ein Geschenk erhielt, 1 D. Bonhoeffer, Nachfolge, Gütersloh 1989 (1.-Aufl. 1937). 2 So bin ich auch in meinem Buch Paul and the Gift, Grand Rapids 2015 vorgegangen, auf das ich für eine wesentlich ausführlichere Präsentation und Diskussion des Materials verweise, das ich hier nur summarisch anführe. 3 Das grundlegende Werk, das am Anfang der anthropologischen Erforschung der Gabe steht, ist M. Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt 1968 (frz. Originalausgabe 1925). Gnade und Handlungsmacht in den Briefen des Paulus 23 aber weder Dankbarkeit dafür bekundete noch irgendeine Art von Gegengabe erbrachte, kam eine soziale Bindung nicht zustande bzw. wurde nicht aufrechterhalten und einer Freundschaft drohte das Ende. 4 Geschenke wurden unterschieden von Darlehen (ein Rechtsverhältnis) und vom Markttausch (bei dem der Wert der Transaktion genau berechnet werden kann). Aus bestimmten historischen Gründen sind viele westliche Kulturen außerdem dazu übergegangen, Geschenke von jeder Form des Austauschs zu unterscheiden und damit das Geschenk ohne Gegenleistung zu idealisieren, d. h. das einseitige (bisweilen sogar anonyme) Geschenk, das nicht auf Gegenseitigkeit beruht. Fraglos sind wir der Meinung, dass ein „reines“ Geschenk oder ein „freies“ Geschenk, wenn es seinen Namen denn verdient hat, ohne jeden Hintergedanken und ohne Druck auf den Empfänger, eine Gegenleistung zu erbringen, gegeben werden muss. Wir sind uns zwar bewusst, dass dies normalerweise nicht möglich ist, so wie wir sagen „nichts im Leben ist umsonst“, aber wir sind doch der Meinung, dass es so sein sollte. Aber das ist eine moderne, westliche Annahme, die von der lutherischen Theologie beeinflusst, in der Kantischen Ethik weiter entwickelt und von Jacques Derrida auf maximal zugespitzt wurde. 5 Es gibt jedoch besondere soziale, wirtschaftliche und politische Gründe dafür, dass sich der westliche Begriff der Gabe in dieser Weise entwickelt hat, und wir sollten dieses Verständnis nicht als selbstverständlich oder allgemeingültig ansehen und es vor allem nicht ungeprüft Paulus zuschreiben. Was macht eine vollkommene Gabe aus? Was würde das göttliche Geben wirklich überaus gnädig machen? Die Antwort lautet, dass es mehrere verschiedene Arten gibt, wie das ideale oder vollkommene Geschenk näher beschrieben werden kann. Es gibt verschiedene „Vollkommenheiten“ der Gnade, 4 Die umfangreichste erhaltene philosophische Abhandlung aus der Zeit des Paulus ist Seneca, De beneficiis. 5 Vgl. hierzu Paul and the Gift, 54-63 und J. Derrida, Falschgeld. Zeit geben I. Aus dem Französischen von Andreas Knop und Michael Wetzel, München 1993. Prof. Dr. John M.G. Barclay , geb. 1958, studierte klassische Philologie und Theologie an der Universität Cambridge (1977-81), wo er auch promoviert wurde (Ph.D., 1985). Von 1984 an war er zunächst Lektor, dann Professor für Neues Testament an der Universität Glasgow. Seit 2003 ist er Lightfoot Professor of Divinity am Department of Theology and Religion der Universität Durham. Gegenwärtig forscht er zu den sozialen Netzwerken antiker Ökonomie, Armenfürsorge und zur paulinischen Theologie der Gabe und der Gemeinschaft. 24 John M.G. Barclay verschiedene Dimensionen, in denen man diesen Begriff in seine reinste oder höchste Form bringen kann. Tatsächlich lassen sich mindestens sechs solcher „Vollkommenheiten“ unterscheiden: 1. Überfülle: Geschenke können in ihrer schieren Größe und ihrem Umfang vollkommen sein und alle anderen Geschenke durch die Tiefe und Bandbreite ihrer Großzügigkeit übertreffen. Da Gott der Geber aller Dinge ist und da die Gaben Gottes keinen Beschränkungen unterliegen, ist dies eine verbreitete Auffassung von der göttlichen Weise des Gebens, wenn auch oft im Ausgleich mit der Vorstellung, dass der menschlichen Fähigkeit zum Empfangen Grenzen gesetzt sind. 2. Singularität: Man kann von der Singularität der Gnade sprechen, wo Gottes Großzügigkeit nicht von Gericht oder Zorn beeinträchtigt ist, mithin Gott gegenüber der Welt nichts als großzügig ist. „Reine“ Gnade in diesem Sinne würde bedeuten, „gereinigt von jeder Haltung oder Handlung, die nicht Geschenk oder Gnade ist“. 3. Priorität: Als die besten Geschenke können diejenigen angesehen werden, die vorgängig gegeben werden, also nicht als Antwort auf ein vorheriges Geschenk, sondern als primäre Handlung, die sich allein der Initiative des Gebers verdankt. Da die Vorstellung von Gott als einem sekundären Geber üblicherweise als defizitär erscheint, haben Theologen vielfach betont, dass Gott immer derjenige ist, der zuerst gibt, sei es in der Schöpfung oder in der Erlösung. 4. Inkongruenz: Gemeint ist, dass die Gaben Gottes ohne Rücksicht auf den Wert der Empfänger gegeben werden, anders als bei den meisten menschlichen Gaben. Wir wählen sorgfältig aus, wem wir Geschenke machen, nach bestimmten Kriterien von Wert oder Würdigkeit. Hier liegt der Einwand nahe, dass solche Kriterien auch für das göttliche Geben leitend sein müssen, denn wenn Gott unterschiedslos Guten und Bösen gibt, würde dies die moralische Ordnung des Universums untergraben. Gleichwohl kann man an der Inkongruenz als Merkmal der perfekten göttlichen Gabe ohne Rücksicht auf Wert oder Unwert des Empfangenen festhalten. Dies ist eindeutig keine einfache Angelegenheit und löst zwangsläufig eine theologische Debatte aus. 5. Wirksamkeit: Geschenke, die nichts bewirken und für den Empfangenden ohne Belang sind, sind augenscheinlich anderen Geschenken, die eine positive Veränderung bewirken, unterlegen. Wenn Gott Gaben gibt, kann man erwarten, dass sie wirksam sind, d. h. dass sie die Absichten Gottes, der sie gegeben hat, realisieren. Aber das wirft Fragen der Handlungsmacht auf: Setzt Gott den menschlichen Akteur mittels der Wirksamkeit der Gabe außer Kraft, oder ist es Sache des Empfangenden zu bestimmen, welche Veränderung sie bewirken? Theologen haben diese Frage aufgrund ihrer unterschiedlichen Ansichten über die Wirksamkeit der Gnade auf verschiedene Weise beantwortet. Gnade und Handlungsmacht in den Briefen des Paulus 25 6. Nicht-Zirkularität: In vielen Kulturen ist eine Gabe nur dann gut, wenn sie in einer Weise gegeben wird, die eine Gegengabe hervorruft und so eine gegenseitige Beziehung schafft. Aber man kann genauso gut darauf bestehen, dass das ideale Geschenk ohne solche belastenden Erwartungen gegeben wird, dass es also dann am besten ist, wenn es einseitig und nicht-zirkulär ist. Gewiss kann nicht sinnvoll angenommen werden, dass Gott einer Gegenleistung bedarf, aber das lässt immer noch die Frage offen, ob Gottes Gaben gleichwohl zu einer Antwort einladen oder diese sogar verlangen, oder ob sie bar jeglicher Erwartung einer Gegenleistung gegeben werden. Die Nicht-Zirkularität der Gnade zu konsequent zu denken, hieße darauf zu bestehen, dass Gottes Gaben allen Zyklen von Schenken und Zurückgeben enthoben sind und keinerlei Last oder Schuld auferlegen. Wenn wir die verschiedenen „Vollkommenheiten“ der Gnade je für sich betrachten und konsequent zu Ende denken, stellen wir fest, wie unterschiedlich sie sind. Die Vervollkommnung einer Facette des Schenkens bedeutet nicht die Vervollkommnung einer oder aller anderen. Wir können sie nicht wie eine Paketlösung ansehen. So implizieren beispielsweise Überfülle und Priorität nicht zugleich auch Inkongruenz mit einem etwaigen Wert des Empfangenden. Ebenso geht konsequent gedachte Inkongruenz nicht automatisch auch mit der Nicht-Zirkularität im Sinne des Ausblendens jeglicher Gegenleistung einher. Wenn also von „reiner Gnade“ oder „freier Gnade“ die Rede ist, stellt sich die Frage: in welchem Sinne genau? Selbst der protestantische Slogan sola gratia („allein aus Gnade“) kann auf mehr als eine Weise interpretiert werden. Während wir geneigt sind zu denken, dass es offensichtlich ist, was wir mit „Gnade“ meinen, wird, wenn wir diese möglichen Vollkommenheiten zerlegen und den Unterschied zwischen ihnen erkennen, klar, dass selbst wenn Menschen den gleichen Begriff verwenden, sie damit ziemlich unterschiedliche Dinge meinen können! Hierfür gibt es zahlreiche Beispiele aus der Theologiegeschichte einschließlich der Geschichte der Paulusinterpretation. Theologen neigten dazu, darauf zu bestehen, dass sie das „richtige“ Verständnis von Gnade haben, und in der Hitze der theologischen Kontroverse können einige dieser Aspekte immer weiter zugspitzt werden. Oft wird eine Facette der Gnade oder ein kleines Cluster idealer Eigenschaften zu einem bestimmenden Merkmal der Gnade, so dass anderen, die den Begriff vielleicht anders verstehen, ein mangelhaftes Verständnis der Gnade vorgeworfen wird. Wenn Gnade das bedeutet, was „wir“ darunter verstehen, dann verstehen andere, die den Begriff anders auffassen, ihn offensichtlich überhaupt nicht! Wir machen uns dies an drei Beispielen klar), bei denen die Auslegung 26 John M.G. Barclay des Paulus im Mittelpunkt der Debatte über die Gnade stand: Markion, Augustin und Luther. Im zweiten Jahrhundert glaubte der radikale Theologe Markion, dass der von Jesus offenbarte und von Paulus gepredigte gnädige Gott mit dem Schöpfergott der jüdischen Schriften (dem Alten Testament) unvereinbar sei. Der Schöpfergott war gerecht, und in Ausübung seiner Gerechtigkeit hat er die Menschen bestraft und ihnen Schaden zugefügt. Aber der Gott, der in Jesus Christus erstmals offenbar wurde, war ganz anders. Er war nicht nur „gut“, sondern „überaus gut“, und diese „originäre und vollkommene Güte“ galt Markion als einzige Weise des göttlichen Wirkens. 6 Was Jesus lehrte und was Paulus verkündete, war, dass dieser wohlwollende, barmherzige und großzügige Gott aus dem Verborgenen hervorgetreten war, um die Menschheit zu retten und ihr zu sagen, dass sie nicht mit Furcht, sondern mit Liebe antworten sollte. In die Begriffe unserer sechsteiligen Taxonomie gefasst schärfte Markion die Singularität der Gnade in einer Weise, die in der Antike leicht verständlich und höchst attraktiv war und die keineswegs nur auf Markion beschränkt war, denn es gab auch anderswo im frühen Christentum Tendenzen, in dieser Zuspitzung von Gnade zu denken und zu reden. Andere ebenso sorgfältige Paulusinterpreten der frühen Kirche vertraten eine andere Auffassung, aber das liegt nicht daran, dass sie die paulinische Theologie der Gnade außer Acht gelassen hätten. Sie haben sie nur anders pointiert. Augustinus (354-430) ist ein Beispiel für eine Paulusinterpretation mit einer auf ganz andere Weise konsequenten und im Laufe heftiger theologischer Kontroversen immer mehr zugespitzten Gnadentheologie. 7 Für Augustinus konfrontierte die paulinische Rede von der Gnade die Menschen mit dem machtvollen, souveränen Handeln Gottes, und es ging dabei vor allem um die Bekämpfung des sündhaften Stolzes, sich selbst ein Verdienst zuzuschreiben. Für Augustin lag der Akzent der paulinischen Gnadentheologie auf der Inkongruenz. Gott rechtfertigt nicht die Rechtschaffenen, sondern die Gottlosen (Röm 4,5). Er reflektierte aber auch die Wirksamkeit der Gnade, die so weit ging, dass sogar unsere Antwort auf Gottes Gnade nicht wirklich „von uns abhängt“. Tatsächlich kam Augustin zu der Überzeugung, dass Gottes Gnade unserer Antwort vorausgeht, nicht nur zeitlich (als wir noch Sünder waren), sondern auch logisch (sofern sie nämlich unsere Antwort herbeiführt). Als Augustin tiefer in 6 Tertullian behandelt die Lehre Markions in seiner Schrift Adversus Macionem; vgl. hier 1,23,3. Das Werk ist zugänglich in V. Lukas, Adversus Marcionem / Gegen Markion, Lateinisch-Deutsch (FC 63), 4 Bde., Darmstadt 2015ff. 7 Vgl. C. Harrison, Rethinking Augustine’s Early Theology: An Argument for Continuity, Oxford 2006; J. Patout Burns, The Development of Augustine’s Doctrine of Operative Grace, Paris 1980. Gnade und Handlungsmacht in den Briefen des Paulus 27 die menschliche Psyche und die Beweggründe des Willens eindrang (v. a. in seinen Confessiones), kam er zu der Überzeugung, dass sogar unser Wille, uns an Gott zu erfreuen, von der Gnade Gottes „berührt“, „inspiriert“ oder „bewegt“ werden muss, ganz so, wie er es in der lateinischen Fassung von Phil 2,13 fand: Deus est enim qui operatur in vobis et velle et perficere pro bona voluntate, „Gott ist es nämlich, der in euch bewirkt das Wollen und das Wirken für einen guten Willen“. Diesen Aspekt radikalisierte er im Verlauf der Kontroversen mit seinen Gegnern, insbesondere mit Pelagius. 8 Für Pelagius ist Gottes Gnade immer vorrangig und überreich: Gott hat uns bereits die Fähigkeit gegeben, Gutes zu tun, und hat uns gnädig offenbart, wie wir es tun können, nicht zuletzt am Beispiel Christi. Aber die Entscheidung das Gute zu tun und die Handlung selbst liegen bei uns, sonst können wir die Menschen nicht für ihre Tugend loben oder sie für ihr Laster verantwortlich machen. Pelagius deckte eine potenzielle Schwäche in der Theologie Augustins auf, wenn das Wirken der Gnade den menschlichen Willen auf bloße Zustimmung reduziert. Aber Augustin spürte in Pelagius eine subtile Form der Selbstbeweihräucherung und ein unzureichendes Verständnis der Wirksamkeit der Gnade. Der menschliche Wille, so argumentierte Augustin, ist verwundet und braucht weit mehr als Unterweisung und Hilfe: Er muss geheilt, befreit und gekräftigt werden. Je mehr Augustin die Wirksamkeit und Priorität der Gnade betonte, desto mehr ließ er sich dazu verleiten, die (unerklärliche) Vorherbestimmung der Glaubenden zu bekräftigen, und zwar unter Berufung auf einige faszinierende Paulustexte, z. B. Röm 8,28-29 und Eph 1,4. Wenn die Gnade Gottes im menschlichen Willen wirksam ist, wie könnte sich dann ein wahrhaft Glaubender von Gott abwenden? Müssen wir gegen diese Möglichkeit nicht „die Bewahrung der Heiligen“ ins Feld führen? Noch umstrittener ist die Frage, ob Christus nur für die Auserwählten und nicht etwa für alle gestorben ist, wenn Gott bereits diejenigen ausgewählt hat, die glauben werden, und keine von Gottes Absichten fruchtlos ist. Jahrhunderte später belebte Johannes Calvin (1509-1564) viele Argumente Augustins wieder, so dass das in der beschriebenen Weise zugespitzte augustinische Gnadenverständnis zu einem Markenzeichen der reformierten Tradition geworden ist. Aber es gibt, wie wir gesehen haben, noch ganz andere Möglichkeiten eines konsequenten Gnadenbegriffs. Diejenigen, die anderer Meinung sind, leugnen oder verharmlosen die Gnade nicht unbedingt. Möglicherweise fokussieren sie einfach andere Aspekte dessen, was wir als Merkmale von Gnade/ Gabe herausgearbeitet haben. 8 Zur Paulusinterpretation des Pelagius vgl. Th. de Bruyn, Pelagius’ Commentary on St. Paul’s Epistle to the Romans, Oxford 1993. Augustins Gegenargumente finden wir in seinem Traktat Über Natur und Gnade und Von der Gnade Christi. Zur Kontroverse mit Pelagius vgl. P. Brown, Augustine of Hippo, New York 1967), 340-375. 28 John M.G. Barclay Martin Luther (1483-1546) ließ sich in mancher Hinsicht von Augustin inspirieren. Dabei machte er einen Bogen um die Prädestinationslehre, reagierte aber stark auf die Sprache des „Verdienstes“ in der mittelalterlichen Theologie. Werke als eine für die Erlösung notwendige Ergänzung des Glaubens zu betrachten, würde für Luther bedeuten, Gottes Werk in Christus als unvollständig zu behandeln - ein Akt des Misstrauens und der Höhepunkt der Gottlosigkeit! 9 Gnade ist für Luther keine Substanz oder Eigenschaft, die „in die Seele gegossen“ wird, sondern eine auf Wohlwollen gegründete Beziehung - Gottes freie Entscheidung, Glaubende in Christus anzunehmen. Für Luther war es wesentlich, die Inkongruenz der Gnade zu betonen, das regelrechte Missverhältnis zwischen der Gabe Gottes und dem Wert des Glaubenden, und er bestand darauf, dass dies das Glaubensleben dauerhaft bestimmt. Glaube (d. h. Vertrauen) in Christus bedeutet, dass die Glaubenden nicht von ihrer eigenen Gerechtigkeit leben, sondern von der Gerechtigkeit Christi, einer „fremden“ Gerechtigkeit, die sie niemals wirklich ihre eigene nennen können. Der wichtige Punkt ist, dass die Glaubenden in sich selbst zutiefst fehlerhaft bleiben: Im Innersten ihrer Seelen lauern Rebellion und Widerstand gegen Gott. Aber Gott schaut auf die Glaubenden, als ob sie an Christus „kleben“ (und er an ihnen), und in Christus sieht er nur Gerechtigkeit, Heiligkeit und Güte. Es bleibt also während des gesamten Lebens der Glaubenden bei dieser Inkongruenz der Gnade, wofür die Luther den Ausdruck simul iustus et peccator („gerechtfertigt und Sünder zugleich“) geprägt hat. 10 Luther stellte die Vorstellung von guten Werken als einer verdienstvollen Antwort auf Gottes Gnade zutiefst infrage. Wenn die Gnade Gottes sozusagen „gratis“ gegeben wird, dann nicht in Erwartung einer Gegengabe, sondern allein um unseretwillen. Gottes selbstlose Liebe ist nicht auf Gegenseitigkeit ausgerichtet. Luther radikalisierte also die Inkongruenz der Gnade und verband dies mit einem starken Akzent der Nicht-Zirkularität: Die Gnade Gottes fordert oder bedingt keine Gegengabe. Es ist diese eindrucksvolle Kombination von Eigenschaften, die hinter der berühmten und für das spätere protestantische Denken prägenden Formel „aus Gnade allein“ steht. Aber wie dieser Überblick gezeigt hat, ist dies nicht die einzige Art und Weise, wie man über Gnade denken kann, und diese verschiedenen Denkmuster beeinflussen die Diskussion der Paulusforschung bis heute. Zwar hat die „neue Perspektive auf Paulus“ mit vielen Grundannahmen der protestantischen Tradition 9 Zu den wichtigsten Lutherschriften hierzu zählen Von der Freiheit eines Christenmenschen und der Sermon über die zweifache Gerechtigkeit. 10 Vgl. O. Bayer, Martin Luthers Theologie - Eine Vergegenwärtigung, Tübingen 2 2004. Zu Luthers Paulusverständnis vgl. neuerdings S. Chester, Reading Paul with the Reformers: Reconciling Old and New Perspectives, Grand Rapids 2017. Gnade und Handlungsmacht in den Briefen des Paulus 29 gebrochen, dies aber in der Annahme, dass „Gnade“ ein relativ einfaches Konzept sei. In Anknüpfung an die Arbeiten von E.P. Sanders betrachtete man nun zwar das Judentum des Zweiten Tempels als eine „Religion der Gnade“, aber es wurde selten hinterfragt, was mit diesem Begriff gemeint war. 11 Bei genauerem Hinsehen können wir feststellen, dass es unter den jüdischen Zeitgenossen des Paulus eine Vielfalt von Ansichten darüber gab, wie die Gnade oder Barmherzigkeit Gottes zu verstehen sei, und dass es hierzu keine einheitliche Perspektive gab. Einige waren der Ansicht, dass Gottes Gaben gerade dadurch gut sind, dass sie ausnahmslos denen gegeben werden, die ihrer würdig sind; andere meinten, dass Gottes Gaben ohne Rücksicht auf die Würdigkeit der Empfangenden gegeben werden. 12 Wir können sagen, dass von Gnade im Judentum des Zweiten Tempels überall die Rede war, aber nicht überall in gleicher Weise. Sobald wir uns klarmachen, dass dieses Konzept viele Facetten hat und in ganz unterschiedliche Richtungen konsequent zu Ende gedacht werden kann, stellt sich die Frage erneut und erst recht: Wie verstand Paulus die Gabe bzw. Gnade Gottes? Paulus und die Gabe Gottes in Christus Die Sprache von Gabe und Gnade findet sich überall in den Paulusbriefen, konzentriert jedoch in den Briefen an die Galater und an die Römer, so dass wir unseren Schwerpunkt auf diese beiden Briefe legen. Galaterbrief Der Brief des Paulus an die Galater ist besonders geeignet sich klarzumachen, wie Paulus die Gabe Gottes in Christus verstanden hat und wie sie seine Theologie und Praxis geprägt hat. Hier sieht er „die Wahrheit der frohen Botschaft“ auf dem Spiel stehen (Gal 2,5,14), und er fasst diese Wahrheit prägnant in den Ausdruck „die Gnade Gottes“ (2,21; vgl. 5,4). Die gegenteilige Meinung (das „andere Evangelium“), mit der Paulus in Galatien konfrontiert war, bekräftigte wie er, dass Gott seine Verheißungen an Abraham im Segen aller Nationen erfüllte. Zwischen Paulus und seinen Gegnern war also nicht strittig, ob es eine Heidenmission geben sollte, sondern die Bedingungen, unter denen sie stattzufinden hat. Die Gegner waren der Auffassung, dass Nichtjuden, die an Christus glaubten, „judaisieren“ sollten (2,14), womit gemeint war, dass sie die Sitten und Ge- 11 Vgl. S. Westerholm, Perspectives Old and New on Paul: The ,Lutheran‘ Paul and his Critics, Grand Rapids 2004. 12 Ausführlich hierzu Barclay, Paul and the Gift, Teil 2. 30 John M.G. Barclay bräuche des jüdischen Volkes übernehmen. Wenn sie Kinder Abrahams waren, warum sollten sie dann nicht in Form der männlichen Beschneidung das Zeichen des abrahamitischen Bundes annehmen? Wenn sie mit dem Geist gesegnet waren, warum sollte der Geist sie nicht zur Einhaltung des Gesetzes führen, das durch Mose dem Volk Gottes gegeben worden war? In seiner kategorischen Antwort auf diese Frage lässt sich Paulus auf keinerlei rechtsgelehrte Diskussion ein: Wer die Beschneidung und damit das ganze Gesetz übernimmt, ist aus der Gnade gefallen (5,4); wer vom Geist geführt wird, ist nicht unter dem Gesetz (5,18). Warum ist das so? Welche Logik steht hinter dieser scharfen Antithese? Die beste Antwort liegt in der Art und Weise, wie das Christusereignis von Paulus als eine inkongruente und unbedingte Gabe interpretiert wird. 13 Die gute Nachricht verkündigt Christus, der „sich selbst für unsere Sünden hingegeben hat“ (1,4), „den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat“ (2,20). Das „andere Evangelium“ anzunehmen, hieße, die Gnade Gottes zurückzuweisen (2,21), sich von Christus loszulösen und aus der Gnade zu fallen (5,4). Die sich auf die Predigt des Paulus hin bekehrt haben, wurden „in Gnade“ berufen (1,6), wie auch Paulus selbst in seiner Berufung vor seiner Geburt (1,15-16). In der Tat gibt uns Paulus’ Nacherzählung seiner Lebensgeschichte einen Eindruck von den radikalen Auswirkungen dieser Gnade. In Gal 1,13-17 spricht er seinen „Fortschritt“ im Kampf für die Bewahrung jüdischer Lebensweise an, sein treues Festhalten an den Traditionen seiner Vorfahren und seinen außergewöhnlichen Eifer, einschließlich der Verfolgung der Gemeinde Gottes (vgl. Phil 3,4-6). Trotz all dieses positiven „symbolischen Kapitals“ innerhalb der Traditionen des Judentums wurde er nicht wegen dieses Wertes auserwählt und berufen, denn das geschah, wie er sagt, vor seiner Geburt. Auch dem zum Trotz, was er jetzt als seinen schrecklichen Fehler erkennt, nämlich die „Gemeinde Gottes“ zu verfolgen, war er nicht außerhalb der Reichweite der Gnade Gottes. Wie auch immer man es betrachtet, mit Blick auf seinen Wert oder Unwert, es gab nichts in seinem Leben, das ihn zu einem geeigneten Empfänger der Gnade Gottes machte. Dieselbe beunruhigende Wahrheit gilt auch für die Nichtjuden, die sich auf seine Predigt hin bekehrt haben. Trotz ihrer „minderwertigen“ Ethnizität, ihrer sündigen Herkunft (2,15) und ihrer götzendienerischen Unkenntnis Gottes (4,8-9) waren auch sie „in Gnade berufen“ (1,6), vor und ohne Beschneidung, vor der Annahme jüdischer Praktiken („Werke des Gesetzes“). Die Gnade, die die Nichtjuden durch Christus erreicht hatte und in der Gabe und Kraft des Geistes erfahren wurde (3,1-5), wurde ohne Rücksicht auf irgendwelche früheren Wertkriterien gegeben. In Christus gibt es weder Juden noch 13 Für eine eingehende Analyse des Galaterbriefes vgl. Paul and the Gift, 331-446. Gnade und Handlungsmacht in den Briefen des Paulus 31 Griechen, weder Sklaven noch Freie, weder Männer noch Frauen (3,28). Diese früheren Identitäts- und Statusmerkmale werden nicht ausgelöscht, aber sie sind nicht mehr das, was zählt, was Wert verleiht: „In Christus zählt weder die Beschneidung noch die Unbeschnittenheit, sondern der Glaube, der durch Liebe wirkt“ (5,6). Was die Wirklichkeit neu geordnet und alle Wertesysteme neu kalibriert hat, ist ein Ereignis, das Christus-Ereignis, das als inkongruentes Geschenk gegeben und empfangen wird. Es „gehört“ niemandem und geht daher an alle, Nichtjuden wie Juden. Es steht nicht im Einklang mit menschlichen Normen (1,11) und untergräbt daher vorgängige Wertkriterien. Als Ergebnis dieser Gnade gibt es sowohl eine „gute Nachricht [an die Adresse] der Unbeschnittenheit“ als auch eine „gute Nachricht [an die Adresse] der Beschneidung“ (2,8-10), weil sowohl das Kennzeichen der jüdischen Besonderheit (Beschneidung) als auch ein Symbol des griechischen Stolzes (der „unverstümmelte“ männliche Körper) durch die einzig und letztgültig wertvolle Gabe Christi relativiert werden. Wenn dagegen Petrus von nichtjüdischen Glaubenden verlangt, in Übereinstimmung mit den jüdischen Speisevorschriften zu leben, unterwirft er diese Gabe den Kriterien einer bestimmten Identität („zwingt sie zum Judentum“, 2,14) und bindet so die bedingungslose Gabe an eine Bedingung. Das hieße, sich von der „Wahrheit der guten Nachricht“ (2,14) zu entfernen, die mit der Verkündigung der inkongruenten Gabe Gottes in Christus steht und fällt (2,21). Paulus’ Erörterung der „Rechtfertigung durch den Glauben, nicht durch Werke des Gesetzes“ folgt im Gedankengang des Galaterbriefes auf den Bericht über den Streit in Antiochien (2,11-14) und baut darauf auf (2,15-21). Petrus und Paulus sind sich (trotz des „heuchlerischen“ Verhaltens von Petrus in Antiochien) darin einig, dass Gott diejenigen rechtfertigt (d. h. als „im Recht“ betrachtet), die auf Christus vertrauen (Obwohl dies in der Paulusforschung umstritten ist, nehme ich an, dass die Kurzformel pistis Christou „Vertrauen in Christus“ bedeutet 14 ). Dieses Vertrauen ist nicht ablösbar von einer Bankrotterklärung, die sich zwingend aus der Anerkennung dessen ergibt, dass das einzig und zugleich suffizient Wertvolle der Tod und die Auferstehung Christi sind, womit der Glaubende neu konstituiert und neu geschaffen wird (2,19-20; 6,15). Diese Gabe wird nicht durch vorgängige Kriterien des Wertes wie etwa ethnische, soziale oder moralische Kriterien bedingt; sie beginnt sozusagen de novo (als „neue Schöpfung“, 6,15). Diese radikale Perspektive erstreckt sich sogar auf das Gesetz. Jüdische Praktiken (die „Werke des Gesetzes“) sind keineswegs falsch oder fehlgeleitet, aber sie sind nicht das Kriterium des Wertes in der Chris- 14 Zur alternativen Übersetzung „Treue Christi“ vgl. R. Hays, The Faith of Jesus Christ: The Narrative Substructure of Galatians 3: 1 - 4: 11 Grand Rapids 2 2002. Für die gegenwärtige Diskussion vgl. T. Morgan, Roman Faith and Christian Faith: Pistis and Fides in the Early Roman Empire and Early Churches, Oxford 2015. 32 John M.G. Barclay tus-Ökonomie. Eine Person wird nicht aus diesem Grund als „im Recht“ vor Gott angesehen, und in diesem Sinne ist Paulus als repräsentativer jüdischer Glaubender „dem Gesetz gestorben“ (2,19): Es ist nicht mehr dasjenige, das ihm seinen Wert verleiht, und nicht mehr das ultimative Kriterium von Recht und Unrecht (vgl. Phil 3,2-11). Unter bestimmten Umständen mag die Einhaltung des Gesetzes die bevorzugte Praxis sein, unter anderen Umständen jedoch nicht (vgl. 1Kor 9,19-23), weil das einzige und letztgültige Kriterium des Guten darin besteht, in und für Christus zu leben (Gal 2,19-20). Durch diesen „Kanon“ (6,15) sind alle üblichen Kriterien in Frage gestellt worden („die Welt ist mir gekreuzigt worden und ich der Welt“, 6,14). 15 Die inkongruente Gabe entspricht der Gestalt des Todes und der Auferstehung Christi (2,20f). Die Inkongruenz unterläuft die vertrauten Kriterien der Übereinstimmung zwischen der Wohltat Gottes und dem Wert des Empfängers, aber aus der Gabe und dem Leben Christi erwächst ein neues Leben. Diese Diskrepanz erklärt, warum Paulus die Strukturen des Heils im Galaterbrief in solch erstaunliche Gedanken kleidet: Was in Christus geschieht, ist die Geburt des Unmöglichen (wie Isaak aus der Unfruchtbarkeit Sara, 4,21-31), die Ankunft des wunderwirkenden Geistes (3,2-5), die Bildung einer neuen Ordnung (Geist, nicht Fleisch) und das Entstehen einer neuen Gemeinschaft, die eine neue Richtung einschlägt (5,25). Tatsächlich ist die Bildung neuer Gemeinschaften grundlegend für das Evangelium. Da die Glaubenden ohne Rücksicht auf ihren sozialen oder ethnischen Wert erwählt sind, schaffen sie neue Arten von Gemeinschaften, die ethnische Grenzen überschreiten und deren Unterschiede relativieren. Inmitten einer Gesellschaft, die durch einen intensiven Wettbewerb um Ehre gekennzeichnet ist, gibt es einen neuen Geist der gegenseitigen Unterstützung: „einander die Lasten tragen“ (6,2) und sogar „sich einander aus Liebe versklaven“ (5,13). Dieser neue antikompetitive Geist (5,26-6,1) gründet darin, dass der Wert eines jeden Menschen von Gott gegeben ist und durch menschlichen Vergleich und Wettbewerb weder konstituiert noch aufrechterhalten wird. Auf diese Weise schafft die Gnade Gottes ein neues Gemeinschaftsethos des unermüdlichen gegenseitigen Wohltuns (6,6-10), das grundsätzlich sogar über den Wirkungskreis der „Genossen des Glaubens“ (6,10) hinausreicht. Es ist dieses gemeinschaftliche Handeln aufgrund einer neuen Weise der Wertzurechnung, das die Inkongruenz der Gabe in einer neuen Praxis anschaulich macht. 15 Zur apokalyptischen Dimension der paulinischen Theologie vgl. J.L. Martyn, Galatians: A New Translation with Introduction and Commentary (Anchor Bible 33A), New York 1997. Gnade und Handlungsmacht in den Briefen des Paulus 33 Römerbrief Im Römerbrief entfaltet Paulus die weltweite Bedeutung seiner „guten Nachricht“ dadurch, dass er seine theologischen Grundannahmen darlegt, aufgrund derer er die römische Gemeinde als „Apostel der Heiden“ besuchen wird (Röm 1,1-7; 15,14-33). Die Sprache der Gabe mischt sich hier mit der Sprache der Barmherzigkeit (besonders in Röm 9-11), und beide beschreiben Gottes unverdientes Wohltun, das er den Ungeeigneten und Unwürdigen zuteilwerden lässt. Wie wir sehen werden, wird hier erneut die Inkongruenz der Gabe hervorgehoben, zusammen mit ihrer Überfülle (5,12-21). Das bedeutet jedoch nicht, dass Paulus auch die Singularität der Gnade in gleicher Weise konsequent zuspitzt: Zum Verdruss mancher Ausleger spricht Paulus nämlich weiterhin vom Zorn und vom Gericht Gottes als Folie für Gottes Barmherzigkeit (2,1-11; 9,14-23). In 6,1f nimmt Paulus die Frage der Lesenden vorweg, ob die Gnade dem Sünder die Freiheit lässt, weiter zu sündigen. Verwirrend war außerdem, dass Paulus neben der Gnade vom Gericht nach den Werken spricht (2,1-11; vgl. 14,11- 12). Tatsächlich stellt er die Glaubenden als von der Sünde befreit dar, nur um „unter der Gnade“ zu sein (Röm 6,14-15), ja, als „Sklaven“ der Gerechtigkeit (6,12-23). Ist die Gnade Gottes also „frei“ oder nicht? Das Problem stellt sich nur für diejenigen, die die Inkongruenz der Gnade so verstehen, dass sie auch ihre Nicht-Zirkularität impliziert. Aber wie wir gesehen haben, implizieren diese beiden Facetten der Gnade einander nicht notwendigerweise. Paulus erläutert auf unterschiedliche Weise die Inkongruenz der Gnade, die nicht durch den Wert ihrer Empfänger nicht ist und der menschliche Sündhaftigkeit und Gottesfeindlichkeit keine Grenzen setzen. Aber der Zweck dieser Gnade besteht darin, die Empfangenden zu erneuern, sie zu verwandeln in dem Maße, wie sie aus dem Auferstehungsleben Christi neues Leben schöpfen, eine Wirklichkeit, die sie nicht besitzen, an der sie aber teilhaben. Durch diese Gabe, die immer unverdient ist, werden sie zu einer Heiligkeit geformt, die dem Willen und Charakter Gottes entspricht. So ist die inkongruente Gabe dazu bestimmt, ein kongruentes Ergebnis zu schaffen. Die Inkongruenz der Gabe Christi ist eines der Hauptthemen des Römerbriefes. Alle haben gesündigt, sind aber gerechtfertigt „als Gabe, durch seine [Gottes] Gnade, durch die Erlösung in Christus Jesus“ (3,23f). Diese Rechtfertigung wird wie diejenige Abrahams nicht durch das Zuerkennen einer Belohnung an den Berechtigten oder Würdigen realisiert, sondern durch eine inkongruente Gabe in Ermangelung von Werken, durch die Vergebung der Sünden (4,1-8). Da diese Gabe an die Gottlosen (4,5) ohne Wertkriterien vonstattengeht, schließt sie unbeschnittene Nichtjuden auf derselben Grundlage ein wie beschnittene Juden, 34 John M.G. Barclay sofern sie nämlich auf den Gott vertrauen, der inkongruent „die Toten lebendig macht und das, was nicht ist, ruft, dass es sei“ (4,17). Diese „Gnade, in der wir stehen“ (5,2) ist das Ergebnis des Todes Christi, der die unverdiente Liebe Gottes zum Ausdruck brachte, indem er für die Gottlosen, Schwachen und Feinde starb (5,6-10). Auf diese Weise und durch diese Gabe hat die Anwachsen der Sünden der Menschen nicht zu einer Verschärfung des Gerichts geführt, sondern zu dem mächtigen Gegenimpuls der Gnade, die nicht Tod, sondern Gerechtigkeit und Leben zeitigt (5,12-21). Diese Dynamik ist es, die auch der Struktur von Römer 9-11 zugrunde liegt. 16 Dort zeigt sich, dass die ganze biblische Geschichte Israels von der inkongruenten Barmherzigkeit Gottes geprägt ist. Israel ist von Anfang an durch die erwählte Gnade Gottes konstituiert worden und hatte und hat in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft allein entlang dieses roten Fadens Bestand. Israel wird nicht allein durch Geburt konstituiert, sondern durch Verheißung (9,6-9), nicht durch moralische Errungenschaften, sondern durch Erwählung oder Berufung (9,10-13), nicht durch menschlichen Willen oder menschliche Anstrengung, sondern durch die Barmherzigkeit Gottes (9,14-18). Aus Gottes Sicht ist das Wesen Israels damit definiert, dass er erklärt, dass „ich mich erbarmen werde, wessen ich mich erbarme“ (9,15, zitiert Ex 33,19). Damit nimmt Gott Israels Zukunft Israel aus den Händen und nimmt sie in seine eigene. Wie der Fortgang von Römer 9 andeutet, kann die Wirkweise dieser Barmherzigkeit einschränkend oder überraschend expansiv sein, aber die Tatsache, dass Israel überhaupt weiter existiert hat, ist der Barmherzigkeit Gottes zu verdanken, die nicht den Bedingungen des Verdienstes unterworfen ist. In Kapitel 10 wird das Christusereignis als letzter Ausdruck der Gerechtigkeit und des Reichtums Gottes reflektiert und zum verstörenden „Ungehorsam“ Israel, mit dem Paulus gegenwärtig konfrontiert ist, in Beziehung gesetzt. Aber es deutet sich bereits an, dass Gottes Barmherzigkeit nicht durch diesen Ungehorsam begrenzt oder bedingt ist, und in Kapitel 11 kommt zur Geltung, dass Gottes Barmherzigkeit gegenüber den Ungehorsamen beim erneuten Einpfropfen der natürlichen Olivenzweige ebenso wirksam sein wird wie beim Veredeln von Zweigen aus einem wilden Ölbaum (gemeint sind die nichtjüdischen Glaubenden). Die „Wurzel des Reichtums“, von der beide getragen werden und in die sie eingepfropft werden (11,17-24), ist nicht das Volk Israel als solches oder gar die Patriarchen, sondern die anfänglich verheißene und von Anfang an wirksame Barmherzigkeit, die sich nun endgültig im Messias zeigt. So hat Gott alle dem Ungehorsam ausge- 16 Vgl. Paul and the Gift, 520-561. Die Interpretation dieser Kapitel ist in der Forschung umstritten. Eine ähnliche Sicht wie die hier vorgetragene vertritt J. A. Linebaugh, Not the End: The History and Hope of the Unfailing Word of God in Romans 9-11, in: T. Still (Hg.), God and Israel: Providence and Purpose in Romans 9-11, Waco 2017, 141-163. Gnade und Handlungsmacht in den Briefen des Paulus 35 liefert, damit er sich aller erbarme (11,32), und das schließt „ganz Israel“ (11,26) ein, das sein Dasein von Anfang an Gottes Barmherzigkeit verdankte. Aber die Gnade gegenüber den Ungehorsamen lässt ihre Empfänger nicht unverändert. Wie Paulus in Röm 6,1-11 klarstellt, eignet der Gnade Gottes in Christus dadurch eine verwandelnde Kraft, dass sie die Glaubenden in der Taufe mit dem Tod und der Auferstehung Christi verbindet. Fortan leben sie „in der Neuheit des Lebens“ (6,4) und schöpfen aus dem Auferstehungsleben Christi, das ihre Existenzweise neu gestaltet. In diesem Sinne sind sie „unter der Gnade“ (6,14), denn die Gabe bindet sie an den Geber und richtet ihre Lebensgemeinschaft neu aus, von der Sünde zur Gerechtigkeit (6,12-23). 17 Wahrscheinlich spielt Paulus bereits in 2,12-19 auf dieses neue Leben und seine innere Verwandlung durch den Geist an, wenn er auf die Grundlage der guten Werke zu sprechen kommt, die die Glaubenden am Tag des Gerichts zeigen werden. 18 Und zweifellos ist es dasjenige, was sich in der neuen, geistgewirkten Denkweise zeigt, in den neuen Neigungen, Gefühlen und Motivationen, die ihre Neuorientierung in Christus erkennen lassen (8,1-11). 19 Paulus ist sich sehr wohl des Paradoxons bewusst, dass dieses neue Leben in sterblichen und zum Sterben bestimmten Körpern vorhanden ist (6,12-14; 8,11-12), aber er zählt darauf, dass diese neue Treue zu Christus sich auf der Ebene des moralischen Handelns konkret physisch auswirkt. In der Tat ist der gemeinschaftliche Ausdruck dieser Gabe von entscheidender Bedeutung (Römer 12-15), denn in der Art und Weise, wie sie Gemeinschaft bildet und erhält, machen die Glaubenden den Charakter der Gabe anschaulich. Es ist kein Zufall, dass Paulus die Praxis des gemeinschaftlichen Mahles am ausführlichsten diskutiert. In Antiochien (Gal 2,11-14) wie auch in Korinth (1Kor 11,17-34) wird deutlich, dass gemeinsame Mahlzeiten als „verdichtete Symbole“ der Gnade eine Gemeinschaft bilden, aber auch zerstören können. Stellenweise betont Paulus stark die individuelle Perspektive: Jeder Glaubende hat eine Verantwortung und ein Charisma innerhalb des Leibes (12,3-8), und jeder ist Christus hinsichtlich der Praxis seines oder ihres Glaubens Rechenschaft schuldig (14,12.22). Aber diese Verantwortung gegenüber Christus findet ihren Ausdruck und ihren Zweck in der Gemeinschaft, in der jeder und 17 Vgl. E. Käsemann, Gottesgerechtigkeit bei Paulus, in: Ders., Exegetische Versuche und Besinnungen, Bd. 2, Göttingen 1965, 181-94. 18 Zu diesem Verständnis von Röm 2 als Referenz auf die innerliche Gesetzesbeachtung nichtjüdischer und jüdischer Glaubender vgl. auch N.T. Wright, The Law in Romans 2, in: Ders., Pauline Perspectives: Essays on Paul 1978-2013, London 2013, 134-51. 19 Diese „Denkweise“ (phronēma) ist Pierre Bourdieus Begriff des Habitus nicht unähnlich, der ein körperbezogenes System von Dispositionen und Werten bezeichnet, die die moralische Praxis codieren; vgl. P. Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis. Auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, übersetzt von C. Pialoux und B. Schwibs, Frankfurt 1976. 36 John M.G. Barclay jede für das eigene Wachstum und „Erbautwerden“ von den anderen abhängig ist (14,19). In dem Maße, wie die Glaubenden eine Gemeinschaft bilden von Juden mit Nichtjuden (15,7-13), von sozial Hochgestellten mit sozial Bedeutungslosen (12,16), von „Starken“ mit „Schwachen“ (14,1-15,7), erkennen sie im Vollzug ihrer Glaubenspraxis den Wert der anderen an, die von Christus selbst willkommen geheißen sind (15,7). Die Gabe Gottes in Christus ist mithin einerseits völlig inkongruent im Blick auf Wert und Würdigkeit ihrer Empfänger, zugleich aber auch stark verpflichtend. Sie ist unbedingt (in Hinsicht auf den Wert), aber nicht bedingungslos (im Blick auf die erwartete Antwort). Alles in diesem neuen Leben, sein Handeln und seine Verpflichtung, verweist auf die Christusgabe als seine Quelle. Daher besteht die Verpflichtung für die Glaubenden nicht darin, der Gnade in noch höherem Maße teilhaftig zu werden oder gar das Heil zu „erlangen“. Es gibt ein einziges Charisma des ewigen Lebens (6,23), das vom Christus-Ereignis bis in die Ewigkeit reicht (8,39), nicht eine Reihe von Gnadenzuteilungen, die auf dem Wege zunehmender Heiligung zu gewinnen wären. Paulus glaubt gewiss, dass die moralische Inkongruenz am Anfang einer gläubigen Existenz im Laufe der Zeit abnehmen wird, da die Glaubenden zur Heiligkeit hingezogen werden (6,19). Wenn sie vor den Richterstuhl Gottes kommen, um Rechenschaft über ihr Tun abzulegen (14,10-12), erwartet er, dass sie ein Leben im Licht und nicht in der Finsternis vorweisen werden (13,12; vgl. 2,6-16). Dies verringert jedoch nicht die wesentliche Inkongruenz der Gnade, da sich das Leben, das diese Heiligkeit zeitigt, dem Auferstehungsleben Christi verdankt (5,10). Der „Glaubensgehorsam“ (1,5) ist nicht dazu angetan, irgendeine zusätzliche Gabe zu erwerben, sondern ist integraler Bestandteil der Gabe selbst, der die nunmehr von ihr begabten Akteure als von der Sünde befreite Sklaven der Gerechtigkeit in leiblicher Praxis Ausdruck verleihen. Ohne diesen Gehorsam ist die Gnade wirkungslos und unerfüllt. Gnade und Handlungsmacht Wie wir gesehen haben, betont Paulus sowohl die Verwandlung der Glaubenden als auch die Tatsache, dass ihr neues Leben von einem Leben abgeleitet und abhängig ist, das nicht ihr eigenes, sondern von Gott gegebenes Leben ist. Dementsprechend akzentuiert er sowohl das Wirken der Glaubenden als Akteure mit einem Willen, einer Orientierung an und einer Verantwortung vor Gott, wie auch das tiefe Wirken des Geistes, der die Quelle und der Beweggrund ihres Handelns ist. „Wenn wir nach dem Geist leben (d. h. wenn der Geist die Quelle unseres neuen Lebens ist), dann lasst uns auch nach dem Geist wandeln (d. h. Gnade und Handlungsmacht in den Briefen des Paulus 37 lasst uns jetzt durch die Kraft des Geistes handeln und uns verhalten“ (Gal 5,25). „Ich kann alle Dinge durch den tun, der mich stark macht“ (Phil 4,13). „Durch die Gnade Gottes bin ich, was ich bin, und seine Gnade mir gegenüber ist nicht vergeblich gewesen“ (Phil 4,13). „Im Gegenteil, ich habe härter gearbeitet als alle anderen - obwohl nicht ich es war, sondern die Gnade Gottes, die mit mir ist“ (1. Kor 15,9-10). Aus solchen Aussagen geht klar hervor, dass Glaubende nicht passiv sind: Sie sind keine Marionetten an einer Schnur, sie lehnen sich nicht zurück und überlassen das Handeln Gott. Im Gegenteil, sie sind aktive, denkende, bereitwillige Akteure, die alle Kräfte menschlichen Entscheidungs- und Handlungsvermögens aufbieten, mit der Folge, dass ihr ganzes Selbst auf die Absichten und den Willen Gottes ausgerichtet ist (Röm 12,1-2). Aber es ist auch klar, dass sie nicht einfach aus ihren eigenen Ressourcen und Fähigkeiten leben, durch eine Form der Selbstdisziplin, die das neue, tugendhafte Handeln aus sich selbst heraussetzt. Wie können wir dieses Phänomen einer göttlichen und zugleich menschlichen Handlungsmacht erklären? Wenn es angemessen ist, hier von der „Wirksamkeit“ der Gnade sprechen dürfen, wie ist diese dann genauer zu beschreiben? 20 Einige Aussagen des Paulus könnten im Sinne einer „Synergie“ zwischen Gott und Mensch als zwei nebeneinander wirkenden Akteuren zu denken sein, etwa wenn Paulus von „der Gnade Gottes“ spricht, „die mit mir ist“ (1Kor 15,10; vgl. 1Kor 3,9). Bei dieser Lesart kann man an den Willen des Glaubenden denken, der von der Macht der Sünde befreit wurde, um ein sich selbst regulierender, frei entscheidender Akteur zu sein, der die Freiheit genießt, mit Gott zusammenzuarbeiten. Aber andere Aussagen legen eine andere Lesart nahe - dass, wenn Glaubende „vom Geist geleitet werden“ (Gal 5,18), nicht sie es sind, die handeln, sondern der Geist, der durch sie handelt: „Ich lebe, doch nicht ich, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,19); „meine [Gottes] Gnade genügt dir, denn meine Kraft ist in der Schwachheit vollkommen geworden“ (2Kor 12,9). Man könnte dies als eine Art „Monergismus“ verstehen, bei dem Gott (oder der Geist) der einzige Akteur ist und der Glaubende lediglich das Medium, durch das Gottes seine Handlungsmacht in die Tat umsetzt. Tatsächlich verwenden beide Lesarten ein Modell des Handelns, bei dem göttlicher und menschlicher Akteur prinzipiell trennbar sind und in eine wesentlich konkurrierende Beziehung gesetzt werden. Je stärker der eine in der Position des Wirkenden gesehen wird, desto weniger kann diese Position dem anderen zugeschrieben werden. Selbst wenn das Resultat dieses Wirkens ununterscheid- 20 Vgl. J. M. G. Barclay / S. J. Gathercole (Hg.), Divine and Human Agency in Paul and his Cultural Environment, London 2006. 38 John M.G. Barclay bar eine einzige Wirkung ist, ist sie doch der Konvergenz zweier unabhängiger Organe zuzuschreiben, wobei das beteiligte menschliche Organ allein für seinen eigenen Anteil an der Handlung verantwortlich ist. Da sie umgekehrt proportional arbeiten, muss die menschliche Handlungsweise umso belangloser sein, je größeres Gewicht der Macht Gottes nach Stärke und Umfang zugemessen wird. Wenn also in einem monergistischen Schema die göttliche Aktivität vollständig wirksam ist, muss sie innerhalb dieses Schemas auch die einzige wirkende Handlungsmacht sein. Bei beiden Interpretationen ist Gott also ein Akteur auf derselben Ebene und in derselben Kausalmatrix wie der menschliche Akteur. Selbst dort, wo Gott als Urheber der Kausalkette angesehen wird, wirkt die Gnade als Kraft oder Wirkungsmacht in derselben Weise, wie ein menschlicher Akteur wirkt. Aber wenn Gott Gott ist und die Gnade göttlich, dann gilt unser besonderes Augenmerk der Beziehung zwischen Gott und den Realitäten, die Gott nicht nur beeinflusst, sondern erschafft. 21 Eine dem Stoizismus nahestehende Lösung wäre eine Art Verwandtschaft zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen, so dass das menschliche Wirken nicht mit dem göttlichen Wirken konkurriert, sondern ein Teil oder „Fragment“ des Göttlichen ist. Nach diesem Modell wäre die menschliche Freiheit nicht Freiheit losgelöst von Gott, sondern etwas, das gerade in Übereinstimmung mit Gott ausgeübt wird. Dies beließe jedoch Gott und Mensch auf derselben Stufe des Seins, wobei Gottes Handlungsmacht zwar in Kraft oder Reichweite überlegen wäre, aber von selber Art. Eine andere Möglichkeit besteht darin, das göttliche Wirken als „nicht-kontrastive Transzendenz“ (Tanner) aufzufassen. Hier schließt das göttliche Wirken das menschliche Wirken keineswegs prinzipiell aus. Es schränkt die menschliche Freiheit nicht ein oder mindert sie, sondern ist genau das, was sie begründet und ermöglicht. Die beiden Wirkungsweisen stehen also in direktem und nicht in entgegengesetztem Verhältnis zueinander: Je weiter das Handeln des menschlichen Akteurs Raum greift, desto mehr (nicht desto weniger) kann der Gnade zugeschrieben werden. Die göttliche Transzendenz impliziert jedoch, dass die beiden Organe nicht identisch oder als Teil eines Ganzen miteinander verbunden sind. Gott unterscheidet sich radikal vom menschlichen Wirken und ist kein Akteur innerhalb derselben Seinsordnung oder desselben Kausalzusammenhangs. Daher ist menschliche Handlungsmacht weder eine leere Hülle für göttliche Macht noch eine unabhängige Kraft, die an der Seite Gottes wirkt, sondern in Gottes Handlungsmacht begründet und durch sie konstituiert, zugleich aber von Gott unterschieden. 21 Hilfreich hierzu K. Tanner, God and Creation in Christian Theology: Tyranny or Empowerment? , Oxford 1988. Gnade und Handlungsmacht in den Briefen des Paulus 39 Anstelle von „Synergismus“ oder „Monergismus“ kann dieses Modell „Energismus“ genannt werden, in Anlehnung an die Aussage des Paulus in Phil 2,12f: „Bemüht euch um euer eigenes Heil, denn Gott ist in euch am Werk (ho energōn en hymin), sowohl zum Wollen als auch zum Vollbringen zu seinem Wohlgefallen“. Paulus hält hier die Philipper zum Handeln an und schreibt ihnen die volle Verantwortung für dieses Handeln zu, aber er spricht auch vom Werk Gottes, das nicht unabhängig von ihrem eigenen ist, sondern in gewisser Weise die Quelle ihres Handelns, ja sogar ihres Wollens, das dem Handeln vorausgeht. Göttliche und menschliche Handlungsmacht werden nicht einfach nebeneinander gestellt, als ob sie je für sich zu einer gemeinsamen Anstrengung beitragen würden. Aber sie werden in eine logische Beziehung zueinander gebracht: Der menschliche Imperativ (die Mahnung zum „Werk“) beruht auf einem göttlichen Indikativ („Gott ist am Werk“), die beiden sind durch eine logische Konjunktion („für“) miteinander verbunden. Die Glaubenden partizipieren hier an einer Macht, die anders ist als sie selbst und die über sie hinausreicht, die aber ihr Handeln nicht ersetzt, sondern es mobilisiert und ermöglicht. Wenn wir hier von „Wirksamkeit“ sprechen dürfen, so ist die Gnade Gottes nicht nur eine Inspiration oder ein Beispiel, aber sie ist auch kein Ersatz für das Handeln und Wirken des Glaubenden: Sie ist vielmehr die Macht, innerhalb derer der Glaubende vollumfänglich sein verantwortliches Tun realisiert. Paulus versteht den Glaubenden so, dass er durch die Gnade verwandelt und umstrukturiert, ja zu einer „neuen Schöpfung“ wird (2Kor 5,17; Gal 6,15). Man kann hier davon sprechen, dass das Selbst des Glaubenden neu zentriert wird, umgestaltet durch eine neue Beziehung und das daraus resultierende neue Selbstverständnis, so dass Verstand, Wille, Körper und Emotionen neu ausgerichtet und der Wille zu kraftvollen Taten der Liebe angeregt wird. Hier gibt es keine Passivität, sondern eine „Kreuzigung“ des Fleisches mit seinen Leidenschaften und Begierden (Gal 5,24) und ein unermüdliches „Säen“ auf den Geist (Gal 6,8-9). Alle menschlichen Kräfte des Wollens, Begehrens, Denkens und Handelns werden hier mobilisiert, durch Gnade nicht unterdrückt, sondern aktiviert und angeregt. Aber - und das ist für Paulus von entscheidender Bedeutung - die Kraft, durch die diese Aktivität erzeugt wird, ist nicht ihre eigene, sie ist nicht eine Eigenschaft, die sie als Akteure charakterisiert, und sie ist auch nicht Teil ihrer kreatürlichen Ausstattung. Das neue Leben, das sie leben, ist geliehen, stammt von außerhalb ihrer selbst. Es ist in ihnen aktiv, jedoch unabänderlich nicht als ihr Besitz. Der Geist Christi wohnt in ihnen (Röm 8,11), aber er wird ihnen nie assimiliert; er ist nie „ihr eigen“ in demselben Sinne, wie er der Geist Christi ist. So wird das ganze christliche Leben in Abhängigkeit von der Gnade gelebt: Die Glaubenden werden neu zentriert, aber das Zentrum ihrer Existenz liegt nicht in ihnen, sondern 40 John M.G. Barclay außerhalb von ihnen. Diese Gabe bleibt immer inkongruent, immer außerhalb ihrer selbst, während sie gleichzeitig von ihr leben und in ihr handeln. In diesem Sinne ist die Gnade die Quelle ihrer eigenen Handlungsmacht, und die Glaubenden sind wie ein ungeborenes Kind, das im Mutterleib lebendig ist, aber auf das Leben angewiesen ist, das es von seiner Mutter erhält. 22 So verstanden ist die Struktur der Gnade in der Theologie des Paulus so markant wie konsistent: Sie ist die Gabe Gottes, endgültig erfüllt und verwirklicht in Christus, nicht eingeschränkt durch ein Kalkül von Wert oder Eignung, sondern eine unbedingte, inkongruent Gabe, die die Sünder rechtfertigt, den Toten Leben gibt und „das, was nicht existiert, ins Dasein ruft“ (Röm 4,17). Diese Gnade ist keine „Sache“, sondern eine Beziehung, die Gegenwart und Kraft Gottes in Christus, durch die der Glaubende neu geschaffen, neu ausgerichtet und zu Gehorsam, Dienst und Liebe befähigt wird. Weil sie eine Gabe der Teilhabe an Christus ist, wirkt sie im Glaubenden, ist aber nicht eigentlich ihr Besitz, und so ist sie inkongruent nicht nur zu Beginn der neuen Existenz in Christus, sie bleibt es auch das ganze Leben hindurch. Die Glaubenden, selbst und als solche ganz ungenügend, leben vom Leben in Christus und zeigen so am vollkommensten, wie die Menschen von Anbeginn gedacht waren, nämlich dankbare und tätige Empfänger einer Gnade zu sein, die ihre eigenen Fähigkeiten übersteigt und sie zu einer Bestimmung hinführt, die weit über ihren geschöpflichen Status hinausgeht. 22 Vgl. K. Tanner, Christ the Key, Cambridge 2010, sowie die Darstellung der Ethik Karl Barths bei J. Webster, Barth’s Ethics of Reconciliation, Cambridge 1995. Gnade und Erbarmen Gottes im Judentum der hellenistisch-frührömischen Zeit Lutz Doering 1. Forschungsgeschichtliche Zugänge Bis in die 1970er Jahre, teilweise auch darüber hinaus, herrschte in der neutestamentlichen Forschung - nicht zuletzt in der bis dahin tonangebenden protestantischen - das Bild eines Judentums vor, dessen „Soteriologie“ (wie man in christlich-dogmatischer Tradition entlehnter Terminologie sagte) auf einer sprichwörtlichen Werkgerechtigkeit gründete, die zugleich als differentia specifica zu einem die Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade vertretenden, vornehmlich von Paulus her verstandenen Christentum betrachtet wurde. Zwar hatte schon George Foot Moore in seinen Arbeiten 1 dem pharisäisch-rabbinischen Judentum größere Gerechtigkeit widerfahren lassen, doch diese sind - insbesondere im deutschen Sprachraum - weitgehend ohne Widerhall geblieben, nicht zuletzt, weil die großen Synthesen protestantischer Lehrmeinung über das antike Judentum, von Ferdinand We- 1 G. F. Moore, Christian Writers on Judaism, HThR 14 (1921), 197-254; ders., Judaism in the First Centuries of the Christian Era: The Age of the Tannaim, 3 Bde., Cambridge, MA 1927-30. Prof. Dr. Lutz Doering, Jahrgang 1966, studierte Evangelische Theologie und Judaistik in Erlangen, Jerusalem und Heidelberg. Nach Promotion in Göttingen und Vikariat in Soest war er Wissenschaftlicher Assistent an der Friedrich- Schiller-Universität Jena, wo er sich auch habilitierte. Von 2004 bis 2009 lehrte er am King’s College London, von 2009 bis 2014 an der Durham University. Seit 2014 ist er Professor für Neues Testament und Antikes Judentum sowie Direktor des Institutum Judaicum Delitzschianum an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Im Münsteraner Exzellenzcluster „Religion und Politik“ leitet er gegenwärtig ein Projekt zur transkulturellen Verflechtung und Entflechtung jüdischer Apokalyptik. Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind jüdische Literatur und Religion in hellenistisch-römischer Zeit, rabbinische Literatur (insbesondere Tosefta), antike jüdische und frühchristliche Briefe. Zeitschrift für Neues Testament 23. Jahrgang (2020) Heft 46 42 Lutz Doering ber 2 zu Wilhelm Bousset, 3 von Emil Schürer 4 zu Paul Billerbeck, 5 zunächst weihin bestimmend blieben. Nach vereinzelter Kritik an diesen Synthesen, vor allem im englischsprachigen Raum, 6 war es Ed Parish Sanders’ Paul and Palestinian Judaism (1977), das eine grundlegende Neuorientierung einläutete. Durch die Übersetzung von Jürgen Wehnert (1985) wurde das Buch seit den späten 1980er Jahren zunehmend auch im deutschsprachigen Raum rezipiert. 7 Sanders zeichnet das Judentum als eine Religion der Gnade. Der zentrale Begriff für Sanders ist „Bundesnomismus“ (covenantal nomism): 8 Alle wichtigen Kreise des antiken Judentums (mit Ausnahme des Autors von 4. Esra, so Sanders) seien sich einig, dass es sich beim Bund um ein göttliches Geschenk handelt und dass Tora-Gehorsam nicht dazu dient, die Mitgliedschaft im Bund zu erlangen, sondern sie auszudrücken - oder anders gesagt, dass es beim Halten der Tora nicht um getting in, sondern um staying in geht; getting in geschehe durch Erwählung, also aufgrund von Gnade. 9 Vergleicht man nun Paulus mit den Zeugnissen des antiken Judentums, 2 F. Weber, System der altsynagogalen palästinischen Theologie aus Targum, Midrasch und Talmud, hg. v. F. Delitzsch/ G. Schnedermann, Leipzig, 1880; 2.- Aufl.. u. d. T. Jüdische Theologie auf Grund des Talmud und verwandter Schriften, Leipzig 1897. 3 W. Bousset, Die Religion des Judentums im neutestamentlichen Zeitalter, Berlin 1903, 2.- Aufl. 1906, 3.- Aufl. hg. v. H. Greßmann u. d. T. Die Religion des Judentums im späthellenistischen Zeitalter (HNT 21), Tübingen 1926. 4.-Aufl. hg. v. E. Lohse 1966. Man lese nur den tendenziösen, mit schroffen Werturteilen nicht sparenden Abschnitt zur Barmherzigkeit und Gerechtigkeit Gottes sowie zur Gerechtigkeit und Selbstgerechtigkeit der Frommen in Bousset/ Greßmann, Religion, 3. und 4.-Aufl., 380-394. 4 E. Schürer, Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi, Bd. 1, 3./ 4.- Aufl., Leipzig 1901; Bd. 2-3, 3.-Aufl., Leipzig, 1898. Zum „New Schürer“ siehe unten, Anm. 6. 5 [H. L. Strack / ] P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, 4 Bde., München 1922-28, Bd. 5-6: Rabbinischer Index; Verzeichnis der Schriftgelehrten; Geographisches Register, hg. v. J. Jeremias, 1956-61. 6 Vgl. S. Sandmel, Parallelomania, JBL 81 (1962) 1-13; K. Stendahl, The Apostle Paul and the Introspective Conscience of the West, HThR 56 (1963) 199-215; auch die korrigierenden redaktionellen Eingriffe, die das Team um Geza Vermes und Fergus Millar am englischen „New Schürer“ vornahm: E. Schürer, The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ, rev. Ed. v. G. Vermes/ F. Millar u. a., 3 Bde., Edinburgh 1973-87, besonders deutlich in Bd. 2 (1979) mit der Revision des berüchtigten Kapitels 28 „Das Leben unter dem Gesetz“ und des Abschnitts 26 I über die Pharisäer. 7 E. P. Sanders, Paul and Palestinian Judaism: A Comparison of Patterns of Religion, Minneapolis, MS 1977; dt. Paulus und das palästinische Judentum. Ein Vergleich zweier Religionsstrukturen (StUNT 17), Göttingen 1985. 8 Sanders, Paul and Palestinian Judaism, 75.236. “Briefly put, covenantal nomism is the view that one’s place in God’s plan is established on the basis of the covenant and that the covenant requires as the proper response of man [sic] his obedience to its commandments, while providing means of atonement for transgression” (75). 9 So spricht z. B. Sanders, Paul and Palestinian Judaism, 424, vom “pattern of getting in (election) and staying in (obedience)”. Gnade und Erbarmen Gottes im Judentum der hellenistisch-frührömischen Zeit 43 dann ergibt sich nach Sanders, dass die Religionsstruktur (pattern of religion) bei Paulus substanziell ähnlich ist, zugleich aber eine grundlegende Differenz besteht, und zwar nicht im angeblichen Gegensatz von Gnade und Werken, sondern bei der Zentralität des Glaubens und der Teilhabe an Christus, die an die Stelle des Bundes in der jüdischen Religionsstruktur treten. 10 Das Problem, das Paulus mit dem Judentum habe, bestehe im Wesentlichen darin, „dass es nicht Christentum ist“. 11 Sanders’ Analyse hat sowohl Zustimmung als auch Widerspruch erfahren. Allgemein wertgeschätzt wurde die Überwindung einer herabsetzenden Karikatur des Judentums in vielen Darstellungen protestantischer Exegese. Die New Perspective on Paul hat an Sanders angeknüpft, wobei etwa N. T. Wright und James Dunn die Vorgängigkeit der Gnade im Judentum wie bei Paulus ausdrücklich hervorhoben. 12 Insofern aber Dunn unter den „Werken des Gesetzes“, durch die nach Paulus niemand gerechtfertigt wird (Gal 2,16; Röm 3,20), vorwiegend die „nationalen“ boundary markers der Beschneidung, Speisegesetze und Sabbatbeobachtung verstand, sah er den Unterschied im paulinischen Verständnis der Gnade gegenüber dem sonstigen Judentum vor allem in der Universalität der 10 Vgl. Sanders, Paul and Palestinian Judaism, 543-552. 11 Sanders, Paul and Palestinian Judaism, 552: “In short, this is what Paul finds wrong in Judaism: it is not Christianity” (kursiv im Original). 12 Vgl. N. T. Wright, Pauline Perspectives: Essays on Paul, 1978-2013, London 2013, 3-20 (15) (aus einem Aufsatz aus dem Jahr 1978); J. D. G. Dunn, The New Perspective on Paul: Revised Edition, Grand Rapids, MI 2008, 199 (aus einem Aufsatz aus dem Jahr 1991). Prof. Dr. Lutz Doering , Jahrgang 1966, studierte Evangelische Theologie und Judaistik in Erlangen, Jerusalem und Heidelberg. Nach Promotion in Göttingen und Vikariat in Soest war er Wissenschaftlicher Assistent an der Friedrich- Schiller-Universität Jena, wo er sich auch habilitierte. Von 2004 bis 2009 lehrte er am King’s College London, von 2009 bis 2014 an der Durham University. Seit 2014 ist er Professor für Neues Testament und Antikes Judentum sowie Direktor des Institutum Judaicum Delitzschianum an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Im Münsteraner Exzellenzcluster „Religion und Politik“ leitet er gegenwärtig ein Projekt zur transkulturellen Verflechtung und Entflechtung jüdischer Apokalyptik. Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind jüdische Literatur und Religion in hellenistisch-römischer Zeit, rabbinische Literatur (insbesondere Tosefta), antike jüdische und frühchristliche Briefe. 44 Lutz Doering Gnade, die nicht auf Juden und Proselyten begrenzt sei. 13 Allerdings entzündete sich an den Thesen Sanders’ und der New Perspective zum Gnadenverständnis im antiken Judentum auch Widerspruch, vor allem im englischsprachigen Raum, zum Teil aus evangelikaler Perspektive. Donald A. Carson zufolge hat Sanders die angebliche „Verwässerung“ der Gnade und ihre Kopplung mit einer „Theologie der Verdienste“ in den Zeugnissen des antiken Judentums übersehen. 14 Ein Sammelband unter dem Titel Justification and Variegated Nomism hat sich die Aufgabe gestellt, die „Komplexitäten des Judentums zur Zeit des Zweiten Tempels“ zum Thema Gnade Gottes und Tun des Menschen herauszuarbeiten. 15 Ein weiterer Sammelband stellt das Problem in den breiteren Zusammenhang von Divine and Human Agency bei Paulus und in seiner (vorwiegend jüdischen) Umwelt. 16 Einige Forscher haben Korrekturen am Verständnis des Bundesnomismus vorgenommen. So hat Friedrich Avemarie für frührabbinische Texte gezeigt, dass die Tora einerseits aus einer Bundesverpflichtung heraus gehalten wird, dass aber andererseits das Tun der Tora durchaus zu Heil und Leben führt. 17 Und Simon Gathercole zieht aus seinen Analysen vorrabbinischer jüdischer Texte den Schluss, dass die Stellung des Einzelnen vor Gott im antiken Judentum wichtiger ist, als die New Perspective dies zugesteht. 18 In jüngerer Zeit hat nun John Barclay die Frage nach der Gnade Gottes im frühen Judentum in seiner monumentalen Untersuchung Paul and the Gift (2015) noch einmal neu aufgerollt. 19 Barclay zufolge krankt die bisherige Debatte über Gnade im antiken Judentum und bei Paulus - der der Hauptgegenstand seiner Untersuchung ist - an stillschweigenden, jeweils von den Forscherinnen und Forschern nicht aufgedeckten Grundannahmen über Gnade. Viele seien von den Gnaden-Verständnissen Augustins und Luthers geprägt, die jeweils die Priorität und Inkongruenz der Gnade - bei Luther auch die Bestimmung als „reine Gabe“ - betonen. 20 Doch Barclay zeigt, dass es bereits in der Antike unterschiedliche 13 Vgl. Dunn, New Perspective, 375 (aus einem Aufsatz aus dem Jahr 1997). 14 D. A. Carson, Divine Sovereignty and Human Responsibility: Biblical Perspectives in Tension, London 1981, 68f.86-95.120f. 15 D. A. Carson/ P. T. O’Brien/ M. A. Seifrid (Hg.), Justification and Variegated Nomism, Bd. 1: The Complexities of Second Temple Judaism (WUNT 2/ 140), Tübingen und Grand Rapids, MI 2001. 16 J. M. G. Barclay/ S. J. Gathercole (Hg.), Divine and Human Agency in Paul and his Cultural Environment, London 2006. 17 F. Avemarie, Tora und Leben. Untersuchungen zur Heilsbedeutung der Tora in der frühen rabbinischen Literatur (TSAJ 55), Tübingen 1996, zusammenfassend: 575-584. 18 S. J. Gathercole, Where is Boasting: Early Jewish Soteriology and Paul’s Response in Romans 1-5, Grand Rapids, MI 2002, v. a. 37-194. 19 J. M. G. Barclay, Paul and the Gift, Grand Rapids, MI 2015. 20 Vgl. zu Augustinus und Luther die relevanten Abschnitte in Barclay, Paul and the Gift, 85-97.97-116. Gnade und Erbarmen Gottes im Judentum der hellenistisch-frührömischen Zeit 45 Verständnisse von Gnade gab, die jeweils verschiedene Merkmale als wesentlich hervorhoben. Barclay spricht hierbei, terminologisch etwas gewöhnungsbedürftig (in Anlehnung an Kenneth Burke), von perfections von Gnade und unterscheidet insgesamt sechs perfections, 21 wobei Priorität und Inkongruenz nicht für alle Verständnisse konstitutiv seien. 22 Ein Problem im Ansatz Sanders’ sei gerade, dass er das, was er pattern of religion nennt, vornehmlich sequenziell denkt, das heißt, vom „Hineinkommen“ bis zur „endgültigen Rettung“; hier sei konstitutiv für Sanders’ Bundesnomismus, dass die Erwählung als der Gabe der Tora zeitlich vorausliegend behauptet wird. Damit würden von vornherein Priorität und Inkongruenz zu wesentlichen Eigenschaften von Gnade erklärt, während der textliche Befund im Einzelnen komplexer sei. 23 So habe Sanders zwar recht mit seiner Behauptung der Ubiquität der Gnade im antiken Judentum (und bei Paulus), doch unrecht mit seiner Annahme einer Gleichförmigkeit im Gnaden-Verständnis, wie Barclay zusammenfassend festhält: „Grace is everywhere in Second Temple Judaism but not everywhere the same.“ 24 Im Folgenden sollen - Barclays Untersuchung kritisch aufnehmend und weiterführend - die Konturen der Gnade und des Erbarmens Gottes in ausgewählten Texten des Judentums der hellenistisch-frührömischen Zeit aufgezeigt werden, also dessen, was häufig als „Frühjudentum“ bezeichnet wird (etwa 300 v. Chr. bis 135 n. Chr.). Dabei rekurriere und beschränke ich mich stärker als Barclay auf den lexikalischen Befund zu „Gnade“ und „Erbarmen“ und berücksichtige auch einige wichtige Schriften, die Barclay nicht bespricht. 25 2. Gnade und Erbarmen Gottes in ausgewählten jüdischen Texten 2.1 Vorbemerkung: „Gnade“ und „Erbarmen“ In den hier zu besprechenden Texten kann nicht scharf zwischen den Begriffen geschieden werden, die im Deutschen mit „Gnade“ und „Erbarmen“ wieder- 21 Vgl. Barclay, Paul and the Gift, 70-75: „superabundance“ (die Überfülle der Gnade), „singularity“ (Gnade als exklusive Handlungsweise des Gebers), „priority“ (das Zuvorkommen der Gnade), „incongruity“ (die Inkongruenz der Gnade, ohne Rücksicht auf den Wert des Empfängers), „efficacy“ (die alleinige Wirksamkeit der Gnade) und „non-circularity“ (Gnade ohne Erwartung einer entsprechenden Gegengabe). 22 Vgl. Barclay, Paul and the Gift, 75: „To perfect one facet of gift-giving does not imply the perfection of any or all of the others“ (im Original kursiv). 23 Vgl. Barclay, Paul and the Gift, 152-155. 24 Barclay, Paul and the Gift, 6; ähnlich 565. 25 Nämlich: Sirach, 1. Henoch (in seinen Bestandteilen), Jubiläen und 2. Baruch. Hingegen nehme ich Pseudo-Philo, LAB aus Platzgründen nicht auf. 46 Lutz Doering gegeben werden. Das liegt zum einen am Befund in den Übersetzungssprachen, in denen manche dieser Texte überliefert sind und die nicht scharf zwischen beiden Begriffen scheiden, wie z. B. im Fall von Ge‘ez šāhl und meḥrat oder von Syrisch raḥmā, ḥnānā und ṭayḇuṯā. Zum andern ist zu beobachten, dass einige Texte - teilweise ebenfalls nur in Übersetzung - die von uns mit „Gnade“ und „Erbarmen“ wiedergegebenen Begriffe syntagmatisch nebeneinander stellen (z. B. Jub 10,3; 23,23; 1QH a VIII 26 f.; IX 33 f.; XII 37 f.; 26 Sap 3.9; 4,15; 2 Bar 48,18). Weitere Beobachtungen, die den Befund terminologisch komplexer machen, sind hier anzufügen: Das Hebräische als Originalsprache einiger relevanter Texte drückt das, was wir im Deutschen zum Teil als „Gnade“ übersetzen, mit verschiedenen Wörtern aus. Dabei bezeichnet ןח entweder „Gunst“ (vor allem in der geprägten Wendung ינולפ יניעב ןח אצמ „Gnade in jemandes Augen finden“, Gen 6,8; 18,3 etc.) oder aber „Huld“ im Sinn angenehmer Eigenschaften (Nah 3,4; Prov 11,6 etc.), 27 während דסח das überwiegende Wort für Gottes „Gnade“ und „Treue“ ist ( Jer 33,11; Ps 33,5 etc.), daneben aber auch ein wechselseitiges Loyalitätsverhältnis (Dtn 7,9; Ps 89,25 etc.) oder auch wiederum „Gunst“ (Esr 2,9.17 etc.) bezeichnen kann. 28 Das Griechische bietet χάρις als einen Schlüsselbegriff an, der aber deutlicher als die hebräischen Termini in antike Diskurse über Wohltätigkeit (englisch benefaction, beneficence) eingezeichnet ist. 29 In diesem Zusammenhang fällt auf, dass in der Septuaginta χάρις nur eingeschränkt zur Wiedergabe der oben genannten hebräischen Wörter für „Gnade“ oder „Gunst“ verwendet wird - bei Weitem am häufigsten für ןח in der festen Wendung „Gunst finden“ (Gen 6,8; 18,3 LXX etc.), sodann auch in der Wendung „Gunst gewähren“ (Gen 39,21; 43,14 LXX etc.) -, 30 während דסח mit anderen Wörtern wie vor allem 31 ἔλεος (Gen 24,12.14 LXX etc.), sodann δικαιοσύνη (Gen 19,19; 20,13 LXX etc.) oder auch ἐλεημοσύνη (Gen 47,29; Ps 26 Zählung von 1QH a der Übersichtlichkeit halber nach H. Stegemann/ E. Schuller, 1QHodayot a (DJD 40), Oxford 2009; dort ist auch die ältere Sukenik-Zählung beigefügt. 27 Vgl. HALOT Online, s.v. ן ֵ ח R (18.09.2019). Das Englische verwendet auch für Letzteres „grace“ und davon abgeleitete Wörter. 28 Vgl. HALOT Online, s.v. II ד ֶ ס ֶ ח R (18.09.2019). 29 Vgl. Barclay, Paul and the Gift, 26, zur griechischen Tradition: χάρις und der Plural χάριτες „typically convey the ethos of the gift as voluntary benevolence, but are also used often for specific acts of beneficence, favor expressed in a particular object or action.“ 30 Vgl. daneben die Wendung Sach 12,10 πνεῦμα χάριτος καὶ οἰκτιρμοῦ ( םי ִ נוּנ ֲ ח ַ ת ְ ו ן ֵ ח ַ חוּר ). 31 „… in the Septuagint, ἔλεος in about seventy-five per cent of the occurrences is the standard rendering of the Hebrew noun ד ֶ ס ֶ ח .“ P. C. Beentjes, God’s Mercy: ,Racham‘ (pi.), ,Rachum‘ und ,Rachamim‘ in the Book of Ben Sira, in: R. Egger-Wenzel (Hg.), Ben Sira’s God: Proceedings of the International Ben Sira Conference, Durham - Ushaw College 2001 (BZAW 321), Berlin 2002, 101-117 (102). Im griech. Sirachbuch sei der Prozentsatz aber viel niedriger (41,8%). S.u. Gnade und Erbarmen Gottes im Judentum der hellenistisch-frührömischen Zeit 47 23,5 LXX etc.) übersetzt wird. Wie unter anderem James Harrison herausgearbeitet hat, ist daher der bestimmende Hintergrund für den Gebrauch von χάρις in jüdischen Texten (und, so Harrison, auch bei Paulus) nicht in der Septuaginta, sondern in den genannten hellenistisch-frührömischen Diskursen über Wohltätigkeit zu sehen, die sich in literarischen und dokumentarischen Zeugnissen niedergeschlagen haben. 32 Schließlich ist zu berücksichtigen, dass das Griechische zwei verschiedene Wörter für „Erbarmen“ oder „Barmherzigkeit“ kennt, die beide auch in der Septuaginta zur Wiedergabe von םימחר begegnen: neben ἔλεος (Dtn 13,18; Jes 47,6 LXX etc.) das weitaus häufiger für seine Wiedergabe verwendete οἰκτιρμός, 33 oft im Plural (2 Kgt 24,14 LXX; 3 Kgt 8,50 LXX etc.). 34 Von grundlegender Bedeutung für das jüdische Verständnis von Gottes „Gnade“ und „Erbarmen“ ist Ex 34,6-7, die sog. „Gnadenformel“ (Hermann Spieckermann), 35 für die im Gefolge des Gesagten in der Septuaginta ελε*-Begrifflichkeit vorherrscht: 36 „JHWH, JHWH, Gott, barmherzig und gnädig ( ןוּנּ ַ ח ְ ו םוּח ַ ר ; οἰκτίρμων καὶ ἐλεήμων), langmütig und von großer Gnade und Treue ( ת ֶ מ ֱ א ֶ ו ד ֶ ס ֶ ח־ב ַ ר ְ ו ם ִ י ַ פּאַ ךְ ֶ ר ֶ א ; μακρόθυμος καὶ πολυέλεος καὶ ἀληθινός), (7) der Tausenden Gnade bewahrt ( ד ֶ ס ֶ ח ר ֵ צ ֹ נ ; καὶ δικαιοσύνην διατηρῶν καὶ ποιῶν ἔλεος), Schuld, Übertretung und Sünde (griech.: Pl.) aufhebt ( א ֵ שׂ ֹ נ ; ἀφαιρῶν), aber gewiss nicht [lediglich] für frei erklärt ( ה ֶ קּ ַ נ ְ י אֹ ל ה ֵ קּ ַ נ ְ ו ; καὶ οὐ καθαριεῖ τὸν ἔνοχον), sondern heimsucht die Schuld der Väter an Kindern und Enkeln bis in die dritte und vierte Generation.“ Ähnliche Formeln, mit schwankender Reihenfolge der Adjektive „barmherzig und gnädig“, finden sich auch in Joel 1,3; Jon 4,2; Ps 86,15; 103,8; 145,8 und Neh 9,7. Hier wird zugleich deutlich, dass Gottes langmütige Barmherzigkeit und Gnade durch seinen heimsuchenden Zorn be- 32 J. R. Harrison, Paul’s Language of Grace in its Graeco-Roman Context (WUNT 2/ 172), Tübingen 2003 (Nachdr. mit neuem Vorw., Eugene, OR 2017); zu χάρις in jüdischen Texten: 97-165. Vgl. auch D. Zeller, Charis bei Philon und Paulus (SBS 142), Stuttgart 1990, 13-32 (bes. 27). 33 Beentjes, God’s Mercy, 101: in 64,1% der Fälle der Übersetzung von םימחר in der Septuaginta. Das griech. Sirachbuch weicht wiederum ab und benutzt es nur einmal, gegenüber fünfmaligem Gebrauch von ἔλεος (102). 34 Freilich gibt es Ausnahmen, etwa Gen 43,14, wo רחמים durch χάρις wiedergegeben wird. - Vgl. zum Nebeneinander von χάρις und ἔλεος auch C. Breytenbach, „Charis“ and „Eleos“ in Paul’s Letter to the Romans’, in: U. Schnelle (Hg.), The Letter to the Romans (BEThL 226), Leuven 2009, 247-277, der darauf hinweist, dass ἔλεος als „Mitleid“ in der griechischen Welt Gefühl war, das bei griechisch-römischen Schriftstellern als problematisch betrachtet und in eine Reihe mit Eifer, Streit, Neid oder Trauer gestellt wurde: 270-273; vgl. z. B. Diog. L. 7,111. 35 Vgl. H. Spieckermann, “Barmherzig und gnädig ist der Herr …”, ZAW 102 (1990) 1-18. 36 Griechische Termini sind in den Klammern aus der Septuaginta beigefügt. 48 Lutz Doering grenzt ist, von dem er sich aber - so ist zu verstehen - im Fall der Bitte um Sündenvergebung umstimmen lässt. 2.2 Ben Sira/ Jesus Sirach Im Sirachbuch, das auf Hebräisch zwischen etwa 190 und 180 v. Chr. in Judäa verfasst und vom Enkel des Verfassers zwischen 132 und 117 v. Chr., vielleicht auch kurz danach, in Alexandria ins Griechische übersetzt wurde, 37 findet sich in Sir 2,11 (nur griechisch belegt) eine deutliche Aufnahme der „Gnadenformel“: 38 „Denn der Herr ist barmherzig und gnädig (οἰκτίρμων καὶ ἐλεήμων) und vergibt Sünden (ἀφίησιν ἁμαρτίας) und rettet in der Zeit der Not (σῴζει ἐν καιρῷ θλίψεως).“ 39 Der literarische Kontext ist „eine kunstvoll aufgebaute Lehrrede (2,1-18) …, die zur Gottesfurcht und zum Gottvertrauen ermahnt und dabei argumentativ auf die Barmherzigkeit Gottes als dem eigentlichen Wesen Gottes verweist.“ 40 Die Rede rechnet mit Sündern, Verzagten und Ungeduldigen, die nicht beschirmt bzw. die von Gott heimgesucht werden. Ob allerdings so scharf zwischen den „Sündern“ und den nur zu einzelnen Übertretungen fähigen „Gerechten“ geschieden wird, wie Sanders in Anlehnung an Adolf Büchler meint, 41 bleibt angesichts der mahnenden Absicht in der Argumentation des Siraciden zu fragen. Zielpunkt der Rede in Kapitel 2 ist Sir 2,18, wo der Wunsch, in die Hände des Herrn und nicht der Menschen zu fallen, wie folgt begründet wird: „Denn wie seine Größe, ist sein Erbarmen (ἔλεος; syr. raḥmaw).“ 42 Gottes Größe bedingt sein Erbarmen (vgl. auch 18,5 nach den meisten griech. Handschrif- 37 Vgl. O. Kaiser, Die alttestamentlichen Apokryphen. Eine Einleitung in Grundzügen, Gütersloh 2000, 80.83f. Über die Textgeschichte und das Verhältnis der Versionen informiert B. Wright, Textual History of Ben Sira, in: A. Lange/ M. Henze/ F. Feder (Hg.), Textual History of the Bible: The Deuterocanonical Scriptures, Vol. 2B, Leiden 2019. 38 Vgl. M. Witte, „Barmherzigkeit und Zorn Gottes“ im Alten Testament am Beispiel des Buches Jesus Sirach, in: R. G. Kratz/ H. Spieckermann (Hg.), Divine Wrath and Divine Mercy in the World of Antiquity (FAT 2/ 33), Tübingen 2008, 176-202 (180-183). - Für das Griechische folge ich dem durch die Majuskeln Vaticanus, Sinaiticus und Alexandrinus als Hauptzeugen repräsentierten kürzeren und älteren Text („G-I“). 39 Hingegen findet sich der ebenfalls auf Ex 34,6f. (und verwandte Texte) zurückgehende Zusatz „langmütig und von großer Barmherzigkeit“ (μακρόθυμος καὶ πολυέλεος) nur in der hexaplarischen Rezension, einer Korrektur im Codex Sinaiticus, einigen griechischen Minuskeln und der bohairischen Version. Er ist aus metrischen Gründen als nicht ursprünglich anzusehen. 40 Witte, „Barmherzigkeit und Zorn Gottes“, 181f. 41 Sanders, Paul and Palestinian Judaism, 342-346; A. Büchler, Ben-Sira’s Conception of Sin and Atonement, JQR NS 13 (1922-23) 303-335.461-502; 14 (1923-24) 53-83 (304). 42 Die syrische Version, die von einer hebräischen Vorlage übersetzt wurde und deshalb hier zum Vergleich angeführt wird, bietet noch einen weiteren Stichos: „und wie sein Name, so sind auch seine Werke.“ Gnade und Erbarmen Gottes im Judentum der hellenistisch-frührömischen Zeit 49 ten: τὰ ἐλέη), das selbst als „groß“ bezeichnet werden kann (17,29 ἐλεημοσύνη; syr. raḥmaw). Auf dieses Erbarmen darf gehofft werden (2,7 ἔλεος; syr. ṭuḇeh; vgl. 2,9 ἔλεος; syr. purqānā). Vertrauen auf Gott wird belohnt (2,8). Zu beachten ist freilich, dass nach 3,20 (hebr. Hs. A und Syr.) die Gewährung der als „groß“ beschriebenen „Barmherzigkeit Gottes“ ( םיהלא ימחר ; raḥmaw d-elāhā) 43 ein demütiges menschliches Verhalten voraussetzt (vgl. 3,18). 44 Sir 5,5f. 45 bringt nun Gottes Erbarmen und Zorn in prägnanter Weise miteinander in Verbindung: „Verlass dich nicht auf Vergebung ( החילס ; ἐξιλασμοῦ), so dass du Vergehen auf Vergehen häufst (6) und du sagst: ‚Sein Erbarmen ( וימחר ; ὁ οἰκτιρμὸς αὐτοῦ) ist groß; er wird mir viele Sünden vergeben.‘ Denn Erbarmen ( םימחר ; ἔλεος) und Zorn ( ףאו ; καὶ ὀργή) sind bei ihm, doch auf den Frevlern ruht sein Grimm ( וזגר ; ὁ θυμὸς αὐτοῦ).“ Gottes Zorn ist hier die Kehrseite seines Erbarmens und trifft den, der - auf Erbarmen rechnend - vorsätzlich sündigt. Die „Verbindung zwischen Barmherzigkeit und Sündenvergebung, Zorn und Strafe“ verdeutlicht „die grundsätzliche Bezogenheit Gottes auf das Handeln des Menschen.“ 46 Im Sirachbuch reagiert Gott auf den Gehorsam oder Ungehorsam des Menschen. 47 Ein ähnlicher Bezug wird auch in Sir 16,11b hergestellt (hebr. in Hs. A belegt): „Denn Erbarmen und Zorn sind bei ihm, und er erlässt und vergibt ( חלוסו נואשו ; Griech. liest anders und verbindet: δυνάστης ἐξιλασμῶν ‚ein Dynast von Besänftigungen/ Sühnungen‘), aber über den Frevlern lässt er seinen Grimm aufleuchten (Griech. liest stattdessen: ‚und schüttet Zorn aus‘).“ Hier findet sich die Aussage allerdings in einer geschichtstheologischen Reflexion, in der im Anschluss (Sir 16,12) Gottes Erbarmen ( וימחר ; ἔλεος αὐτοῦ) seinem Züchtigen gegenübergestellt wird, als welches der göttliche Zorn hier, wie in Weisheitstexten häufig (Sir 18,13f.; Sap 12,19-22), im Sinn einer Erziehungsmaßnahme gedeutet wird. Zwar ordnet Sirach das Erbarmen in anthropologische Aussagen ein: Dem Erbarmen eines Menschen, das nur seinem Nächsten gilt, wird das Erbarmen (ἔλεος; syr. raḥmaw) Gottes gegenübergestellt, das „über allem Fleisch“ (syr. „allen seinen Werken“) ist (18,13). Doch es kommt tatsächlich nur denjenigen zu, „die sich Gott und seinen Geboten zu- 43 Griech. hat hier δυναστεία „Macht“. In Sir 3,18 bietet Griech. εὑρήσεις χάριν (syr. raḥme), während die mittelalterlichen hebräischen Handschriften einen gespaltenen Befund zeigen: Hs. A םימחר ; Hs. C ןח . 44 F. Zanella, Vergeltungsvorstellungen in der tannaitischen Literatur (TSAJ 177), Tübingen 2019, 185(f.), spricht diesbezüglich von „Spuren eines weisheitlichen Gebrauchs von םימחר “ im Sirachbuch. 45 Auch in den hebräischen Handschriften A und C erhalten. 46 Witte, „Barmherzigkeit und Zorn Gottes“, 185. 47 Vgl. J. Maston, Divine and Human Agency in Second Temple Judaism and Paul (WUNT 2/ 297), Tübingen 2010, 74 (zusammenfassend). 50 Lutz Doering wenden“ 48 (vgl. 17,29; 18,14); entsprechend steht insbesondere in Sir 15,11-17,24 die menschliche Verantwortung für das Halten der Gebote und das Tun des Rechten im Vordergrund (15,20 nach hebr. Hs. A und B: „und er erbarmt sich nicht [ םחרמ אלו ] über die, die Nichtiges [syr. ,Lüge‘] tun“). Nach dem griechischen Text von Sir 35[32],25f. ist Gottes Barmherzigkeit damit verbunden, dass Gott seinem Volk Recht schafft (hebr. Hs. B hier fragmentarisch, bietet aber ותעושיב anstelle von ἐν τῷ ἐλέει αὐτοῦ). In Sir 36[33],8- 18[7-13], auch hebräisch erhalten (Hs. B), 49 wird der Bitte, Gott möge seinen Zorn über die Feinde des Volkes ausgießen, die Doppelbitte gegenübergestellt, Gott möge sich über das Volk Israel und die Stadt Jerusalem erbarmen ( םחר ; ἐλέησον bzw. οἰκτίρησον), was sich somit als die Kehrseite des göttlichen Zorns erweist. Gottes Treue zu seinem Volk wird auch nicht durch die Sünden Salomos und die Entstehung des abtrünnigen Nordreichs infrage gestellt: Gott - so Sir 47,22 (Hs. B) - „wird die Gnade ( דסח ; τὸ ἔλεος αὐτοῦ) nicht zurücklassen und von seinen Worten nicht(s) auf die Erde werfen.“ In Sir 50,19 wird Gott geradezu als „der Barmherzige“ ( םוחר [Hs. B]; ἐλεήμονος) bezeichnet. 50 Die griechische Übersetzung spricht auch in 50,22 von Gottes Handeln „nach seiner Barmherzigkeit“ (ἔλεος) und bittet in 50,24, dass er sein Erbarmen „uns“ anvertraue, während nach Hs. B in 50,24 die bleibende Gnade Gottes ( ודסח ) für den Hohepriester Simeon erbeten wird. Das abschließende Gebet in Kap. 51 dankt für Hilfe nach Gottes „großer Gnade“ (51,3 ךדסח בורכ ; κατὰ τὸ πλῆθος ἐλέους καὶ ὀνόματός σου) und erwähnt die Erinnerung an die „Barmherzigkeit des Herrn und seine Gnadenerweise“ (51,8 וידסחו ייי ימחר ; vgl. τοῦ ἐλέους σου, κύριε, καὶ τῆς ἐργασίας σου). 51 Schließlich ruft in 51,29 die griechische Version, nicht aber die hebräische (nach Hs. B), zur Freude an der Barmherzigkeit Gottes auf (ἐν τῷ ἐλέει αὐτοῦ). Der Durchgang durch diese Stellen zeigt, dass Gottes Gnade und Barmherzigkeit wesentliche Attribute Gottes im Sirachbuch sind. 52 Dem, der sich ihm 48 Witte, „Barmherzigkeit und Zorn Gottes“, 190. 49 Zu den Problemen der Verszählung und der unterschiedlichen Textüberlieferung vgl. Witte, „Barmherzigkeit und Zorn Gottes“, 191 f. mit Anm. 67. 50 Dieser Aspekt kommt etwas zu kurz bei Maston, Divine and Human Agency, 67-69. 51 Die hebräische Hs. B fügt in Sir 51,12a-o einen Lobpreis auf Gottes Güte an, der wohl nicht ursprünglich dazugehört und jedes Kolon in Anlehnung an Ps 136 mit „denn seine Güte/ Gnade ( ודסח ) währt ewig“ abschließt. 52 Daneben spricht das Sirachbuch ausgiebig von menschlicher Gnade, Wohltat etc. (griech. meist χάρις; hebr. - sofern bezeugt - ןח , הבוט , דסח ): Sir 4,11; 7,33; 8,19; 12,1; 17,22; 20,13.16; 21,16; 24,16f.; 26,13.15; 29,15; 30,6; 32,10; 35,2; 40,17.22; 42,1; 45,1 (von Moses). In 44,1.10 werden die Vorväter als דסח ישנא bezeichnet (Hs. B und fragmentarisch in der antiken Masada-Hs.), was Griech. mit ἄνδρας ἐνδόξους bzw. (ἄνδρες ἐλέους) wiedergibt; vgl. 46,7 (hebr. Hs. B דסח השע ; griech. ἐποίησεν ἔλεος). Gnade und Erbarmen Gottes im Judentum der hellenistisch-frührömischen Zeit 51 zuwendet, ist Gott barmherzig, doch straft er zugleich den Frevler. Das Sirachbuch betont nicht die Inkongruenz und Nicht-Zirkularität der Gnade, sondern lässt die Gnade denen zukommen, die sie wert sind, und erwartet ein dieser entsprechendes Leben. Ohne ausgeführte Auferstehungslehre hält das Sirachbuch doch ein Gericht nach den Werken fest. 2.3 Das 1. Henochbuch Das im Ganzen nur auf Äthiopisch, teilweise auch auf Griechisch überlieferte, ursprünglich aber auf Aramäisch abgefasste 1. Henochbuch besteht aus verschiedenen Einzelschriften, deren älteste das Wächterbuch und das Astronomische Buch sind (3.-2. Jh. v. Chr.). 53 Relevant für unsere Frage ist von diesen beiden nur das Wächterbuch (1 Hen 1-36). In der teilweise auch auf Griechisch überlieferten Einleitung (1 Hen 1-5), die zu den spätesten Teilen des Wächterbuchs gehört, 54 wird das Thema des Erbarmens bzw. der Gnade Gottes mit Blick auf die Gerechten und Erwählten entwickelt: Während Gott furchterregend zum Gericht auf den Sinai tritt, so dass die Wächter erzittern, die Berge zerbrechen und die Hügel hinschmelzen (1 Hen 1,3-7), wird Gott „mit den Gerechten (μετὰ τῶν δικαίων) Frieden machen, über den Erwählten (ἐπὶ τοὺς ἐκλεκτούς) wird Schutz{…} 55 sein, und über ihnen wird sich Erbarmen/ Gnade (ἔλεος; äth. šāhl) ereignen“; auch wird ihnen ein Licht aufscheinen, und „Frieden“ wird noch ein weiteres Mal zugesprochen (1 Hen 1,8). Motivische Verbindungen zum Aaronitischen Segen (Num 6,24-26) sind der Forschung aufgefallen; hier wie dort ist ein Bundesverhältnis angesprochen. 56 Dabei wird mit „Gerechten und Erwählten“ das wahre Israel, der gerechte Rest angesprochen. 57 Dem wird die Zerstörung der Sünder im Gericht entgegengesetzt (1,9). Dieser Kontrast wird im Urteil in Kap. 5 fortgesetzt: Für die in zweiter Person angesprochenen Verurteilten wird „kein Erbarmen (ἔλεος; äth. šāhl) oder Frieden“ sein (5,5), während den Erwähl- 53 Einen Überblick und Einleitungsfragen zu den Teilen von 1. Henoch bietet J. J. Collins, The Apocalyptic Imagination: An Introduction to Jewish Apocalyptic Literature, 3.-Aufl., Grand Rapids, MI 2016, 53-89.220-239. 54 Es ist unklar, ob 1 Hen 1-5 eine Form des Buches mit oder ohne 1 Hen 6-11 eingeleitet haben; vgl. G. W. E. Nickelsburg, 1 Enoch 1: A Commentary on the Book of 1 Enoch, Chapters 1-36; 81-108 (Hermeneia), Minneapolis, MN 2001, 132. 55 Im Griech. ist „und Friede“ als Dittographie zu streichen. 56 Vgl. Nickelsburg, 1 Enoch 1, 147; L. Hartman, Asking for a Meaning: A Study of 1 Enoch 1-5 (CB.NT 12), Lund 1979, 5.32-38.44-48.132-136. 57 Vgl. Nickelsburg, ebd. 52 Lutz Doering ten (so nach einer Konjektur von Nickelsburg) 58 „Loslösung von Sünden und alles Erbarmen (πᾶν ἔλεος), Friede und Milde“ gewährt werden wird (5,6). 59 Zu Beginn des zweiten Hauptteils des Wächterbuchs (1 Hen 12-19) wird Henoch durch einen (so aram.) oder mehrere Engel damit beauftragt, den gefallenen Wächterengeln Verderben anzusagen (1 Hen 12,3-6). Unter anderem soll Henoch ihnen den Untergang ihrer Söhne, der Giganten, verkünden, den sie mit ansehen müssen; in diesem Zusammenhang heißt es, dass sie - doch wohl die Wächter 60 - „Erbarmen (εἰς ἔλεον; äth. meḥrat) und Frieden nicht haben werden“ (12,6). Schließlich findet sich im Kontext des dritten Hauptteils, der Reise Henochs nach Osten (1 Hen 20-36), eine crux interpretum: Nachdem Henoch der Ort des Gerichts gezeigt worden ist, an dem die Frevler zum Gericht versammelt werden in der Gegenwart der Gerechten (1 Hen 27,1-3a), sagt ihm der ihn begleitende Engel, dass hier die „Gottlosen“ (ἀσεβεῖς) den Herrn preisen werden (1 Hen 27,3b); „in den Tagen ihres Gerichts werden sie ihn preisen in/ mit Erbarmen (ἐν ἐλέει), wie er ihnen zugemessen hat“ (12,4). Statt „Gottlose“ lesen die äthiopischen Handschriften maḥāryān „die Barmherzigen“. Nicht ausgeschlossen wäre, dass Letzteres ein ursprüngliches *εὐσεβεῖς wiedergibt; 61 dann würde sich die Aussage an 1 Hen 27,3a anschließen und sich auf die Frommen beziehen, die Gott im Gericht in dem ihnen zugemessenen Erbarmen stehend preisen würden. Alternativ könnte man - die Lesung ἀσεβεῖς vorausgesetzt - daran denken, dass die Frevler (wie in 1 Hen 63,1.5f.) Gott im Gericht nach dem ihnen - unterschiedlich wenig, so möchte man interpretieren - zugemessenen Erbarmen preisen. 62 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass im Wächterbuch Erbarmen bzw. Gnade den Erwählten und Gerechten zukommt und den Frevlern vorenthalten wird. Der Maßstab der Gerechtigkeit ist freilich nicht ganz klar, insofern das Wächterbuch nur wenige Anspielungen auf die Tora bietet. Es ist aber recht wahrscheinlich, dass mit der Theophanie am Sinai zum Gericht (1 Hen 1,3f.) auch auf die am Sinai gegebene Tora als Norm angespielt wird, so dass die nach 58 Vgl. Nickelsburg, 1 Enoch 1, 159. Die Akhmim-Hs. liest αμαρτοι. 59 Der Text ist hier nur auf Griechisch belegt. - Wahrscheinlich ist die Zusage von χάρις „Gnade“ an die Erwählten nach 1 Hen 5,7 (griech., dupliziert in 5,8a) eine Verwechslung mit χάρα „Freude“; Letzteres wird entsprechend von der äthiopischen Version bezeugt. 60 Das vorangehende Subjekt sind die Wächter, so dass αὐτοῖς doch wohl auf diese zu beziehen ist. Anders offenbar Nickelsburg, 1 Enoch 1, 236: „Here it is not a question of the giants not being forgiven for their deeds, but of their not being shown mercy in the face of their doom.“ 61 Vgl. M.-T. Wacker, Weltordnung und Gericht. Studien zu 1 Henoch 22 (FzB 44), Würzburg 1982, 239 f. Anm. x. 62 Das Äthiopische hätte dann, ausgehend von „Erbarmen“ in V. 4, die Lesung „die Barmherzigen“ in V. 3 angepasst. - Vgl. Nickelsburg, 1 Enoch 1, 319. Gnade und Erbarmen Gottes im Judentum der hellenistisch-frührömischen Zeit 53 1 Hen 5,4 übertretenen „Gebote“ mindestens auch Tora-Gebote sind. Zugleich scheint das Wächterbuch ein breiteres Gesetzesverständnis zu haben, das vor allem auf die kosmische Ordnung rekurriert (1 Hen 2,1-5,3), die eben unter anderem von den gefallenen Wächterengeln korrumpiert wurde (wodurch das Böse durch übermenschliche Kräfte in die Welt gekommen ist und nicht aus menschlichem Tun heraus entsteht). 63 Betont wird im Wächterbuch aber nicht die Priorität oder Inkongruenz von Erbarmen bzw. Gnade Gottes. Die gefallenen Wächter und ihre Nachkommen, die Giganten, dürfen auf keine Gnade hoffen, die ihnen etwa im Gericht helfen würde. Durch das Ende der Schlechtigkeit werden die Gerechten entkommen und in Segen leben (so 1 Hen 10,16-11,2). In zwei Textzusammenhängen ist Gnade oder Erbarmen in der Epistel Henochs (2. oder 1. Jh. v. Chr.) erwähnt. Gemäß der Einleitung der Epistel (1 Hen 92,2-5) wird „der Gerechte“ vom Schlaf erwachen und „auf Wegen der Gerechtigkeit“ wandeln; dabei wird „sein ganzer Weg und seine Reise in Frömmigkeit und ewiger Gnade/ Barmherzigkeit (äth. šāhl)“ sein (1 Hen 92,3). „Der Gerechte“ ist hier wohl kollektiv oder pars pro toto gemeint; da es um einen Wandel geht, dürfte sich das Aufwachen nicht auf die Auferstehung, sondern auf eine Hinwendung zur rechten Gottesverehrung beziehen. 64 Im nächsten Vers ist jedoch von Gottes Barmherzigkeit die Rede: „Er (sc. Gott) wird dem Gerechten gnädig/ barmherzig sein (√šāhla) und ihm ewige Wahrheit (ret‘) 65 geben“. Hier ist also deutlich eine Kongruenz zwischen dem Gerechten und seinem gnädigen/ barmherzigen Wandel einerseits und Gottes ihm entgegengebrachter Gnade/ Barmherzigkeit andererseits erkennbar. Hingegen richtet sich 1 Hen 94,10 innerhalb einer Weherede an die Reichen und Gewalttätigen: „Der euch geschaffen hat, wird euch umstoßen, und mit eurem Fall wird es kein Erbarmen (äth. meḥrat) geben.“ Der Epistel Henochs zufolge (1 Hen 98,4) ist der Mensch selbst für den Abfall vom Gesetz verantwortlich: „So wurde die Gesetzlosigkeit (ἀνομία) nicht auf die Erde geschickt, sondern die Menschen erschufen sie selbst, und die sie 63 Man beachte in diesem Zusammenhang, dass die Einhaltung natürlicher Ordnungen in der Tora etwa im Verbot von kila’im (Lev 19,19; Dtn 22,9) oder sexueller Beziehungen in bestimmten Verwandtschaftsgraden (Lev 18.20) gesichert werden soll. 64 Vgl. Nickelsburg, 1 Enoch 1, 432f. 65 Vermutlich gibt dieses Wort aram. אטשוק wieder, das entweder „Wahrheit“ oder „Gerechtigkeit“ bedeuten kann. 54 Lutz Doering tun, werden zu einem großen Fluch werden.“ 66 Dies zeigt enge Verwandtschaft mit Sir 15,11-17,24. 67 Gnade und Erbarmen sind ein häufig wiederkehrendes Thema im Buch der Gleichnisreden Henochs (1. Jh. v. - 1. Jh. n. Chr., nur äthiopisch). Wenn beim Erscheinen der Gerechten die Sünder, insbesondere die „Könige und Mächtigen“, gerichtet werden und untergehen, wird niemand Barmherzigkeit suchen (√meḥra) beim Herrn der Geister (die übliche Gottesbezeichnung in dieser Schrift) (1 Hen 38,6; vgl. 39,2 äth. Hss.). In den Wohnplätzen der Gerechten, die bei den Engeln liegen, wo sie (sc. die Gerechten? Engel? ) Fürbitte halten für die Menschen, sieht Henoch „Gerechtigkeit fließen wie Wasser vor ihnen und Erbarmen (meḥrat) wie Tau auf die Erde“ (39,5). In 40,9 wird der Erzengel Michael als „barmherzig und langmütig (maḥāri wa-reḥuqa ma‘‘at)“ bezeichnet; er übernimmt hier als Bote Gottes eine von dessen Eigenschaften. Er ist es auch, der Henoch bei seinem Aufstieg in den Himmel „alle Geheimnisse der Barmherzigkeit (meḥrat)“ zeigt (71,3). Nach der Erklärung Michaels in 60,5 dauerte Gottes Barmherzigkeit (meḥrat) bis zum heutigen Tag des Gerichts; Gott „ist barmherzig und langmütig gewesen gegenüber denen, die die Erde bewohnen.“ Auch das Gericht erfolgt „nach seiner Barmherzigkeit (meḥrat) und Geduld“ (60,25). Wenn „der Erwählte“ (der Messias-Menschensohn der Gleichnisreden) inthronisiert wird, werden die himmlischen Heerscharen den Namen des Herrn der Geister preisen mit dem Geist der Treue, der Weisheit, der Geduld, der Barmherzigkeit, des Gerichts, des Friedens und der Güte (61,11), und sie werden die Größe der Barmherzigkeit des Herrn der Geister preisen (61,15). Vor dem Inthronisierten werden „die Könige und die Mächtigen“ niederfallen, werden „anbeten und ihre Hoffnung auf diesen Menschensohn setzen“ sowie „ihn um Barmherzigkeit (meḥrat) bitten“, doch der Herr der Geister selbst wird sie abweisen (62,9). Im Gericht ist es zu spät, um Erbarmen zu bitten. Ein anderer Ton wird allerdings in 50,2f. angeschlagen. Demnach wird in der Endzeit „anderen“ das Vorbild der Gerechten gezeigt, auf dass sie umkehren und ihrer Hände Werk verlassen. Diese „anderen“ haben keine Ehre 68 in der Gegenwart des Herrn der Geister, doch „in seinem Namen werden sie gerettet werden; 66 Im griechischen Chester-Beatty-Papyrus wird dieser Satz doppelt mit gewissen Abweichungen geboten; nach Nickelsburg Varianten einer Übersetzung aus dem Aramäischen. Das Wort ἀνομία wird in der zweiten Variante geboten; in der ersten fehlt ein entsprechender Ausdruck. Die äth. Version liest hier xaṭi’at-ni „Sünde“. Vgl. Nickelsburg, 1 Enoch 1, 469f. 67 Vgl. Nickelsburg, 1 Enoch 1, 477. 68 In den Hss. überwiegt die Lesung „keine Ehre“. Allerdings entscheidet sich Nickelsburg gegen diese Lesung und folgt zwei Handschriften, die „Ehre“ lesen. G. W. E. Nickelsburg/ J. C. VanderKam, 1 Enoch 2: A Commentary on the Book of 1 Enoch, Chapters 37-82 (Hermeneia), Minneapolis, MN 2012, 180.182f. Gnade und Erbarmen Gottes im Judentum der hellenistisch-frührömischen Zeit 55 und der Herr der Geister wird Erbarmen über sie haben (√meḥra), denn groß ist sein Erbarmen (meḥrat).“ Hier wird also erstmals in der Henoch-Literatur die Möglichkeit der Umkehr eingeräumt. Die „anderen“ sind am ehesten Sünder, die eben deshalb keine „Ehre“ bei Gott haben, jedoch von ihrer Sünde ablassen. 69 Das Erbarmen ist inkongruent, allerdings abhängig von der vorhergehenden Umkehr der Sünder. Dies wird in 50,4f. unterstrichen, wonach „die Nicht-Umkehrwilligen in seiner Gegenwart verderben“ und der Herr der Geister ansagt: „Hiernach werde ich kein Erbarmen über sie haben (√meḥra).“ 2.4 Das Jubiläenbuch Im Jubiläenbuch (Mitte 2. Jh. v. Chr.), 70 im Ganzen auf Äthiopisch überliefert und fragmentarisch auf Hebräisch in Handschriften aus Qumran bezeugt, wird das Thema der Gnade bzw. Barmherzigkeit Gottes in engem Bezug zum Volk Israel entwickelt. Bereits zu Beginn des Buchs, das das narrative Setting am Berg Sinai darlegt, bittet Mose in einem kurzen Plädoyer ( Jub 1,19-21) Gott darum, dass dessen Volk nicht den Heidenvölkern ausgeliefert wird: „Möge dein Erbarmen (äth. meḥratka) erhoben werde über deinem Volk. Und schaffe ihnen einen rechten Geist. Und der Geist Belials beherrsche sie nicht“ ( Jub 1,20). Hier sind Aspekte von Dtn 9,25-29 verarbeitet, 71 wo allerdings der Bezug zum Erbarmen fehlt. Der Sonderstatus Israels wird im Jubiläenbuch konkreter darin angelegt, dass Gott es am Sabbat der Schöpfungswoche erwählt und dabei zugleich zu künftiger Sabbatobservanz bestimmt, in Gemeinschaft mit ihm selbst und den höheren Engelklassen ( Jub 2,19-33). Damit ist die These Sanders’, dass Gott zuerst erwählt und dann erst die Gebote der Tora erlässt, 72 substanziell zu nuancieren: Zwar geht die Erwählung sachlich voraus, sie ist aber unmittelbar mit der Bestimmung zu Tora-Gehorsam verbunden. Dem ganzen Volk wird die Tora freilich erst am Sinai kundgetan; doch da die Tora nichts anderes ist als das der Schöpfung eingestiftete (Natur-) Gesetz, halten bereits die Protoplasten sowie die Patriarchen Einzelgebote der Tora. 69 Diese Deutung folgt G. Boccaccini, Forgiveness of Sins: An Enochic Problem, a Synoptic Answer, in: L. T. Stuckenbruck/ G. Boccaccini (Hgg.), Enoch and the Synoptic Gospels: Reminiscences, Allusions, Intertextuality (SBLEJL 44), Atlanta, GA 2016, 153-167 (159-162). 70 Die Datierung des Jubiläenbuchs ist umstritten. Es gibt gegenwärtig drei Datierungsansätze: (a) kurz vor 167 v. Chr., (b) ca. 150-140 v. Chr., (c) um 110 v. Chr. Vgl. die neuerliche Diskussion bei J. C. VanderKam, Jubilees: A Commentary in Two Volumes (Hermeneia), Minneapolis, MN 2018, Bd. 1, 28-28, der für „a time not too far from the 160s—perhaps the 150s—“ (38) als die wahrscheinlichste Zeit für die Abfassung des Buches plädiert. 71 Vgl. VanderKam, Jubilees, Bd. 1, 156f. 72 So emphatisch - für die tannaitische Literatur - Sanders, Paul and Palestinian Judaism, 87.101.178 u. ö. Sanders sieht im Jubiläenbuch „the same“ „basic pattern“ wie anderswo im palästinischen Judentum (371). 56 Lutz Doering Der Sonderstatus Israels wird auch in Jub 5,17f. reflektiert. Nach der Flut sind alle Kreaturen mit einer neuen Natur ausgestattet worden (5,12); diejenigen, die von dem ihnen vorgeschriebenen Pfad abweichen, sollen ohne Ansehen der Person (sc. zugrunde) gerichtet werden (5,13-17). Für Israel allerdings wird eine Sonderregelung getroffen: Wenn sie sich zu Gott bekehren in der rechten Weise, „wird er all ihre Übertretung vergeben und all ihre Sünden verzeihen. (18) Es ist geschrieben und angeordnet, dass er sich aller erbarmen wird (√meḥra), die sich bekehren von all ihren Sünden einmal jedes Jahr.“ Diese Angabe legt nahe, dass hiermit auf den Versöhnungstag rekurriert wird, auch wenn der Name hier nicht verwendet wird. 73 Gottes Barmherzigkeit antwortet hier jeweils auf menschliche Umkehr; allerdings stellt Gott die Möglichkeit der Sühne seinem erwählten Volk bereit. Unter den Urvätern vor der Flut wurde Noah (Gottes) Gunst erwiesen ( Jub 5,19; äth. tanše’a lotu gaṣṣu, „ihm wurde sein Angesicht erhoben“, vgl. hebr. םינפ אשנ ) um seiner Kinder willen, die er aus den Wassern der Flut um seinetwillen rettete, da er rechtschaffen war und nicht übertrat, was für ihn angeordnet worden war. Hier stehen Gunst und Rechtschaffenheit in einem Wechselverhältnis; Gunst im Sinn des „Ansehens der Person“ ist nämlich etwas, das das Jubiläenbuch ansonsten in Anlehnung an Dtn 10,17 für Gottes Handeln streng ablehnt ( Jub 5,16; 21,4). Gleichwohl liegt in 10,3 - trotz Noahs Rechtschaffenheit - der Akzent auf Gottes Gnade und Erbarmen, wenn Noah in Gegenwart seiner Kinder betet: „Denn groß war deine Gnade (šāhlka) über mir, und groß war dein Erbarmen (meḥratka) über meinem Leben. Möge sich deine Gnade (šāhlka) über die Kinder deiner 74 Kinder erheben“ ( Jub 10,3). Damit, so Noah, würde verhindert, dass die bösen Geister über seine Nachkommen herrschten und sie von der Erde vertilgten. Gottes Gnade bzw. Barmherzigkeit bestätigt die Verschonung Noahs und seiner Familie und sorgt ebenso für künftige Verschonung seiner Nachkommen. Die Sonderstellung Israels wird in Jub 22,28-30 weitergeführt; 75 demnach bittet Abraham Gott für seinen Sohn Jakob: „Deine Gnade (šāhlka) und dein Erbarmen (meḥratka) sei lange über ihm und über seinem Samen alle Tage“ (22,28). Die Nachkommen Jakobs mögen bewahrt, gesegnet und geheiligt wer- 73 Vgl. VanderKam, Jubilees, Bd. 1, 289 f. Nach Jub 50,10f. wird auch dem Tamid-Opfer und dem Sabbat-Brandopfer sühnende Qualität zugeschrieben. Ob sich Jub 6,14 auf das Tamid bezieht, ist umstritten (positiv: VanderKam, Jubilees, Bd. 1, 313 f.; negativ: C. Werman, The Book of Jubilees: Introduction, Translation, and Interpretation, Jerusalem 2015 [hebr.], 225 f., die hier eine Entschuldigung für profane Schlachtung annimmt). 74 Möglicherweise ein Irrtum für „meiner“; vgl. VanderKam, Jubilees, Bd. 1, 402. 75 In Jub 12,29 bietet der äth. Text einen zusätzlichen Satz im Wunsch Terachs für Abram, für den aber im hebr. Fragment 11Q12 9 nicht genügend Platz ist und der daher wohl als sekundärer Zuwachs zu betrachten ist: „Und er gebe über dich Gnade und Barmherzigkeit und Güte vor denen, die dich sehen“. Vgl. VanderKam, Jubilees, Bd. 1, 443.460. Gnade und Erbarmen Gottes im Judentum der hellenistisch-frührömischen Zeit 57 den. „Und erneuere deinen Bund und deine Gnade (šāhlka) mit ihm und mit seinem Samen in deinem ganzen Willen in allen Generationen der Erde“ (22,30). „The eternal race, enriched by divine blessing and care, contrasts sharply with the nations, who will vanish from the face of the earth.“ 76 Nach Jub 23,23 (mit fragmentarischer Bezeugung in 4Q176 Frg. 19-20) besitzen die Sünder der Heidenvölker „weder Barmherzigkeit noch Gnade“ (meḥrata wa-šāhla; für Letzteres lässt sich in 4Q179 19-20 4 םימ R [חרו ergänzen) und werden Israel Gewalt antun; damit knüpft das Jubiläenbuch an entsprechende Themen aus den Prophetenbüchern an (z. B. Jes 13,17f.; V. 18: וּמ ֵ ח ַ ר ְ י אֹ ל ). 77 Im weiteren Verlauf des Kapitels hören wir, dass die gerechten Israeliten, deren „Knochen in der Erde ruhen“ und deren „Geist viel Freude hat“, erkennen werden, „dass es der Herr ist, der Gericht hält und der Gnade (šāhla) wirkt an Hunderten und an Zehntausenden 78 und an allen, die ihn lieben“ ( Jub 23,31). Während die hier vorausgesetzte Anthropologie und Eschatologie umstritten sind (leben die bestatteten Gerechten im Geist weiter? ), dürfte klar sein, dass das Ende des Verses Ex 20,5f.; Dtn 5,9f. neu schreibt, wonach Gottes Gnade/ Huld ( דסח ) denen gilt, die ihn lieben und seine Gebote halten. 79 Letzteres ist in Jub 23,31 nicht explizit erwähnt, doch sagt 23,26, dass „in jenen Tagen die Kinder anfangen werden, die Gesetze zu erforschen und die Gebote zu suchen und zum rechten Weg umzukehren.“ Die in Jub 23,31 erwähnte „Gnade“ hat daher ein reziprokes Verhältnis im Blick. Schließlich heißt es unter den Israeliten insbesondere von Jakob, dass er Gnade und Barmherzigkeit erfahren hat (31,24f.; 45,3; vgl. 35,5), und Jakob selbst wird als ein „freigebigerer und barmherzigerer Mann“ als Esau gezeichnet (37,15; maḥāri). Zusammenfassend lässt sich somit sagen, dass Gnade und Erbarmen im Jubiläenbuch in Entsprechung zum Wert des erwählten Volkes gewährt werden. Jub 23 zeigt, dass Abfall vom Gesetz für möglich gehalten wird (V. 8-15) und dass diejenigen, die zum Studium und Tun des Gesetzes zurückkehren, Gnade erfahren (V. 16-31). Erwählung und die Erwartung der Tora-Observanz sind eng gekoppelt. Barmherzigkeit antwortet auf Umkehr, doch Gott ist auch darin gnädig, dass er dem erwählten Volk die Möglichkeit der Sühne gewährt. Bestimmte Übertretungen können aber nicht gesühnt werden, wie z. B. Sabbatbruch, der mit Ausrottung bzw. Tod bedroht wird ( Jub 2,27; 50,8.13). Es sind nicht einfach „Ab- 76 VanderKam, Jubilees, Bd. 2, 669. 77 Vgl. VanderKam, Jubilees, Bd. 2, 692. 78 Die Lesung „und an Zehntausenden“ nach 4Q176 21 5. Es ist umstritten, ob das hebr. Fragment zuvor „an Hunderten“ oder „an Tausenden“ liest; vgl. VanderKam, Jubilees, Bd. 2, 676. 79 Vgl. zum ganzen Vers Jub 23,31 VanderKam, Jubilees, Bd. 2, 701f. 58 Lutz Doering trünnige“, die hier keine Vergebung erhalten, sondern sündige Israeliten, deren (individuelles) Handeln durchaus die Bundeszusagen verfehlt. 80 2.5 Die Hodajot aus Qumran Unter den auf den Jachad zurückgehenden Qumrantexten kommen in den Hodajot Gnade und Barmherzigkeit Gottes in besonderer Weise zur Sprache, was ihre exemplarische Behandlung hier rechtfertigt. 81 Die Hodajot sind eine Anthologie von Lobliedern aus dem 1. Jh. v. Chr. Die Komposition ist fluide: Die Zahl und Reihenfolge der Lieder in der umfangreichsten Handschrift 1QH a weicht von denen der fragmentarischen Handschriften aus Höhle 4 ab. 82 Nach der heutigen Textrekonstruktion von 1QH a stehen in der Mitte der Komposition (Kolumnen X-XIX) „Lehrerlieder“, am Anfang und Ende ([I] 83 -VIII; XX- XXVIII) „Gemeindelieder“. Während in früherer Forschung die „Lehrerlieder“ historisch auf den Lehrer der Gerechtigkeit zurückgeführt wurden (daher der Name), wird das „Ich“ dieser Lieder heute eher repräsentativ für führende Mitglieder des Jachad verstanden - mindestens in der Gesamtkomposition. Carol Newsom zufolge definiert die in diesen Liedern sprechende Anführerfigur „the boundaries of the sect and is the conduit for many of the spiritual benefits that members of the sect receive.“ Die „Gemeindelieder“ wiederum drücken „the distinctive experience of the self cultivated by the sect“ aus. Den Hodajot kommt so ein performatives Element zu: In der gemeinsamen Rezitation dieser Loblieder, die den geführten Weg des Selbst thematisieren, versichern sich die Mitglieder des Jachad der Neudeutung ihrer Identität. 84 80 Vgl. dagegen die lange Darstellung bei Sanders, Paul and Palestinian Judaism, 362-383, der Mühe zeigt (insbes. 378), das Phänomen nicht sühnbarer Übertretungen zu erklären und auf die Brisanz der Krise zur Zeit des Jubiläenbuchs verweisen muss. Die Drohung der „Ausrottung“ für den, der die Sabbatvorschriften des Jubiläenbuchs übertritt, legt jedenfalls nahe, dass es nicht um „Apostasie“ geht. 81 Umfängliche Diskussionen bei Barclay, Paul and the Gift, 239-265; Maston, Divine and Human Agency, 75-123. Qumrantexte über die Hodajot hinaus werden z. B. berücksichtigt bei Zanella, Vergeltungsvorstellungen, v. a. 87-89.186-189. 82 1QH a kann als De luxe-Ausgabe verstanden werden. Ursprünglich umfasste sie 28 Kolumnen und ist die längste Komposition des Jachad. Zur Edition und Textzählung s. o., Anm. 24. Es gibt insgesamt sieben weitere Handschriften der Hodajot: 1QH b (= 1Q35) und 4Q427-4Q432 sowie vier weitere „Hodayot-like texts“ (4Q433, 4Q433a, 4Q440, 4Q440a). Nicht alle Handschriften der Hodajot werden den gesamten Textumfang enthalten haben. Vgl. D. Stökl Ben Ezra, Qumran (Jüdische Studien 3), Tübingen 2016, 249-251; G. Xeravits/ P.Porzig, Einführung in die Qumranliteratur. Die Handschriften vom Toten Meer, Berlin 2015, 211-216. 83 Die erste Kolumne ist nicht erhalten. 84 C. A. Newsom, The Self as Symbolic Space: Constructing Identity and Community at Qumran (StTDJ 52), Leiden 2004, 347-351 (zusammenfassend), Zitate: 349.347f. Gnade und Erbarmen Gottes im Judentum der hellenistisch-frührömischen Zeit 59 Mit Blick auf Gnade bzw. Barmherzigkeit finden sich in 1QH a nicht weniger als 38 Erwähnungen von םימחר , einschließlich plausibler - z.T. auf Parallelen von Handschriften aus Höhle 4 basierender - Rekonstruktionen, neben 37 solchen Erwähnungen von דסח und 14 von בוט „Güte“. Eine Reihe von Aussagen bezieht die Größe von Gottes Erbarmen ( םימחר ) auf die Sündenvergebung, die die Beter erfahren haben, etwa 1QH a IV 23 f. mit einem summarischen Hinweis auf die entsprechenden Verheißungen der Tora: „[Du hast erlöst] deinen Knecht von allen seinen Sünden im [Überfluss] deines Erbarmens, (24) [wie] du [ge]sagt hast durch Mose: [Sünde zu vergeben], Schuld und Missetat, und zu sühnen [Übertretung] und Treuebruch“. 85 Einige Abschnitte bringen eine intensive Darlegung der Niedrigkeit und Wertlosigkeit der Betenden zum Ausdruck, die in der Forschung als „Niedrigkeitsdoxologie“ bezeichnet wird; 86 dem wird Gottes Erbarmen und Gnade gegenübergestellt (V 31-35): „Und was ist der von der Frau Geborene unter allen [deinen] furchteinflößenden [Werken]? Er ist (32) ein Gebäude von Staub und mit Wasser geknetet, schmachvolle Schande ist sein Fundament, obszöne Schande und eine Qu[elle von Un]reinheit. Und ein verkehrter Geist herrscht (33) in ihm. Und wenn er böse handelt, wird er [ein Zeichen bis zur] Ewigkeit und ein Fanal für ferne Geschlechter nach (? ) dem Fleisch. Nur durch deine Güte ( ךבוטב ) R (34) wird ein Mann gerecht und durch die Menge [deines] Erb[armens …] ( ךימ[ ֯ חר ב ֯ ו ֯ רבו ). Mit deiner Pracht stattest du ihn herrlich aus und du lässt [ihn] herrschen [in einer M]enge von Wonnen mit ewigem (35) Frieden und Länge der Tage“ (vgl. auch z. B. VII 34; XII 30-34; XV 29 f.; XIX 6.12-17). Entsprechend preist der Beter Gottes umfassende Macht (z. B. XVIII 16 f.). Er ist es, der des Beters „Horn erhebt über alle, die mich verachten“ (XV 25) und bietet Trost (XIX 35), Schutz vor Bedrohung und Rettung: „Ich lobe dich, Herr, denn du hast meine Seele/ mich ins Bündel des Lebens gelegt, (23) und du beschützt mich vor allen Fallen der Grube. D[e]nn Gewalttätige suchten mein Leben, während ich mich stütze (24) auf deinen Bund“ (X 22- 24). All dies zeigt den größtmöglichen Abstand zwischen Gott und Mensch an. Nur Gott kann den schwachen, sündigen und gefährdeten Menschen zurechtbringen. Gleichzeitig bedeutet dies jedoch nicht Passivität auf Seiten des Menschen, wie in der Aussage über das Festhalten am Bund deutlich wird. Barclay schreibt: „If the hymns deny human capacity, in order to trace its source in God, the purpose is not to characterize the two agencies as mutually exclusive, but to hang every sectarian act on the will and initiative of God.“ 87 85 Siehe ferner 1QH a V 33-35; VI 34 f.; VIII 34 f.; XII 35-38; XV 32-34; XVII 33 f.; XIX 11f.33- 37; z.T. in Verbindung mit den anderen beiden oben genannten Termini. 86 Vgl. H.-W. Kuhn, Enderwartung und gegenwärtiges Heil. Untersuchungen zu den Gemeindeliedern von Qumran (StUNT 4), Göttingen 1966, 27. 87 Barclay, Paul and the Gift, 248. 60 Lutz Doering In den Hodajot wird Gott mehrfach als „gnädiger und barmherziger Gott“ angesprochen (VIII 34 תמאו דסח ֯ ב ֯ ר ֯ ו ֯ ם ֯ י ֯ פ ֯ א ֯ ך ֯ ו ֯ ר ֯ א ֯ םוחרו ֯ ן ֯ ו ֯ נ ֯ ח] לא ; vgl. Ex 34,6! ), 88 als „Gott des Erbarmens und groß an Gnade“ (XVIII 16 ֯ ם ֯ ימחרה לא דסח]ה בר[ ֯ ו ) oder als „Gott des Erbarmens und der Gnade“ (XIX 32 םימחרה לא הנינ ח הו ). Ein Aspekt der Identitätsdeutung in den Hodajot ist die Annahme einer Vorherbestimmung des Gerechten zum bundesgemäßen Leben und des Frevlers zum Gericht (VII 27-33; VIII 26 f.). Dies steht im Kontext eines weitreichenden Determinismus, bei dem Gott in seiner Weisheit das Geschick eines jeden Geschöpfs bestimmt hat, bevor es zu existieren begann (vgl. IX 21 f.). 89 Doch auch hier wird die menschliche agency nicht negiert, sondern korrespondiert mit dem göttlichen (Schöpfer-) Handeln: „Nur du [hast gesch]affen den Gerechten und ihn von Mutterleib an bestimmt für die Zeit des Willens ( ןוצר ), damit er in deinem Bund bewahrt werde und in allem wandle …“ (VII 27 f.); „aber die Gottlosen hast du geschaffen zum Zw[e]ck deines Zorns, und von Mutterleib an hast du sie geweiht für den Schlachttag. Denn sie wandelten auf einem Weg, der nicht gut ist, und verwarfen deinen Bund“ (VII 30 f.). Nur den Mitgliedern des Jachad, „allen Kindern seiner (sc. Gottes) Wahrheit“ werden „die Größe seiner Gnade ( וידסח ) und die Menge seines Erbarmens ( וימחר )“ zuteil (1QH a XXVI 32 in Verbindung mit 4Q427 [4QH a ] 7 ii 14). Fassen wir zusammen: In den Hodajot kommen Lexeme im Wortfeld „Gnade/ Barmherzigkeit“ in großer Dichte vor und werden in markanter Weise zur Kennzeichnung Gottes benutzt. Die Hymnen betonen das Übermaß des göttlichen Erbarmens und die Wertlosigkeit des Menschen, dessen Begnadung staunendes Lob und Dankbarkeit auslöst. Damit heben die Hodajot stark auf die Inkongruenz der Gnade ab. Die Gnade ist aber zugleich wirksam, weil sie in Gottes Macht gründet. Und sie führt zu entsprechendem Verhalten des Menschen, der nun begnadet in Treue zu Gott und seinem Gebot wandelt. Barclay hat darauf aufmerksam gemacht, dass der Ratschluss der Vorherbestimmung nie durch Lexeme im Wortfeld „Gnade etc.“ ausgedrückt wird, sondern durch Hinweis auf Gottes „Willen“ ( ןוצר ). Die Lexeme Erbarmen, Gnade und Güte „are reserved for a secondary phenomenon, God’s intervention in the lives of the sectarians.“ 90 Bundestheologie wird hier prädestinatorisch angeschärft und zieht unterscheidende Linien innerhalb des Bundesvolks zwischen Mitgliedern des Jachad und solchen, die dies nicht sind. 88 Die Wendung aus Ex 34,6 ist auch aufgenommen in 4Q511 52+55-56+57-59 1; vgl. auch 1QH a VI 34 f.; CD-A ii 4. 89 Dazu vgl. die Zwei-Geister-Lehre in 1QS III 13-IV 26; auch 4QInstruction. 90 Barclay, Paul and the Gift, 263. Gnade und Erbarmen Gottes im Judentum der hellenistisch-frührömischen Zeit 61 2.6 Die Sapientia Salomonis Ein völlig anderes Terrain betreten wir mit der zeitgleich oder etwas später, vermutlich in Ägypten - vielleicht Alexandrien - auf Griechisch abgefassten Sapientia Salomonis. 91 Dieses der protreptischen Rede nahestehende, an biblische Weisheitstraditionen anknüpfende und fiktiv einem als Salomo erkennbaren König zugeschriebene Werk wird häufig in drei Teile gegliedert (1,1-6,21: eschatologischer Teil; 6,22-11,1: weisheitlicher Teil; 11,2-19,22: historischer Teil - z.T. abweichende Verszuordnungen), doch ist m. E. die von Karl-Wilhelm Niebuhr vorgeschlagene Zweiteilung anhand von Gliederungssignalen an der Textoberfläche aufgrund ihrer Zugänglichkeit für Lesende oder Hörende angemessener: 1,1-8,16: Die erste Rede des Herrschers (an seine Herrscherkollegen); 8,17-19,22: Die zweite Rede des Herrschers (an Gott). 92 Aus dem ersten Teil ist der Abschnitt 1,16-5,23: Die Rede über Gottlose und Gerechte, aus dem zweiten der Abschnitt 11,17-12,22: Gott straft in Maßen, für unsere Fragstellung relevant. Darüber hinaus ist auf Aussagen zum Geschenkcharakter der Weisheit zu achten. Zu Beginn der Rede über Gottlose und Gerechte hören wir, dass die Frevler einen Pakt mit dem Tod bzw. dem Hades machen (Sap 1,16) und beschließen, angesichts der Vergänglichkeit des Lebens die vorhandenen Güter in vollen Zügen zu genießen (2,1-9). Das wilde Treiben schließt ein, den gerechten Armen, die Witwe und den Greis zu unterdrücken sowie den Gerechten bis zum Tod zu misshandeln (2,10-20). Nach Sap 2,22 erhoffen die Frevler „keinen Lohn (μισθόν) für Frömmigkeit“ und erkennen „kein Ehrengeschenk (γέρας) für untadlige Seelen“ an. Doch die Gerechten sind in Gottes Hand (3,1-9): Folter und Tod können ihnen nichts anhaben, da sie „nach geringer Züchtigung große Wohltaten erfahren (μεγάλα εὐεργετηθήσονται)“ (3,5) und Völker richten sowie Nationen beherrschen werden (3,8). Daher werden „Gnade und Erbarmen bei seinen Heiligen (χάρις καὶ ἔλεος ἐν τοῖς ὁσίοις αὐτοῦ) sein und gnädige Heimsuchung bei seinen Auserwählten (ἐπισκοπὴ ἐν τοῖς ἐκλεκτοῖς αὐτοῦ - fehlt bei Rahlfs).“ Die Gottlosen hingegen werden ihre Strafe erhalten (3,10-12). Der früh verstorbene Gerechte wird Ruhe haben (4,1-15); Gott hat ihn aus der Mitte der Sünder entrückt, damit er gleichsam ihrem bösen Einfluss entzogen werde. 91 Vgl. K.-W. Niebuhr, Einführung in die Schrift, in: ders. (Hg.), Sapientia Salomonis (Weisheit Salomos) (SAPERE XXVII), Tübingen 2015, 3-37 (30-33); und die Konklusion bei W. Ameling, Die jüdische Diaspora im hellenistischen Ägypten, in: ebd., 191-218: „Sapientia stammt also aus dem späten Hellenismus oder der frühen Kaiserzeit - und vielleicht aus Ägypten“ (194). - Die Zitate aus Sapientia Salomonis folgen in der Regel der Übersetzung von H.-G. Nesselrath im selben Band und basieren auf dem dort publizierten griechischen Text. 92 Vgl. Niebuhr, Einführung, 19-21. 62 Lutz Doering Die Völker erkennen jedoch nicht, dass „Gnade und Erbarmen bei seinen Auserwählten“ sind und „gnädige Heimsuchung bei seinen Heiligen“ (4,15). 93 Nach Sap 4,16-20 wird der tote Gerechte die lebenden Frevler (mit) verurteilen; Letztere werden bei der „Abrechnung ihrer Sünden“ (ἐν συλλογισμῷ ἁμαρτημάτων αὐτῶν) schlecht aussehen (4,20). Ihre Einsicht in die Verderblichkeit ihrer Taten kommt zu spät (5,1-13). Im Endgericht (5,14-23) wird die Hoffnung der Gottlosen zerstreut werden. „Die Gerechten aber leben in Ewigkeit, und im Herrn ist ihr Lohn (μισθός)“ (5,15). Präzise lässt die Sapientia den jeweiligen Akteuren das zukommen, was sie verdient haben. 94 „Gnade und Erbarmen“ gelten nur den Auserwählten bzw. Heiligen. Der Gerechte erhält den Lohn, den die Frevler abstreiten. Seine Misshandlung ist nur Züchtigung, die von großen „Wohltaten“ gefolgt wird. Die Frevler hingegen sehen bei der „Abrechnung der Sünden“ - sit venia verbo - „alt“ aus. Sie erhalten ihre Strafe „so wie ihr Denken war“ (καθὰ ἐλογίσαντο; 3,10). Ihr Pakt mit dem Tod (1,16) bewährt sich. In Sap 11,17-12,22 findet sich eine exkurshafte Ausführung über das maßvolle Strafen Gottes. Hier heißt es nun: „Du hast aber Erbarmen (ἐλεεῖς) mit allen, denn alles vermagst du, und du siehst hinweg über Verfehlungen der Menschen in Hinsicht auf ihre Reue“ (11,23). Weil Gottes unvergänglicher Geist in allem ist, straft er „die auf Abwege geraten“ (παραπίπτοντας) nur in geringem Maß und weist sie zurecht (νουθετεῖς), damit sie von der Bosheit ablassen und auf Gott vertrauen (12,1f.). Daraus folgt nicht, dass die Gottlosen nicht straflos ausgingen - im Gegenteil. Aber indem er sie „nach und nach“ bestrafte, gab er „Raum für Reue“ (12,10). Barclay schreibt: „At the end of the day God has to punish those ‚deserving of death‘ (ὀφειλομένοι θανάτῳ), even if he does so with great care and indulgence“ 95 (12,20). Gott verwaltet „als Gerechter … in Gerechtigkeit das All“; es entspricht nicht seiner Macht, den zu verurteilen, dem solches nicht zukommt (12,15). Daraus folgt, dass auch die Israeliten um Gottes Güte besorgt sein sollen (σου τὴν ἀγαθότητα μεριμνῶμεν), wenn sie richten, und auf Erbarmen rechnen sollen (προσδοκῶμεν ἔλεος), wenn sie gerichtet werden (12,22). Erbarmen und Gerechtigkeit folgen somit einem Maß. Der Autor der Sapientia versucht, Erbarmen und Gerechtigkeit in einer Weise in Beziehung zu setzen, dass beide nicht kompromittiert werden. Schließlich ist noch knapp auf das Geschenk der Weisheit hinzuweisen, wie es in der Sapientia vorgestellt wird. Sap 6,12-16 beschreibt die Weisheit als Gabe, die aus eigenem Antrieb denen erscheint, die ihrer „würdig“ (ἀξίους; 6,16) sind. Nach 8,21 gibt Gott die Weisheit 93 Nach Nesselrath bei Niebuhr, Sapientia Salomonis, 116 Anm. 73, trotz Ähnlichkeit mit 3,9 nicht zu tilgen, da sonst dem vorangehenden τὸ τοιοῦτο der Bezug fehlen würde. 94 Vgl. Barclay, Paul and the Gift, 197. 95 Barclay, Paul and the Gift, 210. Gnade und Erbarmen Gottes im Judentum der hellenistisch-frührömischen Zeit 63 als „gnädiges Geschenk“ (χάρις). Und in seinem Gebet um Weisheit redet der Erzähler Gott entsprechend als „Herr des Erbarmens“ (κύριε τοῦ ἐλέους) an (9,1). 96 Insofern die Weisheit das Leitprinzip alles Seienden ist, kommt in ihrer so beschriebenen Mitteilung noch einmal der Charakter von Gnade und Erbarmen als mit Blick auf die Empfangenden passend gewährt zum Ausdruck. 2.7 Philo von Alexandrien Die Behandlung des Themenbereichs Gabe, Gnade und Barmherzigkeit durch Philo von Alexandrien (ca. 20 v. Chr. - 50 n. Chr.) ist so umfangreich, dass hier nur einige Streiflichter geboten werden können. 97 Philo weist der χάρις vor allem einen Ort „in der theologischen Deutung der Schöpfung“ 98 zu. In seiner Deutung von Gen 6,8 im Allegorischen Kommentar fragt Philo, was es bedeute, dass Noah „Gnade gefunden hat vor dem Herrn Gott“, und legt dar (imm 104-108), dass Noah weder einfach Gnade erlangte (χάριτος ἔτυχεν) wie alle Wesen - denn das wäre nichts Besonderes - noch der Gnade für würdig befunden wurde (χάριτος ἄξιος ἐνομίσθη) - denn so vollkommen könne keiner sein -, sondern dass er als Edler (ἀστεῖος) ein Suchender und Lernbegieriger wurde und dabei die sichere Wahrheit fand, dass Gnade Gottes (χάριν … θεοῦ) das All (τὰ πάντα) ist, also Erde, Wasser, Luft, Feuer, Sonne, Himmel, Tiere und Pflanzen. Aus der neidlosen Verteilung der Güter durch Gott (vgl. Plato, Tim. 29e) schließt Philo, dass der Grund für die Entstehung der Welt die Güte des Seienden (ἡ τοῦ ὄντος ἀγαθότης = Gottes) ist. In ähnlicher Weise deutet Philo den Ausdruck „ewiger Gott“ (Gen 21,33) auf den in der creatio continua unaufhörlich Gutes tuenden und Wohltaten (χάριτες) schenkenden Gott (plant 89). Philo macht allerdings noch einen Unterschied zwischen Noah, der seiner Auslegung zufolge den zwei Kräften Gottes („Herr“ und „Gott“) gefiel, und Mose, von dem es in Ex 33,17 heißt, er habe Gnade „mit mir“ (so in Philos Wiedergabe) gefunden; dies deute auf eine überlegene Weisheit in Mose und eine sekundäre in Noah (imm 109 f.). Barclay bilanziert: „So long as it is clear that the worth of the recipient does not reduce the infinite distance between God and his creation, and is not a cause of divine gifts, only a condition for their specific contribution, 96 Zu ἔλεος in der Sapientia vgl. noch Sap 15,1 „und in Erbarmen verwaltend das All“ sowie 16,10, wonach die Israeliten von Schlangenbissen (vgl. Num 21,6-9) durch „dein Erbarmen“ geheilt wurden. 97 Vgl. die umfangreichen Diskussionen bei Zeller, Charis, 33-128; Barclay, Paul and the Gift, 212-238; O. McFarland, God and Grace in Philo and Paul (NT.S 164), Leiden 2016, 25-102. 98 Zeller, Charis, 125. 64 Lutz Doering Philo finds it appropriate, even necessary, to speak of God’s gifts as distributed to fitting or worthy recipients.“ 99 Die gerade genannte Unterscheidung der beiden Kräfte erlaubt es, in spannungsvoller Weise Gottes schöpferische Kraft (so deutet Philo θεός) und seine herrscherliche Kraft (so deutet er κύριος) zu unterscheiden (z. B. QGen 2,16; plant 85-92), mit der schöpferischen Kraft als der „älteren“ (QEx 2,62), 100 ohne die Güte des Seienden (d. h., Gottes, siehe oben) infrage zu stellen. Diese Kräfte sind aufeinander bezogen wie die beiden Cheruben im Tempel, die sowohl einander als auch die Sühnedecke der Bundeslade anblickten; denn „wenn Gott nicht verzeihend wäre gegen das, was jetzt ist, 101 hätte er weder etwas durch seine schöpferische (Kraft) geschaffen noch Gesetze gegeben durch seine herrscherliche“ (QEx 2,66). „Gottes χάριτες werden hier in eine wohldurchdachte, ziemlich geschlossene Konstruktion eingebaut, durch die Philo die ursprüngliche Güte Gottes in der Schöpfung gegenüber den Widersprüchen schon im Naturgeschehen absichert.“ 102 Diese Kräfte kommen aber auch in Gottes Beziehung zu den Menschen zum Tragen. In QEx 68 legt Philo dar, dass aus der schöpferischen Kraft die „verzeihende“ (nach dem griech. Fragment: ἡ ἵλεως) erwächst, die „wohltuend“ (εὐεργέτις) heißt, aus der herrscherlichen aber die „gesetzgebende“ (ἡ νομοθετική), die auch die „strafende“ (ἡ κολαστήριος) genannt wird. Nach fug 103-105 sind der göttliche Logos sowie die schöpferische und herrscherliche Macht weit vom Menschengeschlecht entfernt; hingegen sind die versöhnende und die gesetzgebende Kraft - hier noch einmal in eine vorschreibende und verbietende unterschieden - den von der Sünde befallenen Menschen nahe. Da sich Gott seiner vollkommenen Güte (ἀγαθότης) erinnert, richtet er die Menschen wieder auf, obwohl sie durch das Übermaß ihrer Sünden untergehen 99 Barclay, Paul and the Gift, 216. 100 Diese Differenzierung erinnert an die spätere rabbinische Unterscheidung zwischen dem „Maß der Gerechtigkeit“ (middat ha-din) und dem „Maß des Erbarmens“ (middat haraḥamim), die ebenfalls, jedoch gleichsam umgekehrt gegenüber Philo, auf die Gottesnamen bezogen sind: middat ha-din auf den Namen elohim, middat ha-raḥamim auf den Namen JHWH (z. B. Sif Dtn § 26 [41 Finkelstein]; GenR 33,3 [308 Theodor/ Albeck]; vgl. Sifra Aḥare Mot Par. 9,1 [85c Weiss]); vgl. Zanella, Vergeltungsvorstellungen, 196 f. Witte, „Barmherzigkeit und Zorn Gottes“, 177, rechnet Sir 5,6; 16,11 (s. o.) zu den traditionsgeschichtlichen Wurzeln der zwei middot Gottes. Zum Argument, dass diese im rabbinischen Judentum (anders als später in der Kabbala) Handlungswege und nicht Attribute Gottes bezeichnen, vgl. K. E. Grözinger, Middat ha-din und Middat ha-raḥamim. Die sogenannten Gottesattribute „Gerechtigkeit“ und „Barmherzigkeit“ in der rabbinischen Literatur, FJB 8 (1980) 95-114. 101 So mit dem griech. Fragment; s. R. Marcus, Philo in Ten Volumes (and Two Supplementary Volumes): Supplement II (LCL), Cambridge, MA und London 1953, 113. 102 Zeller, Charis, 48. Gnade und Erbarmen Gottes im Judentum der hellenistisch-frührömischen Zeit 65 sollten (imm 73). In diesem Zusammenhang nimmt Philo erneut Gen 6,8 auf, setzt hier aber das aus Ps 100,1 LXX genommene „Erbarmen“ ein: „Deshalb heißt es nun, Noah finde bei ihm Gnade (χάριν), während die anderen, die sich als undankbar (ἀχάριστοι) erwiesen, Strafe zahlen sollen, auf dass er das rettende Erbarmen (τὸν σωτήριον ἔλεον) mische mit dem Gericht gegen die Sünder, wie auch der Psalmist irgendwo sagt: ‚Von Erbarmen und Gericht will ich dir singen‘“ (imm-74). Gott macht in der Erhaltung des Menschengeschlechts bei der Flut vom Erbarmen sogar gegenüber den Unwürdigen Gebrauch und „erbarmt sich nicht nur nach dem Richten, sondern richtet auch mit Erbarmen“ (imm 76). Gott gewährt in seinem Strafen einen Aufschub; Philo zeigt dies etwa anhand der sieben Tage, die vom Betreten der Arche bis zum Einsetzen der Flut verstreichen. Gott erwartet aber, dass die Übertreter Reue zeigen und sich flehend an Gott wenden (vgl. QGen 2,13). Das gilt auch für die von Gott „aus Erbarmen mit unserem Geschlecht“ (sc. Israel; her 112) eingesetzten kultischen Institutionen; so wird etwa am Versöhnungstag Vergebung der Sünden geschenkt „durch die Gnaden des verzeihenden Gottes (χάρισι τοῦ ἵλεω θεοῦ), der Reue ebenso schätzt wie das Nicht-Sündigen“ (spec 1,187). Gott kann auf diese Weise seine Gnade an menschliches Verhalten binden. So sagt er nach Mos 1,72: „Denn ich bin von Natur aus gütig (ἤπιος) und den wirklich Schutzsuchenden (γνησίοις ἱκέταις) verzeihend (ἵλεως).“ Manchmal genügt dafür die Haltung; nach congr- 107 wird Gott am Versöhnungstag sofort und ohne Flehen denen gnädig, die sich herabsetzen und erniedrigen. Dabei spielt immer wieder bei Philo die Würdigkeit derer, denen sich Gott zuwendet, eine Rolle; oft scheint es so, als gelte Gottes Gnade nur den Würdigen, und das heißt in der Regel denen, die sich bemühen und etwas tun. 103 Das wird allerdings relativiert in einem Fragment aus dem verlorenen Buch der Legum Allegoriae, das Dtn 30,19 LXX „erwähle das Leben“ kommentiert: „Denn streng genommen wählt der menschliche Geist das Gute nicht aus eigenen Kräften, sondern entsprechend der Achtsamkeit Gottes, da er die besten Dinge den Würdigen schenkt.“ 104 Auch das scheinbare Wählen seitens des Würdigen ist Gottes Geschenk. Dieter Zeller resümiert: „Erlösung besteht letztlich, so könnte man sagen, in der dankbaren Anerkennung des alles bewirkenden Schöpfers.“ 105 Der gebefreudige Gott schenkt also das Gute (χαρίζεται τὰ ἀγαθά) auch den Unvollkommenen, ruft sie aber zugleich zur Teilhabe an der Tugend und zum Eifer für dieselbe auf (all 1,34). Die Mühe auf dem Weg zur Tugend wird, wie im Rückblick deutlich wird, durch den göttlichen Eros erträglich (vgl. z. B. all 3,136f.), 103 Vgl. z. B. QEx 2,51; migr 56 f.; somn 2,177; fug 96 und dazu Zeller, Charis, 67-69. 104 Der Text nach J. R. Harris, Fragments of Philo Judæus, Cambridge 1886, 8. Die Übersetzung folgt Zeller, Charis, 71. 105 Zeller, Charis, 72. 66 Lutz Doering und die Verwirklichung der Tugend wird durch das Bild der Befruchtung der Seele durch Gott als göttliches Werk erkennbar (vgl. z. B. her 36; mut 141 f.). Philo führt den Weg zur Tugend idealtypisch an den Patriarchen vor: an Abrahams Aufbruch zur Tugend, an Isaak als freudigem Günstling und an Jakob als mit dem Engel ringenden Sich-Mühenden; ferner empfiehlt er an Mose als König, Gesetzgeber, Prophet und Priester das jüdische Gesetz als Weg zur Tugend. 106 Zusammenfassend lässt sich sagen, das Philo wesentlich häufiger von Gnade und Gabe als von Erbarmen spricht und Letzteres insbesondere dort tut, wo das biblische Erbe es ihm vorgibt. Philo hebt den Überfluss der Gnade hervor, ebenso ihre „Singularität“ (Gott handelt nur aus Güte und Wohlwollen) und ihr Zuvorkommen. Da Gott letztlich alles bewirkt, hält Philo auch an der Effektivität der Gnade fest, geht aber üblicherweise davon aus, dass Gott Dankbarkeit als angemessene Entgegnung („Vergeltung“) erwartet. Damit vertritt Philo nicht die (neuzeitliche) Vorstellung der „reinen Gabe“. Umstritten ist, welches Gewicht Philo auf die Inkongruenz der Gnade legt. Während Barclay betont, dass Philo üblicherweise die Würdigkeit des Empfängers hervorhebt, und dazu neigt, die Stellen, nach denen auch die Unwürdigen begnadet werden, als eher untypisch zu betrachten, ist zu erwägen, mit Zeller und anderen diesen Stellen ein größeres Gewicht beizumessen. 107 2.8 Das 4. Esrabuch und das 2. Baruchbuch Wir betreten völlig anderen, jedoch kaum weniger spannenden und konzeptionell beeindruckenden Boden im 4. Esrabuch. Auch hier müssen wir uns in der Darstellung auf das Wesentliche beschränken. 4 Esr ist um 100 n. Chr. abgefasst worden, 108 wahrscheinlich auf Hebräisch, ist aber nur in Übersetzungen erhalten, von denen die lateinische und syrische einerseits und die äthiopische andererseits als Vertreterinnen zweier Zweige der Textüberlieferung im Folgenden herangezogen werden. 109 Bekanntlich ringt in dieser in sieben sogenannte 106 Vgl. im Einzelnen Zeller, Charis, 83-103; auch Barclay, Paul and the Gift, 231-237. 107 Vgl. einerseits Barclay, Paul and the Gift, 223-229; andererseits Zeller, Charis, 65-74; M. B. Cover, Rezension von J. Barclay, Paul and the Gift, StPhA 30 (2018) 204-207. 108 Die Vision des dreiköpfigen und vielflügligen Adlers in 4 Esr 11-12 spielt mit den drei Köpfen offenbar auf die drei Flavier-Kaiser an. Es wird diskutiert, ob die Schrift ans Ende der Regierungszeit Domitians zu setzen ist (so M. E. Stone, Fourth Ezra: A Commentary on the Book of Fourth Ezra [Hermeneia], Minneapolis, MN 1990, 10) oder - weil 4 Esr 12,2.28 das Verschwinden des letzten Kopfes erwähnt - in die Zeit kurz nach Domitians Regentschaft (so J. Schreiner, Das 4. Buch Esra, JSHRZ 5/ 4, Gütersloh 1981, 291-411 [301]). 109 Zu Text und Textüberlieferung von 4 Esr vgl. knapp Stone, Fourth Ezra, 1-9. Die Unterscheidung zweier Zweige der Textüberlieferung geht zurück auf R. Blake. Gnade und Erbarmen Gottes im Judentum der hellenistisch-frührömischen Zeit 67 visiones gliederbaren 110 Schrift der Seher Esra mit dem Engel Uriel um das Verständnis des Geschicks der Menschen im Allgemeinen und Israels im Besonderen. Esras fragende und skeptische Haltung in den drei Dialogen der visiones I-III klärt sich erst in visio IV in der Begegnung mit der trauernden Frau, die Zion repräsentiert und sodann ins (himmlische) Jerusalem verwandelt wird (4 Esr 10,25-28). 111 Während „Gnade“ (lat. gratia, syr. raḥme, äth. mogasa) nur in der idiomatischen Wendung „Gnade finden“ vorkommt, 112 ist von „Erbarmen“ (lat. misericordia, syr. raḥme, äth. √meḥra) erstmals in 4 Esr 4,24 die Rede im Anschluss an Esras Frage, weshalb Israel den Völkern zur Schmach ausgeliefert ist (Lat.): „Wir gehen vorüber aus der Welt wie Heuschrecken, und unser Leben ist wie Rauch. Auch sind wir es nicht wert, Erbarmen zu erlangen.“ Während sich dies in Esras Klage über Israels trostlose Lage fügt, bietet die nächste Stelle, 7,33, die aufschlussreiche Bemerkung, dass nach der siebentägigen Auflösung der Schöpfung sowie dem Hervortreten einer neuen Welt, der Auferstehung und dem Erscheinen Gottes zum Gericht „das Erbarmen vergeht“ (Syr. fügt noch an: „die Barmherzigkeit [rāfā] sich entfernt“) und „die Langmut verschwindet“, so dass (7,34) „nur das Gericht“ bleibt. Das zeigt an, dass Erbarmen in der neuen, unvergänglichen Welt keinen Platz hat. Dies kommt in zugespitzter Form in 7,106-115 zur Sprache: Auf Esras Bemerkung, dass die Erzväter und die Vorfahren Israels für Sünder gebetet haben, antwortet Uriel, dass dies nur für die gegenwärtige Welt gilt. Mit dem Gericht kommt aber das Ende der gegenwärtigen und der Anfang der kommenden, unvergänglichen Welt. „Daher kann sich dann niemand dessen erbarmen (lat. misereri, syr. neraḥem, äth. meḥiroto), der im Gericht unterlegen ist, noch den stürzen, der gewonnen hat“ (7,115). Barclay stellt fest: „The logic is clear and impeccable. Mercy would represent a compromise with sin. Such a compromise is necessary in this imperfect world, but it can have no place in a future world where justice and truth take maximal effect.“ 113 Noch jedoch hält Esra an seiner Hoffnung auf Gnade auch im jüngsten Gericht fest. In 7,132-140 führt er eine Auslegung der Gottesattribute aus der in 110 Visio I: 4 Esr 3,1-5,19; II: 5,20-6,34; III: 6,35-9,25; IV: 9,26-10,59; V: 10,60-12,49; VI: 12,50-13,56; VII: 13,57-14,47. Nur IV-VII sind Visionen; I-III sind Dialoge. 111 Ich folge somit einer dynamischen Deutung von 4 Esr, nach der „Esra“ zu einem Sichtwechsel gelangt und hinsichtlich des Ausgangs bei der künftigen Welt die Perspektive Uriels einnehmen kann, ohne dass die Berechtigung der anfänglichen Position Esras für die gegenwärtige Welt geleugnet wird. Ähnlich Barclay, Paul and the Gift, 280-308. Gegen Sanders, Paul and Palestinian Judaism, 409-418, der - allein Uriels Sicht als die Position des Autors anerkennend - in 4 Esr „the closest approach to legalistic worksrighteousness which can be found in the Jewish literature of the period“ (418) sieht. 112 4 Esr 4,44; 5,55; 6,11; 7,75.102.104; 8,42; 12,6; 14,22. 113 Barclay, Paul and the Gift, 293 (dort z.T. kursiv). 68 Lutz Doering diesem Beitrag schon mehrfach erwähnten „Gnadenformel“ Ex 34,6f. auf: 114 Gott wird „der Barmherzige“ genannt (misericors, mraḥmānā, maḥāri), „der Erbarmer“ (miserator, ḥanānā, mastasāhel), „der Langmütige“ (longanimis, naggir ruḥā, masta‘ages), „der Freigebige“ (munificus, 115 yāhoḇā [wörtl.: „Geber“], ṣaggāwi), „reich an Erbarmen“ (multae misericordiae, saggi raḥme, besux meḥrat), „der Geber“ (donator, yāhoḇā, ṣaggāwi) und „der Richter“ (iudex, dayyānā, makwannen), vermutlich im Sinn eines gnädigen Richters, 116 als den Esra Gott hier ins Spiel bringt. Uriel gibt nur kurz zurück, dass Gott die gegenwärtige Welt um der vielen erschaffen hat, „die zukünftige aber nur um der wenigen willen“ (8,1): „Viele sind zwar geschaffen, aber nur wenige werden gerettet werden“ (8,3). Esra setzt noch einmal an, erinnert Gott daran, dass er sein Geschöpf „durch dein Erbarmen“ fördert sowie durch das Gesetz erzieht (8,11f.) und beschwört Gottes Nachsicht: Wegen „uns Sündern“ wird Gott „der Barmherzige“ (misericors etc. 8,31) genannt. „Denn wenn du dich unser erbarmen willst, die wir keine Werke der Gerechtigkeit haben, wirst du der Barmherzige genannt. Denn die Gerechten, die viele Werke bei dir liegen haben, empfangen ihren Lohn aus ihren eigenen Werken“ (8,32f.). Dies wird noch einmal verbunden mit der Aussage, dass niemand kein Unrecht getan hat. „Darin wird nämlich (Lat. ergänzt: deine Gerechtigkeit und) deine Güte (bonitas tua, ṭuḇeḵ, xirutka) angezeigt, Herr, wenn du dich derer erbarmen wirst, die keinen Bestand an Werken haben“ (8,36). Uriel geht freilich nur auf die Schöpfung der Gerechten, die Rettung und den Lohnempfang ein (8,39). Ein drittes Mal versucht es Esra, gipfelnd im Aufruf: „Schone dein Volk und erbarme dich (miserere, eṯraḥem, maḥar) deines Erbes, ja, deiner Schöpfung erbarme dich“ (8,45). Uriels Antwort fällt wieder unnachgiebig aus: „Jetziges den Jetzigen und Zukünftiges den Zukünftigen“ (8,46). Sie fordert Esra auf, von der zukünftigen Welt her zu denken und sein eigenes Los unter den Gerechten zu bedenken (8,51f.). Gerettet, das weiß Esra, werden weniger als zugrunde gehen (7,47; 9,14). Uriel präzisiert: Wer entrinnen kann „durch seine Werke (lat. per opera sua) oder seinen Glauben, mit dem er glaubte (bzw. seiner Treue, mit der er sich als treu erwies: per fidem, in qua credidit)“, wird das Heil Gottes sehen „in meinem Land und in meinem Gebiet“ (9,7f.). Der Israel-Bezug wird festgehalten, doch wird nur ein Rest gerettet: eine Beere von der Traube, ein Spross vom Wald (9,21f.). 114 Vgl. D. Simonsen, Ein Midrasch im 4. Buch Esra, in: M. Brann/ I. Elbogen (Hg.), Festschrift zu I. Lewy’s 70. Geburtstag, Breslau 1911, 270-278, demzufolge es sich um einen Midrasch über die dreizehn middot (Attribute) Gottes handelt. 115 So mit Vulgata Clementina, Bensly, Violet (lat. Hss.: muneribus). 116 Anders Schreiner, 4. Buch Esra, 361, der „entsprechend dem Aufbau der Reihe“ „der Verzeihende“ konjiziert. Gnade und Erbarmen Gottes im Judentum der hellenistisch-frührömischen Zeit 69 Nach dem Wendepunkt, der Begegnung Esras mit der trauernden Frau auf der Blumenwiese, bei der Esra zum Tröster der Frau wird, dabei aber die Hoffnung auf den Wiederaufbau des irdischen Jerusalems aufgibt und die Frau sich sodann in das himmlische Jerusalem verwandelt, kommt Barmherzigkeit vor allem 117 in Esras vollmächtiger Rede an das Volk im letzten Kapitel des Buches zur Sprache: „Wenn ihr also euren Sinn beherrscht und euer Herz in Zucht nehmt, werdet ihr am Leben erhalten werden und nach dem Tod Erbarmen (lat. misericordiam, syr. raḥme) finden“ (14,34). 118 Hier ist Erbarmen eine passende Gabe für die sich an der Tora orientierenden Gerechten. Dies ist auch angedeutet in Uriels Deutung der Adler-Vision, wonach Gott sein „übriggebliebenes Volk mit Erbarmen (cum misericordia, braḥme, ba-meḥrat) befreien wird, die in meinem Land gerettet worden sind“ (12,34). Im 4. Esrabuch ist Barmherzigkeit somit - das zeigt v. a. der Abschnitt 7,102- 8,62 - als inkongruente Gabe an Sünder lediglich auf die gegenwärtige Welt begrenzt und hat daher vorläufigen Charakter; im Gericht und in der zukünftigen, unvergänglichen Welt widerfährt Barmherzigkeit nur den Würdigen, die ein an der Tora orientiertes Leben geführt haben. Wäre es anders, würde Gott mit der Sünde kooperieren. 4. Esra unterscheidet somit zwischen im Gericht Verlorenen (unter Einschluss von Israeliten) und Geretteten (dem Rest Israels); Maßstab ist die Orientierung an der Tora. Die Paränese ruft zu einem toragemäßen Leben auf. Das 2.-Baruchbuch, vermutlich um dieselbe Zeit entstanden und im Ganzen nur auf Syrisch erhalten, 119 teilt manche Züge im Verständnis der Barmherzigkeit mit dem 4. Esrabuch, nicht aber den Pessimismus Esras. Grundsätzlich gilt auch in 2. Baruch, dass in der zukünftigen Welt das Erbarmen keinen Platz hat: Nur die Gerechten werden diese verheißene Zeit ererben (2 Bar 44,13; vgl. 14,12; 24,1). Sie haben sich Schätze der Weisheit und Vorräte der Einsicht angelegt. „Und vom Erbarmen (raḥme) haben sie sich nicht entfernt, und die Wahrheit des Gesetzes (d.h.: der Tora) haben sie bewahrt“ (44,14). Hingegen „erbarmt sich“ die neue Welt „nicht“ (lā mraḥem) derer, die in die Pein gehen (44,12). Das Unglück über die Israeliten ist Strafe für vergangene Sünden, auf dass ihnen vergeben werden könnte (13,9f.; vgl. 1,5; 78,3), während die Israel unterdrückenden Völker schuldig geworden sind und vergehen werden, weil sie die Güte bzw. Gnade 117 Vgl. noch 11,46; 12,48. Zu 12,34 s.u. 118 Im Syr. lautet die Wendung genauer: „wird über euch Erbarmen sein“. Äth. hat statt des letzten Glieds in Lat. und Syr.: „und ihr werdet nicht sterben“. 119 Zu den Einleitungsfragen vgl. M. Henze, Jewish Apocalypticism in Late First Century Israel: Reading Second Baruch in Context (TSAJ 142), Tübingen 2011, 16-36. Zu meiner Sicht der literarischen Struktur von 2 Bar und der Rolle des Briefs Baruch im Ganzen s. L. Doering, The Epistle of Baruch and Ist Role in 2 Baruch, in: M. Henze/ G. Boccaccini (Hg.), Fourth Ezra and Second Baruch: Reconstruction after the Fall ( JSJ.S 164), Leiden 2013, 151-173. 70 Lutz Doering (ṭayḇuṯā) Gottes geleugnet haben (13,11f.; vgl. 82,3-9). Über die Friedenszeit unter David und Salomo heißt es, dass das Land in jener Zeit „Barmherzigkeit fand“ (d-eṯraḥmaṯ), weil seine Einwohner nicht sündigten (61,7), was ein kongruentes Verständnis von Erbarmen nahelegt. Baruch betet deshalb, dass Gott „in Erbarmen“ (braḥme) seine Zusagen wahrmache, auf dass diejenigen Gottes Macht erkennen, die seine Langmut für Schwäche halten (20,20), und dass er alle, die zu ihm kommen, in seinem „Erbarmen“ (braḥamayḵ) und seinem „Mitleid“ (baḥnānāḵ) schütze (48,18f.). Ferner bittet Baruch mit Blick auf die Auferstehung Gott als den Schöpfer um „Erbarmen“ (49,1). In den eschatologischen Wehen wird das heilige Land sich der Seinigen erbarmen (traḥem; 71,1). Nachdem der Engel Ramael die letzten hellen Wasser der Vision Baruchs auf die unvergängliche Welt gedeutet hat, preist Baruch die Größe und Unbegreiflichkeit von Gottes Güte (ṭāḇuṯāḵ), Barmherzigkeit (raḥamayḵ), Einsicht und Gedanken (75,1-4) und bemerkt, dass kein Mensch zu diesen (sc. Wesenszügen Gottes? ) hinzukommen kann, es sei denn, „du bist ihm barmherzig (meṯraḥam) und gnädig (mraḥef)“. „Denn gewiss, wenn du den Menschen nicht barmherzig wärst, würden (selbst) die, die unter deiner Rechten sind, nicht zu diesen hinzukommen, außer denen, die zu der illustren Zahl berufen werden können“ (75,5f.). Hier wird offenbar zwischen solchen Auserwählten unterschieden, die in jedem Fall hinzukommen, und solchen (immerhin auch unter Gottes „Rechter“ Stehenden), die das nur aufgrund der Barmherzigkeit Gottes können. 2. Baruch ist noch stärker als 4. Esra von Tora-Paränese geprägt, mit der seine Adressaten zu einem toragemäßen Leben aufgerufen werden. Das kommt insbesondere in Baruchs letzter Rede an das Volk und in seinem Brief an die Stämme im „assyrischen“ Exil zum Ausdruck. Dem bei Jerusalem versammelten Volk stellt Baruch in Aussicht, dass sie dann nicht ins Exil müssen wie ihre Brüder, wenn sie „ihre Wege gerade machen“; vielmehr werden die Exulanten umgekehrt zu ihnen kommen, denn Gott ist „barmherzig“ (d-mraḥmānā) und „gnädig“ (dmraḥfānā) und „treu“ (2 Bar 77,6f.). Das Volk verspricht, aller Wohltaten Gottes zu gedenken, derer sie sich erinnern, während Gott das, woran sie sich nicht erinnern können, „in seinem Erbarmen“ (b-raḥmaw) weiß (77,11). Im Brief an die neuneinhalb Stämme grüßt Baruch zunächst mit der auch für die neutestamentlichen Briefpräskripte aufschlussreichen salutatio „Erbarmen (raḥme) und Frieden sei mit euch“ (78,2), 120 womit bereits ein tröstender Ton angeschlagen wird. So schreibt Baruch ferner, dass, wenn die Exulanten das Exil als gerechte Strafe anerkennen und sich von ihrem Irrtum bekehren, Gott seiner Verheißung eingedenk wäre, er würde die Zerstreuten „mit großem Erbarmen“ (braḥme saggi’e) wieder sam- 120 Vgl. dazu L. Doering, Ancient Jewish Letters and the Beginnings of Christian Epistolography (WUNT I 298), Tübingen 2012, 245-248.410-412. Gnade und Erbarmen Gottes im Judentum der hellenistisch-frührömischen Zeit 71 meln (78,7). Baruch teilt mit, dass er „Erbarmen (raḥme) vom Höchsten“ erbeten habe (81,2) und dass dieser „nach der Fülle seines Erbarmens (suḡā’ā draḥmaw)“ und „nach der Größe seiner Gnade (rabbuṯā daḥnāneh)“ gehandelt und Baruch Visionen gezeigt habe (81,4). Deshalb schreibe er nun zum Trost und teile den Adressaten mit, dass Gottes Erbarmen (raḥmaw) kommt und die Vollstreckung seines Urteils nicht fern ist (82,2). Baruch weist die Adressaten an, diesen Brief zusammen mit den Überlieferungen des Gesetzes ihren Kindern weiter zu überliefern, sowie darum zu bitten, dass Gott die Menge ihrer Sünden nicht anrechne, sondern nur der Rechtschaffenheit ihrer Väter gedenke (84,9f.). „Denn wenn er uns nicht nach der Größe seines Erbarmens (suḡā’ā draḥmaw) richtet, wehe uns allen, die geboren sind! “ (84,11). Im brieflichen Trost an die Exulanten erkennt Baruch somit dem (offenbar nicht einfach kongruent vestandenen) Erbarmen auch eine Rolle im Endgericht zu. Im Ganzen ist 2. Baruch weniger scharf als 4. Esra in der Abhebung des Erbarmens von der kommenden Welt; es geht dieser Schrift mehr um die Bewahrung vieler aus Israel 121 (einschließlich Proselyten: 2 Bar 41,4), die durch Tora-Paränese auf ein nur als barmherzig denkbares Gericht vorbereitet werden sollen. 3. Schluss Der Durchgang durch die besprochenen Texte 122 hat gezeigt, dass Gnade und Erbarmen in jüdischen Texten dieser Zeit unbestritten eine wichtige Rolle spielen, zugleich aber jeweils unterschiedlich akzentuiert werden. Auch das Verhältnis zu menschlicher agency stellt sich in den Texten jeweils unterschiedlich dar. Damit haben sich Barclays Anfragen an Sanders’ einheitliches Gnadenverständnis als stets zuvorkommende und inkongruente Gnade bestätigt und vertieft. Die Zusammenfassungen am Ende der Analysen oben zeigen, dass viele Texte Gnade und/ oder Erbarmen als kennzeichnend für Gott verstehen (Sirach, Philo, 4. Esra, 2. Baruch) und dabei in der Regel deren Größe und Überfließen betonen. Eine Reihe von Texten versteht dabei Gnade und/ oder Erbarmen vorwiegend kongruent: Sie kommen den Würdigen zu (mit Unterschieden, was die Würdigkeit ausmacht: Sirach, Wächterbuch, Epistel Henochs, Sapientia Salomonis), sind für das Volk Israel reserviert ( Jubiläenbuch) oder auch nur für den Jachad (Hodajot, doch siehe gleich). In einigen Texten ist deutlich von einer erwarteten 121 Vgl. Henze, Jewish Apocalypticism, 285: „Baruch expects the righteous who will enter the new world to be many“. 122 Vgl. darüber hinaus die Analyse zu Ps.-Philo, Liber Antiquitatum Biblicarum in Barclay, Paul and the Gift, 266-279 oder die Ausführungen zu den Psalmen Salomos in Sanders, Paul and Palestinian Judaism, 387-409. Re-Aktion des Menschen die Rede (Sirach, Hodajot, Philo); Gnade ist hier also durchaus „zirkulär“. In anderen Texten wird freilich die Inkongruenz der Gnade betont (Gleichnisreden Henochs [1 Hen 50,2f.]; in den Hodajot mit Blick auf die Unwürdigkeit des einzelnen Gemeindeglieds; in 4. Esra als inkongruente Gabe auf die gegenwärtige Welt begrenzt; ähnlich, doch weniger scharf abgrenzend, 2. Baruch). Wie bei Philo neben der Betonung der Würdigkeit auch Ansätze eines inkongruenten Gnadenverständnisses zu bewerten sind, ist umstritten. Das Zuvorkommen der Gnade wird in einigen Texten (z. B. bei Philo), aber nicht allen herausgestellt. Zwar hat Gott mehreren Texten zufolge Israel aus Erbarmen Mittel zur Sühne bereitgestellt (z. B. Jubiläenbuch, Philo), aber es gibt (z. B. im Jubiläenbuch) auch Übertretungen, die nicht gesühnt werden können und die Ausrottungsstrafe nach sich ziehen. Nach 4. Esra wird im Gericht nur ein Rest gerettet, während 2. Baruch an der Bewahrung vieler aus Israel interessiert ist und beide Bücher in unterschiedlichem Maß zur Orientierung an der Tora anleiten. Das Judentum hellenistisch-römischer Zeit bietet somit ein breites Spektrum in Verständnis und Akzentuierung von Gnade und Erbarmen Gottes. Diese Vielfalt ist auch für den Vergleich mit neutestamentlichen Texten, von denen die meisten von christusgläubigen Juden verfasst wurden, zu berücksichtigen. Gottes- und Himmelsherrschaft im Matthäusevangelium Gerechtigkeit und Verantwortung als Zeit und Raum des Glücks François Vouga Eine Königsherrschaft - es sein denn, man befände sich in der zwischen Autor und Leser vereinbarten Fantasie eines Märchens oder eines Traumes - definiert sich durch die Zeit, in welcher der König seine Herrschaft angetreten hat und während derer er regiert, regiert hat oder regieren wird. Sie ist ferner definiert durch einen räumlichen Herrschaftsbereich, der seine Identität durch Grenzen erhält, und durch eine politische Ordnung, die die asymmetrische Reziprozität zwischen der Autorität des herrschenden Königs und den Privilegien und Pflichten der Männer, Frauen und Kinder, die in seinem Reich wohnen, regelt. Vom MkEv hat Mt die literarische Idee übernommen, das Programm des Auftretens Jesu in Galiläa als die Verkündigung der nahe gekommenen Königsherrschaft Gottes vorzustellen. 1 Da diese gute Nachricht eines kurz bevorstehenden oder sogar schon Gegenwart gewordenen Herrschaftswechsels einen Imperativ begründet, der kein neues politisches System einführt, sondern zu einer Veränderung des Denkens oder der persönlichen Haltung auffordert, können die Lesenden voraussetzen, dass sowohl im Markusals auch im MtEv der Begriff im übertragenen Sinne, d. h. metaphorisch gemeint ist. Worauf verweist also die matthäische (oder die von Mt neu belebte) Metapher der basileia tou theou und der basileia tōn ouranōn? 1 Das MtEv verwendet ohne deutliche Sinnunterschiede die beiden Begriffe der „Herrschaft der Himmel“ und der „Herrschaft Gottes“. Prof. Dr. François Vouga, geboren 1948, 1975-82 Pfarrer in Genf, 1982-86 Professor für Neues Testament in Montpellier, 1984-85 Gastprofessor an der theologischen Fakultät in Neuchâtel; seit 1986 Professor für Neues Testament an der Kirchlichen Hochschule Bethel, dann Wuppertal / Bethel, 1999 Gastprofessor an der theologischen Fakultät der Universität Laval in Québec. Lebt und arbeitet seit 2016 in Frankreich. Zeitschrift für Neues Testament 23. Jahrgang (2020) Heft 46 74 François Vouga 1. Zeit - Die Gegenwart der Herrschaft der Himmel Die erste Dimension, die die metaphorische Vorstellung der basileia tou theou oder tōn ouranōn definiert, ist die Zeit. Und die Zeit der Herrschaft Gottes scheint im MtEv, wie es bereits im Verständnis des MkEv der Fall ist, 2 die Gegenwart zu sein. 1.1 Das Programm der nah gewordenen Herrschaft der Himmel Auffällig ist zunächst die Parallelität, die Matthäus zwischen dem Programm der Predigt des Täufers und dem des ersten Auftretens Jesu in Kafarnaum am See literarisch konstruiert. Von den drei anderen Evangelien unterscheidet sich das MtEv nämlich dadurch, dass es die ersten Worte der Johannes-Botschaft in der jüdäischen Wüste und diejenigen der Verkündigung Jesu im „Galiläa der Heiden“ (3,15) identisch formuliert: „Kehrt um, denn nahe gekommen ist die Herrschaft der Himmel“ (3,2; 4,17). 3 Die Gegenwart einer neuen Wirklichkeit als das Ereignis, das jetzt eine Veränderung verlangt, wird zweimal im Perfekt verkündigt. Die Formulierung baut eine gewisse paradoxe Spannung auf: Auf der einen Seite stellt die Wahl des Tempus die Präsenz dieser Herrschaft als eine bereits vorhandene Tatsache vor. Auf der anderen Seite setzt die Bewegung des Nahegekommenseins eine noch bestehende Offenheit voraus. Calvin hat dieses Problem dadurch gelöst, dass er kommentierte: Der König holt sein Volk ab, um über es zu regieren. 4 Damit sind die beiden Momente des geschehenen Herrschaftswechsels, der für die Adressaten faktisch eine neue Situation schafft, und der subjektiven Antwort, die dadurch als Möglichkeit entsteht, miteinander verbunden. Mit einer klaren Kohärenz kann Matthäus dann summarisch notieren, dass Jesus das Evangelium der (Gottes-)Herrschaft verkündigt (4,23; 9,35). Da das Evangelium, wenn man die außerchristliche, politische Konnotation des Begriffes mitliest, die öffentliche Verkündigung des Herrschaftsantritts eines neuen Autoritätsinhabers meint, kann man annehmen, dass mit der gegenwärtigen Nähe der basileia tōn ouranōn zunächst von Johannes dem Täufer und dann von Jesus die reale Gegenwart einer befreienden Kraft Gottes verkündigt wird. Entsprechend werden später die zwölf Jünger in der Aussendungsrede beauftragt, dieselbe gute Nachricht kundzutun: „Kehrt um, denn nah gekommen ist die Herrschaft der Himmel“ (10,7; vgl. 24,14). 2 M. Hauser, Die Herrschaft Gottes im Markusevangelium, Frankfurt u. a. 1998. 3 C. Rohmer / F. Vouga, Jean Baptiste aux sources (Essais bibliques 55), Genf 2020, 39-55. 4 J. Calvin, Sur la Concordance ou Harmonie composée de trois évangélistes asçavoir S. Matthieu, S. Marc et S. Luc (Commentaires de Jehan Calvin sur le Nouveau Testament I), Paris 1854, 157. Gottes- und Himmelsherrschaft im Matthäusevangelium 75 1.2 Die präsentischen Verheißungen der Seligpreisungen Eine zweite Paradoxie bildet die Zeitstruktur der mt Seligpreisungen. Sie preisen Menschen selig, die durch eine bestimmte existentielle Haltung gekennzeichnet sind: Vertrauen, Barmherzigkeit, aktive Gewaltlosigkeit, Klarheit, Suche nach Frieden, Engagement für Gerechtigkeit, Fähigkeit zu trauern. 5 Begründet werden die jeweiligen Seligpreisungen durch adressatenbezogene Kausalsätze, die Aussagen im Futurum beinhalten, allerdings ohne dass eindeutig entschieden werden kann, ob das Futurum zukünftig, etwa als Verweis auf die Vollendung der Zeit verstanden werden soll (Mt 28,20), oder besser und einfacher logisch als unmittelbare Konsequenz der eigenen Lebenshaltung: „Selig die…, weil sie… werden“. Zwei Ausnahmen unterbrechen die Regelmäßigkeit dieser Konstruktion und sprengen die zeitliche Abfolge der Kontinuität oder der zugesprochenen Reziprozität durch eine Begründung im Präsens: Selig die Armen durch (in dem oder für) den Geist, denn ihrer ist die Herrschaft der Himmel (5,3). Selig die wegen Gerechtigkeit Verfolgten, denn ihrer ist die Herrschaft der Himmel (5,10). Die aktuelle Zeit der basileia tōn ouranōn ist die Gegenwart, und die Offenbarung oder die Erinnerung, dass diese basileia tōn ouranōn den Angeredeten hier und jetzt bereits gehört, ist der sachliche Grund für die Seligpreisung der Jünger, der versammelten Zuhörer und der Leser (5,1), die ihr ganzes Vertrauen 5 Unterscheiden möchte ich die Fragestellung der existentiellen Haltung vom Bereich der Ethik. Ethik generiert begründete Empfehlungen für konkretes Handlungen durch Werturteile, die konsensfähige Werte voraussetzen, während Imperative unbegründete Anweisungen und existentielle Haltungen, intime, geistige Einstellungen beschreiben, vgl. R. M. Hare, Die Sprache der Moral, Frankfurt 1983. Prof. Dr. François Vouga , geboren 1948, 1975-82 Pfarrer in Genf, 1982-86 Professor für Neues Testament in Montpellier, 1984-85 Gastprofessor an der theologischen Fakultät in Neuchâtel; seit 1986 Professor für Neues Testament an der Kirchlichen Hochschule Bethel, dann Wuppertal / Bethel, 1999 Gastprofessor an der theologischen Fakultät der Universität Laval in Québec. Lebt und arbeitet seit 2016 in Frankreich. 76 François Vouga auf den Geist ihres himmlischen Vaters 6 und auf seine Gerechtigkeit gesetzt haben. Zugestanden: Die beiden Seligpreisungen erklären weder, warum ihnen die basileia tōn ouranōn gehört, noch, was diese hier und jetzt relevante Verheißung für sie konkret bedeutet. So überraschend wie evident orientieren sie aber die kausale Kontinuität zwischen Ursache und Wirkung um. Die Verheißungen werden nämlich nicht durch die Haltung der Adressaten bedingt, sondern die Präsenz der basileia tōn ouranōn wird umgekehrt als die im Indikativ Präsens gegebene Bedingung dafür genannt, dass Jesus diejenigen, die er als Arme durch, in oder für den Geist und als die um der Gerechtigkeit willen Verfolgten anspricht, selig preisen kann. Erste Ergebnisse fasse ich in drei Hypothesen samt kurzen Erläuterungen zusammen: Hypothese 1: Der mt Begriff der basileia tōn ouranōn wird argumentativ eingeführt weder als zukünftiges Reich noch als der endzeitliche Horizont einer göttlichen Belohnung oder eines göttlichen Trostes. Die gute Nachricht der bereits gegenwärtigen basileia tōn ouranōn stellt vielmehr das Ereignis der Verkündigung einer aktiven Befreiungsmacht vor, die die Bergpredigt als der Grund, als die Möglichkeit und als die wirksame Kraft einer Veränderung aktualisiert. Hypothese 2: Die Offenbarung der Präsenz der Befreiungskraft der basileia tōn ouranōn als bedingungslosen Indikativ begründet nicht nur die erste und die achte Seligpreisung (5,2.10), sondern sie prägt auch die pragmatische Struktur der Wirklichkeit, auf welcher die Kontinuität oder die Reziprozität basiert, die die Kausalsätze der anderen Seligpreisungen strukturieren. 7 Die Trauernden, die wegen ihrer Trauer getröstet werden, die Gewaltlosen, die wegen ihrer Gewaltlosigkeit das Land erben werden, die nach Gerechtigkeit Hungernden und Dürstenden, die wegen ihres Hungers und Durstes gesättigt werden, die Barmherzigen, die wegen ihrer Barmherzigkeit selber Barmherzigkeit erlangen werden, die reinen Herzens, die wegen ihrer Herzensreinheit Gott schauen werden, und die Frieden Stiftenden, die wegen ihrer Friedfertigkeit Söhne, Töchter und 6 Die Interpretation und folglich die Übersetzung der mt Fassung der ersten Seligpreisung bleibt wegen der Mehrdeutigkeit des Begriffes des Geistes und der Multifunktionnalität des Dativs unscharf. Auffällig ist, dass üblicherweise der Geist in Mt 1-4 durchweg im Sinne des heiligen Geistes (1,18.20) und des Geistes Gottes (3,11.16; cf. 4,1) verstanden wird. Der Vorschlag von F. Blass / A. Debrunner / F. Rehkopf, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, Göttingen 15 1979, 159, den Dativ als Dativ der Beziehung zu lesen, verschiebt nur das Problem. 7 Die Begrifflichkeit entnehme ich Ch. Perelman / L. Olbrechts-Tyteca, Traité de l’argumentation. La nouvelle rhétorique, Brüssel 1958, ebenso die dort getroffene Unterscheidung zwischen der quasi-logischen Struktur von Argumenten, die die Struktur der Wirklichkeit begründen, d. h. eine neue Struktur der Wirklichkeit begründen einerseits, und Argumenten, die auf der (angenommenen) Struktur der Wirklichkeit basieren, andererseits. Gottes- und Himmelsherrschaft im Matthäusevangelium 77 Kinder Gottes genannt werden, diese alle können deswegen von Jesus selig gepriesen werden, weil ihnen die befreiende Autorität der basileia tōn ouranōn gehört. Hypothese 3: Die mt Redaktion formuliert die Seligpreisungen in der dritten Person Plural und verleiht ihnen dadurch eine appellative Funktion: Die Lesenden werden mit den Jüngern und Zuhörern Jesu durch die wiederholte Verheißung „Selig diejenigen, die…“ implizit eingeladen, in den Herrschaftsbereich der gegenwärtigen Befreiungsmacht der basileia tōn ouranōn einzutreten. Später werden sie entsprechend auch aufgefordert werden, auf die Vögel des Himmels zu schauen und Schüler der Blumen des Feldes zu werden (6,25-34). Sie werden dabei lernen, die großzügigen, bedingungslosen Gaben der Vorsehung Gottes zu suchen: die Befreiung seiner basileia und die Rechtfertigung seiner Gerechtigkeit (6,33). Und weil ihr himmlischer Vater weiß, wes sie bedürfen, bevor sie ihn darum bitten, werden sie vertrauensvoll um die Aktualisierung seiner basileia beten: Deine Herrschaft komme (6,9). 1.3 Die Frage und ihre Antwort: Wann ist die Herrschaft der Himmel da? Eine ausdrückliche Antwort auf die Frage des Zeitpunktes des von Jesus verkündigten Herrschaftswechsels gibt Mt nicht zufällig als Abschluss eines Streitgesprächs mit den Pharisäern zur Autorität Jesu, mit der die Dämonen austreibt (12,28): Wenn ich mit dem Geist Gottes die Dämonen austreibe, dann hat euch die basileia tou theou überholt. Das Streitgespräch setzt als unumstritten voraus, dass Jesus die Dämonen austreibt. Umstritten ist dagegen, mit der Kraft welcher Autorität er es tut. Zwei Hypothesen werden als Alternative angeboten, auch wenn der Kontext des Evangeliums nahe legt, dass die therapeutische Tätigkeit Jesu durch den Geist Gottes und nicht durch Beelzebul geschieht. Die wesentliche Aussage besteht in der daraus abgeleiteten logischen Verbindung: „Wenn…, dann….“. Die basileia erscheint als eine unverfügbare, transzendente Kraft der Veränderung, die sich aktiv in der Befreiung der Menschen von ihrer Besessenheit offenbart. Sie ist aber nicht an die Person und an die Tätigkeit Jesu gebunden. Die hypothetische Form der interpretativen Erklärung Jesu setzt vielmehr eine Dissoziation voraus. Die Unabhängigkeit der gegenwärtigen Veränderungskraft der Herrschaft der Himmel von der Person und von der Tätigkeit Jesu scheint für die mt Redaktion evident zu sein. Sie nimmt ein traditionelles Logion wieder auf, mit dem sie auf die bereits aktuelle reale Gegenwart der basileia tōn ouranōn vor der Zeit Jesu und auf ihre Leidensgeschichte seit den Tagen des Täufers verweist (11,12): 78 François Vouga Von den Tagen von Johannes dem Täufer an bis heute erfährt die Herrschaft der Himmel Gewalt, und Gewalttätige berauben sie. Wen die mt Redaktion mit den Gewalttätigen im Blick hat, die die basileia tōn ouranōn berauben, bleibt offen. Der mt Jesus führt aber mit führenden Vertretern der Synagoge Auseinandersetzungen, die eine erste annähernde Antwort auf diese Frage erlauben, weil sie sich ausdrücklich auf die basileia in Verbindung mit ihrem Missbrauch bzw. mit Szenarien der Gewalt beziehen. Die Lehre, die er aus seiner allegorischen Fassung des Gleichnisses von den bösen Weingärtnern (21,33-46) ableitet, kündigt den Hohenpriestern und Pharisäern an, dass ihnen die basileia tou theou weggenommen werden wird, um einem anderen „Volk“ gegeben zu werden, das die Früchte der basileia hervorbringen wird (21,43). Eine der Begründungen dieses Protestes Jesu gegen die Unfruchtbarkeit der synagogalen Autoritäten findet sich entsprechend in der Reihe der sieben Invektiven zu den Schriftgelehrten und Pharisäern (23,13-36). Die erste dieser Invektiven warnt die Adressaten vor deren Heuchelei, womit im MtEv eine objektive Selbsttäuschung und erst als Kollateralschaden ein subjektiver Mitbetrug von Anderen gemeint ist, 8 weil sie selbst in die basileia tōn ouranōn nicht eintreten und diese basileia vor den Menschen zuschließen (23,13). Hypothese 4: Die basileia tōn ouranōn wird bedingungslos als befreiende Gegenwart einer transzendenten Autorität Gottes verstanden, die sich in ihrer therapeutischen Wirkung zeigt und ihre Früchte darin trägt, dass Menschen aus zerstörerischen Herrschaftsbereichen von Mächten erlöst werden, die ihre Identität und ihre Handlungen entfremden und fremdbestimmen. Die Gegenwart der befreienden Autorität dieses transzendenten, ganz anderen Gottes ist insofern unverfügbar und frei, als sie umsonst geschenkt wird und an kein Volk und an keine Person gebunden ist. In seiner Auslegung der Evangelienharmanie erklärt Calvin, dass Mt mit der basileia tōn ouranōn die Erneuerung der Kirche meint, die Gott durch die doppelte Kraft seines Wortes und des heiligen Geistes neu schafft. 9 8 Die Rede von der „Heuchelei“ (23,28) und den „Heuchlern“ (6,2.5.16; 7,5; 15,7; 22,18; 23,13.14.15.23.25.27.29; 24,51) spielt eine wichtige, kritische Rolle in der Auseinandersetzung des mt Jesus mit den pharisäischen Schriftgelehrten. P. Bonnard, L’évangile selon saint Matthieu (CNT I), Neuchâtel 1963 (=Genf 2002), 4, hat deutlich gezeigt, dass die mt „Heuchelei“ keine böse, subjektive Absicht beschreibt, Menschen durch eine Dissoziation dessen, was man sagt, von dem, was man denkt, zu betrügen. Vielmehr geht es um eine objektive Selbsttäuschung. Diese entsteht aus einer Verwechslung der rechtfertigenden Transzendenz Gottes mit der Immanenz des eigenen Glaubens als einer Religion, die Gott, sich selbst und den Nächsten instrumentalisiert. Vgl. F. Vouga, L’hypocrisie selon Matthieu et l’imbécillité de la raison technique selon Calvin, in: M. Boss / R. Picon (Hg.), Penser le Dieu vivant. Mélanges offerts à André Gounelle, Paris 2003, 281-297 und 486. 9 Calvin, Harmonie, 180. Gottes- und Himmelsherrschaft im Matthäusevangelium 79 Hypothese 5: In der hermeneutischen Auseinandersetzung, die der mt Jesus mit den pharisäischen Autoritäten führt, ist die basileia tōn ouranōn, verstanden als Gegenwart einer befreienden Autorität der Transzendenz Gottes, Gegenstand eines Konflikts der Interpretationen. Zu den Voraussetzungen der Argumentation gehört, dass die Gottesherrschaft bereits gegeben und präsent war, bevor Johannes der Täufer und Jesus auftraten. Eine wichtige These hierbei lautet, dass sowohl die Unfruchtbarkeit als auch die Selbsttäuschung der pharisäischen Schriftgelehrten, die zur Tötung Jesu als angeblich falschen Propheten führte (23,29-32), auf den Missbrauch des Schlüssels zurückzuführen ist, der die Tür zur befreienden Wirkung der Gottesherrschaft hätte öffnen können. Hypothese 6: Von der gegenwärtigen Befreiungskraft der basileia tōn ouranōn oder tou theou, die in der Verkündigung Jesu und in seiner therapeutischen Tätigkeit sichtbar wird, ohne exklusiv mit seiner Person verbunden zu sein, unterscheidet Mt als zukünftigen Horizont eine andere basileia. Das Kommen und Auftreten dieser zweiten Königsherrschaft wird für eine zukünftige Zeit, die unbestimmt bleibt, angekündigt oder erwartet. Es ist die basileia des Menschensohnes, in der Jesus auch noch einigen derer, die ihm jetzt zuhören, erscheinen wird (16,28). Es ist die basileia Jesu, in der die Zebedäussöhne nach dem Wunsch ihrer Mutter zu seiner Rechten und zu seiner Linken sitzen sollen (20,21), und es ist die basileia seines Vaters, von der Jesus, den Tod vor Augen, sagt, dass er dereinst zusammen mit seinen Jüngern wieder von der Frucht des Weinstocks trinken wird (26,29). Unklar bleibt, ob die Verweise auf das Kommen des Menschensohnes in seiner basileia und der Termin Jesu mit seinen Jüngern in der Königsherrschaft seines Vaters auf die Vervollkommnung der Zeiten (28,20) oder auf die nachösterliche Zeit seiner Herrschaft („jede Autorität wurde mir gegeben im Himmel und auf Erden“, 28,18b) vorausblicken. Eindeutig setzen sie aber Jesu Tod und seine österliche Erscheinung voraus. 2. Raum - Die Universalisierung der Herrschaft Gottes und der Himmel Die mt Vorstellung der transzendenten Gegenwart der basileia tōn ouranōn oder tou theou ist einerseits an keine Person gebunden, auch nicht an die Person, an das Wort oder an die Taten Jesu. Genauso wenig ist sie an Orte gebunden. Sie besetzt auch keinen Raum. Man kann zwar in sie eintreten oder sich selbst daran hindern einzutreten, und es gibt Schlüssel, mit denen Menschen sie verschließen oder öffnen können, aber sie scheint einfach dort zu sein und umsonst gegeben zu werden, wo Männer, Frauen und Kinder sie empfangen. 80 François Vouga Der Veränderungskraft ihrer Gegenwart entspricht der dynamische Charakter ihrer geographischen Präsenz. Von der basileia tōn ouranōn spricht Mt zum ersten Mal, als Johannes der Täufer in der Wüste von Judäa verkündigt, dass sie nahe herbeigekommen ist (3,2). Sie nimmt ihren sichtbaren Anfang mit der Verkündigung Jesu in Galiläa (4,17). Jesus verlässt Nazareth und geht nach Kafarnaum am See, was die Erzählung durch das Erfüllungszitat von Jes 8,23 - 9,1 begründet, so dass er sofort die basileia tōn ouranōn „zum Meer hin, jenseits des Jordans, im Galiläa der Heiden“ predigt. Hier kommen erstmals nichtjüdische Adressaten in den Blick. Damit wird die Richtung einer Bewegung skizziert, die sich als konsequentes Programm erweisen wird. Die basileia tōn ouranōn ist an kein Land und an kein Volk gebunden, aber sie ist auch nicht geschichtslos oder bodenlos. Sie bekommt ihre geistige Heimat dadurch, dass die Worte des Propheten Jesaja ihre Erfüllung in der Verkündigung ihrer Gegenwart finden, und sie bekommt dadurch ihre Universalität, dass sie in ihrer Heimat nicht verwurzelt ist, sondern alle aufnehmen wird, die ihre Einladung und ihren Appell, sich verändern zu lassen, annehmen werden. Der Weg zu dieser Universalisierung kommt ausdrücklich im Kommentar Jesu nach seiner Begegnung mit dem Hauptmann in Kafarnaum zur Sprache (8,10-12): (10) Als Jesus dies (= die Worte des Hauptmanns) hörte, staunte er und sagte zu denen, die ihm folgten: Amen, ich sage euch, bei niemandem fand ich ein solches Vertrauen in Israel! (11) Ich sage euch, dass viele aus Ost und West kommen werden und sich mit Abraham, Isaak und Jakob in der Herrschaft der Himmel zu Tisch setzen. (12) Aber die Söhne der Königsherrschaft werden hinaus in die Finsternis hinausgeworfen werden; dort wird das Heulen und das Klappern der Zähne sein. Beide Dimensionen, die Beheimatung der Herrschaft der Himmel in der jüdischen Tradition einerseits, und ihre Offenheit für jeden Menschen, der glaubt, andererseits werden im Symbol des gemeinsamen Tisches verbunden. Die Identitätsfiguren der biblischen Geschichte Israels, Abraham, Isaak und Jakob, sitzen schon. Damit entsteht kein Ausschliesslichkeitsanspruch und ebensowenig ein Besitzanspruch. Die Einladung geschieht bedingungslos, und eine angemessene Antwort besteht entsprechend in der existentiellen Haltung des Vertrauens. Mit dem - direkt oder indirekt von Paulus geerbten? - Begriff des Vertrauens zeichnet der mt Jesus die Grenze, die das Zu-Tisch-Sitzen in der Herrschaft der Himmel vom Draußenbleiben oder Hinausgeworfensein trennt. Gottes- und Himmelsherrschaft im Matthäusevangelium 81 Hypothese 7: Wenn die Verantwortung, die die Gegenwart der basileia tōn ouranōn als Antwort herausfordert, als die existentielle Haltung des Vertrauens definiert wird, wie es in den Seligpreisungen bereits vorbereitet wird, dann versteht es sich von selbst, dass die drei großen Gleichnisse, die Jesus im Tempel erzählt, nicht den Sinn haben, das synagogale Judentum zu disqualifizieren. Das Gleichnis von den beiden Söhnen (21,28-32) stellt den Hohenpriestern und Pharisäern die Zöllner und Dirnen gegenüber (21,31). Das Gleichnis von den bösen Weingärtnern (21,33-46) konfrontiert sie mit dem „Volk“, das die „Früchte des Reiches“ bringt (21,43), und das Gleichnis von der königlichen Hochzeit (22,1-14) bietet die neuen Gäste von den Straßen auf. Die Grenze, die diese drei Gleichnisse ziehen, verläuft zwischen Vertrauen und Unglauben, zwischen Erwählungsbewusstsein und Gerechtigkeit und zwischen der Transzendenz der Herrschaft der Himmel und der Immanenz der Religion. Hypothese 8: Der ekklēsia-Begriff des Paulus versteht die durch das Kreuzesereignis offenbarte Rechtfertigung durch Vertrauen, das heißt die bedingungslose Anerkennung jedes Menschen als Person unabhängig von seinen Eigenschaften in Kontinuität mit der Schrift (Gal 3,6-5,1). Ganz ähnlich verbindet die mt Vorstellung der basileia tōn ouranōn die jüdische Heimat einer Theologie des Vertrauens mit ihren eigenen universalistischen Konsequenzen. Es gibt im MtEv genauso wenig wie im paulinischen Denken eine Alternative zwischen einer innerjüdischen judenchristlichen Mission (Mt 10,5) und dem auf die Herrschaft des Gekreuzigten begründeten Universalismus der gegenseitigen Anerkennung (28,18-20), sondern sowohl die paulinische als auch die matthäische Hermeneutik finden in der Schrift, dass beides unzweideutig zusammengehört. In der matthäischen Erzählung mündet die jüdische Tradition in die Verantwortung der Jünger, das Glück der basileia tōn ouranōn mit der ganzen Menschheit zu teilen. Hypothese 9: Diese Bewegung der Öffnung und der universalen Verbreitung der basileia tōn ouranōn, die ihren Herrschaftsbereich von Judäa und Galiläa bis zu allen Nationen der Heiden erweitert, findet ihren programmatischen Ausdruck in der Rolle des Petrus, der die Schlüssel der basileia tōn ouranōn von Jesus erhält (Mt 16,19). Mt hätte sich in seiner literarischen Fiktion auch auf Jakobus statt auf Petrus berufen können. Petrus als Fels, auf den Jesus seine Kirche baut, vertritt aber nicht nur eine multiethische Kirche gegenüber dem Judenchristentum, sondern er symbolisiert außerdem mit seiner apostolischen Autorität diese Kontinuität von Galiläa in die Universalität der hellenistisch-römischen Jesusbewegung. 10 10 Ein literaturwissenschaftlich und theologisch orientiertes Portrait des mt Petrus bietet C. Rohmer, L’homme de Pierre: la trajectoire immergée de l’apôtre dans l’Évangile de Matthieu, ETR 93/ 2018, 225-244. 82 François Vouga 3. Eintrittsbedingungen - Rechtfertigung und Verantwortung Dass die „Söhne der Königsherrschaft“, wie der Kommentar Jesu zum Vertrauen des Hauptmanns formuliert (8,10-12), weder einen Ausschließlichkeitsnoch einen Besitzanspruch auf die basileia haben, setzt voraus, dass die Eintrittsbedingungen anderen Modalitäten entsprechen als die Eigenschaft, zu einem erwählten Volk oder zur richtigen Religion zu gehören. In den Worten des mt Jesus erscheint nämlich nicht nur Israel als ein corpus mixtum, als eine Mischung von Guten und Bösen und von Gerechten und Ungerechten, sondern auch die Kirche, in welcher sich Söhne der basileia und Söhne des Bösen versammeln. Die Welt, in der der Menschensohn gesät hat, ähnelt einem Acker, in dem sich Weizen und Unkraut untrennbar mischen (13,24-30.36-43), und die basileia tōn ouranōn ist einem Netz vergleichbar, mit dem Fische aller Art gefangen werden (13,47-50). Genauso wie Paulus in seinen Apostelbriefen an die Gemeinden in Rom oder in Korinth (Röm 14,1-23; 1 Kor 3,5-23) befreien die mt Gleichnisse ihre Leser von der Aufgabe, im Netz der basileia tōn ouranōn zwischen den Würdigen und den Anderen zu unterscheiden und übereinander zu richten (Mt 22,1-14). Allerdings stellen sich zwei Fragen, auf die der Mt-Evangelist auch eine Antwort gibt: 1. Wie können die Leser in den befreienden Herrschaftsbereich des himmlischen Vaters hereinkommen? (3.1) Diese Frage stellt sich, weil mit 7,21 gilt: Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr, Herr, wird in die Herrschaft der Himmel hineinkommen, sondern wer den Willen meines Vaters in den Himmeln tut. 2. Wie können die Leser die Einladung in die befreiende Gegenwart der Herrschaft der Himmel verantwortlich wahrnehmen? (3.2). 3.1 Gerechtigkeit als Herrschaftsbereich der Umsonstheit Die Frage der Eintrittsbedingungen in die basileia tōn ouranōn wird zum ersten Mal in der Einführung in die Antithesen der Bergpredigt thematisiert (5,20-48). Diese erste Formulierung erhält dadurch einen programmatischen Charakter, dass sie die Möglichkeit, in die Herrschaft des Himmels hereinzukommen, mit dem Schlüsselbegriff der Gerechtigkeit 11 verbindet (5,20): Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht mehr übermäßig ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, werdet ihr nicht in die Herrschaft der Himmel eintreten. 11 Der Begriff der Gerechtigkeit kommt in Mt 3,15; 5,6.10.20; 6,1.33; 21,32 vor. Zur Interpretation vgl. M. Stiewe / F. Vouga, Die Bergpredigt und ihre Rezeption als kurze Darstellung des Christentums (NET 2), Tübingen 2001, 61-63. Gottes- und Himmelsherrschaft im Matthäusevangelium 83 Die Eintrittsbedingung der Zuhörer und Leser der Bergpredigt in die Herrschaft der Himmel definiert der mt Jesus durch eine „größere Übermäßigkeit“ ihrer Gerechtigkeit verglichen mit derjenigen der Schriftgelehrten und Pharisäer. Die Formulierung der „größeren Übermäßigkeit der Gerechtigkeit“ kombiniert ein Oxymoron mit einer doppelten Paradoxie. „Mehr“ setzt die quantitative Vergleichbarkeit voraus, die durch die Vorstellung der Übermäßigeit jedoch ausgeschlossen wird, und die Verbindung der Gerechtigkeit mit der Übermäßigkeit baut einen Selbstwiderspruch auf, der nur durch eine paradoxe Neudefinition der Gerechtigkeit aufgelöst werden kann. Der Sinn kann folglich nur sein: Die Schriftgelehrten und Pharisäer vertreten eine Vorstellung der Gerechtigkeit, die sie hindert, in die basileia tōn ouranōn einzutreten, und die sie zugunsten einer anderen Vorstellung der Gerechtigkeit, die sich an keinem Maßstab messen lässt, aufbrechen müssen, wenn sie eintreten wollen. Hat der Redaktor des MtEv die großen Paulusbriefe gelesen und ihren Begriff der Gerechtigkeit verstanden und übernommen? Eine gedankliche Kontinuität lässt sich weder beweisen noch ausschließen. Die schöne Parabel vom Winzer, der Arbeiter für seinen Weinberg anstellt, gestaltet der mt Jesus zu einem Gleichnis der basileia tōn ouranōn um (20,1-15), das durch die Paradoxien der Erzählung die Gerechtigkeit der Güte Gottes als kreative Logik der Umsonstheit (oder der freien Gnade) 12 definiert. Der gerechte Lohn (20,4), den der Hausherr verspricht und jedem Arbeiter gibt, entspricht der bedingungslosen Berufung jedes einzelnen Menschen und symbolisiert eine universale Anerkennung jedes Einzelnen als Person. 13 Die der Gnade des Herren entsprechende Verantwortung besteht in der Bereitschaft, vom System des Tauschs, das die Arbeiter der ersten Stunde vertreten, in den Geist der Gabe zu wechseln, der von einer umsonst gegebenen Rechtfertigung im Vertrauen lebt. Der Gnadencharakter der matthäischen Gerechtigkeit findet sich wieder in der Warnung vor ihrer Verkehrung in die Heuchelei (6,1-18). Ethisch betrachtet 12 Klaus Winterhoff, der meinen Text gelesen hat, schlägt vor, Umsonstheit durch den klassischen theologischen Begriff der freien Gnade (Karl Barth) zu ersetzen. Martin Stiewe und ich hatten den Begriff der Umsonstheit gebildet, weil uns ein deutschsprachiges Äquivalent für das französische gratuité fehlte. Entscheidend war für uns, mit einem von „umsonst“ abgeleiteten Substantiv arbeiten zu können, das den Gegensatz zwischen dem System des Tausches und dem des Geistes der Gabe (französisch: esprit du don) verdeutlichen konnte. Zur kritischen Auseinandersetzung mit M. Mauss, Essai sur le don. Forme et raison de l’échange dans les sociétés archaïques, Paris 1925 vgl. J. T. Godbout und A. Caillé, L’Esprit du don, Paris / Montréal 1992; M. Hénaff, Le prix de la vérité. Le don, l’argent, la philosophie, La couleur des idées, Paris 2002. 13 C. Rohmer, La pratique de la justice dans l’Évangile de Matthieu: pour une reprise des débats, ETR 94/ 2019, 581-596: Mt entfaltet narrativ und im Paradigma der Berufung (Mt 20,1-15) das Evangelium der Gerechtigkeit Gottes, die die Paulusbriefe als Interpretation des Ereignisses der Kreuzesoffenbarung darstellen. 84 François Vouga unterscheiden sich die Heuchler von den Gerechten nicht: Sie geben Almosen, beten und fasten. Die Trennungslinie läuft auf der Ebene der geistigen, existentiellen Haltung. Die Jünger Jesu vertrauen auf eine freie Reziprozität mit ihrem himmlischen Vater, der ins Verborgene sieht, während die Heuchler ihre Gerechtigkeit auf die Menschen hin ausrichten und ihren Lohn entsprechend nur von ihnen und rein immanent erhalten. Kann man so erklären, dass Johannes der Täufer auf dem Weg der Gerechtigkeit kam, aber die Hohenpriester und Pharisäer nicht mit Vertrauen antworteten und es später auch nicht bereuten, während die Zöllner und die Prostituierten glaubten (21,32)? Hypothese 10: Als verantwortliche Antwort auf die gute Nachricht von der nah gewordenen Gegenwart der Befreiungskraft der Herrschaft der Himmel und als Eintrittsbedingung in seinen Herrschaftsbereich lädt der Redaktor des MtEv seine Leser zu einer Gerechtigkeit ein, die er im Laufe der narrativen Fiktion seines Evangeliums als das Vertrauen in die rechtfertigende Umsonstheit des himmlischen Vaters definiert. 14 Hypothese 11: Die Definition der Eintrittsbedingungen in die Herrschaft der Himmel zu Beginn der Antithesen der Bergpredigt (5,20) findet ihre sachliche Entsprechung in der abschließenden Zusammenfassung (5,48): Ihr werdet vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist. Da die Vollkommenheit des himmlischen Vaters in der sechsten Antithese paradox dadurch beschrieben wurde, dass er seine Sonne über Bösen und Guten aufgehen und auf Gerechte und Ungerechte regnen lässt, versteht der Leser, dass die Vollkommenheit als bedingungslose Anerkennung der Personen unabhängig von ihren Eigenschaften (in der matthäischer Sprache: als Freundes- und als Feindesliebe, 5,43-47) und folglich als Ende der Vollkommenheitsideale verstanden werden soll. Die Redestücke, die das matthäische Kirchenverständnis entfalten (16,13- 20,34), nehmen die Frage der Eintrittsbedingung in die basileia tōn ouranōn unter zwei verschiedenen Perspektiven wieder auf. Zwei komplementäre Szenen ergänzen sich gegenseitig. (a) Die Metapher der Kinder lädt positiv ein, die Bedingungslosigkeit der freien Gnade wahrzunehmen, und sie verdeutlicht den Vertrauenscharakter einer verantwortlichen Antwort (19,14): 15 14 Die matthäische Unterscheidung zwischen Gerechtigkeit und Heuchelei kann als anthropologisch-theologisches Äquivalent der in Röm 4,2 formulierten Unterscheidung gelesen werden: Wenn Abraham aus Werken gerechtfertigt wurde, hat er Ruhm - aber nicht vor Gott. 15 Kinder sind in den Gesellschaften der hellenistischen Antike dadurch gekennzeichnet, dass sie keine religiöse Leistungen erbringen können, so A. Lindemann, Die Kinder und Gottes- und Himmelsherrschaft im Matthäusevangelium 85 Jesus sagte: Lasst die Kinder und hindert sie nicht, zu mir kommen, denn solchen gehört die Herrschaft Gottes. (b) Negativ warnt der Dialog zwischen Jesus und den Jüngern, der auf die Szene mit dem reichen Jüngling folgt, vor der Illusion, sich selbst immanent retten zu wollen und den Eingang in den transzendenten Herrschaftsbereich der befreienden Umsonstheit der Gnade Gottes mit dem verzweifelten und unglücklichen Versuch, Sinn und Sicherheit der Existenz zu kaufen, vereinbaren zu können (19,23-26): (23) Jesus sagte seinen Jüngern: Amen, ich sage euch dass ein Reicher in die Herrschaft der Himmel schwer eintreten wird. (24) Wiederum sage ich euch, einfacher ist es, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr eintritt als ein Reicher in die Herrschaft Gottes. (25) Gehört habend waren die Jünger sehr bestürzt, sagend: Wer kann dann gerettet werden? (26) Sie angeblickt habend sagte ihnen Jesus: Bei Menschen ist das unmöglich, bei Gott ist alles möglich. Hypothese 12: Das symmetrische, gegensätzliche Paar der Einladung mit der positiven Symbolik der Kinder (19,14) einerseits und der Warnung mit der negativen Symbolik der Reichen (19,23-26) andererseits wiederholt mit zwei anthropologischen Variationen die beiden Aspekte der paradoxen, theologischen Definition der Gerechtigkeit als programmatische Formulierung der Eintrittsbedingung in die Herrschaft der Himmel (5,20). die Gottesherrschaft. Markus 10,13-16 und die Stellung der Kinder in der späthellenistischen Gesellschaft und im Urchristentum“, WuD NF 17/ 1983, 77-104, wiederveröffentlicht in: ders., Die Evangelien und die Apostelgeschichte (WUNT 241), Tübingen 2009, 109-134. 86 François Vouga 3.2 Die paradoxen Hierarchien der Verantwortung als Ende der Größenideale Logisch korrekt würde man denken, dass notwendigerweise der Gedanke der Umsonstheit und die Definition der evangelischen Vollkommenheit als Ende der Vollkommenheitsideale (5,48) mit jeder hierarchischen Vorstellung unvereinbar ist. Die in 5,19 aufgeworfene Frage nach der „Größe“ in der basileia tōn ouranōn dürfte dann eigentlich gar nicht gestellt werden, und die Frage der Jünger, wer der größte in der Herrschaft der Himmel sei (18,1), schiene sicher fehl am Platz, wenn nicht Jesus in der Bergpredigt zuvor eine erste Antwort gegeben hätte (5,17-19): (17) Denkt nicht, dass ich gekommen bin, um das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Ich bin nicht gekommen, um aufzulösen, sondern um zu erfüllen. (18) Denn wahrlich, ich sage euch: - Bis der Himmel und die Erde vergehen, wird nicht ein Jota und nicht ein Strichlein vom Gesetz vergehen, bis alles geschehen ist. (19) Wer also ein einziges dieser kleinsten Gebote auflöst und die Menschen so lehrt, wird der Kleinste heißen in der Herrschaft der Himmel. Wer aber sie tun und lehren wird, der wird groß heißen in der Herrschaft der Himmel. Die einleitende Beseitigung des möglichen Missverständnisses nimmt die Erfüllungszitate des Anfangs des Evangeliums (1,22-23; 2,15.17-18.23; 4,14-16, vgl. 2,5-6; 3,3; 4,4.6.10) hermeneutisch wieder auf. Die Herrschaft der Himmel ist nicht ohne Heimat, und Jesus ersetzt das Gesetz und die Propheten, das heißt das Wort Gottes, das im Kanon der Schriften Israel steht, nicht, sondern gibt ihnen ihren Sinn und ihre wahre Bedeutung, indem er sie nach der Intention des Autors auslegen wird. Daraus folgt für die matthäische Schriftauslegung, dass (13,52) jeder Schriftgelehrte 16 , der zum Jünger durch und für die Herrschaft der Himmel gemacht wurde, einem Hausherr vergleichbar ist, der aus seinem Schatz Neues und Altes holt. 16 Als christliche Ämter kennt Matthäus Propheten, Weise und Schriftgelehrte (23,34). Vorausgesetzt ist, dass die Schriftgelehrten dadurch qualifiziert werden, dass sie als pharisäische oder christliche Exegeten (13,52; 23,34) arbeiten. Gottes- und Himmelsherrschaft im Matthäusevangelium 87 Fundiert ist dieser hermeneutische Grundsatz in der betont an den Anfang der Antithesen gestellten und christologisch begründeten Gewissheit, dass eher die ganze Schöpfung vergeht, als dass das Wort Gottes, wie es in der durch die Autorität der Christusauslegung erfüllten Schrift enthalten ist, seine Festigkeit verlieren würde (5,18). 17 Daraus folgt für die matthäische Ekklesiologie, dass die Herrschaft der Himmel Lehrende braucht, Propheten, Weise und Schriftgelehrte, die das Gesetz als Ausdruck des Willens Gottes treu und vollständig auslegen und predigen werden. 18 Der deutliche Akzent der beiden symmetrischen, kasuistischen Sätze auf die Lehrtätigkeit fällt auf: Als der Kleinste wird derjenige bezeichnet werden - immerhin in der Herrschaft der Himmel -, der auch nur ein kleinstes Gebot auflöst und die Menschen so lehrt. Groß (nicht der Grösste! ) wird dagegen genannt werden, wer es tut und lehrt. Verwiesen wird auf eine Verantwortung der christlichen Lehrer nicht nur in den Gemeinden, sondern vor der ganzen Menschheit (5,19). Der Sinn des matthäischen Bestehens auf der Beachtung und der Vermittlung der kleinsten Gebote (5,19) erschließt sich durch die direkt anschließende Begründung („denn“, 5,20). Diese Begründung unterscheidet die „mehr übermässige“, ganz andere Gerechtigkeit, vom mt Jesus als Erfüllung der Schrift angekündigt (5,17) und in den sechs Antithesen (5,21-48) paradigmatisch vorgestellt, von der immanenten Gerechtigkeit der pharisäischen Schriftgelehrten, die er als Heuchelei kennzeichnen wird. Hypothese 13: Die Größe in der Herrschaft der Himmel entsteht nicht aus einer genauen und vollständigen Beachtung des Buchstabens der einzelnen Vorschriften des Gesetzes, als ob die Auflösung oder die Beachtung der kleinsten Gebote quantitativ gedacht wäre. Gemeint ist vielmehr ein qualitativer Systemwechsel weg von einer Logik des Tauschs, der sich - wie die Verwechselung zwischen Gerechtigkeit und Heuchelei zeigt - immanent verrechnen lässt, hin zum Geist der Gabe als Herrschaftsbereich der Umsonstheit. Hypothese 14: Der Lehrdialog zwischen Jesus und den Jüngern über die Frage, wer der Größere in der basileia tōn ouranōn sei, bringt als notwendige Ergänzung eine paradoxe Neudefinition von Größe (18,1-4): 17 Calvin, Harmonie, 157. 18 „La raison de ceste manière de parler est, pource que Dieu en renouvelant le monde par la main de son Fils a parfaitement ordonné l’estat de son Royaume. Ainsi doncques, Christ dit que quand son Eglise sera renouvelée, il n’y faudra recevoir pour Docteurs, sinon ceux qui seront fidèles expositeurs de la Loy, et mettront peine de maintenir icelle en tout et pour tout“, so Calvin, Harmonie, 157. 88 François Vouga (1) In jener Stunde traten die Jünger zu Jesus, sagend: Wer ist denn der Größere in der Herrschaft der Himmel? (2) Und, ein Kind herbeigerufen habend, Stellte er es in ihre Mitte (3) und sagte: Amen ich sage euch, Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr in die Herrschaft der Himmel nicht eintreten. (4) Also: Wer sich erniedrigt wie dieses Kind, ist der Größere in der Herrschaft der Himmel. Positiv und mit Radikalität verhindert die direkte Antwort jede denkbare Wiedereinführung von Hierarchien in den Herrschaftsbereich der Himmel. Diese Antwort besteht darin, dass sie die Aufmerksamkeit auf die symbolische Realpräsenz des Kindes lenkt. Damit verhindert sie auch die Rückkehr von der geschenkten Freiheit des Geistes der Gabe in die immanente Logik des Tausches und die unglückliche Verwandlung der Gerechtigkeit in Heuchelei. Schlussthese: Das Glück der Gerechtigkeit und der Verantwortung des Vertrauens als Herrschaftsbereich der Himmel und als Wahrheit der Existenz Die beiden Gleichnisse vom Schatz im Acker (13,44) und von der Perle (13,45- 46) lassen keinen Zweifel: Das Ziel des MtEv besteht im Glück und in der Freude der Menschen. Die gute Nachricht der nah gewordenen basileia tōn ouranōn, die Johannes der Täufer in der judäischen Wüste verkündigt (3,2) und die Jesus universalisiert (4,17), führt literarisch und innerhalb der jüdischen Auslegungstraditionen die doppelte Frage nach der Wahrheit Gottes und der Wahrheit der menschlichen Existenz wieder ein. In narrativer Form entfaltet die mt Erzählung eine Antwort, die die Gegenwart der Herrschaft Gottes mit dem bereits in den Paulusbriefen durchdachten Begriff der Gerechtigkeit als adäquates Verhältnis zu Gott 19 - als Gabe - und mit der Einladung zum Vertrauen in den himmlischen Vater - als verantwortliche Antwort - interpretiert. Und der Evangelist bekennt (11,11): Kein Größerer als Johannes der Täufer ist unter von Frauen Geborenen aufgetreten. Aber der Kleinere in der basileia tōn ouranōn ist größer als er. 19 F. C. Baur, Vorlesungen über neutestamentliche Theologie, 1864, 132-135. Kontroverse Ist hilastērion in Röm 3,25 eine Versöhnungsgabe? Einleitung in die Kontroverse Christian Strecker Die Heilsbedeutung des Todes Jesu ist seit geraumer Zeit Gegenstand komplexer theologischer und exegetischer Debatten. Mit Nachdruck sprachen sich in jüngerer Zeit Theologen und Theologinnen für einen „Abschied vom Opfertod Jesu“ aus. Die klassische Deutung des Todes Jesus sei, so die Argumentation, eine unzeitgemäße Auslegung der soteriologischen Relevanz des Todes Jesu, die dem modernen Menschen nicht mehr zugemutet werden könne. Auf evangelischer Seite machte sich Klaus-Peter Jörns für diese Position stark, auf katholischer Seite war es Manfred Limbek. Neben Zustimmung stießen beide Theologen auch auf Kritik. Die Rede vom Opfertod Jesu gehöre, so wurde eingewendet, zum unaufkündbaren Kernbestand des christlichen Glaubens. Und weiter: Das moderne Empfinden könne nicht zum Kriterium für die Deutung unbequemer Aussagen der christlichen Botschaft erhoben werden. Tatsächlich lässt sich nicht bestreiten, dass frühe Christen das kultische Opferritual am Versöhnungstag als Deutungskategorie heranzogen, um die Bedeutung des Todes Jesu zu erfassen. So interpretiert der Hebräerbrief den Tod Jesu in typologischer Manier unmissverständlich als hohepriesterliches Selbstopfer. Aber welches Gewicht kommt dieser Deutung im Rahmen des ntl. Gesamtzeugnisses zu? Ist es angemessen, das sühnende Opfer als den einen zentralen Deutungshorizont zu bestimmen, Zeitschrift für Neues Testament 23. Jahrgang (2020) Heft 46 90 Christian Strecker von dem her alle ntl. Aussagen über die Heilsrelevanz des Todes Jesu zu beurteilen sind? Diese Frage wurde in den letzten Jahrzehnten intensiv debattiert. Die dargelegte Debatte bildet den Rahmen, innerhalb dessen die Kontroverse zwischen Stefan Schreiber und Wolfgang Kraus über das rechte Verständnis der Aussagen in Röm 3,25 und der Vokabel hilastērion zu verorten ist. Die Schlüsselfrage lautet: Vor dem Hintergrund welcher rituellen Praxis wird Jesus Christus in Röm 3,25 metaphorisch als hilastērion identifiziert? Sind die Aussagen in Röm 3,25 primär in der atl.-jüdischen Lebenswelt verankert? Markiert hilastērion genauerhin die im hohepriesterlichen Ritual am Jom Kippur mit Blut besprengte Deckplatte der Bundeslade (hebr. kapporät)? Oder erschließt sich der Sinn der Aussagen gar nicht aus der jüdischen, sondern aus der griechisch-römischen Lebenswelt? Ist der Bezugspunkt mithin die griechisch-römische Praxis von Weihegaben an bestimmte Götter? Steht hilastērion in Röm 3,25 folglich für ein Weihegeschenk? Die letztgenannte Meinung vertritt Stefan Schreiber. Die klassische Auslegung, wonach Röm 3,25 auf das Jom-Kippur-Ritual rekurriert, verwirft er unter Verweis auf diverse Probleme, die diese Auslegung aufwirft. Stattdessen, so Schreiber, liege in Röm 3,25 eine bei Paulus auch sonst belegbare Heranziehung von Metaphern aus der griechisch-römischen Lebenswelt vor. Der konkrete Referenzpunkt sei die Weihepraxis. Dabei akzentuiere die Vokabel hilastērion gegenüber dem Standardbegriff für Weihegeschenke (anathema) speziell die versöhnende Funktion eines den Göttern gewidmeten Weihegeschenks, weshalb Schreiber die Übersetzung „Versöhnungsgabe“ wählt. Röm 3,25 variiere die Weihepraxis indes an zwei Punkten: Kein Mensch, sondern Gott selbst stifte hier das Weihegeschenk zur Versöhnung mit den Menschen. Dieses wiederum sei nicht wie üblich ein Gegenstand, sondern Jesu Tod. Wolfgang Kraus hält dagegen an dem klassischen Rekurs auf Lev 16 fest. Er kontert Schreibers Kritikpunkte an der Referenz von hilastērion auf den Deckel der Bundeslade und macht umgekehrt Probleme geltend, die mit Schreibers Deutung auf ein Weihegeschenk einhergehen. V.a. aber indizieren für ihn die Thematisierungen von Sünde, Sündentilgung und des „Sterbens für“ im näheren Kontext (Röm 1-3.5) wie auch die verwandte Argumentation in 2Kor 5,14-21, dass Röm 3,25 Jesu Tod im Kontext der Praktiken am jüdischen Versöhnungstag beleuchtet. Insgesamt führt die Kontroverse den großen Bedeutungsspielraum der Aussagen in Röm 3,25 vor Augen. Ungeachtet aller Differenzen stimmen beide Positionen aber darin überein, dass Röm 3,25 Jesu Tod als Zuwendung Gottes und insofern als heilvolle Gabe Gottes expliziert. Christus als hilastērion in Röm 3,25: Gottes Versöhnungsgabe Stefan Schreiber An einer einzigen Stelle in seinen Briefen, in Röm 3,25, verwendet Paulus den Begriff hilastērion, um Gottes Heilszuwendung zu kennzeichnen, die er den sündigen Menschen in Jesus Christus schenkt. Paulus spielt den Begriff ohne weitere Erklärung ein, sodass sein religionsgeschichtlicher Hintergrund und sein soteriologischer Diskursbeitrag für uns nicht unmittelbar verständlich sind. Wie man den Begriff auch übersetzt - Sühnemal, Sühnestätte, Gnadenort, Versöhnungsgeschenk -, die Verbindung mit dem Tod Jesu, der eine heilvolle Wirkung freisetzt, stellt eine uns fremde Vorstellung aus der antiken Welt dar, in der Opfertod, Ersatztod und das „Gnädigstimmen“ (oder Versöhnen) einer (erzürnten) Gottheit zu den kulturellen Denkmustern zählten. 1. Die Deutung auf dem Hintergrund des Versöhnungstages von Lev-16 Die Herkunft und Bedeutung von hilastērion sind in der Exegese umstritten. Die verbreitete Deutung geht, bibeltheologisch orientiert, von der Beobachtung aus, dass hilastērion im Septuaginta-Pentateuch, wo sich mit 21 Belegen ein großer Teil der antiken Belege findet, den hebräischen Begriff kapporæt wiedergibt. 1 Bei der kapporæt handelt es sich nach Ex 25,17-22 um einen kultischen Ort im ersten Tempel, eine goldene Platte, an deren Seiten sich zwei geflügelte Cherubim befinden und die auf der Bundeslade lag 2 - also die „Deckplatte“ oder, 1 LXX Ex 25,17-22 (7 Belege); 31,7; 35,12; 38,5-8 (4 Belege); Lev 16,2 (2 Belege); 16,13-15 (5 Belege); Num 7,89. 2 Zur kapporæt und den Riten von Lev 16: B. Jürgens, Heiligkeit und Versöhnung. Levitikus 16 in seinem literarischen Kontext (HBS 28), Freiburg u. a. 2001; W. Kraus, Der Tod Jesu Prof. Dr. Stefan Schreiber studierte 1988-1993 Katholische Theologie in Augsburg und Vallendar. Promotion 1995 an der Universität Augsburg mit der Arbeit Paulus als Wundertäter. Redaktionsgeschichtliche Untersuchungen zur Apostelgeschichte und den authentischen Paulusbriefen (BZNW 79, Berlin/ New York 1996). Habilitation 1999 an der Universität Augsburg mit der Arbeit König und Gesalbter. Titel und Konzeptionen der königlichen Gesalbtenerwartung im Frühjudentum (publiziert unter dem Titel Gesalbter und König, BZNW 105, Berlin/ New York 2000). 2003-2010 Universitätsprofessor und Direktor des Seminars für Zeit- und Religionsgeschichte des Neuen Testaments an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Seit 2010 Lehrstuhlinhaber für Neutestamentliche Wissenschaft an der Universität Augsburg. Zeitschrift für Neues Testament 23. Jahrgang (2020) Heft 46 92 Stefan Schreiber stärker funktional gedacht, „Sühnestätte“ an der Bundeslade im ersten Tempel. Lev 16,11-17 LXX beschreibt speziell einen Blutritus im Jerusalemer Tempel, der am Jom Kippur, dem Versöhnungstag, vollzogen werden soll und der Reinigung des (Hohe-)Priesters, seines Hauses und ganz Israels dient. Der Priester (Aaron) schlachtet einen Bock „für die Sünde für das Volk“, sprengt das Blut einmal an die Seite des hilastērion und siebenmal davor und bewirkt so kultische Reinigung (Lev 16,15). Deutet man auf diesem Hintergrund Röm 3,25, übernimmt Jesus als hilastērion die Funktion des Blutritus am Jom Kippur und tritt so an die Stelle des Sühneortes bzw. Sühnerituals. Ein typologisches Verständnis liegt dann nahe: „An die Stelle der im Tempel verborgenen kapporæt und des auf sie bezogenen Sühneritus hat Gott Jesus treten lassen, der durch ‚sein Blut‘, d. h. durch seine Lebenshingabe Sühne wirkte“. 3 Oder kultmetaphorisch formuliert: „Die Einsetzung zum hilastērion hat mit ‚Weihe‘ des Ortes der Sühne, Präsenz und Offenbarung Gottes zu tun“; „Jesus wurde aufgrund seiner Lebenshingabe als hilastērion, als Ort, an dem Gott anzutreffen ist, inauguriert“. 4 Diese Auslegung stellt die Rezeption jedoch vor begriffliche und sachliche Probleme. Die Referenz von hilastērion ist im Tanach nicht eindeutig: Die „Deckplatte“ erfüllt in Num 7,89 eine andere Funktion als Ort der Offenbarung Gottes, Ez 43 bezeichnet damit einen anderen kultischen Ort, eine Stufe am endzeitlichen Brandopferaltar, und Am 9,1 bleibt unklar (ein Säulenkapitell, ein kultischer Ort? ). Es fehlt die konkrete Anschauung zur Rezeption der hilastērion-Metapher, denn mit der Zerstörung des ersten Tempels 586 v. Chr. ging die Bundeslade zusammen mit der Deckplatte verloren. Die Metaphorik in Röm 3,25 erschwert die Rezeption, da Jesus als Opfer („in seinem Blut“) und zugleich als Stätte dieses Opfers erscheint. Da Paulus nur den Begriff hilastērion ohne weitere Erklärung verwendet, ist unklar, ob die Anspielung auf Lev 16 den Gegenstand „Deckplatte“, die Riten und Funktion des Jom Kippur oder den gesamten Tempelkult meinen soll. 5 Problematisch wird dies dann, wenn man als Heiligtumsweihe. Eine Untersuchung zum Umfeld der Sühnevorstellung in Römer 3,25-26a (WMANT 66), Neukirchen-Vluyn 1991. 3 J. Roloff, Art. hilastērion, EWNT Bd. 2, 2 1992, 455-457, 456. Vgl. R. Jewett, Romans. A Commentary (Hermeneia), Minneapolis 2007, 284-290; C.A. Eberhart, Kultmetaphorik und Christologie. Opfer- und Sühneterminologie im Neuen Testament (WUNT 306), Tübingen 2013, 160-170. Anders sieht M. Wolter, Der Brief an die Römer. Bd. I (EKK VI/ 1), Ostfildern / Göttingen 2014, 256-259 keine typologische Identifikation Jesu mit dem hilastērion, da es sich um ein Abstraktum handele; der Tod Jesu stehe in einer funktionalen Analogie zum Blutritus des Versöhnungstags. 4 W. Kraus, Der Erweis der Gerechtigkeit Gottes im Tod Jesu nach Röm 3,21-26, in: L. Doering / H.-G. Waubke / F. Wilk (Hg.), Judaistik und neutestamentliche Wissenschaft (FRLANT 226), Göttingen 2008, 192-216, 214f. 5 Die Unklarheit spiegelt sich in unterschiedlichen Auslegungen. Nach Kraus, Erweis, 206 bildet nicht die Sühne für persönliche Sünden, sondern die „Reinigung bzw. Weihe des Christus als hilastērion in Röm 3,25: Gottes Versöhnungsgabe 93 eine Ablösung des Jom Kippur durch Christus aus dem Text erschließt. Diese Unklarheiten führen mich zu einer Zwischenüberlegung in Bezug auf den Rezeptionshorizont der römischen Briefadressaten. 2. Der Rezeptionshorizont der Adressatinnen und Adressaten in Rom Entscheidend für das Verständnis der Aussage von Röm 3,25 sind die kulturellen Voraussetzungen der römischen Christen, an die der Römerbrief adressiert ist. Es handelt sich nicht um Tempelpriester in Jerusalem oder pharisäische Schriftgelehrte, sondern um Christus-Gemeinden in Rom, die überwiegend aus Heidenchristen bestanden (Röm 1,5f.13; 11,13.17; 15,15f.18). Es erscheint fraglich, ob diese beim Hören des Begriffs hilastērion ohne weitere Erklärung an den Jom Kippur und die damit verbundenen Funktionen denken konnten und ob sie genau wussten, welcher Ritus (Blutritus am hilastērion, Verbrennung der Opfermaterie, Sündenbockritual) welche Funktion besaß. Heiligtums“ den Bezugspunkt. M. Tiwald, Christ as Hilastērion (Rom 3: 25). Pauline Theology on the Day of Atonement in the Mirror of Early Jewish Thought, in: T. Hieke / T. Nicklas (Hg.), The Day of Atonement. Its Interpretations in Early Jewish and Christian Traditions (Themes in Biblical Narrative 15), Leiden / Boston 2012, 189-209, 205 f. interpretiert hingegen den Bezug sehr weit: hilastērion „as a metonymic pars pro toto expression“ für den Jom Kippur, ja den ganzen Tempelkult, sodass in Jesu Tod „the apex of fulfilment of all the expectations of redemption has now been reached“; Christus sei „the deepest fulfilment of all that temple service stood for in the now upcoming eschaton“ (kursiv i. O.). Jewett, Romans, 290 spricht direkt von „replacement of the temple“. Prof. Dr. Stefan Schreiber studierte 1988-1993 Katholische Theologie in Augsburg und Vallendar. Promotion 1995 an der Universität Augsburg mit der Arbeit Paulus als Wundertäter. Redaktionsgeschichtliche Untersuchungen zur Apostelgeschichte und den authentischen Paulusbriefen (BZNW 79, Berlin/ New York 1996). Habilitation 1999 an der Universität Augsburg mit der Arbeit König und Gesalbter. Titel und Konzeptionen der königlichen Gesalbtenerwartung im Frühjudentum (publiziert unter dem Titel Gesalbter und König, BZNW 105, Berlin/ New York 2000). 2003-2010 Universitätsprofessor und Direktor des Seminars für Zeit- und Religionsgeschichte des Neuen Testaments an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Seit 2010 Lehrstuhlinhaber für Neutestamentliche Wissenschaft an der Universität Augsburg. 94 Stefan Schreiber Aber auch denjenigen, die mit der Jom Kippur-Überlieferung aus Lev 16lxx vertraut waren, dürfte ein Bezug auf den Jom Kippur in Röm 3,25 problematisch erschienen sein. Sie wären unweigerlich mit der theologischen Konsequenz konfrontiert, dass Jesu Tod die Ablösung des Jom Kippur, die christologisch begründete Außerkraftsetzung dieses Rituals, oder wenigstens eine starke Relativierung seiner Funktion bedeuten würde. Dagegen steht aber die jüdische Hochschätzung des Jom Kippur. 6 Von Paulus, der auch als Christus-Anhänger noch Jude war (Röm 9,3; 11,1), würden die Rezipienten eine vertiefte Reflexion über das Verhältnis des Todes Jesu zum Jom Kippur erwartet haben und keine unklare Andeutung der drastischen Konsequenz seiner Abschaffung. Auch sonst zeigt sich Paulus im Römerbrief als jüdisch geprägter Denker, der eine neue Interpretation und Anwendung der Tora aus der Perspektive des Christus- Ereignisses ausführlich begründet (vgl. Röm 7,1-25; 13,8-10). Es ist unwahrscheinlich, dass er keine Erklärung einer begrifflichen Andeutung geboten hätte, um drohende Missverständnisse auszuschließen. Andererseits verwendet Paulus gerne Metaphern, die aus der griechisch-römischen Lebenswelt seiner Zeit stammen. So vergleicht er in Gal 3,24 die Tora mit einem Pädagogen, wie er in der antiken Erziehung von Kindern (aus wohlhabenden Familien) eine Rolle spielte. In 1-Thess 2,2 begreift er die Verkündigung des Evangeliums auf dem Hintergrund eines athletischen Wettkampfs. Und in syntaktischem Zusammenhang mit der hilastērion-Aussage beschreibt er in Röm 3,24 die Wirkung des Christus-Ereignisses als Loskauf, wie ihn die antike Welt als Loskauf von Kriegsgefangenen und Sklaven kennt. 3. Die Alternative: versöhnendes Weihegeschenk Eine Herleitung des hilastērion-Motivs aus der griechisch-römischen Kultur erscheint vielversprechend. 7 In der Antike war die Praxis von Weihegaben an bestimmte Gottheiten geläufig und konnte so leicht als Metaphernbereich wachgerufen werden. Antike Menschen konnten ein Anliegen wie eine Krankheit, einen unerfüllten Kinderwunsch oder eine gefahrvolle Reise vor die zuständige 6 Dazu D. Stökl Ben Ezra, The Impact of Yom Kippur on Early Christianity. The Day of Atonement from Second Temple Judaism to the Fifth Century (WUNT 163), Tübingen 2003. 7 Vgl. schon A. Deißmann, ΙΛΑΣΤΗΡΙΟΣ und ΙΛΑΣΤΗΡΙΟN. Eine lexikalische Studie, ZNW 4/ 1903, 193-212. Dann S. Schreiber, Das Weihegeschenk Gottes. Eine Deutung des Todes Jesu in Röm 3,25, ZNW 97/ 2006, 88-110; ders., Weitergedacht: Das versöhnende Weihegeschenk Gottes in Röm 3,25, in: ZNW 106/ 2015, 201-215. Vgl. C. Eschner, Gestorben und hingegeben „für“ die Sünder. Bd. I (WMANT 122), Neukirchen-Vluyn 2010, 45-51. Christus als hilastērion in Röm 3,25: Gottes Versöhnungsgabe 95 Gottheit bringen und mit dem Gelübde verbinden, im Falle der Gewährung der Gottheit ein Weihegeschenk, eine Art Votivgabe, darzubringen. Mit dem Gelübde verband sich die Bitte an die Gottheit um eine bestimmte Leistung, und für den Fall der Erfüllung dieser Leistung stellt der Bittende eine Gegenleistung in Aussicht. 8 Erhalten sind vielfältige Weihegeschenke in privaten Anliegen: Bronze- und Tonfiguren, Holz- und Tontafeln, Standbilder, Denkmäler, Gemälde, Gefäße, Dreifüße. Teilweise erläutern Inschriften das Anliegen oder die geschehene Hilfeleistung. Weihegeschenke sind regelrechte Massenphänomene, meist serienmäßig nach bestimmten Typen produziert. 9 In Rom hat man bei Grabungen im Tiber haufenweise Körpervotive, Terrakotten menschlicher Körperteile, gefunden, die im Zusammenhang mit dem Aesculapius-Kult auf der Tiberinsel stehen. 10 Im öffentlichen Bereich begegnen Weihegeschenke in größeren Dimensionen, z. B. als Tempel, Altäre, Kultbilder und Grundstücke. Die Praxis von Weihegeschenken ist auch für die jüdische Kultur bezeugt. 11 Der antike Standardbegriff für solche Weihegeschenke ist anathēma (oder anathema), der in einer Vielzahl von Texten und Inschriften begegnet. In acht Inschriften und Texten aus den beiden Jahrhunderten um die Zeitenwende findet sich jedoch auch der Begriff hilastērion. 12 Als Beispiel führe ich eine Inschrift von der Insel Kos an: Das Volk (gab/ weihte) für das Heil des Imperator Caesar, Sohn eines Gottes, Augustus, den Göttern ein hilastērion. 13 Genannt wird ein menschlicher Urheber des hilastērion, als Adressat eine Gottheit, hier auch ein Begünstigter („für“). Ein Verb erscheint, wie für Inschriften nicht untypisch, nicht; ergänzt werden kann „geben“ oder „weihen“. Dabei stellt hilastērion (wie charistērion, eucharistērion und dōron) eine Unterkategorie von anathēma dar, sprachwissenschaftlich ausgedrückt ein Hyponym zum Hyperonym (Oberbegriff) anathēma. 14 Das spiegelt sich in einer Aussage 8 J. Rüpke, Die Religion der Römer. Eine Einführung, München 2001, 162. 9 Rüpke, Religion, 155. 10 Rüpke, Religion, 161; M. Guarducci, L’ Isola Tiberina e la sua tradizione ospitaliera, RAL Ser. VIII 26, 1971, 267-281; umfassende Hintergründe, Katalog und Abbildungen bei P. Pensabene u. a., Terracotte Votive dal Tevere (Studi Miscellanei 25), Rom 1980. 11 Vgl. 1- Chr 28,12; 2- Makk 2,13; Jdt 16,19; Josephus ant. 14,34-36; 18,18f.; Lk 21,5; slHen 45,2. 12 Vgl. Schreiber, Weihegeschenk, 100 f.; ergänzt von A. Weiß, Christus Jesus als Weihegeschenk oder Sühnemal? Anmerkungen zu einer neueren Deutung von hilastērion (Röm 3,25) samt einer Liste der epigraphischen Belege, ZNW 105/ 2014, 294-302, 297. 13 W.R. Paton / E.L. Hicks (Hg.), The Inscriptions of Cos, Oxford 1891 (Nachdruck Hildesheim 1990), 126 Nr. 81. Zur Übersetzung vgl. Weiß, Christus, 296. 14 Zum Nachweis Schreiber, Weitergedacht, 207-209. 96 Stefan Schreiber bei Dion Chrysostomus im Kontext seiner Darstellung der Troja-Geschichte. Da die Griechen keine Rückerstattung der Kriegskosten und Wiedergutmachung an die Troer leisten können, finden sie eine andere Möglichkeit, um eine „gewisse Gerechtigkeit“ geschehen zu lassen (or. 11,121): Denn sie (die Griechen) wollen ihnen (den Troern) ein sehr schönes und großes Weihegeschenk (anathēma) für Athena zurücklassen mit der Aufschrift: Als Versöhnungsgabe (hilastērion) (gaben/ weihten dies) die Achaier der trojanischen Athena. 15 Nach Dion handelte es sich dabei um das berühmte hölzerne Pferd. Die Variation der Terminologie verweist auf eine Spezifizierung der Bedeutung von hilastērion im Vergleich zum Oberbegriff anathēma. Diese spezielle Bedeutung ergibt sich aus der Wortfamilie, die durch das Verb hilaskomai repräsentiert ist: „versöhnen, sich eine Gottheit geneigt, gewogen, gnädig machen“. 16 Damit liegt eine Übersetzung mit „versöhnendes Weihegeschenk“, „Versöhnungsgeschenk“ oder „Versöhnungsgabe“ nahe. 17 Wendet man sich an eine Gottheit, die durch ein Fehlverhalten erzürnt ist, mit dem Anliegen, Vergebung und Versöhnung zu erlangen, konnte das Weihegeschenk, das man dazu aufstellte, als hilastērion, als „Versöhnungsgabe“ bezeichnet werden. 4. Anwendung: Christus als „Versöhnungsgabe“ in Röm 3,25 Wenn Paulus in Röm 3,25 vom Hin- oder Aufstellen (proetheto) 18 des hilastērion durch Gott spricht und so den sichtbaren, öffentlichen Charakter unterstreicht, steuert er die Rezeption: Das entspricht der bekannten Praxis des Aufstellens von Weihegeschenken. Seine metaphorische Anwendung von hilastērion auf die Bedeutung des Todes Jesu verändert jedoch in zwei Aspekten die bekannte kulturelle Praxis und lässt aufhorchen. 15 Zur Übersetzung Weiß, Christus, 299; Schreiber, Weitergedacht, 208. 16 F. Passow, Handwörterbuch der Griechischen Sprache I/ 2, Leipzig 5 1847, Nachdruck Darmstadt 2008, 1478. Er nennt auch die Bedeutung ‚sühnen‘. 17 Weiß, Christus, 301 schlägt „Sühnemal“ als deutsche Übersetzung von hilastērion vor. Doch der Begriff „Sühne“ verdankt sich nicht den antiken Quellen, sondern der theologischen Beschreibungssprache. Er stammt aus dem germanischen Rechtswesen und bezeichnet dort die Entstörung eines gestörten sozialen Verhältnisses. In der Theologie wird er jedoch gerne als Umschreibung kultischer Opferhandlungen, die eine Wiedergutmachung vor Gott bewirken, gebraucht. Der Begriff bleibt unscharf und zur präzisen Beschreibung ungeeignet. 18 Weil hilastērion, das hier als Objekt von proetheto steht, immer einen Gegenstand bezeichnet, keinen Opfervorgang, kann das Verb hier nicht auf die Darbringung eines Opfers deuten. Christus als hilastērion in Röm 3,25: Gottes Versöhnungsgabe 97 Erstens stellen in der griechisch-römischen Welt Menschen Weihegeschenke für eine Gottheit auf, um ein Gelübde einzulösen oder sie gnädig zu stimmen. Bei Paulus ist es jetzt umgekehrt Gott, der im Tod Jesu ein Weihegeschenk zur Versöhnung mit den Menschen aufstellt. Dieses Geschehen können sich die Hörer bzw. Leser des Briefes, der Bildwelt entsprechend, konkret vorstellen. Dass die Funktion der Versöhnung das Geschehen bestimmt, wird darin sichtbar, dass Paulus statt des gängigen Begriffs anathēma das seltene hilastērion benutzt. Die Pointe besteht dann darin, dass Gott gleichsam Menschen „gnädig stimmen“, mit sich versöhnen, in eine Beziehung zu sich bringen will. Zweitens bezieht sich hilastērion, das sonst immer einen Gegenstand bezeichnet, hier auf den gewaltsamen Tod Jesu. Dieser ist durch die Apposition „in seinem Blut“ ausgedrückt, die metonymisch das durch Gewalt verursachte Sterben eines Menschen meint. 19 Speziell an Opferblut in einem kultischen Kontext ist dabei nicht zu denken. Daher ist der Präpositionalausdruck „in seinem Blut“ auch nicht als Hinweis zu verstehen, der die Rezeption auf den Kontext von Ex 25 bzw. Lev 16 lenken würde. Wenn Philo (vit. Mos. 2,95.97; fug. 100 f.; her. 166; cher. 25) oder der Autor des Hebräerbriefs (Hebr 9,5) auf diesen Kontext Bezug nehmen, benennen sie ihn ausdrücklich. In Röm 3,25 hingegen handelt es sich bei Jesus als Versöhnungsgeschenk um ein Geschehen, nämlich den gewaltsamen Tod Jesu am Kreuz, bei dem Gott unmittelbar - ohne eine kultische Vermittlung durch Priester, Opfermaterie und Opferritual - die Beziehung zu den Menschen aufnimmt. Mehr als das Leben seines Messias (des „Christus Jesus“, 3,24), und das bedeutet: seines Repräsentanten, kann Gott nicht geben. Der Tod Jesu am Kreuz zeigt, dass das Versöhnungshandeln Gottes unwiderruflich geschehen ist. Durch den Tod Jesu bietet Gott allen Menschen, die ihm mit „Vertrauen“ (3,25) antworten, Versöhnung an. 5. Die Versöhnungsgabe im Kontext von Röm 3,23-26 Eine Übersetzung von Röm 3,23-26 stellt die „Versöhnungsgabe“ in ihren Kontext: 23 Denn alle sündigten und ermangeln der Herrlichkeit Gottes; 24 sie werden gerecht gemacht geschenkweise in seiner Gnade durch den Loskauf im Christus Jesus, 19 Vgl. Mt 23,30.35; 27,4.6.8.24f.; Lk 11,50f.; Apg 5,28; 18,6; 20,26; 22,20; Röm 3,15; Kol 1,20; Hebr 12,4; Offb 6,10; 16,3.6; 17,6; 18,24; 19,2. 98 Stefan Schreiber 25 den Gott öffentlich aufstellte als Versöhnungsgabe durch Vertrauen in seinem Blut zum Erweis seiner Gerechtigkeit um des Erlasses der Sünden willen, die vorher geschehen sind 26 während der Geduld Gottes, zum Erweis seiner Gerechtigkeit in der Jetzt-Zeit, dass er gerecht ist und den gerecht macht, der aus Vertrauen zu Jesus lebt. Paulus deutet den Tod Jesu durch die (damals wie heute) ungewohnte Metapher vom Hinstellen eines versöhnenden Weihegeschenks für die Menschen durch Gott als direkte und heilvolle Zuwendung Gottes zu den Menschen. Gott selbst handelt, ergreift von sich aus die Initiative und wirkt Versöhnung mit den Menschen, indem er die Beziehung zu ihnen ohne Vorbedingungen („geschenkweise in seiner Gnade“, 3,24) neu aufnimmt. Das verdeutlicht die Fortsetzung in 3,25f.: „zum Erweis seiner (sc. Gottes) Gerechtigkeit“, seiner rettenden Zuwendung, 20 die in Jesu Tod sichtbar und wirksam wird. Sie bewirkt den Erlass, 21 die Vergebung der Sünden, die die Menschen von Gott trennten und die sich angesammelt hatten, weil Gott in seiner Geduld (3,26) immer die Möglichkeit zur Umkehr offenhielt. Gottes heilschenkende, vergebende und versöhnende Gerechtigkeit wurde notwendig, weil „alle sündigten und die Herrlichkeit Gottes entbehren“, d. h. ihre Beziehung zu Gott beeinträchtigt ist (3,23; vgl. 1,18-3,20). In 3,25 fügt Paulus direkt nach hilastērion die Parenthese „durch pistis“ ein. Damit verdeutlicht er, dass den getöteten Jesus nur derjenige als Versöhnungsgabe verstehen und annehmen kann, der ihm mit „Vertrauen“ (als passende Übersetzung von pisits, das auch Treue, Loyalität, Überzeugung heißen kann) begegnet, sich auf die existentielle Beziehung zu Gott und Christus einlässt. Der Mensch bringt in diese Beziehung nichts anderes als sein Vertrauen ein, durch das er am Tod Jesu als Heilstat Gottes Anteil erhält. Entsprechend heißt es in 3,26, dass Gott „den gerecht macht, der aus Vertrauen zu Jesus lebt“. 20 So schon im Themasatz Röm 1,16f. Zur „Gerechtigkeit Gottes“ als „rettender Zuwendung“ vgl. Ps 98,2; Jes 56,1; 45,8; 46,13; 51,5; 59,17; Ps 40,11; 71,15; auch 4-Esr 8,36. 21 Ich entscheide mich aufgrund des Kontextes der „Gerechtigkeit Gottes“ für diese Bedeutung von πάρεσις. Anders Kraus, Erweis, 199f.: „hingehen lassen“. Christus als hilastērion in Röm 3,25: Gottes Versöhnungsgabe 99 6. Folgerungen Liegt keine Anwendung des Jom Kippur-Rituals auf den Tod Jesu vor, propagiert Paulus auch keine Ablösung dieser kultischen Praxis durch Jesu Tod. Eine Auseinandersetzung mit dem Jom Kippur steht nicht im Fokus des Textes, der an Gemeinden gerichtet ist, die fern vom Jerusalemer Tempel lebten. Für sie ist entscheidend, dass Gott ihnen in Christus von sich aus und unwiderruflich seine heilvolle Gegenwart zugewandt und die rettende, befreiende Beziehung zu sich eröffnet hat. Genau diese theologische Gewissheit vermittelt Paulus mit der Vorstellung der „Versöhnungsgabe“, die Gott selbst wirksam im Tod Jesu aufstellte. Menschen, die zu Christus gehören, müssen demnach keine Angst mehr vor zürnenden, strafenden oder schädigenden Gottheiten haben, die sie aus ihrer Kultur kennen, denn der eine und einzige Gott Israels hat ihnen bereits von sich aus Versöhnung geschenkt. Legt man die Herleitung des Begriffs hilastērion in Röm 3,25 aus der antiken Praxis der Versöhnungsgeschenke zugrunde, dann akzentuiert Paulus durch die Umkehrung der Handlungsrollen die Gnade und Zuwendung Gottes. Gott will sich Menschen geneigt machen. Im Sterben Jesu eröffnet er den Menschen, die seine Zuwendung im Vertrauen annehmen, Versöhnung, abstrakt: eine unzerstörbare und heilvolle Beziehung zu sich. Hilastērion in Röm 3,21-26 Wolfgang Kraus Bei der Interpretation von Röm 3,21-26, insbesondere der Verse 25-26, in denen sich der Begriff hilastērion findet, sind verschiedene Ebenen von Fragen zu unterscheiden. Neben der Frage nach dem traditionsgeschichtlichen Hintergrund für hilastērion sind folgende Entscheidungen zu fällen: 1. Welche traditionsgeschichtlichen Vorstellungen sind in V.25b-26a mit paresis, progegonota hamartēmata und anoche angesprochen und wie ist der syntaktische Anschluss mit dia zu verstehen? 2. Wie ist die doppelte, fast gleichlautende Formulierung zu interpretieren, wonach Gott seine Gerechtigkeit dadurch erweist, dass er (V.25a) Jesus zum hilastērion aufstellt bzw. (V.25b-26a) paresis mit vorhergeschehenen Sünden übt / geübt hat? 3. Handelt es sich in V.25f. um eine von Paulus selbst formulierte Aussage oder nimmt er traditionelles Material auf, etwa ein Überlieferungsstück über dessen Umfang und Sitz im Leben zu diskutieren wäre. 4. Wie ist Röm 3,21-26 im Kontext des Römerbriefes und weiterer paulinischer Aussagen zum Tod Jesu zu verorten: welche inhaltlichen Beziehungen bestehen zu Röm 1-3 und zu Röm 5 sowie zu 2Kor 5? In Röm 3,25f. ist nahezu jedes Wort umstritten: Geht es bei proetheto um „öffentlich aufstellen“ oder um „vorherbestimmen“? Worauf ist dia [tēs] pisteōs bezogen: auf hilastērion oder en tō autou haimati? Steht en tō autou haimati metonymisch für den Tod Jesu oder ist ein konkreter Bezug auf Blut bzw. einen Blutritus zu berücksichtigen? Ist endeixis als „Beweis“ oder „Erweis“ zu verstehen? Wird durch dia mit dem Akkusativ ein Grund angegeben oder ein Ziel: „wegen“ oder „um willen“? Bedeutet paresis „Vergebung / Erlass“ oder „Übersehen / Hingehenlassen“? Handelt es sich bei den progegonota Prof. Dr. Wolfgang Kraus, Studium der Evangelischen Theologie in Neuendettelsau, Heidelberg, Göttingen und Erlangen. 1980-1990 Vikar und Pfarrer der Evangelisch- Lutherischen Kirche in Bayern. 1990 Promotion zum Dr. theol. an der Universität Erlangen-Nürnberg, 1994 Habilitation für das Fach Neues Testament ebenda. 1996-2004 Professor an der Universität Koblenz-Landau, seit 2004 Professor für Neues Testament an der Universität des Saarlandes. Forschungsschwerpunkte: Theologiegeschichte des frühen Christentums, Hebräerbrief, Septuaginta, christlichjüdisches Gespräch, Dokumentation zerstörter Synagogen in Europa. Zusammen mit M. Karrer, S. Kreuzer u. a. Leitung des Forschungsprojektes Septuaginta Deutsch: LXX- Übersetzung 2009, Erläuterungen und Kommentare 2011; Sammelbände zur Septuaginta; bis 2020 Herausgeber von Septuagint and Cognate Studies (SBL.SCS). Zeitschrift für Neues Testament 23. Jahrgang (2020) Heft 46 102 Wolfgang Kraus hamartēmata um Sünden vor der Taufe oder umfassender um die vor dem Kommen Christi oder um Sünden der Völker, die nicht durch Israels Kult beseitigt wurden? Ist mit anochē Gottes Langmut und Vergebungsbereitschaft (parallel zu makrothymia) bezeichnet oder Gottes Zurückhaltung, was dann auch einen zeitlichen Faktor beinhalten kann? Worauf bezieht sich pros ten endeixin tēs diakiosynēs en tō nyn kairō: ist damit die Jetztzeit wie in V.21 (nyni de) im Unterschied zu der Zeit, von der Röm 1,18-3,20 sprach, gemeint? Wie ist dikaiosynē theou in V.25 und 26 zu verstehen, als Gottes Eigenschaft oder Ausdruck von Gottes Heilshandeln oder beides? Wie ist eis to einai dikaion kai dikaiounta anzuschließen: geht es um Gottes Gerecht-Sein und Gottes rechtfertigendes Handeln als zwei zu unterscheidende Aspekte (kai wäre dann koordinierend zu verstehen) oder ist das kai epexegetisch zu interpretieren (dann wäre der Sinn „Gott ist gerecht indem er rechtfertigt“)? Alle diese Fragen, die noch dazu miteinander zusammenhängen, sachgemäß behandeln zu wollen erforderte eine Dissertation. 1 Die jüngste mir bekannt gewordene breite Erörterung des Textes stammt von Stephen Hultgren. 2 In dem vorliegenden Beitrag muss eine Beschränkung auf wenige Aspekte erfolgen. 1. Hilastērion als Weihegeschenk? Stefan Schreiber hat eine Idee aufgegriffen, die vor ihm schon Adolf Deißmann (er hat sie jedoch später revidiert) und Kenneth Graystone 3 vertreten haben, wonach hilastērion in Röm 3,25 weder vom sühnenden Märtyrertod, noch vom alttestamentlichen Kult, insbesondere der kapporät, her zu verstehen sei, son- 1 S. W. Kraus, Der Tod Jesu als Heiligtumsweihe. Untersuchungen zum Umfeld der Sühnevorstellung in Röm 3,25-26a (WMANT 66), Neukirchen-Vluyn 1991. 2 S. Hultgren, Hilastērion (Rom. 3: 25) and the Union of Devine Justice and Mercy. Part I: The Convergence of Temple and Martyrdom Theologies, JThS 70/ 2019, 69-109; ders., Hilastērion (Rom. 3: 25) and the Union of Devine Justice and Mercy. Part II: Atonement in the Old Testament and in Romans 1-5, JThS 70/ 2019, 546-599. Er hat sich umfassend mit der Problematik beschäftigt und dabei auch die Arbeit von D. P. Bailey, Jesus as the Mercy Seat. The Semantics and Theology of Paul’s Use of Hilastērion in Rom 3: 25, Diss. masch. Cambridge 1999 ausgewertet (jetzt zugänglich unter https: / / doi.org/ 10.17863/ CAM.17213). Vgl. zur Sache auch C. Eschner, Gestorben und hingegeben „für“ die Sünder, Bd. I (WMANT 122), Neukirchen-Vluyn 2010, 45-51; J. Frey, Die kultische Deutung des Todes Jesu, in: M. Hüttenhoff / W. Kraus / K. Meyer (Hg.), „… mein Blut für Euch“. Theologische Perspektiven zum Verständnis des Todes Jesu (BThS 38), Göttingen 2018, 97-117, 104-110. 3 A. Deißmann, ILASTERIOS und ILASTERION. Eine lexikalische Studie, ZNW 4/ 1903, 193- 212: 195 f.; K. Graystone, ILASKESTHAI and Related Words, NTS 27/ 1981, 640-654, 653: „votive gift“. Hilastērion in Röm 3,21-26 103 dern, wie im profangriechischen Bereich durchgängig üblich, als „Weihegabe“ oder „versöhnendes Weihegeschenk“. 4 Es gibt Gründe, die mich an dieser Herleitung zweifeln lassen. 5 Fragen wir aber zunächst nach den Gründen, die Stefan Schreiber zu dieser Ansicht führen: 6 1. Der Versuch hilastērion von der kapporät her zu verstehen ist nach Schreiber deswegen schwierig, weil diese Referenz nicht eindeutig sei: In Num 7,89 sei sie kein Sühneort, sondern der Ort, an dem Gott erscheint. In Ez 43 sei ein anderer Ort damit bezeichnet, nämlich die Einfassung des Brandopferaltars. In Am 9,1 sei der Bezug unklar. 2. Mit der Zerstörung des ersten Tempels sei auch die Bundeslade mitsamt ihrer kapporät nicht mehr existent. 3. Jesus als hilastērion sei zugleich der Ort, an den das Blut appliziert werde. 4. Es sei unklar, ob die Anspielung sich auf die kapporät selbst oder die dort stattfindenden Riten 4 S. Schreiber, Das Weihegeschenk Gottes. Eine Deutung des Todes Jesu in Röm 3,25, ZNW 97/ 2006, 88-110. S. dazu die Kritik von A. Weiß, Jesus als Weihegeschenk oder Sühnemal? Anmerkungen zu einer neueren Deutung von hilastērion (Röm 3,25) samt einer Liste der epigraphischen Belege, ZNW 105/ 2014, 294-302. S. dazu die Replik von S. Schreiber, Weitergedacht: Das versöhnende Weihegeschenk in Röm 3,25, ZNW 106/ 2015, 201-215. 5 Vgl. dazu auch W. Kraus, Der Erweis der Gerechtigkeit Gottes im Tod Jesu nach Röm 3,21-26, in: L. Doering / H.-G. Waubke / F. Wilk (Hg.), Judaistik und neutestamentliche Wissenschaft (FRLANT 226), Göttingen 2008, 192-216, 202f. 6 Eine Herleitung vom „sühnenden Tod der Märtyrer“, wie sie etwa in neueren Kommentaren von Klaus Haacker und Eduard Lohse vertreten wird, zieht Schreiber nicht in Erwägung. Zur Problematik dieser Herleitung s. Kraus, Erweis, 203-205. Prof. Dr. Wolfgang Kraus , Studium der Evangelischen Theologie in Neuendettelsau, Heidelberg, Göttingen und Erlangen. 1980-1990 Vikar und Pfarrer der Evangelisch- Lutherischen Kirche in Bayern. 1990 Promotion zum Dr. theol. an der Universität Erlangen-Nürnberg, 1994 Habilitation für das Fach Neues Testament ebenda. 1996-2004 Professor an der Universität Koblenz-Landau, seit 2004 Professor für Neues Testament an der Universität des Saarlandes. Forschungsschwerpunkte: Theologiegeschichte des frühen Christentums, Hebräerbrief, Septuaginta, christlichjüdisches Gespräch, Dokumentation zerstörter Synagogen in Europa. Zusammen mit M. Karrer, S. Kreuzer u. a. Leitung des Forschungsprojektes Septuaginta Deutsch: LXX- Übersetzung 2009, Erläuterungen und Kommentare 2011; Sammelbände zur Septuaginta; bis 2020 Herausgeber von Septuagint and Cognate Studies (SBL.SCS). 104 Wolfgang Kraus beziehe. 5. Die Adressaten des Röm, die weitgehend dem heidenchristlichen Lager zugehörten, könnten die Anspielung nur schwer verstehen und wüssten nichts von den an der kapporät vollzogenen Riten und den damit verbundenen Details. 6. Auch jene, die die Anspielung verstanden hätten würden wohl Probleme damit haben, dass der Jom Kippur am Tempel durch Jesus abgelöst werden solle. Das sei für Paulus als einen im Judentum fest verwurzelten Theologen kaum vorstellbar. 7. Da Paulus auch sonst Motive aus der griechisch-römischen Kultur verwende, frage es sich, warum nicht auch bei hilastērion der Sinn von Weihegeschenk angenommen werden solle. Zu 1. Das hilastērion ist in der LXX nicht nur der Ort, an dem Sühneriten vollzogen werden, es ist auch der Ort der Gottespräsenz. Am hilastērion wird „Sühne“ erwirkt, dort ist Gott präsent. 7 Es geht jedoch stets um einen Ort. Hilastērion ist der Ort, wo hilaskesthai geschieht. 8 Das hilastērion als Ort größter Gottesnähe steht pars pro toto für das Heiligtum als Ort, an dem Gott anwesend ist. Das gilt auch für Ez 43, denn der Brandopferaltar ist im ezechielischen Verfassungsentwurf das Zentrum des Heiligtums. Es gibt dort keine Bundeslade. 9 Dabei will beachtet werden, dass das Verbum (ex)hilaskomai ein breites Spektrum umfasst und die Übersetzung mit „entsühnen“ oder „Sühne wirken“ (englisch: to atone) an manchen Stellen als zu unspezifisch gelten muss: 10 In Gen 32,21 ist Esau direktes Objekt von exhilaskomai: Jakob will mit Geschenken Esau „besänftigen“. Außer in Sach 7,2; 8,22; Mal 1,9 ist Gott in der LXX niemals Objekt von (ex)hilaskomai. An den drei genannten Stellen allerdings soll - wie im Profangriechischen üblich - Gott „besänftigt“ werden. In Lev 16,19-20 LXX ; Num 31,50 LXX ; Dtn 21,8 LXX ; Ez 43,20.22.26; 45,18 LXX sind der Altar oder das Heiligtum direktes Objekt der Sühnehandlung. Hier ist „entsühnen / Sühne wirken“ gleichbedeutend mit „reinigen / weihen“. 11 In Ex 32,12 LXX betet Mose zu Gott: 7 Ich verwende das Wort „Sühne“ in Ermangelung eines besseren Begriffs, wohl wissend, dass es sich um theologische Beschreibungssprache und nicht um einen biblischen Ausdruck handelt. 8 So mit Hultgren, hilastērion II, 564 Fn. 98 unter Hinweis auf 1Chr 28,11, wo bet ha-kapporät griechisch mit ho oikos tou exhilasmou wiedergegeben wird, d. h. als Ort, an dem exhilasmos stattfindet. 9 Am 9,1 LXX ist zu erklären aus einer Verlesung (Buchstabenvertauschung) von kptr zu kprt (vokalisiert: kaporät). Es ist jedoch auch dort ein Teil des Heiligtums. 10 Zur Sache s. Hultgren, hilastērion II, 551-561; C. Eberhart, Beobachtungen zu Opfer, Kult und Sühne in der Septuaginta, in: W. Kraus / M. Karrer (Hg.), Die Septuaginta - Text, Wirkung, Rezeption (WUNT 325), Tübingen 2014, 297-314; ders., Kult und die Begegnung mit dem einen Gott in der Septuaginta, in: H. Ausloos / B. Lemmelijn (Hg.), Die Theologie der Septuaginta / Theology of the Septuagint (LXX.H 5), Gütersloh 2020, 165-242. 11 S. dazu Eberhart, Beobachtungen, 312 f; ders., Kult, 189 f; anders D. Büchner, Exhilaskesthai: Appeasing God in the Septuagint Pentateuch, JBL 129/ 2010, 237-260; dazu jedoch kritisch: Hultgren, hilastērion II, 556-558. Hilastērion in Röm 3,21-26 105 hileōs genou epi tē kakia tou laou sou (sei gnädig gegenüber dem Frevel deines Volkes). In V.14 erfolgt Gottes Reaktion: kai hilasthē kyrios peri tēs kakias (und der Herr wurde gnädig gegenüber den Freveln). Hier heißt hilaskomai „gnädig werden“. Wenn hilaskomai „gnädig werden“ heißen kann, dass ist das hilastērion der Ort, an dem sich Gnade ereignet: der „Gnadenort“. Das hat auch Philon so verstanden: Das hilastērion ist ein symbolon (…) tēs hileō tou theou dynameōs (ein Symbol der gnädigen Kraft Gottes; Philon, mos. 2,96, fug. 100). 12 Zu 2. Auch in der Zeit, in der der Hebräerbrief geschrieben wurde, gab es keine kapporät im Allerheiligsten mehr. Gleichwohl findet sich durchgängig eine direkte Anspielung auf das irdische Heiligtum. Es handelt sich auch nicht um einen Bezug auf den zweiten bzw. den herodianischen Tempel, sondern auf die Stiftshütte. Der Bezug ist literarischer Natur. Gleiches dürfte für Paulus gelten. Zu 3. Dieser Einwurf wurde schon vielfach entkräftet. Wir haben es mit Metaphern zu tun. Auch im Hebr ist Jesus Hoherpriester und Opfer zugleich (vgl. Hebr 9,11f). Zu 4. Diese Alternative erscheint mir aufgrund der Formulierung in V.25 nicht angemessen zu sein. Jesus wurde zum hilastērion eingesetzt en tō autou haimati: d. h. kraft seines Todes oder durch seinen Tod. Zu 5. Es handelt sich, wie aus Röm 14 f. hervorgeht, bei der römischen Gemeinde nicht allein um ‚Heidenchristen‘. 13 Gleichwohl: Auch der an eine überwiegend völker-christliche Gemeinde in Korinth gerichtete 1Clem verwendet alttestamentliches Material unter der Voraussetzung, dass seine Adressaten dies verstehen. Und falls der Hebr an Völkerchristen gerichtet wäre (was die Mehrzahl der deutschen Ausleger annimmt - m. E. jedoch zu Unrecht), müsste man das auch hier sagen. Wir müssen davon ausgehen, dass grundlegende biblische Kenntnisse bei allen Jesusgläubigen anzutreffen sind. 14 Zu 6. Kritik am Tempelkult findet sich auch im AT und im antiken Judentum. Dass dieser wirklich Sündenvergebung bringt, wird von den Qumranern bestritten. Wenn es stimmt, dass die „Hellenisten“ um Stefanus kultkritisch eingestellt waren (s. Apg 6), gilt das auch für eine Gruppe in der frühen Christenheit. Dass es frühchristliche Kultkritik gab, geht auch aus anderen Stellen im NT hervor, sie kann sich wohl auf Jesus selbst berufen (vgl. die verschiedenen Formen des Tempelwortes). 15 Dass die Position des Paulus bezüglich der Tora für bestimmte Juden ein Problem darstellt, ist eindeutig. Ganz gleich, wie man Röm 10,4 ver- 12 S. dazu Hultgren, hilastērion II, 565 Fn. 103. 13 Ich benutze den Begriff nur ungern. Besser ist: Gläubige aus den Völkern. 14 Vgl. Frey, Deutung, 106. 15 Vgl. zu diesen Fragen W. Kraus, Zwischen Jerusalem und Antiochia. Die ‚Hellenisten‘, Paulus und die Aufnahme der Heiden in das endzeitliche Gottesvolk (SBS 179), Stuttgart 1999, 44-55. 106 Wolfgang Kraus steht: es handelt sich um eine Relativierung. Gesetz und Propheten bezeugen nach Röm 3,21 die Gerechtigkeit Gottes, die in Christus erschienen ist - jenseits von der Tora. Auch wenn Paulus seine Position zur Tora in Gal 3 im Röm korrigiert hat, und auch wenn er in Röm 9-11 an der bleibenden Erwählung Israels im Unterschied etwa zu Gal 4,21-31 festhält, bleibt er dabei, dass die endzeitliche Rettung über Jesus erfolgt. 16 Zu 7. Es ist mit der Aufnahme von Motiven aus dem griechisch-römischen Bereich bei Paulus nicht so einfach: Außer der Allerweltsweisheit in 1Kor 15,33 - ganz gleich, ob man den Ausspruch Menander oder Euripides zuschreibt - gibt es in seinen Briefen kein einziges Zitat aus griechisch-römischer Literatur. Die im Hellenismus verbreitete Vorstellung von Paideia findet sich auch in jüdischer Literatur: Prov, Sir. Das Loskauf-Motiv lässt sich auch aus dem AT herleiten. Somit sind die Gründe, die Stefan Schreiber dazu geführt haben, hilastērion nicht aus dem Umfeld des alttestamentlichen Kultus abzuleiten, m. E. nicht durchschlagend. Daneben gibt es nun aber auch erhebliche Probleme mit der Anwendung des Weihegeschenk-Motivs auf den Tod Jesu: 1. Warum verwendet Paulus für eine so spezifische, von Schreiber selbst als „Ungeheuerlichkeit, nahezu Blasphemie“ 17 bezeichnete Aussage den seltenen Ausdruck hilastērion und nicht die sehr viel geläufigeren Begriffe wie anathema, charisterion, eucharisterion oder dōron? Diese Frage wird von Schreiber in seinem Beitrag von 2006 selbst gestellt und mit dem Hinweis auf hilaskomai (Med.) beantwortet: Das Verb „bedeutet ‚die Gottheit für sich wieder geneigt machen‘; das Suffix -tērion bezeichnet den Ort des Geschehens (BDR § 109,10) - etymologisch ist das hilastērion also ein ‚Geneigtmach-Ort‘.“ 18 Es stellt sich die Frage, ob die Leser des Röm dies nachvollziehen konnten. 2. Im jüdischen Bereich lautet das Stichwort für Weihegabe nicht hilastērion, sondern anathema oder dōron, 19 außer vielleicht in JosAnt16,182. Doch diese Stelle ist kein wirklich eindeutiger Beleg für Weihegeschenk. Wenn man 16 Vgl. dazu W. Kraus, Das Volk Gottes. Zur Grundlegung der Ekklesiologie bei Paulus (WUNT 85), Tübingen 2 2004, 295-333.359-361. Wie diese Sicht des Paulus in der heutigen Theologie zum Tragen kommen kann, ist mit einer ganz anderen Frage verbunden, nämlich der nach der Grenze der paulinischen Aussagen in Röm 9-11 und 15. S. hierzu W. Kraus, Die Bedeutung von Röm 9-11 im christlich-jüdischen Dialog, in: F. Wilk / R. Wagner (Hg.), Between Gospel and Election. Explorations in the Interpretation of Romans 9-11 (WUNT 257), Tübingen 2010, 205-223. 17 Schreiber, Weihegeschenk, 106. 18 Schreiber, Weihegeschenk, 107. 19 2Makk 2,13 anathema; Jdt 16,19 anathema; Josephus ant. 14,34-36 dōron; 18,18f. anathema; Lk 21,5 anathema. Die bei Schreiber genannten Stellen 1Chr 28,12 und slHen 45,2 sind m. E. nicht einschlägig. Hilastērion in Röm 3,21-26 107 hilastērion dort nicht adjektivisch, sondern substantivisch liest, wäre es durchaus möglich zu übersetzen: „[Herodes] ließ ein hilastērion errichten als Denkmal aus leuchtendem Marmor“, womit er einem römischen Publikum das Verhalten des Herodes erklärt. Hilastērion lässt sich hier auch als „Sühnemal“ verstehen und muss nicht mit „Weihegeschenk“ wiedergegeben werden. Die eindeutigen Belege für hilastērion als Weihegeschenk stammen alle aus dem nicht-jüdischen Bereich. 3. Wenn man hilastērion auch in Ex 25,16 LXX subjektivisch versteht, dann geht es bei hilastērion epithema um einen „Sühneort als Deckplatte“ und nicht um eine „sühnende Deckplatte“. 20 Damit würden im jüdischen Bereich die Belege mit adjektivischem Gebrauch auf 4Makk 17,22 schrumpfen. 21 Das bedeutet, dass alle (! ) anderen substantivischen Belege aus dem jüdischen Bereich entweder die kapporät oder einen anderen Ort im Blick haben, der mit kultischen Vollzügen in Beziehung steht. Dies gilt auch für den einzigen weiteren neutestamentlichen Beleg: Hebr 9,5. 4. Adressat eines Weihegeschenkes ist immer die Gottheit. Wenn Paulus in Röm 3 diesen Bezug umkehren wollte und in paradoxer Weise die Menschen als Empfänger eines „versöhnenden Weihegeschenkes“ adressieren wollte, würde man dann nicht erwarten, dass er dies deutlicher formuliert? So wie die Lage jetzt ist, wird man sagen müssen: Der Bezug auf das hilastērion als ein Weihegeschenk Gottes an die Menschen ist nicht hinreichend eindeutig. 22 Für das Verständnis des hilastērion in der Rede des Dion Chrysostomos (or. 11.121) hat Schreiber in seinem Beitrag von 2015 ausgeführt: „Durch die Gabe des kostbaren Weihegeschenks wird die geforderte Gerechtigkeit erfüllt: Zum Ausdruck kommen das Eingeständnis der eigenen Niederlage, eine bußfertige Gesinnung und der Versöhnungswille der Griechen.“ 23 Wie sollen die Adressaten des Röm solches auf Gott und die Menschen anwenden? 5. Aus Röm 9 geht hervor, dass Paulus die Praxis von Weihegeschenken zur Abwendung von Gotteszorn kennt. In 9,3 spricht er davon, dass er sich selbst - wenn das denn möglich wäre - als „Weihegeschenk“ anstelle seiner „Stammverwandten“, die Jesus als Christus ablehnen, hingeben würde: als anathema. 24 20 So richtig Hultgren, hilastērion II, 563-565, gegen Kraus, Heiligtumsweihe, 22.40.151. 21 Die Ausgabe von Alfred Rahlfs bietet eine LA, die im Wesentlichen durch den Sinaiticus bezeugt wird (sie wurde in der Revision von R. Hanhart beibehalten). Die „eindeutig besser bezeugte Lesart“ (H.-J. Klauck, 4. Makkabäerbuch [JSHRZ III/ 6], 753 A.22a) ist jedoch die adjektivische. Die substantivische wird neben dem Sinaiticus nur durch die Minuskeln 62 und 577 und durch Menologienhandschriften bezeugt. 22 So auch Hultgren, hilastērion II, 572. 23 Schreiber, Weihegeschenk, 209. 24 Zur Auslegung dieser Stelle s. M. Vahrenhorst, Kultische Sprache in den Paulusbriefen (WUNT 230), Tübingen 2008, 286-290. 108 Wolfgang Kraus Kann man damit rechnen, dass Paulus, der in Röm 9,3 mit anathema eindeutig auf ein Weihegeschenk Bezug nimmt, in Röm 3 mit hilastērion einen nicht eindeutigen Bezug auf Christus als (paradoxes) Weihegeschenk Gottes an die Menschen formuliert? 6. Bei keinem der Belege für Weihegeschenk spielt Blut bzw. Lebenshingabe irgendeine Rolle. 7. Bei den Ausführungen von Stefan Schreiber findet sich eine Unklarheit, worin denn eigentlich das hilastērion bestehen soll: ist es Jesus oder ist es Jesu Tod? 25 Es geht in Röm 3 nicht um die metaphorische Anwendung von hilastērion auf die Bedeutung des Todes Jesu. Jesus selbst wurde zum hilastērion eingesetzt en tō autou haimati (in seinem Blut / kraft seines Todes), d. h. aufgrund seiner Lebenshingabe. 2. Röm 3,25-26 im Kontext Es gibt weitere Gründe, warum ein Bezug von hilastērion auf ein Weihegeschenk fragwürdig erscheint. Diese ergeben sich dann, wenn man den Text in die verschiedenen Kontexte stellt. 2.1. Röm 3,25-26 im Kontext des Römerbriefes Zum Verständnis von Röm 3,21-26 im Kontext des Röm muss berücksichtigt werden, was Paulus in Röm 1,18-3,20 verhandelt hat: Alle haben gesündigt, es gibt keinen Gerechten, auch nicht einen. Das Gesetz zeigt die Sünde auf, kann sie aber nicht beseitigen. Die Menschen, Juden und Nichtjuden, häufen Sünde auf Sünde und sind damit dem endzeitlichen Gericht verfallen. Ist das nicht 25 Eine ähnliche Unklarheit findet sich auch in den Ausführungen von M. Wolter, Der Brief an die Römer. Teilbd. 1: Röm 1-8 (EKK VI/ 1), Neukirchen-Vluyn / Ostfildern 2014, 243: der „Inhalt dieses Glaubens [besteht] darin (…), dass Gott Jesu Tod zu einem hilastērion erklärt hat, dass die Sünden der Glaubenden kompensiert“ (243, vgl. 255 -259). An anderer Stelle schreibt Wolter: „Die Näherbestimmung von hilastērion durch en tō autou haimati legt es vielmehr nahe, dass Paulus hier in der Tat auf den großen Blutritus am Versöhnungstag anspielt, der in Lev 16,15.17 beschrieben wird. Um dieser Anspielung willen nennt er Jesu Tod darum wohl auch in metonymischer Weise haima.“ Ist Jesu Tod hilastērion oder haima? Das hilastērion kompensiert nach atl. Vorstellung keine Sünden, es ist der Ort, an dem Sühne stattfindet. Und die Rede von einer „Funktionsmetapher“ löst das Problem nicht. Wenn auf den Blutritus an der kapporät angespielt wird, dann stellt sich die Frage, was durch diesen Blutritus erfolgt: es handelt sich nach Lev 16 um Reinigung / Weihe / Konsekration. S. dazu C. Eberhart, Kultmetaphorik und Christologie. Opfer- und Sühneterminologie im Neuen Testament (WUNT 306), Tübingen 2013, 82-86, 166. Dann aber sind wir mitten in der Fragestellung, ob - und wenn ja, wie - auf den größeren Kontext des Jom ha-Kippurim Bezug genommen wird. Hilastērion in Röm 3,21-26 109 die Situation, die Röm 3,25c-26a beschreibt? 26 Was es gegeben hat, war ein „Hingehenlassen“ der Sünden. Vergebung war jedoch nicht erfolgt, die gibt es durch Christus. 27 Gott hat bisher anoche geübt: Zurückhaltung. Dass mit der Erwähnung der anoche Gottes eine Epoche gemeint ist, geht nicht allein aus dem Sprachgebrauch von anoche hervor, sondern auch aus dem Einsatz in V.21 mit nyni de und aus en tō nyn kairō in V.26. Paulus stellt zwei Epochen einander gegenüber: die der anoche und die der Offenbarung der Gottesgerechtigkeit. 28 Nach Röm 5,8-10 werden die Menschen durch Christi Tod mit Gott versöhnt. Dies wird in V.8 damit begründet, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren (so auch schon 5,6). Dieses Sterben hyper hēmōn führt zu unserer Rechtfertigung (V.9). Gerecht wurden wir en tō autou haimati, und zwar nyn (V.9). Diese Formulierung nimmt zweifellos die Aussage aus Röm 3,25f. auf. Die Versöhnung mit Gott ist somit ein Geschehen, das durch Jesu Tod für die Sünder ermöglicht wurde. Das ist eine völlig andere Begründung als jene, dass durch ein Weihegeschenk Gottes an die Menschen diesen Gottes Liebe und Versöhnungsbereitschaft mitgeteilt werden soll. Nach Röm 5,9-10 hat uns der Tod Jesu dem Zorn Gottes entrissen und uns gerecht gemacht. Die Versöhnung, die dadurch zustande kam, ist nicht Ergebnis eines Weihegeschenkes, sondern des mit-Christus-Sterbens. Das ist die gleiche Argumentation wie in 2Kor 5,14. Dazu kommen wir jetzt. 2.2. Röm 3,25-26 im Kontext paulinischer Theologie (2Kor 5,14-21) Nach 2Kor 5,19-21 hat Gott die Welt mit sich versöhnt, indem er die Sünden nicht zurechnete und den sündlosen Jesus zur „Sünde“ (hier wohl metonymisch für Sünder) gemacht hat, wohingegen die Sünder „Gerechtigkeit Gottes“ (hier metonymisch für Gerechte vor Gott) wurden. Nun lässt Gott durch Versöhnungsgesandte bitten: lasst euch versöhnen. Die Verteilung der Handlung ist so, dass Paulus die Versöhnung verkündigt (samt seinen Mitstreitern). Christus ist für die Sünden gestorben und wir mit ihm, so dass es jetzt eine „neue Kreatur“ gibt (2Kor 5,14-17). Nicht durch ein Versöhnungsgeschenk, sondern durch Jesu 26 S. zum Verhältnis von Röm 3,21-26 zu Röm 1-3 auch Hultgren, hilastērion II, 575-577. 27 Ob es sich hierbei um eine Sachparallele zu Aussagen in Hebr 7,1-10,18 über die Vorläufigkeit des atl. Kultes handelt, kann man überlegen. C. Rothschild, Hebrews as Pseudepigraphon. The History and Significance of the Pauline Attribution of Hebrews (WUNT 235), Tübingen 2009, 132-156, hat versucht, zu erweisen, dass der Hebr als Leseanweisung insbes. für den Röm zu verstehen ist (153). Dies wurde positiv aufgenommen bei Eberhart, Kultmetaphorik, 166 Anm. 53. Ich bleibe skeptisch. 28 So auch Hultgren, hilastērion II, 583 f. Zu anechō, anechomai, anoche s. jetzt den betreffenden Artikel von W. Kraus / C. Lustig / C. Buffa in: E. Bons / J. Joosten (Hg.), Historical an Theological Lexicon of the Septuagint I, Tübingen 2020, 534-544. 110 Wolfgang Kraus Tod, in welchem wir „mitgestorben“ sind (V.14), erfolgte Vergebung. Dies ist es, was die Versöhnungsgesandten zu verkündigen haben. Setzt man Röm 3,21-26 in Beziehung zu Röm 1-3, Röm 5 und 2Kor 5, dann wird es unwahrscheinlich, dass Paulus in 3,25 auf die Vorstellung eines Weihegeschenkes Bezug nimmt. 2.3. Röm 3,25-26 und die Möglichkeit der Aufnahme geprägter Formulierung Stefan Schreiber geht davon aus, dass Paulus den Abschnitt Röm 3,21-26 eigenständig formuliert hat. Die Aufnahme geprägter Überlieferung lehnt er ab. 29 Indizienbeweise zu führen ist in der Tat - auch vor Gericht - schwierig. Allerdings kann eine Häufung von Indizien die Frage aufkommen lassen, ob Paulus hier wirklich eigenständig formuliert: Neben den sprachlichen Eigenheiten in V.25f. (der Einsatz mit dem Reflexivpronomen geschieht analog zu anderen Stellen im NT, an denen geprägtes Gut aufgenommen wird [Phil 2,6; 1Tim 3,16], dia [tēs] pisteōs erweckt den Eindruck eines Einschubes, die Doppelung eis endeixin tēs dikaiosynēs und pros tēn endeixin ist merkwürdig) lassen sich in diesem Text gehäuft Begriffe finden, die für Paulus ungewöhnlich sind: hilastērion (hap.leg. bei Paulus), progegonota hamartēmata (hap.leg. bei Paulus), paresis (hap.leg. bei Paulus), anoche (sonst nur noch Röm 2,4 bei Paulus), haima (außer in Röm 5,9, einer Stelle, die sich auf 3,25 zurückbezieht sonst nur noch im Abendmahlszusammenhang bei Paulus). Nun sind solche Indizien kein Beweis. 30 Wenn sie allerdings in dieser Häufung auftreten und sich eine theologische Vorstellung damit verbindet, die ungewöhnlich ist, sollte man die Möglichkeit der Aufnahme von Überlieferung nicht rundweg ablehnen. 31 Michael Wolter stellt fest, dass die Versuche, in Röm 3,25f. ein Traditionsstück nachzuweisen, „schon im Ansatz“ zum Scheitern verurteilt sind, weil sie nur nach paulinischen Ergänzungen fragen und nicht in Betracht ziehen, dass Paulus die ihm vorliegende Tradition 29 Schreiber, Weihegeschenk, 90f. 30 Wolter, Röm I, 243, lehnt mit Blick auf Röm 1,20, wo sich auch gehäuft Hapaxlegomena finden, die Beweiskraft von Indizien ab. Der Vergleich mit Röm 1,20 ist deshalb nicht überzeugend, weil es sich dort um ein Thema handelt, das bei Paulus sonst nicht prominent erscheint. In Röm 3,25f. geht es hingegen um den Tod Jesu, ein Thema, das für Paulus zentral ist. Die progegonota hamartēmata sind eine einzigartige Vorstellung bei Paulus. Vor allem sie sollen durch den Tod Jesu beseitigt sein? Wie passt das mit anderen Aussagen zum Effekt des Todes Jesu zusammen? 31 Wolter, Röm I, 78, lehnt auch für Röm 1,3-4 eine genaue Bestimmung der aufgenommenen Überlieferung ab, spricht aber dennoch von „Tradition“ bzw. „traditioneller Formulierung“ die Paulus aufgenommen habe. Dass in Röm 1,4 die Einsetzung in die Sohnschaft Jesu mit dessen Auferstehung verbunden wird, wohingegen Paulus an anderen Stellen von der Präexistenz des Sohnes ausgeht, wird nicht diskutiert. Hilastērion in Röm 3,21-26 111 auch gekürzt haben könnte. 32 Hierbei handelt es sich m. E. um ein Scheinargument. Denn was versucht wird, herauszufinden, sind ja jene Elemente, die Paulus möglicherweise übernommen hat und ob diese einen kohärenten Zusammenhang bilden. Dass ein identifiziertes Überlieferungsstück in einen Rahmen gehört, der viel umfangreicher gewesen sein kann (muss), ist implizite Voraussetzung. 33 Die Frage stellt sich, ob es grundsätzlich denkbar ist, dass Paulus geprägte Überlieferung übernimmt und diese weiterführend interpretiert - so wie heutige Redner Elemente aus Liedern oder Bekenntnissen aufnehmen oder auf sie anspielen, die den Adressaten bekannt sind. Michael Wolter räumt ein, dass hapax legomena ein Indiz dafür sein können, dass Paulus „auf sprachlich vorgeprägte und bereits in Gebrauch befindliche Ausdrücke und Bezeichnungen zurückgreift.“ 34 Wenn diese allerdings wie in Röm 3,25f. so massiert auftreten und sich ein sinnvoller Zusammenhang ergibt, könnte es sich auch um ein Zitat handeln. Dann wäre über den syntaktischen Anschluss des dia mit Akkusativ und über die Bedeutung von progegonota hamartēmata, paresis und anoche unter dieser Prämisse neu nachzudenken. 2.4. Röm 3,25f. und der Jom ha-Kippurim Wenn hilastērion im Kontext der Handlungen am Jom ha-Kippurim verstanden werden muss, gibt es dann weitere Aspekte dieses Geschehens, auf die Bezug genommen wird oder geht es lediglich um die kapporät? Stephen Hultgren hat in seinem Beitrag zum Thema auf Strukturanalogien hingewiesen, die zwischen den Aussagen des Paulus in Röm 3,25f. und dem Verständnis des Jom ha-Kippurim in der rabbinischen Literatur zu finden sind. 35 Dabei geht es darum, dass die im Laufe eines Jahres begangenen Sünden der Menschen das Heiligtum verunreinigen. Sie werden jedoch nicht durch Opfer gesühnt, sondern bleiben „in der Schwebe“, bis sie dann am Jom ha-Kippurim bei der Heiligtumsreinigung (Lev 16,16-20) beseitigt werden. Eine Beziehung zwischen der Zeit vor dem Jom ha-Kippurim und der Zeit vor dem Gericht ist nicht erst rabbinisch, sondern aufgrund von Jub 5,17ff. auch für die frühjüdische Zeit belegt. Sollte diese Analogie zutreffen, dann wäre mit der Zeit göttlicher Zurückhaltung vielleicht doch die 32 Wolter, Röm I, 245. 33 E. Lohse, Der Brief an die Römer (KEK IV), Göttingen 2003, 133 geht davon aus, dass eine Aussage vorangegangen sein muss, „an die der Relativsatz dann angehängt werden konnte, etwa: Gelobt sei Jesus Christus o.ä.“. 34 Wolter, Röm I, 245. 35 Hultgren, hilastērion II, 589; vgl. auch E. Lohse, Märtyrer und Gottesknecht. Untersuchungen zur urchristlichen Verkündigung vom Sühntod Jesu Christi (FRLANT 64), Göttingen 2 1963, 25 ff., 35-37. 112 Wolfgang Kraus Zeit vor dem Kommen Jesu gemeint, in der es keine Vergebung, sondern nur das Hingehenlassen von Sünden gegeben hat. 3. Ausblick Nico Fryer hat in seinem Aufsatz von 1987 eine düstere Prognose gegeben: “It is scarcely possible that a consensus of opinion will be reached before the end of time on the question as to how the word hilastērion is to be translated in Rom. 3: 25. The variety of linguistic possibilities, the theological questions involved, the conflicting dogmatic presuppositions of researchers, all play a role in the debate surrounding our understanding of the term.” 36 Und Dieter Zeller, der sich seit seiner Lizentiatenarbeit 1967 immer wieder mit Röm 3 beschäftigte, hat im Jahr 2006 etwas resignierend formuliert: „Das alte Gemäuer Röm 3,24-26 (…) erwies sich als Baustelle, auf dem die Exegeten weiter ihre Konstruktionen errichten. Welche am ehesten dem Plan des Paulus entspricht, muss offen bleiben.“ 37 Ich bin ebenfalls nicht der Überzeugung, dass es in absehbarer Zeit zu einem Konsens kommen wird. Aber ich bin der Überzeugung, dass nur durch ausdauernde exegetische Arbeit, die keine Denkverbote aufrichtet und die sich mit absoluten Formulierungen wie ‚vollkommen abwegig‘ u. ä. zurückhält, ein Fortschritt erzielt werden kann. Stefan Schreiber hat mit seinem Versuch, hilastērion vom hellenistischen „Weihegeschenk“ her zu verstehen, einen Interpretationsversuch vorgelegt, den ich exegetisch für nicht überzeugend ansehe, der jedoch in seiner theologischen Zuspitzung richtig ist: Gott hat den Menschen „in Christus von sich aus und unwiderruflich seine heilvolle Gegenwart zugewandt und die rettende, befreiende Beziehung zu sich eröffnet (…). Im Sterben Jesu eröffnet er den Menschen, die seine Zuwendung im Vertrauen annehmen, Versöhnung, abstrakt: eine unzerstörbare und heilvolle Beziehung zu sich.“ 38 Von einer Interpretation von hilastērion als Weihegeschenk käme ich nicht zu dieser Aussage, aber im Gesamtduktus paulinischer Theologie ist sie völlig adäquat. 36 N. S. L. Fryer, The Meaning and Translation of Hilastērion in Romans 3: 25, EQ 59/ 1987, 99-116, 111. 37 D. Zeller, Gottes Gerechtigkeit und die Sühne im Blut Christi. Neuerlicher Versuch zu Röm 3,24-26, in: J. Hainz (Hg.), Unterwegs mit Paulus. Otto Kuss zum 100. Geburtstag, Regensburg 2006, 57-69, 69. 38 Schreiber, hilastērion, in diesem Heft. Hermeneutik und Vermittlung „Du wirst selig sein, denn sie haben nichts, um es dir zu vergelten“? Grundlinien einer Theologie der Gabe mit einem Blick auf Lk-14,12-14 Veronika Hoffmann 1. Einleitung 1 Es gibt keine „Theologie der Gabe“ im Neuen Testament. Jedenfalls „gibt“ es sie nicht in dem Sinn, dass man sie einfach aus einer Zusammenschau neutestamentlicher Texte herausdestillieren könnte. Und noch grundsätzlicher gibt es weder „die“ Theologie der Gabe noch überhaupt „die“ Gabe. Es gibt vielmehr eine große Pluralität an verschiedenen theoretischen Zugängen, die sich zum Teil ergänzen, zum Teil widersprechen, 2 und es gibt eine noch größere Pluralität an Phänomenen des Gebens, die sich nicht auf eine einzige, „eigent- 1 Die folgenden Überlegungen greifen auf frühere Veröffentlichungen von mir zurück, insbesondere: V. Hoffmann, Skizzen zu einer Theologie der Gabe. Rechtfertigung - Opfer - Eucharistie - Gottes- und Nächstenliebe, Freiburg 2013; dies., Christus - die Gabe. Zugänge zur Eucharistie, Freiburg 2016. 2 Vgl. zu einer Übersicht über zumindest einige wichtige Zugänge z. B. Hoffmann, Skizzen, Teil 1; zur Thematik insgesamt dies. / U. Link-Wieczorek / C. Mandry (Hg.), Die Gabe. Zum Stand der interdisziplinären Diskussion, Freiburg 2016; A. Grund (Hg.), Opfer, Geschenke, Almosen. Die Gabe in Religion und Gesellschaft, Stuttgart 2015; M. Ebner / I. Fischer / J. Frey, Geben und Nehmen ( JBTh 27), Neukirchen-Vluyn 2012. Prof. Dr. Veronika Hoffmann, Jahrgang 1974, studierte katholische Theologie in Frankfurt/ M. (St. Georgen) und Innsbruck und wurde nach ihrer Ausbildung zur Pastoralreferentin im Bistum Mainz 2006 in Münster promoviert. 2007-2013 war sie Assistentin an der Theologischen Fakultät der Universität Erfurt, wo sie sich 2012 mit einer Arbeit zur Theologie der Gabe habilitierte. Nach einem Heisenbergstipendium 2013 war sie 2013-2018 Professorin für Systematische Theologie an der Universität Siegen. Seit 2018 ist sie Professorin für Dogmatik an der Universität Fribourg (CH). Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte betreffen den religiösen Zweifel und die Frage nach dem Zusammenhang von Wirklichkeitsverständnis und Gotteskonzept. - Zeitschrift für Neues Testament 23. Jahrgang (2020) Heft 46 114 Veronika Hoffmann liche Gabe“ zurückführen lassen: Eine Spende für ein Katastrophengebiet, ein Weihnachtsgeschenk, ein Verlobungsring oder eine Flasche Wein zum Dank für einen freiwilligen Einsatz funktionieren nicht nach derselben Logik. Dass es eine solche Fülle verschiedener Phänomene gibt, zeigt zugleich die Bedeutung der Gabe: Geben und Empfangen in all seinen Abwandlungen (bis hin zum Bestechen) stellen grundlegende Elemente unseres Zusammenlebens auf familiärer, freundschaftlicher und gemeinschaftlicher Ebene dar. Entsprechendes lässt sich auch für die Bibel sagen, sowohl was die Pluralität der Phänomene als auch was die Bedeutung des Gebens angeht: Man vergleiche nur die Opfergaben, die beispielsweise das Buch Levitikus behandelt, Jakobs Versöhnungsgabe an Laban in Gen 33 und die Gaben des Geistes bei Paulus in 1Kor 2. Dass eine reine Untersuchung des Auftretens von Gabe-Begrifflichkeit zu keiner „Gabe-Theologie“ führen würde, heißt also durchaus nicht, dass die Bibel nicht in theologisch gehaltvoller Weise von der Gabe spräche. Die folgende kleine Skizze einer Theologie der Gabe arbeitet deshalb, von Phänomenen des Gebens ausgehend, zunächst systematisch und systematisierend. Die gewonnene Perspektive wird dann in einem zweiten Schritt an einen konkreten biblischen Text angelegt. Die Leitfrage lautet dabei, inwiefern sich die Rede von Geben und Empfangen als ein Modell eignet, um damit das Verhältnis von Gott und Mensch zu beschreiben. Wegen der genannten Pluralität bietet wohl kein Zugang zur Gabe alle relevanten Perspektiven. Ich werde im Folgenden aus dem interdisziplinären Diskurs über die Gabe einen Ansatz herausgreifen, der mir für die Beantwortung der Leitfrage besonders geeignet erscheint (2.). Ich komme dann auf die systematisch-theologische Fragestellung zurück (3.), um schließlich Lk 14,12-14 gabetheologisch zu lesen (4.). 2. Was ist eine Gabe? Fragen wir also zunächst: Was ist eine Gabe? Oder, im Sinn der behaupteten Pluralität von Phänomenen: Welche Gestalten kann eine Gabe haben? Aus der Fülle der möglichen Aspekte seien vier Fragen herausgegriffen, die helfen, dem jeweiligen Charakter der Gabe auf die Spur zu kommen: „Du wirst selig sein, denn sie haben nichts, um es dir zu vergelten“? 115 2.1 Gestalten des Gebens 1. Gibt nur einer oder geben beide? Ist die Gabe also einseitig oder gegenseitig? 2. Wenn beide geben: Geht der Empfänger mit dem Empfang der Gabe eine Verpflichtung ein, seinerseits zu geben? 3 3. Müssen gegenseitige Gaben gleichwertig sein? 4. Geht es wesentlich um die Gabe als Ding oder geht es um die Beziehung, die mit ihr ausgedrückt werden soll? Beobachtet man mit Hilfe dieser Fragen einige typische Gestalten des Gebens, so zeigt sich: Bei einer Katastrophenhilfe wird die Gabe in aller Regel einseitig sein. Man erwartet nicht, dass ein Erdbebenopfer eine Dankeskarte schreibt. Und es geht um materielle Hilfe, nicht um die Beziehung zwischen Geber und Empfänger. Der Empfänger mag sich auch freuen, dass es jemanden gibt, der in seiner Not an ihn gedacht hat. Aber vorrangig braucht er Essen oder ein Dach über dem Kopf oder medizinische Versorgung. Wer ihm das gibt und warum, ist zweitrangig. Geschenke zu Weihnachten können einseitig sein, v. a. an Kinder, sind aber doch häufig gegenseitig. Dass es eine gewisse „Pflicht zur Gegen-Gabe“ geben kann, wissen alle Kinder, die sich nach Weihnachten mit Dankesbriefen an wohlmeinende Tanten quälen. Hingegen bedeutet Gegenseitigkeit nicht unbe- 3 Das ist die zentrale Frage, die Marcel Mauss in seinem Klassiker „Die Gabe“ stellt und von der quasi die gesamte Gabeforschung des 20. Jh. ihren Ausgang genommen hat. Vgl. M. Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt a. M. 2 1994; M. Hénaff, Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie, Frankfurt a. M. 2009. Prof. Dr. Veronika Hoffmann , Jahrgang 1974, studierte katholische Theologie in Frankfurt/ M. (St. Georgen) und Innsbruck und wurde nach ihrer Ausbildung zur Pastoralreferentin im Bistum Mainz 2006 in Münster promoviert. 2007-2013 war sie Assistentin an der Theologischen Fakultät der Universität Erfurt, wo sie sich 2012 mit einer Arbeit zur Theologie der Gabe habilitierte. Nach einem Heisenbergstipendium 2013 war sie 2013-2018 Professorin für Systematische Theologie an der Universität Siegen. Seit 2018 ist sie Professorin für Dogmatik an der Universität Fribourg (CH). Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte betreffen den religiösen Zweifel und die Frage nach dem Zusammenhang von Wirklichkeitsverständnis und Gotteskonzept. - 116 Veronika Hoffmann dingt auch Äquivalenz: Wenn die Eltern der Tochter ein Fahrrad schenken und sie den Eltern ein Bild malt, dann ist der ökonomische Unterschied zwischen den Gaben erheblich, aber das stört das Gelingen eines solchen Gabentausches nicht im Mindesten. Die Skala der Bedeutungen der Beziehungsgeste einerseits, der gegebenen Sache andererseits kann ausgesprochen variabel sein: Auch ein Kinderbild, das von wenig künstlerischer Begabung spricht, wird vermutlich aufgehängt, weil es nicht um künstlerische Qualität geht, sondern um die ausgedrückte Zuneigung. Das Kind seinerseits könnte das Fahrrad sowohl als einen Ausdruck der elterlichen Liebe als auch - vielleicht zunächst sogar vorrangig - als einen in sich erstrebenswerten Gegenstand betrachten. In der Regel sollen Gaben „passend“ sein: passend zum Empfänger, passend zum Anlass, passend zur Beziehung zwischen Geber und Empfänger. Ist das nicht der Fall, kann eine Gabe misslingen: Eine Volksmusik-CD für die beste Freundin, die bekanntermaßen eingeschworene Klassik-Hörerin ist, dürfte die Empfängerin als Gedankenlosigkeit empfinden. Spitzenunterwäsche als Weihnachtsgeschenk für eine Mitarbeiterin im Unternehmen könnte zu noch erheblicheren Folgeproblemen führen. Auch hier liegen aber nicht immer eindeutige Fälle vor, sondern der Kontext spielt eine erhebliche Rolle, wie ein weiteres Beispiel zeigen kann: Ein Kollege und ich hatten zufällig in derselben Stadt, aber vor je verschiedenem Publikum einen Vortrag zu halten. Wir nutzten die Gelegenheit, uns anschließend zum Abendessen zu verabreden. Dabei stellte sich heraus, dass ich zum Dank für meinen Vortrag eine Flasche Wein, er eine Schachtel Schokolade geschenkt bekommen hatte. Ich trinke jedoch kaum Alkohol und er mochte die Schokolade nicht besonders. Also haben wir kurzerhand getauscht - und jeder war zufrieden. Waren hier die ursprünglichen Gaben „misslungen“, unpassend, weil sie an den jeweiligen Vorlieben des bzw. der Beschenkten vorbeigingen? Ich zumindest habe das nicht so empfunden. Wohl: Hätte mir ein langjähriger Freund eine Flasche Wein geschenkt, wäre ich vermutlich leicht verletzt gewesen. Er müsste ja wissen, dass er mir damit keine Freude bereitet. Der Organisator des Vortrags hingegen, der mich persönlich gar nicht kannte, hatte keine Chance, das zu wissen. Die Flasche Wein als übliches Zeichen des Dankes in einem solchen Kontext hat deshalb trotzdem „funktioniert“. Klare Fälle gegenseitigen Gebens, die sowohl von einer sozialen Verpflichtung als auch von Äquivalenz geprägt sind, lassen sich beispielsweise bei wechselseitigen Einladungen unter Nachbarn finden. Hier lauten die sozialen Spielregeln häufig: Wenn man eingeladen wurde, ist die Gegeneinladung obligatorisch. Und „Du wirst selig sein, denn sie haben nichts, um es dir zu vergelten“? 117 das Gastgeschenk des einen sollte in etwa dem Gastgeschenk des anderen entsprechen. Dieses letzte Beispiel zeigt zugleich, dass es sich bei einer Gabe nicht immer um ein Objekt handeln muss, das den Besitzer wechselt. Auch Einladungen sind Gaben. Oder wir halten eine lobende Rede, um unsere Anerkennung auszudrücken. Und sofern es sich um eine materielle Gabe handelt, wird das Geben nicht selten von bestimmten Riten begleitet, die den Gegenstand als Gabe markieren: Er ist beispielsweise in Geschenkpapier eingepackt und wird mit entsprechenden Gesten überreicht. 2.2 Die „Gabe der Anerkennung“ Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren und zeigen: Die Gabe ist ein vielschichtiges und vielfältiges Ding. Welche Gestalt von Gabe nimmt man nun sinnvollerweise zum Ausgangspunkt, wenn man von Geben und Empfangen zwischen Gott und Mensch sprechen will? Meines Erachtens lohnt es sich, diese Gabe deutlich von einer Hilfeleistung oder einem Almosen abzugrenzen und die Aspekte der Anerkennung und der Beziehung in den Vordergrund zu rücken. In Anlehnung an Marcel Hénaff und Paul Ricœur verstehe ich Geben und Empfangen im Weiteren deshalb als eine symbolische Praxis gegenseitiger Anerkennung und Zuwendung, als Gesten, mit denen Beziehungen aufgenommen, dargestellt und vertieft werden sollen. 4 Dann ist das Entscheidende nicht, dass ein Ding seinen Besitzer wechselt. Im Zentrum steht vielmehr das Verhältnis der Beteiligten zueinander. Die materiellen Gaben ebenso wie Gesten und Worte stellen die symbolischen Mittel dar, mit denen diese Anerkennung ausgedrückt wird. Indem ich etwas gebe, das mir gehört, gebe ich im doppelten Wortsinn etwas ‚von mir‘, ich gebe symbolisch einen Teil meiner selbst: „Es handelt sich nicht darum, jemandem etwas zu geben, sondern darum, sich selbst jemandem zu geben vermittels von etwas.“ 5 4 Vgl. Hénaff, Preis; ders., Die Gabe der Philosophen. Gegenseitigkeit neu denken (Sozialphilosophische Studien 8), Bielefeld 2014; P. Ricœur, Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein, Frankfurt a. M. 2006, 274-326; ders., Phénoménologie de la reconnaissance - Phänomenologie der Anerkennung, in: S. Orth / P. Reifenberg (Hg.), Facettenreiche Anthropologie. Paul Ricœurs Reflexionen auf den Menschen, Freiburg / München 2004, 138-159. 5 M. Hénaff, De la philosophie à l’anthropologie. Comment interpréter le don? Entretien avec Marcel Hénaff (Esprit 282/ 2002), 135-158, hier 143. Hervorhebung im Original. Man kann das auch daran sehen, dass die gegebene Sache häufig nichts im unmittelbaren Sinn Praktisches oder Lebensnotwendiges ist, wie die Geldspende an die Erdbebenopfer, sondern etwas, das Luxus oder Überfülle markiert, seien es Blumen, Pralinen, Schmuck, die Einladung zu einem festlichen Essen oder sonst etwas, das sich der Empfänger nicht von sich aus „leisten“ würde, auch wenn er finanziell dazu durchaus in der Lage wäre. 118 Veronika Hoffmann Wenn es aber bei dieser Form der Gabe wesentlich um Beziehung geht, dann bedeutet das auch, dass im Unterschied zu einer Spende eine solche Gabe nicht einseitig bleiben kann, sondern gerade auf Gegenseitigkeit zielt. Die ideale Gabe ist hier keine, bei der der Geber auf jede Erwartung einer Gegengabe verzichtete. Vielmehr muss sie gerade als gescheitert gelten, wenn sie keine Antwort hervorruft. Denn eine ausbleibende Antwort heißt, dass der Empfänger die Gabe abgelehnt, die Anerkennungsgeste zurückgewiesen, die Beziehung verweigert hat. Gibt es also eine „Verpflichtung zur Rückgabe“ gemäß der zweiten oben gestellten Frage? Ja und nein. Es herrscht ein spezifisches Verhältnis von Freiheit und Verpflichtung, das Hénaff mit der Metapher des Spiels verdeutlicht. Es gibt einerseits gesellschaftliche „Spielregeln“ der Gabe, die das Risiko begrenzen sollen, das der Geber eingeht, wenn er dem anderen Anerkennung und Gemeinschaft anbietet. Innerhalb dieser Spielregeln kann man erwarten, dass der andere einen nicht bloßstellt, sondern zumindest „die Fassade wahrt“. Man grüßt höflich - selbst wenn man einander nicht leiden kann. Man spricht auf eine Einladung hin eine Gegeneinladung aus - auch wenn man nicht viel Lust darauf hat. Aber diese „Spielregeln“ sind andererseits mit Spielräumen der Freiheit verbunden, nicht zuletzt mit der Möglichkeit, die Spielregeln zu brechen und das Spiel zu verweigern. Ich kann meine Nachbarn ignorieren und demonstrativ in die Luft schauen, wenn mir ein Kollege auf dem Flur entgegenkommt. Das heißt, die Antwort auf eine Gabe „besteht nicht so sehr darin, die Gabe zu erwidern, als vielmehr seinerseits zu geben; nicht darin, zurückzuerstatten, sondern seinerseits die Initiative des Gebens zu ergreifen“ 6 . Die erste Gabe fordert den Empfänger gewissermaßen heraus, sich zu positionieren. Das unterscheidet diese Gestalt der Gabe markant sowohl von caritativen Praktiken als auch von ökonomischen Tauschverhältnissen: Die einen bleiben einseitig, bei den anderen ist ein symmetrischer, gleichwertiger Austausch essenziell. Die Metapher des Spiels deckt noch ein weiteres Charakteristikum der Gabe auf. Auch wenn zumeist vereinfachend von „einer“ Gabe die Rede ist, bestehen solche sozialen Praktiken doch in aller Regel nicht aus einem einzelnen Vorgang des Gebens und der antwortenden Gegen-Gabe, wie wenn ich einen Kauf bezahle, um dann den Laden zu verlassen und keinen weiteren Gedanken an den Verkäufer mehr zu verschwenden. Denn die Partner eines Gabegeschehens werden nicht „quitt“ wie nach einem Kauf (sondern im besten Fall sind nachher beide dankbar). Vielmehr zieht eine Gabe, wenn es gut geht, die nächste nach sich, geht das Spiel immer weiter: Die Beziehung will gepflegt werden. (Und 6 Hénaff, Preis, 215. Hervorhebung im Original. Übersetzung modifiziert. „Du wirst selig sein, denn sie haben nichts, um es dir zu vergelten“? 119 wenn man in einem Geschäft zum Kauf ein Geschenk obendrauf bekommt, dann hat das nicht selten einen ähnlichen Zweck, nämlich „Kundenbindung“.) Man kann die Charakteristik einer solchen „Gabe der Anerkennung“ also von drei möglichen Missverständnissen abgrenzen: 1. Missverstanden ist diese Gabe, wenn man meinte, beim Geben gehe es wesentlich um das Ding, das gegeben wird. Noch einmal sei betont: Solche Gaben gibt es durchaus. Wie wir gesehen haben, fallen insbesondere Spenden in der Regel in diese Kategorie. Und die konkreten Praktiken des Gebens und Empfangens sind nicht selten „Mischformen“, auch das wurde bereits deutlich. Aber die Grundunterscheidung bleibt wichtig: Wenn es um Anerkennung und Beziehung geht, dann ist das, was gegeben wird, wesentlich Symbol; es steht für den Geber, seine Zuwendung zum Empfänger, die bestehende oder gewünschte Beziehung zwischen den beiden. 2. Ungeeignet ist für diesen Kontext ebenso ein Verständnis der Gabe, demzufolge sie idealerweise einseitig sei. Eine solche „reine Gabe“ wird vielfach propagiert: Wer beim Geben auf eine Gegengabe hoffe, der sei schon nicht mehr ganz altruistisch nur am anderen interessiert, sondern wolle auch etwas für sich bekommen. Die Gabe sei damit schon zum Tausch „ökonomisiert“ (mindestens der Absicht des Gebers nach). Auch das gibt es, aber wieder scheint es mir zu einfach, hier alle Gaben über denselben theoretischen Leisten zu scheren. Wenn die Gabe Anerkennung ausdrücken und Gemeinschaft pflegen soll, kann, was auf den ersten Blick so ideal aussieht, sogar problematisch werden. Was für eine Gestalt von Beziehung wäre das letztlich, wenn der andere mir immerzu großzügig und uneigennützig gibt und seinerseits nichts von mir erwartet? In einer persönlichen, freundschaftlichen oder partnerschaftlichen Beziehung kann eine solche „Nicht-Erwartung“ unpassend sein. Wollen wir da nicht gerade, dass der andere sich etwas von uns wünscht, vor allem: dass er sich eine Beziehung wünscht, die gegenseitig ist und sich auch entsprechend ausdrückt? Will ich eine „reine Liebe“, bei der der andere von jedem Bedürfnis seinerseits absieht, oder will ich nicht auch, dass er sich freut, mich zu sehen, dass er mit mir zusammen sein möchte, dass er mich begehrt? Wieder ist es mir wichtig zu betonen, dass es hier verschiedene Fälle geben kann. Aber m. E. kommen Verhältnisse der Gemeinschaft und der Anerkennung auf Dauer nicht ohne die eine oder andere Gestalt von Gegenseitigkeit aus. Diese Gestalten können dabei sehr verschieden sein, wie wir bereits beim Kind gesehen haben, das ein Fahrrad geschenkt bekommt und ein Bild malt. 3. Das führt uns zum letzten Missverständnis: der Gleichsetzung von Gegenseitigkeit mit Symmetrie. Oft wird das ineinandergeschoben, als ob gegenseitiges Geben immer hieße, dass die Gaben auch äquivalent sein müssten - und dann sei man eben in gefährlicher Nähe zu einem quasi ökonomischen Tausch. 120 Veronika Hoffmann Auch diese Fälle gibt es, man denke an die genannte Einladung unter Nachbarn. Ähnlich unterliegen wechselseitige Geburtstagsgeschenke nicht selten einer solchen heimlichen Äquivalenzerwartung. Dann genügt möglicherweise der eine den sozialen Spielregeln, indem er das Preisschild entfernt, bevor er etwas verschenkt, der Beschenkte aber recherchiert seinerseits den Preis der erhaltenen Gabe, um seine Gegengabe entsprechend dimensionieren zu können. Aber wiederum ist das keineswegs zwingend. 3. Gabe und Anerkennung als Denkmodell für das Verhältnis von Gott und Mensch 3.1 Gottes Geben - und eine menschliche Antwort? Was gewinnt man nun, wenn man die knapp skizzierte „Gabe der Anerkennung“ als Modell für das Verhältnis von Gott und Mensch aufgreift? Zunächst gilt für ein solches Verfahren die grundsätzliche Einschränkung, die wir immer machen müssen, wenn wir menschliche Begriffe auf Gott anwenden: Ihre Aussagekraft ist begrenzt, weil sich von Gott in menschlicher Sprache nur begrenzt angemessen sprechen lässt. So wissen wir beispielsweise, wenn wir sagen, dass Gott „spricht“, dass dieses „Sprechen“ von ihm nicht in derselben Weise aussagbar ist wie von uns (wo es sich um einen physischen Vorgang handelt, der in einer bestimmten Sprache stattfindet). Aber wir versuchen dennoch, etwas von Gott und seinem Verhältnis zur Welt einzufangen, wenn wir sagen, dass er „spricht“. Was bedeutet es also zu sagen, dass Gott „gibt“? Und angesichts des vorgeschlagenen Modells stellt sich sofort die weitere Frage: Warum sollte ausgerechnet eine gegenseitige Gabe als Modell dienen, anstatt dass wir einfach in Freude und Dankbarkeit annehmen, was Gott uns schenkt, ohne uns verpflichtet zu fühlen, irgendwelche „frommen Gegenleistungen“ zu erbringen? Nehmen wir uns nicht zu wichtig, wenn wir meinen, dass Gott von uns eine Gegen-Gabe erwartete? Die letzte Frage kann bereits auf eine erste Antwortspur führen. Die eben im Blick auf eine mögliche einseitige Gabe gebrauchte Formulierung, dass man „nichts vom anderen erwartet“, ist im Deutschen in sprechender Weise doppelsinnig. Sie kann besagen: Wir stellen keine Ansprüche an ihn, oder aber: Wir trauen ihm nichts zu. Diese Doppeldeutigkeit weist darauf hin, dass es demütigend sein kann, nur empfangen, aber nicht geben zu können. „Milde Gaben verletzen den, der sie empfängt“ 7 , lautet ein im Gabediskurs viel zitiertes Wort von Marcel Mauss. Eine übergroße, nicht beantwortbare Gabe kann den Empfänger 7 Mauss, Die Gabe, 157. „Du wirst selig sein, denn sie haben nichts, um es dir zu vergelten“? 121 entwürdigen, indem sie ihm seine Kleinheit, seine Abhängigkeit vor Augen führt und die Größe des Gebers demonstriert. Die Kategorie der gegenseitigen Gabe im skizzierten Sinn scheint mir deshalb eine Möglichkeit zu sein (ich will damit nicht sagen: die einzige), um zu denken, dass der große, heilige Gott uns mit seiner Zuwendung nicht klein macht, sondern groß. Er gibt nicht ein Almosen, das uns unsere Kleinheit und Sünde erst recht bewusst machte, sondern er würdigt uns, mit ihm in Gemeinschaft zu sein, und das heißt auch: Er bittet um unsere Antwort auf seine Gabe. Andererseits kann das Modell der Gabe verhindern, dass eine solche Hochschätzung des Menschen unter der Hand zu seiner Überforderung führte oder die Bedingungslosigkeit der göttlichen Zuwendung in Frage stellte. Deswegen ist es so wichtig, dass sich in diesem Modell Gegenseitigkeit mit extremer Asymmetrie verbinden lässt. Dann muss man einerseits nicht aus Sorge vor einer „Ökonomisierung“ des Gottesverhältnisses eine strikt einseitige „reine Gabe“ Gottes postulieren, auf die der Mensch nicht zu antworten vermöchte. Andererseits aber ist diese menschliche Antwort keine „Leistung“ - sie ist so „wertlos“ wie das Kinderbild. Man könnte wohl die ganze Heilsgeschichte, die die Bibel erzählt, in dieser Perspektive der Gabe lesen. Hier müssen ein paar Andeutungen genügen: 8 Der Glaube an Gott als Schöpfer ist der Glaube an die Bedingungslosigkeit seiner „ersten Gabe“, an das Ja, das er spricht und nie zurücknimmt. So sprechen die Erzählungen in Gen 1 f. beredt davon, dass Gott diese Welt gewollt hat und mit Wohlwollen auf sie schaut. Es geht in diesen Texten bekanntlich nicht um den zeitlichen Beginn, sondern um den Grund der Welt - deshalb ist der Glaube an dieses „erste Ja“ auch ein Spiegel der Hoffnung auf Gottes „letztes Ja“, das eschatologische. Wenn wir uns als Geschöpfe und unser Leben als geschenkt verstehen, dann sprechen wir von diesem Grund, auf dem wir stehen. Und wir sprechen davon, dass wir es weder verdienen können noch müssen, leben zu dürfen. Abgesehen davon, dass wir damit hoffnungslos überfordert wären, fällt es überhaupt nicht in den Bereich dessen, was verdient werden kann. Wir befinden uns nicht im Kontext der Ökonomie, sondern der Gabe, die Anerkennung schenkt. Gottes Anerkennung, seine Zuwendung zu uns als seinen geliebten Geschöpfen, mit denen er in Gemeinschaft sein will, ist der Grund dafür, dass wir sind. Zugleich verbindet sich diese erste Gabe Gottes mit der Bitte, der Aufforderung an den Menschen, in die Beziehung zu ihm einzutreten. Biblisch wird das unter anderem in der Kategorie des Bundes formuliert. Zwischen Gott und Mensch ist ein solcher Bund notwendig extrem asymmetrisch, aber dennoch gegenseitig. Und wenn der Mensch den Bund bricht, ist das für Gott nicht gleichgültig, 8 Vgl. für die folgende sehr verknappte Skizze ausführlicher Hoffmann, Christus, 32-55. 122 Veronika Hoffmann wie die alttestamentlichen Propheten und die Deutungen der Katastrophen der Geschichte Israels deutlich machen. Wiederum gibt es jedoch andererseits ein Engagement Gottes, das dieser nicht zurücknimmt, eine Gabe, die er auch angesichts der äußersten Ablehnung noch aufrechterhält - für Christen zuhöchst greifbar in der Person Jesu Christi, des Gekreuzigten und Auferweckten. 3.2 Fruchtbare Spannungen und prekäre Ambivalenzen Diese Skizze des Gebens und Empfangens zwischen Gott und Mensch ist freilich nicht nur allzu knapp, sondern auch noch allzu glatt. Die Reflexionen auf zwischenmenschliche Verhältnisse haben gezeigt, dass Praktiken des Gebens von Spannungen, gar Ambivalenzen durchzogen sein können. Was eine Gabe ist oder sein sollte, kann unter der Hand zu einer Art Tauschhandel werden, zu einem Bestechungsversuch, zu einem Versuch, den anderen auch gegen seinen Willen an mich zu binden. Die Untersuchung von Gabepraktiken hat viel mit der Beobachtung solcher Spannungsverhältnisse zu tun. Auch für das Verhältnis von Gott und Mensch ist das Modell der Gabe geeignet, um Ambivalenzen aufzudecken. Solche Spannungsverhältnisse und ihre mögliche Verwandlung in problematische Ambivalenzen ließen sich zum Beispiel am Fall des Opfers beobachten. M. E. lassen sich gute Gründe dafür anführen, das alttestamentliche Kultopfer (zumindest auch) als eine antwortende Gabe des Volkes Israel an seinen Gott zu verstehen. Diese antwortende, „zweite Gabe“ dankt Gott für seine „ersten Gaben“: des Lebens, des Landes, der Ernte, der Tora, und bittet ihn, dass sein Segen, seine Zuwendung sich fortsetzen mögen. Wiederum handelt es sich um eine Praxis von Anerkennung, in der sich extreme Asymmetrie mit echter Gemeinschaft verbindet. Nicht zufällig begegnet als eine wesentliche Metapher, unter der das kultische Opfer verstanden wird, diejenige eines Gastmahles, zu dem Gott eingeladen wird. 9 Der große, heilige Gott ist keiner, den man ernähren müsste (vgl. Ps 50,12) oder mit dem man Tauschgeschäfte betreiben könnte. Aber er ist einer, der seinem Eigentumsvolk heilvoll zugewandt ist und der selbst „Regeln“ gegeben hat, wie es sich ihm trotz seiner Größe und Heiligkeit nähern kann: die Regeln des kultischen Opfers. Die Alttestamentlerin Ina Willi-Plein hat das emblematisch in die Formel gefasst: „Gott isst nicht, aber er lässt sich einladen.“ 10 Das heißt jedoch mitnichten, dass das Opfer in Israel auch 9 Vgl. A. Marx, Opferlogik im alten Israel, in: B. Janowski / M. Welker (Hg.), Opfer. Theologische und kulturelle Kontexte, Frankfurt a. M. 2000, 129-149. Für ausführlichere Reflexionen auf das Opfer in gabetheologischer Perspektive vgl. Hoffmann, Skizzen, 347-408. 10 I. Willi-Plein, Opfer und Ritus im kultischen Lebenszusammenhang, in: Janowski / Welker, Opfer, 150-177, hier 165 Anm. „Du wirst selig sein, denn sie haben nichts, um es dir zu vergelten“? 123 tatsächlich immer so verstanden worden wäre. Das Spannungsverhältnis des „Er isst nicht, aber er lässt sich einladen“ scheint immer wieder aus der Balance geraten zu sein. So prangern beispielsweise die Propheten Versuche an, mit Hilfe des Opfers Gott zu bestechen (vgl. Am 5,21-24). Auch unsere folgende Lektüre einer kurzen Passage aus dem Lukasevangelium wird solche Spannungsverhältnisse und nahe liegende Missverständnisse aufweisen. Weil es solche Ambivalenzen gut sichtbar und beschreibbar macht, bietet sich das Modell der Gabe als hermeneutischer Schlüssel gerade für entsprechende Zusammenhänge an. 4. Lk 14,12-14, gabetheologisch gelesen Die knappen Überlegungen zum Opfer waren ein erster Hinweis auf konkrete Gestalten, in denen sich Geben und Empfangen zwischen Gott und Mensch vollziehen kann. In der Regel werden solche Gestalten vermittelt sein über zwischenmenschliches Geben und Empfangen: Menschen empfangen Gottes Gaben durch andere Menschen. Und sie antworten auf seine Gaben, indem sie anderen Menschen geben. Aber in welcher Weise kommt Gott tatsächlich in unseren zwischenmenschlichen Gabeverhältnissen vor und was verändert sich, wenn er vorkommt? Hier ließe sich unter anderem über das Doppelgebot von Gottes- und Nächstenliebe nachdenken (Mt 22,34-40 parr.), über die Identifizierung des Weltenrichters mit den „geringsten Brüdern“ (Mt 25,40) oder über Jesus, der im Namen seines Vaters Kranke heilt, Dämonen austreibt und Sünden vergibt - Vor-Zeichen des Reiches Gottes, der eschatologischen Gabe Gottes von umfassender Heilung und Gemeinschaft. Ich möchte im Folgenden exemplarisch auf einen Text schauen, bei dem es in wenigen Versen gabetheologisch eine Menge zu entdecken gibt. „Dann sagte er [ Jesus, V.H.] zu dem Gastgeber: Wenn du mittags oder abends ein Essen gibst, lade nicht deine Freunde oder deine Brüder, deine Verwandten oder reiche Nachbarn ein; sonst laden auch sie dich wieder ein und dir ist es vergolten. Nein, wenn du ein Essen gibst, dann lade Arme, Krüppel, Lahme und Blinde ein. Du wirst selig sein, denn sie haben nichts, um es dir zu vergelten; es wird dir vergolten werden bei der Auferstehung der Gerechten.“ (Lk 14,12-14, EÜ 2016) 4.1 Die neue Gemeinschaft der Gottesherrschaft Da Praktiken des Gebens, Empfangens und Erwiderns mit Sozialverhältnissen zu tun haben, lassen sich mit ihrer Hilfe auch Über- und Unterordnungen, Abhängigkeiten und Gruppenzugehörigkeiten steuern. Mancher gehört in be- 124 Veronika Hoffmann stimmte Kreise des wechselseitigen Gebens und Empfangens hinein, andere müssen draußen bleiben. In diesen Strukturen sozialer Inklusion und Exklusion finden sich zu allem Überfluss selbstverstärkende Tendenzen. Offensichtlich gibt es Menschen, die sowohl viel geben als auch viel empfangen. Und es gibt solche, die aus diesen sozialen Netzwerken herausfallen, weil sie als Gabe-Partner zu wenig attraktiv sind. Mahlpraktiken stellen in allen Gesellschaften und Religionen ausgezeichnete Gestalten solcher Vergemeinschaftung und Abgrenzung dar. Auch bei Jesus spielen die gemeinsamen Mähler eine entscheidende Rolle. Er ist geradezu berüchtigt dafür: „Dieser Fresser und Säufer, dieser Freund der Zöllner und Sünder! “ (Mt 11,19). Typischerweise werden hier „fressen und saufen“ und die Gemeinschaft mit denen, mit denen es sich nicht gehört, Gemeinschaft zu haben, in einem Atemzug genannt. Jesus feiert in den Mählern die Zugehörigkeit der sozial Ausgegrenzten zum Reich Gottes. Das ist auch das zentrale Thema im 14. Kapitel des Lukasevangeliums, wie Claus-Peter März dargestellt hat: „Die Mahlpraxis Jesu ist auf die Teilnahme aller ausgerichtet, um das Mahl zum Erfahrungsraum der alle Grenzen überschreitenden Gottesherrschaft zu machen.“ 11 Die konkreten Mähler Jesu wie die Belehrungen und Gleichnisse, die er an sie anknüpft, geben „seiner Botschaft vom Erbarmen Gottes erfahrbare Kontur“ 12 , indem sie wieder und wieder die Inklusion der Exkludierten als entscheidendes Merkmal des anbrechenden Gottesreiches sowohl einfordern als auch konkret praktizieren. In Lk 14,12-14 ist also nicht von Almosen die Rede. Armenfürsorge kann man sicher effizienter gestalten als über ein Festmahl - aber soziale Zugehörigkeit wird in ganz wesentlichem Maß genau über solche Festmähler definiert. Die Armen, Lahmen, Krüppel und Blinden sind zwar sicher auch unfähig, in materieller Hinsicht zurückzugeben. Entscheidend ist aber, dass sie ihrerseits nicht einladen können, das heißt: Sie können auf der Ebene der Sozialbeziehungen nicht adäquat antworten. Die gabetheoretische (idealtypische) Grundunterscheidung zwischen Vorgängen, bei denen wesentlich „etwas“ gegeben wird - sei es in ökonomischer oder in caritativer Form - und Praktiken der Anerkennung und Gemeinschaft erweist sich an dieser Stelle einmal mehr als hilfreich. Denn da sich die Anerkennung auch in materiellen Zusammenhängen ausdrückt, scheinen die Phänomene auf den ersten Blick verwechselbar: Die Armen werden bei einem solchen Festmahl sicher auch satt. Und wie wir gesehen haben, können die Grenzen zwischen den Gestalten der Gabe tatsächlich fließend sein. Aber ihre grundsätzliche Unterscheidung bleibt wichtig. Damit soll natürlich nicht 11 C.-P. März, Das Fest des göttlichen Erbarmens - Lk 14,1-24, BiLi 81/ 2008, 249-253, hier 252. 12 März, Fest, 249. „Du wirst selig sein, denn sie haben nichts, um es dir zu vergelten“? 125 bestritten werden, dass auch Almosen Thema des Evangeliums sind. Aber mit ihnen ist es aus der Perspektive der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu noch nicht getan. Denn wenn ein Almosen sich zugleich den anderen „vom Hals hält“, ihn klein hält oder draußen stehen lässt, dann erfüllt es nicht die Forderung von Lk 14. Vielmehr sind die Geber in Lk 14 aufgefordert, die Empfänger „an sich herankommen“ zu lassen, indem sie sich mit ihrer Essenseinladung ihnen gegenüber so verhalten, wie sie das sonst (nur) ihren Freunden und Verwandten gegenüber tun. „Die wahre Barmherzigkeit wird nicht in Begriffen des Almosengebens, sondern des Festes ausgedrückt ( ) Von daher betrachten die Jünger und Jüngerinnen Jesu die Ausgestoßenen und Randständigen als Verwandte, Freunde und Freundinnen.“ 13 4.2 „Sie haben nichts, um es dir zu vergelten“? Eine solche gabetheologische Lesart provoziert freilich sofort einen Einwand. Kann eine solche soziale Inklusion überhaupt gelingen? Schließlich bleibt die Gabe hier einseitig, die Blinden, Bettler, Lahmen und Krüppel können ja gerade keine Gegeneinladung aussprechen. Widerspricht das nicht dem, was wir zur Struktur der „Gabe der Anerkennung“ gesagt hatten? Werden die Eingeladenen nicht im schlimmsten Fall noch zusätzlich gedemütigt durch eine Einladung, bei der sie „fehl am Platz“ sind und die sie nicht erwidern können? Der Einwand ist berechtigt und die Gefahr, dass das geschieht, vermutlich nie ganz aus der Welt zu schaffen. Die christlichen Gemeinden haben sich an dem Problem immer wieder abgearbeitet und sind dabei Ambivalenzen nicht immer entkommen, wie wir noch sehen werden. Auch die Lukasperikope bietet keine glatte Lösung, aber doch einen Hinweis auf eine mögliche Lösungsrichtung. Und dieser Hinweis ist bemerkenswert. Denn er stellt sich quer zu einer rein moralischen Lesart des Textes im Sinn einer ausschließlichen Aufforderung zu selbstlosem Handeln. Die Perspektive ist stattdessen ganz und gar diejenige des Reiches Gottes. Aus moralischer Sicht gilt: Das Gute ist zu tun, weil es gut ist, ohne dass man fragt, was man davon hat. Jesus aber erklärt hier gerade, „was man davon hat“, wenn man so handelt: „Du wirst selig sein, denn sie haben nichts, um es dir zu vergelten; es wird dir vergolten werden bei der Auferstehung der Gerechten.“ Damit wird im ersten Moment die problematisierte Einseitigkeit sogar betont: „denn sie haben nichts, um es dir zu vergelten“. Dann jedoch wird sie überraschend aufgebrochen. Es wird schließlich doch eine Form von Gegengabe geben, denn „es wird dir vergolten werden bei der Auferstehung der Gerechten“. 13 F. Bovon, Das Evangelium nach Lukas. Teilbd. 2: Lk 9,51-14,35, Zürich u. a. 1996 (EKK; III/ 2), 493. 126 Veronika Hoffmann Dass hierin ein Lösungspotenzial und nicht vielmehr eine Problemverschärfung liegen soll, ist freilich nicht unmittelbar offensichtlich. Nicht wenige Ausleger der Perikope haben sich an dieser Verheißung eines „eschatologischen Lohnes“ gestoßen. So sieht z. B. Hermann-Josef Venetz den soeben geäußerten Verdacht der Missachtung der Empfänger in Lk 14 bestätigt: „So sehr Lukas in den Fußstapfen Jesu steht, so sehr er dessen vorrangige Option für die Armen geteilt hat, so sehr er von der Nachfolgegemeinschaft von Gleichgestellten überzeugt war: Das Wort in Lk 14,12-14 lässt die Vermutung aufkommen, dass er den Standort der Armen, Krüppel, Blinden und Lahmen nie wirklich eingenommen hat.“ 14 Diese Armen würden bei Lukas bloße „Objekte, denen die Reichen Gutes tun“, statt „Subjekte einer Gemeinschaft von Gleichgestellten“ 15 . In seiner Argumentation habe Lukas „mit Rücksicht auf das den Reichen innewohnende geschäftliche Berechnen hauptsächlich auf die Vergeltung“ 16 gesetzt. Damit stehe er aber nicht mehr voll auf dem Boden der Position Jesu. Denn dieser habe das Gegenseitigkeitsprinzip „prinzipiell in Frage gestellt“ 17 . Und Albert Vanhoye scheint gar entschlossen, die Lohnverheißung in Lk 14,14 einfach zu ignorieren, wenn er ausgerechnet unter Verweis auf diesen Text über die Gabe im Neuen Testament schreibt: „Statt die Gegenseitigkeit der Leistungen zu erstreben, muss man sie fortan geradezu fliehen (Lk 14, 12 ff.).“ 18 Zielte der Text wirklich darauf, jede Form von Gegenseitigkeit zu Gunsten einer „reinen“, einseitigen Gabe abzulehnen, dann wäre die Lohnverheißung am Ende in der Tat ein kaum erklärbarer Störfaktor. Und es bliebe erst recht fragwürdig, ob nicht einmal mehr Marcel Mauss’ Diktum zutrifft: „Milde Gaben verletzten den, der sie empfängt.“ 19 Nimmt man die Lohnverheißung hingegen als integralen Bestandteil des Textes ernst, dann kann man Mehreres entdecken: Zum einen ist für Lk 14 offensichtlich der Prozess, den die Einladung der Ausgeschlossenen anstoßen will, erst dann wirklich abgeschlossen, wenn eine neue Gegenseitigkeit des Gebens und Empfangens hergestellt ist. Das ist aber angesichts der „Antwort-Unfähigkeit“ der primären Empfänger nur so möglich, dass ein anderer für sie eintritt: dass Gottes Gegengabe an die Stelle der unmöglichen Gabe der Armen tritt. So ist die für den Moment nicht erreichbare 14 H.-J. Venetz, „Und du wirst selig sein…“. Kritische Beobachtungen zu Lk 14,14, in: D. Böhler / I. Himbaza / P. Hugo (Hg.), L’écrit et l’esprit. Études d’histoire du texte et de théologie biblique en hommage à Adrian Schenker (OBO 214), Fribourg 2005, 394-409, hier 409. 15 Venetz, „Und du wirst selig sein…“, 407. 16 Venetz, „Und du wirst selig sein…“, 408. 17 Venetz, „Und du wirst selig sein…“, 400. 18 A. Vanhoye, Art. „Gabe“, in: X. Léon-Dufour (Hg.), Wörterbuch zur biblischen Botschaft, Freiburg 2 1967, 207 ff., hier 208. 19 Mauss, Die Gabe, 157. „Du wirst selig sein, denn sie haben nichts, um es dir zu vergelten“? 127 Gegenseitigkeit als eine gekennzeichnet, die zwar ausgesetzt ist, aber nicht vollständig aufgehoben. Es wird durchaus eine Gegengabe geben, denn ein anderer „springt in die Bresche“ und antwortet. Dies geschieht jedoch nicht einfach im Sinn einer bruchlosen Fortsetzung üblicher zwischenmenschlicher Gebeverhältnisse. Vielmehr fordert der Text bei aller Hoffnung auf eine letztliche Gegenseitigkeit doch eine radikale Verhaltensänderung seiner Hörer, indem sie zunächst aus den üblichen sozialen Verhaltensmustern ausbrechen und auf absehbare Zeit auf eine Gegeneinladung verzichten. Zum zweiten lässt sich die Anstößigkeit der Lohnverheißung relativieren. Diese scheint ja ein ökonomisches Bedachtsein auf den eigenen Vorteil noch zu unterstützen, anstatt ihm entgegen zu halten, das Gute sei schlicht zu tun, weil es das Gute ist. Die gabetheoretischen Grundüberlegungen haben jedoch auf die Notwendigkeit von Differenzierungen aufmerksam gemacht: Nicht jede Gabe hat die gleiche Zielrichtung und die gleiche Funktion. Lk 14,12-14 gehört in eine andere „Gabe-Kategorie“ als ein strikt altruistisches Geben, das die Not des Nächsten lindern will. Wenn dieser Text zur Ausweitung von Gemeinschaftsverhältnissen angesichts des anbrechenden Reiches Gottes auffordert und deswegen soziale Gabezusammenhänge, keine caritativen, in den Blick nimmt, dann ist es plausibel, dass er in seiner Argumentation eine in diesen Rahmen passende Handlungsmotivation wählt. Diese besteht deswegen nicht in einem Appell zu altruistischer Einseitigkeit, sondern eben in der Verheißung, dass auch die zunächst notwendig einseitige Gabe sich schließlich zu echter Gegenseitigkeit und Teilhabe für alle runden wird. 4.3 „Es wird dir vergolten werden bei der Auferstehung der Gerechten“? Diese Überlegungen lassen sich noch etwas vertiefen, wenn wir aus gabetheologischer Perspektive einen kurzen Blick auf die Rede vom eschatologischen Lohn im Neuen Testament insgesamt werfen. Es gibt wohl kaum eine zeitgenössische Erklärung der biblischen Lohnmetaphorik, die diese nicht bis fast zum Zerreißen spannt. So heißt es beispielsweise bei André Birmelé im Blick auf Paulus: „Auch wenn der Gerechtfertigte für seine guten Taten einen Lohn erhält (1 Kor 3,8.14; 9,25), in einem Gericht nach Werken (Röm 2,6f; 2 Kor 5,10; Gal 6,8f), so ist dieser nur ein Lohn der Gnade (Röm 4,4f), denn die guten Werke des Menschen sind durch Gottes Geist gewirkt. Als Gnadengaben können sie keinen Anspruch auf Lohn erheben und können Gott nicht entgegengehalten werden (Röm 8,14; 2 Kor 1,22).“ 20 20 A. Birmelé, Art. „Lohn / Lohnsystem. I. Dogmatisch“, RGG⁴ Bd. 5, Tübingen 2002, 503ff, 504. 128 Veronika Hoffmann Und Gisbert Greshake fordert, es dürfe „die Metaphorik bzw. Analogie dieses Begriffs (Ähnlichkeit bei größerer Unähnlichkeit) nicht übersehen werden: Der aus der menschlichen Erfahrung bekannte Lohn- Gedanke steht wesentlich im Kontext von Leistung und ‚verdienter‘ Bezahlung und mithin im Horizont der iustitia distributiva, die (…) durch die Überzeugung von ‚Lohn‘ als reiner Gabe Gottes aufgebrochen wird.“ 21 Eine sachgerechte Interpretation der Lohnmetapher muss also die Gefahr einer ökonomistischen Interpretation im Sinn einer solchen Verteilungsgerechtigkeit (iustitia distributiva) ausschließen, ohne andererseits die neutestamentliche Rede vom Lohn zu völlig „uneigentlicher“ - und damit letztlich: unangemessener - Rede zu erklären. Wie geht das? Es war bereits die Rede davon, dass in einer gabetheologischen Lesart der Heilsgeschichte alles mit Gottes „erster Gabe“ beginnt, die er bedingungslos gibt und nie zurücknimmt. Und diese „erste Gabe“ hat ihre Spiegelung in der Hoffnung auf Gottes „letzte“, eschatologische Gabe. Diese, die Vollendung des Reiches Gottes, ist es, die die Evangelien in endzeitlichen Bildern beschreiben - sehr oft, wie hier bei Lukas, im Bild des Mahles. Auf sie zielt die Metaphorik vom eschatologischen Lohn und verweist zugleich auf die grundsätzliche Unvollkommenheit aller Gabe- und Anerkennungsbeziehungen diesseits der Vollendung. Menschliches Handeln unter dem Leitstern des Reiches Gottes bewegt sich damit „zwischen“ der „ersten“ und der „letzten Gabe“ Gottes und versucht, seine „Gabe-Logik“ in aller Unvollkommenheit bereits zur Darstellung zu bringen. In diesem „Zwischenraum“ steht die Forderung von Lk 14, aus bestimmten sozialen Spielregeln des Gebens und Empfangens oder ihrer Verweigerung auszubrechen. Die Perspektive des anbrechenden Reiches Gottes stört also unsere Gabepraktiken und fordert zu ihrer Veränderung heraus. Aber sie erweitert auch unsere Möglichkeiten. Denn die Kraft zu einem solchen Verhalten gegen die sozialen Spielregeln, die dazu nötige innere Stabilität kann aus eben diesem „Rahmen“ des umfassenden Gebens Gottes kommen, in dem wir uns gehalten wissen dürfen. So geht es nicht um einen übermenschlichen totalen Verzicht auf eine Reziprozität der Anerkennung. Sondern Gott bürgt gewissermaßen selbst für eine letzte Gegenseitigkeit. Wohl aber geht es darum, aus der Sicherheit der „größeren Gabe Gottes“ heraus im Spiel um gesellschaftliche Anerkennung zurückzustecken. Und das Bild des eschatologischen Lohnes enthält nicht nur eine deutliche zeitliche Verzögerung, sondern markiert auch die bleibende Unver- 21 G. Greshake, Art. „Lohn. I. Begriff“, LThK³ Bd. 6, Freiburg 1997, 1036 (Hervorhebung im Original). „Du wirst selig sein, denn sie haben nichts, um es dir zu vergelten“? 129 gleichlichkeit von göttlicher und menschlicher Gabe. Die verheißene Gottesgemeinschaft ist „nicht von dieser Welt“: Die Weise, in der Gott in unsere Gebeverhältnisse eintritt, ist nicht innerweltlich verrechenbar. 4.4 Die bleibende Herausforderung Kann diese eschatologisch erhoffte Gegenseitigkeit in innerweltlichen Kontexten von Armut und sozialer Statusdifferenz zumindest aufscheinen? An diesem Problem haben sich die christlichen Gemeinden von ihren Anfängen an abgearbeitet und dabei eine ganze Reihe von - verschieden erfolgreichen und verschieden überzeugenden - Strategien entwickelt, um das auf materieller Ebene einseitige und einseitig bleibende Geben zu redefinieren. 22 So dachte man beispielsweise die Armen als mit einem besonderen Zugang zu Gott ausgestattet. Ihr Gebet war deshalb seinerseits für den Almosengeber von Wert. Während diese Figur deutlich „ökonomische“ Tendenzen hat, verwenden andere Interpretationsfiguren stärker soziale Reziprozitätsmuster. Eine wichtige Rolle spielte die Identifizierung der Armen mit Christus in Anlehnung an Mt 25,40, aber auch die Idee einer Freundschaft zwischen Geber und Empfänger. Hier stand v. a. Lk 16,9 im Hintergrund, aber das Motiv begegnet implizit ebenso in Lk 14,12-14, wie wir gesehen haben. Gerade diese Vorstellung scheint jedoch von Seiten mancher Geber nicht ohne Schwierigkeiten akzeptiert worden zu sein. Deshalb wurde die „Freundschaft“ nicht selten näher qualifiziert, um die Idee annehmbarer zu machen. Die Armen konnten beispielsweise als Freunde nicht des Wohltäters selbst, sondern als Gottes Freunde vorgestellt werden - dem wiederum der Wohltäter Freund sein wollte. Oder man sprach nicht von Freundschaft, sondern von Familienverhältnissen (wiederum ein Motiv, das sich auch aus Lk 14,12-14 ableiten lässt): Die Beziehung zwischen Geber und Empfänger sei eine wie zwischen Eltern und Kindern oder zwischen Geschwistern. Diese Metaphern (und weitere, die sich ergänzen ließen) setzen aus gabetheoretischer Sicht verschiedene Akzente: Wir treffen eher am Lohnmotiv orientierte und eher beziehungsorientierte, eher asymmetrische (Eltern und Kinder) und 22 Vgl. zum Folgenden v. a. R. Finn, Almsgiving in the Later Roman Empire. Christian promotion and practice (313-450) (Oxford classical monographs), Oxford u. a. 2006. Im NT ließe sich eine solche Strategie insbesondere bei Paulus im Zusammenhang seines „Kollektenprojekts“ in 2Kor 8 f beobachten. Vgl. S. Joubert, Paul as Benefactor. Reciprocity, strategy and theological reflection in Paul’s collection (WUNT II/ 124), Tübingen 2000; M. L. Frettlöh, Der Charme der gerechten Gabe. Motive einer Theologie und Ethik der Gabe am Beispiel der paulinischen Kollekte für Jerusalem, in: J. Ebach (Hg.), „Leget Anmut in das Geben“. Zum Verhältnis von Ökonomie und Theologie ( Jabboq 1), Gütersloh 2001, 105-161; Hoffmann, Skizzen, 514-517. Instruktiv für spätere Zeiten ist: N. Z. Davis, Die schenkende Gesellschaft. Zur Kultur der französischen Renaissance, München 2002. 130 Veronika Hoffmann eher symmetrische (Freundschaft) etc. Alle aber zielen auf die Herstellung - zumindest die Fiktion - von Reziprozität dort, wo bis auf Weiteres unvermeidlich einseitige Verhältnisse herrschen. Sie wollen die Armen statt zu Objekten, an denen nur gehandelt wird, zu aktiven Teilhabern an den sozialen Praktiken des Gebens, Empfangens und Erwiderns machen und damit ihre Würde wahren. Die Missbrauchsanfälligkeit der Überlegungen liegt freilich klar zu Tage: Aus dem Gabentausch konnte unter der Hand ein ökonomischer Tauschhandel werden („Tausche Almosen gegen Fürbitte“). Und von da aus ist es nur ein Schritt dazu, die Armen als ein Mittel zu verstehen, mit dessen Hilfe die Reichen ihr ewiges Heil erlangen konnten - und dies, ohne ihren Reichtum ganz aufgeben zu müssen. Neben der Problematik merkantiler Vorstellungen von Heilserwerb werden damit auch die Versuche der Inklusion konterkariert: Die Armen „vor der Kirchentür“ konnten dadurch als Arme von Bedeutung sein, so dass es geradewegs erstrebenswert erscheinen konnte, dass sie auch „vor der Tür“ bleiben. 23 So bleiben in allen diesen Versuchen Spannungen und Ambivalenzen. Eine Theologie der Gabe tut gut daran, gerade auch auf sie ihren Blick zu richten und nach kontextuell je möglichst angemessenen Denkfiguren zu suchen, um die bleibende Herausforderung von Texten wie Lk 14,12-14 aufzunehmen: die Herausforderung zu Veränderungen in unserer gesellschaftlichen Praxis, weil unsere zwischenmenschlichen Praktiken des Gebens und Empfangens dafür in Anspruch genommen werden, die göttliche „Gabe der Anerkennung“ sichtbar und erfahrbar zu machen. Dass sich dabei menschliches Geben und das vorgängige, verheißene und je größere göttliche Geben „überkreuzen“, macht es möglich, dass Lk 14,12-14 nicht nur eine Forderung ausspricht, sondern auch eine Verheißung. 23 Das weist auf eine grundsätzliche Grenze dieser Denkfiguren hin, die zugleich eine Grenze des Modells der Gabe selbst ist: Die Rechte der Armen können auf diese Weise kaum in den Blick kommen. Buchreport Friederike Oertelt Matthias Adrian Mutuum date nihil desperantes (Lk 6,35). Reziprozität bei Lukas Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019 (NTOA / StUNT 119) 390 S., gebunden, ISBN 978-3-525-57066-1 Zeitschrift für Neues Testament 23. Jahrgang (2020) Heft 46 132 Friederike Oertelt Die 2017 bei Martin Ebner in Bonn fertiggestellte und für den Druck überarbeitete Dissertation widmet sich dem Wohltätigkeitskonzept des lukanischen Doppelwerks im Kontext des zeitgenössischen Diskurses, der von zwei koexistierenden und zugleich miteinander in Konflikt stehenden Austauschprinzipien geprägt ist: der traditionellen Reziprozität und marktwirtschaftlichen Handlungsbeziehungen. Beide Austauschprinzipien werden, so Adrians These, von Lukas in seinen Texten aufgenommen. Anhand der Analyse ausgewählter Texte des Lukasevangeliums und der Apostelgeschichte zeige sich, dass der Verfasser des Doppelwerks eine eigene Haltung einnehme, die sich kritisch mit der zur Zeit der Entstehung des Doppelwerks im Vormarsch befindlichen Marktmentalität auseinandersetzt. Hierbei blendeten die lukanischen Texte - im Unterschied zum zeitgenössischen philosophischen Reziprozitätsdiskurs - die reale Situation marginalisierter Gruppen nicht aus. Sie beurteilten nämlich den Austausch nicht aus der Perspektive der Gebenden, sondern aus der Perspektive der Empfangenden und forderten von den Vermögenden, radikale Konsequenzen zu ziehen. Dies gelte sowohl für innergemeindliche Verteilungskonflikte als auch für den Austausch mit der außergemeindlichen Umwelt. Im ersten Teil des Buches nimmt Adrian anhand der Analyse von Senecas Schrift De Beneficiis eine Bestimmung zeitgenössischer Wohltätigkeitskonzepte vor (Kapitel 2). Der Vergleich mit Ciceros Ausführungen zum Wohltätigkeitsdiskurs in der Schrift De Officiis (Kapitel 3) zeigt die veränderte Einstellung der Elite der Kaiserzeit zur Wohltätigkeit im Vergleich zur Einstellung in der ausgehenden republikanischen Zeit (Kapitel 4-5). Auf dieser Grundlage erfolgt dann im zweiten Teil des Buches die Untersuchung ausgewählter Lukastexte (Kapitel 6-10). Adrian zieht hierbei auch Texte heran, die bisher kaum oder gar nicht im Kontext des Reziprozitätsdiskurses gelesen wurden. Die intensive und kenntnisreiche Auseinandersetzung und der souveräne Umgang mit den zeitgenössischen Quellen zum Wohltätigkeitsdiskurs bildet ein beeindruckendes Fundament und einen Erkenntnisgewinn für die im zweiten Teil folgende Exegese der lukanischen Einzeltexte. Zu Beginn der Arbeit (Kapitel 1) nimmt Adrian eine Bestimmung des Begriffs der Reziprozität vor. Es folgen Anmerkungen zu einem reflektierten Umgang mit soziologischen Theorien auf unterschiedliche historische Zusammenhänge sowie ein kurzer Forschungsüberblick. Adrian greift hierbei die in der Sozialgeschichte von Stegemann/ Stegemann beschriebenen unterschiedlichen Arten der Reziprozität auf. Etwas unklar bleibt allerdings die vom Verfasser nur sehr knapp vorgenommene Abgrenzung von reziproken Austauschbeziehungen und dem Phänomen des Gabentauschs. Es folgt eine kurze Beschreibung der wesentlichen Bereiche für reziproke Beziehungen in der Antike: das Patronat und das Phänomen des Euergetismus. Schon hier sei angemerkt, dass in der anhand Buchreport 133 einer beeindruckenden Anzahl von Quellen vorgenommenen diachronen Analyse der beiden Phänomene eine große Stärke der Arbeit gegenüber bisherigen Arbeiten zur Reziprozität liegt. In Kapitel 4-6 analysiert Adrian den römischen Wohltätigkeitsdiskurs. Er zeigt hierbei, dass sich von Ciceros Schrift De Officiis hin zu Senecas Schrift De Beneficiis Veränderungen im Wohltätigkeitswesen zeigen lassen, die ihre Ursache in der im Prinzipat veränderten Gesellschaftsstruktur haben. Bei Cicero ist der Gemeinschaftsbezug für Wohltaten essenziell. Ehrenwertes Handeln im Dienst des Staates und der Nutzen für den Einzelnen stehen bei ihm nicht gegeneinander. Dies ändert sich mit dem Prinzipat grundlegend. Durch die veränderte Elitenstruktur, die nun nicht mehr horizontal zwischen den Angehörigen eines Status besteht, sondern vertikal auf den Princeps ausgerichtet ist, würden Wohltaten „von oben nach unten“ verteilt. Diese politisch veränderte Situation führt unter anderem, so Adrian, zu einer Entsolidarisierung innerhalb der Statusgruppe der Senatoren. Weiter kommt es dazu, dass bisherige Patrone zu Klienten des Princeps werden, der sich als Wohltäter inszeniert. Ihre bisherigen Klienten seien nur noch Zuschauer der Selbstinszenierung der Elite. Als weitere einschneidende Veränderung in der Zeit des Prinzipats nennt Adrian den wirtschaftlichen Aufschwung, der zu einer unkritischeren Bewertung von Gewinn und Profit führte. Dies habe wiederum Folgen für die Austauschmentalität. Denn der marktwirtschaftliche Warenaustausch ist allein auf den Profit ausgelegt und damit auf den individuellen Nutzen des Einzelnen. Auf der Grundlage der gesellschaftlichen Analyse werden von Adrian nun ausgewählte lukanische Texte analysiert. Hierbei stehen mit der Feldrede (Lk 6,20-49), dem Magnifikat und Benedictus, dem Gleichnis vom reichen Kornbauern (Lk 12) und dem Motiv der engen Tür (Lk 13,22-30; 16,19-31) die Texte des Evangeliums gegenüber denen der Apostelgeschichte (Apg 5,1-12; 24-26) im Zentrum. Das methodische Vorgehen Adrians ist hierbei so angelegt, dass in einem ersten Schritt eine Verortung des Textabschnitts vorgenommen wird und dessen Form, semantisches Inventar und Inhalt bestimmt werden. In einem weiteren Schritt wird anhand der Ergebnisse aus der Textanalyse die Perikope unter Heranziehunng antiker Quellen innerhalb des Reziprozitätsdiskurses verortet und die lukanische Position herausgearbeitet. Aufgrund der beeindruckenden Fülle an antiken Quellen, die Adrian aufbietet, und die den Rahmen einer Rezension sprengen würden, beschränkt sich die folgende Darstellung im Wesentlichen auf die Ergebnisse zur Haltung des Lukas innerhalb des zeitgenössischen Diskurses. Als „Grundprogramm der lukanischen Reziprozität“ werden in Kapitel 6 die beiden Begriffe charis und misthos im Kontext der Feldrede (Lk 6,20-49) identifiziert. Im Kontext der Makarismen und Wehrufe sind zwei Entscheidungen 134 Friederike Oertelt für die von Adrian folgende Deutung im Reziprozitätsdiskurs wesentlich: Zum einen richten sich Makarismen und Wehrufe an die Jüngergruppe. Diese sei der Textstruktur nach aus armen und reichen Jüngern vorzustellen. Zum anderen liest Adrian Lk 6,20-26 auf dem Hintergrund des antiken Festkontextes. Dieser leider nicht näher begründete Festkontext ermöglicht es Adrian, einen Bezug zur Verteilung von Nahrungsmitteln bei öffentlichen Festen herzustellen. Adrian kommt zu dem Ergebnis, dass Lukas mit den Wehrufen die Reichen innerhalb der Gemeinde dazu auffordert, sich der zeitgenössischen, immer stärker marktwirtschaftlich bestimmten Mentalität zu entziehen und auch denen zu geben, von denen keine „profitable“ Gegengabe zu erwarten ist. Im Zentrum von Lk 6,27-38 steht nach Adrian der Lohnbegriff (misthos), welcher im zeitgenössischen Diskurs marktwirtschaftlich zu verorten ist und dort als der persönliche Lohn des Einzelnen verstanden wird. Ihm gegenüber stehe der Begriff der charis, welcher innerhalb des Wohltätigkeitsdiskurses beheimatet ist und auf eine Erhöhung des Ansehens einer Person zielt. Die Passage Lk 6,27-38 sei aufgrund des semantischen Inventars auf dem Hintergrund des antiken Geldverleihsystems zu verstehen. Allerdings formuliere Lukas - im Unterschied zum antiken Diskurs - nicht eine Aufforderung an die Gebenden, Wohltätigkeit zu erweisen. Vielmehr sei insbesondere Lk 6,35 - der Vers, der das Buch überschreibt - als Versicherung zu verstehen, dass im Falle einer Wohltätigkeit nichts verloren gehe. Denn die Gebenden würden nach Lukas als „Lohn“ in die Gemeinschaft der Gläubigen aufgenommen. Zudem würden sie mit der Sohnschaft des Höchsten (V.- 35e-f) eine größere charis wiederbekommen als sie geben konnten. Für die Reziprozitätsbezüge der beiden Lobpreisungen Marias und Zachariasʼ ist nach Adrian neben dem semantischen Inventar die Form des Hymnos bzw. Enkomions von Bedeutung, da ein Enkomion oder Hymnos auf die Sicherstellung der charis des angesprochenen Gegenübers ausgerichtet ist. Somit ist es auf ein Austauschverhältnis zwischen dem Enkomiasten und dem Besungenen ausgelegt. Die sozialgeschichtliche Verortung des Magnifikat zeigt sich nach Adrian in Lk 1,53: Die Wohltaten an den Hungernden könnten auf dem Hintergrund der Nahrungsmittelverteilungen in Rom und auch in kleinasiatischen Städten verstanden werden. Insbesondere in den kleinasiatischen Städten, in denen die Nahrungsmittelverteilungen mit privaten Aufwendungen der Amtsinhaber verbunden waren, sank jedoch die Bereitschaft, ein Amt zu übernehmen. Daher wurden den Stiftern als Anreiz Ehrentitel angeboten. Hierzu zählt auch der im Magnifikat auf Gott bezogene Titel des sōtēr. Gott rücke daher in beiden Hymnen in die Rolle der städtischen Amtsinhaber, die bei der Versorgung der Bedürftigen versagt haben. Ähnlich wie schon Lk 6,20-49 durchbreche das Magnifikat daher zeitgenössische Reziprozitätsvorstellungen, indem hier diejenigen Buchreport 135 versorgt werden, die kaum in der Lage sind, ein zyklisch ablaufendes Reziprozitätsverhältnis einzugehen. Handelt es sich im Magnifikat um städtische Eliten, denen Versagen vorgeworfen wird, so thematisiere der Lobgesang des Zacharias die Erwartung eines Retters, der als Gegennarrativ der Eliten installiert wird und Frieden und Gerechtigkeit bringen wird. Im Zentrum der Auslegungen zum Gleichnis des reichen Kornbauern stehen Überlegungen zum Umgang mit den agatha im zeitgenössischen Kontext des Doppelwerks. Diese agatha, so arbeitet Adrian anhand der Quellen heraus, bezeichneten Güter, die anteilig an die Gemeinschaft abzuführen waren. Die Einstellung des Kornbauern bei Lukas, der seine agatha nicht der Gemeinschaft zukommen lasse, sondern Profit machen möchte, spiegle den bereits in Kapitel 4 und 5 von Adrian besprochenen Mentalitätswandel in der Zeit des Prinzipats wider und werde von Lukas durch die Gottesrede (Lk 12,20) klar verurteilt. Die lukanische Alternative zwischen Euergetismus und Marktwirtschaft findet sich nach Adrian im Anschluss an das Gleichnis in Lk 12,33. Hier werden die Vermögenden nicht nur zum Verkauf des Besitzes aufgefordert, sondern zudem zum Almosengeben aufgerufen. Insbesondere letzteres unterlaufe sowohl ein marktwirtschaftliches als auch das reziprokale Denken, da die Almosengabe nicht auf eine persönliche gegenseitige Verpflichtung aus sei. Ebenso wie in Lk 6 richte sich Lukas in Lk 12 an die Vermögenden unter den Christusgläubigen. Die beiden Perikopen Lk 13,22-30 und Lk 16,19-31, in denen die Tür und das Haus zentrale Motive sind, versteht Adrian auf dem Hintergrund der etablierten Rituale der Morgenaufwartung (salutatio) und des abendlichen Essens und Trinkens (cena). Auch hier positioniere sich Lukas innerhalb eines innergemeindlichen Konflikts, der sich zwischen wandernden Missionaren und christusgläubigen Hauseignern ereigne. Die vorgenommene genaue architektonische Bestimmung des Haustyps scheint allerdings weniger für die Deutung der beiden Perikopen ausschlaggebend, als für die abschließende geographisch angedachte Verortung des lukanischen Doppelwerks in Rom von Bedeutung, die hier etwas überraschend als Ergebnis formuliert wird. In der lukanischen Darstellung können unter denjenigen, die vor der Tür stehen, die wandernden Missionare verstanden werden. An ihnen sollen die Hausbesitzenden vor Ort nicht-reziprokale Gastfreundschaft üben. Das Gleichnis von Lazarus und dem reichen Mann untermauert diese Aufforderung noch einmal, indem in Form der Schilderung eines eschatologischen Gastmahls prophetische Autoritäten aufgerufen werden. Den Abschluss der Arbeit bieten zwei im Vergleich zu den vorherigen Kapiteln verhältnismäßig kurze Analysen zu Texten aus der Apostelgeschichte. Die Erzählung von Hananias und Saphira (Apg 5,1-12) wird von Adrian auf dem Hintergrund der zur Zeit der Entstehung des lukanischen Doppelwerks nach- 136 Friederike Oertelt lassenden Bereitschaft der Eliten, sich am „Spiel des Euergetismus“ weiter zu beteiligen, verstanden: Durch die Abgabe eines Teils ihres Vermögens an die Christusgruppe wollen die beiden zwar Anerkennung für Wohltaten erlangen, zugleich aber auch ihr übriges Vermögen unsichtbar machen, um es zur eigenen Verfügung zu haben. Diese auf dem Hintergrund des antiken Euergetismus plausible Deutung wird durch Überlegungen, die Adrian zur Rolle der jungen Männer (Apg 5,6.10) anstellt, etwas gestört. Bei diesen handelt es sich nach Adrian um junge Männer, die in den poleis für eine ehrenhafte Bestattung zuständig gewesen seien. Hananias und Saphira wurden somit trotz ihres Verstoßes euergetische Ehren zuteil. Eine Erklärung, was Lukas mit dieser Irritation in der Erzählung erzielen will, bietet Adrian leider nicht. Mit der Verschleppung des Prozesses des Paulus wird am Schluss der Arbeit der Blick noch einmal auf die zu Beginn der Arbeit beobachteten politischen Veränderungen der Elitenstruktur im Prinzipat gelenkt. Auch hier kann Adrian zeigen, dass das im Reziprozitätsdiskurs bedeutende Wort charis als Leitwort von Lukas bewusst in der Darstellung des Prozesses verwendet wird. Paulus selbst sei derjenige, der als Verhandlungsgegenstand den unterschiedlichen Beteiligten dazu dient, Gefälligkeiten (charis) gegenüber anderen zu erweisen, um die eigene Position zu verbessern. Paulus als Opfer des Prozesses sei hingegen nicht in der Lage, Gefälligkeiten zu erweisen, um seine Situation zu verbessern. Er poche daher auf Recht und Gerechtigkeit. Der Prozess des Paulus in lukanischer Darstellung zeigt nach Adrian damit, wie problematisch es für diejenigen, die nicht in etablierte Reziprozitätsnetzwerke eingebunden sind, sein konnte, sich im Falle einer Anklage Recht zu schaffen. Mit seinem Buch zur Reziprozität bei Lukas gelingt es Adrian, die bisher in der sozialgeschichtlichen Exegese verwendete Theorie wesentlich differenzierter und historisch äußerst reflektiert zu vertiefen. Die Stärke des Buches liegt in der sorgfältigen und breiten Analyse der Quellen des antiken Reziprozitätsdiskurses. Die genaue Textanalyse der lukanischen Texte zeigt gerade nicht nur das Eingebundensein der lukanischen Texte in den Reziprozitätsdiskurs, sondern ermöglicht auch eine schlüssige und pointierte Bewertung der lukanischen Position innerhalb der beiden konkurrierenden Modelle von traditioneller Reziprozität und markwirtschaftlichem Handeln. Trotzder über weite Strecken sehr überzeugenden Untersuchung sind dennoch einige Entscheidungen Adrians anzufragen. So scheint Adrian selbstverständlich von einer Lesendenschaft des lukanischen Doppelwerks bzw. von einer Sozialstruktur der lukanischen Gemeinde auszugehen, in der sich Vermögende und Arme im Konflikt befinden. Die die Arbeit durchziehende klare Gegenüberstellung von äußerst Bedürftigen und den Vermögenden der „lukanischen Gemeinde“ wirkt im Gegenüber zur sonst sehr differenzierten Analyse Buchreport 137 der römischen Gesellschaft zudem eher holzschnittartig und bezieht die neuere Diskussion über die soziale Zusammensetzung frühchristlicher Gemeinden letztlich nicht ein. Gänzlich vernachlässigt wird sowohl im Hinblick auf die Eliten als auch auf die Armen die Genderfrage. Dies verwundert in einer Arbeit, die sich unter anderem ausführlich mit dem Magnifikat auseinandersetzt. Diese Anfragen schmälern jedoch nicht die Leistung Adrians, der mit seiner Arbeit einen wichtigen Beitrag zum Reziprozitätsdiskurs leistet, der in Zukunft sicher auch über das lukanische Doppelwerk hinaus Anwendung finden wird. uistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprach uistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprach senschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik senschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik schaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Stat te \ te \ \ M \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschicht tik \ tik \ Spra Spraacherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidakt mus mus DaF DaFF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourism tik \ tik \ \ VW \ VWWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanist haft haft Theo Theoologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissensc aft \ aft \ \ Li \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenscha nik \ nik \ Hist Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechn sen sen Mat Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwiss -aft \ aft \ scha schaaft Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenscha nik \ nik \ Hist Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechn sen sen Mat Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwiss -esen esen scha schaaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwe istik istik \ Fr \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinav gie \ gie \ \ BW \ BWWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilolog Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ \ \ \ g \ \ g \ \ \ p \ p rt \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosoph ien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissensc ien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissensc d Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturw BUCHTIPP Jan Heilmann Lesen in Antike und frühem Christentum Kulturgeschichtliche, philologische sowie kognitionswissenschaftliche Perspektiven und deren Bedeutung für die neutestamentliche Exegese 2021, 640 Seiten €[D] 128,00 ISBN 978-3-7720-8729-5 e ISBN 978-3-7720-5729-8 Die Studie zeichnet ein überraschend neues Bild der griechisch-römischen Lesekultur. Sie untersucht anhand der Leseterminologie, wie Menschen in der Antike ihr eigenes „Lesen“ verstanden haben, und bezieht diese Ergebnisse auf die materiellen und sozialgeschichtlichen Zeugnisse über Leseverhalten und -bedingungen. Es werden verbreitete Annahmen widerlegt, z. B. über das grundsätzlich „laute“ Lesen, über die Verbreitung einer performativen Vorlesekultur oder über den Gottesdienst als Ort der Erstrezeption neutestamentlicher Schriften. Ein differenziertes Modell zur Beschreibung von Lesepraktiken eröffnet neue Wege für die (historische) Leseforschung auch in anderen Bereichen. Vor allem wird deutlich, dass sich die neutestamentlichen Schriften im Rahmen dieser Lesekultur verstehen lassen und z. T. für die individuell-direkte Lektüre konzipiert wurden. Damit werden auch elaborierte Lektürekonzepte plausibel, wie sie etwa das Markusevangelium voraussetzt. BUCHTIPP Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 9797 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de 46 GABE UND HANDLUNGSMACHT ZNT Heft 46 · 23. Jahrgang · 2020 ZNT Zeitschrift für Neues Testament Das Neue Testament in Universität, Kirche, Schule und Gesellschaft Susanne Luther, Christian Strecker, Manuel Vogel (Hrsg.) 46 GABE UND HANDLUNGS- MACHT www.narr.digital Das Thema „Gabe und Handlungsmacht“ trägt einem neu erschlossenen Forschungsfeld Rechnung, das sich dem Interesse der neutestamentlichen Wissenschaft an philosophischen und anthropologischen Diskursen zum Phänomen der Gabe verdankt. Da die Begriffe „Gnade“ und „Gabe“ semantisch weitreichende Gemeinsamkeiten aufweisen, liegt die Relevanz des Themas für die neutestamentliche Rede von Gott auf der Hand: Gottes Gnade stiftet ebenso wie menschliche Akte des Schenkens bzw. Gebens eine Beziehung, und die Frage lautet, wie weit in den antiken Vorstellungszusammenhängen der neutestamentlichen Schriften die Analogien zwischen göttlicher Gnade und menschlichem Geben reichen. Steht Gottes Gnade für das (menschlich unerreichbare? ) Ideal der „reinen Gabe“ oder hat auch das göttliche Gnadenhandeln einen Verpflichtungs- und Machtcharakter? Mit Beiträgen von Michael Rydryck, John M. G. Barclay, Lutz Doering, François Vouga, Stefan Schreiber, Wolfgang Kraus und Veronika Hoffmann. ZNT_2020_46_Umschlag.indd 3 ZNT_2020_46_Umschlag.indd 3 29.10.2020 09: 07: 51 29.10.2020 09: 07: 51
