ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
621
2021
2447
Dronsch Strecker VogelHerausgegeben von Susanne Luther Christian Strecker Manuel Vogel in Verbindung mit Stefan Alkier Kristina Dronsch Ute E. Eisen Jan Heilmann Werner Kahl Matthias Klinghardt David Moffitt Tobias Nicklas Hanna Roose Günter Röhser Michael Sommer Angela Standhartinger Anschrift der Redaktion Prof. Dr. Manuel Vogel Friedrich-Schiller-Universität Theologische Fakultät Fürstengraben 6 07743 Jena Manuskripte Zuschriften, Beiträge und Rezensionsexemplare werden an die Adresse der Redaktion erbeten. Eine Verpflichtung zur Besprechung unverlangt eingesandter Bücher besteht nicht. ZNT Heft 47 · 24. Jahrgang · 2021 Impressum Bezugsbedingungen Die ZNT erscheint halbjährlich (April und Oktober) Einzelheft: € 32,zzgl. Versandkosten Abonnement jährlich (print): € 52,- Abonnement jährlich (print & online): € 65,- Abonnement (e-only): € 55,- Bestellungen nimmt Ihre Buchhandlung oder der Verlag entgegen: Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 D-72015 Tübingen Telefon: +49 (0)7071 97 97 0 Fax +49 (0)7071 97 97 11 eMail: info@narr.de Internet: www.narr.de Anzeigen Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Telefon: +49 (0)7071 97 97 10 © 2021 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG ISSN 1435-2249 Die in der Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieser Zeitschrift darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Fotokopie, Mikrofilm oder andere Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsanlagen, verwendbare Sprache übertragen werden. Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ 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Sie legt dar, dass das marcionitische Evangelium das älteste Evangelium ist, das von allen kanonischen Evangelien benutzt und bearbeitet wurde. Die Folge dieser sehr genau begründeten These ist ein neues Bild von der Entstehung der Evangelien. Es unterscheidet sich grundlegend von allen anderen Modellen (z.B. der Zwei-Quellentheorie) - mit weitreichenden Konsequenzen für viele wichtige Bereiche der neutestamentlichen Wissenschaft. Die erste Auflage hatte eine intensive Diskussion ausgelöst. Diese ist in der überarbeiteten und erweiterten Neuauflage berücksichtigt worden und hat zu vielen verbesserten Rekonstruktionsentscheidungen geführt. Ein ausführliches Nachwort setzt sich kritisch mit Einwänden und der neueren Forschung auseinander. BUCHTIPP Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de Inhalt Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 NT aktuell Günter Röhser Warum eigentlich Markus? Ausgewählte Perspektiven der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Zum Thema Reinhard von Bendemann Das Markusevangelium als Herausforderung für die Theologie . . . . . . . . . . . 23 Heidrun E. Mader Narratives Gestalten paulinischer Theologoumena? Paulus und Markus im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Claire Clivaz Mk 16 im Codex Bobbiensis: Neue Materialien zur conclusio brevior des Markusevangeliums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Kontroverse Manuel Vogel Markus: Autor oder Erinnerungsfigur? Einleitung in die Kontroverse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Sandra Huebenthal Das Markusevangelium als Gründungsgeschichte verstehen Oder: Wie liest sich das älteste Evangelium als Erinnerungstext? . . . . . . . . . 89 Eve-Marie Becker Gedächtnistheorie und Literaturgeschichte in der Interpretation des Markusevangeliums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Hermeneutik und Vermittlung Gudrun Guttenberger Zur Hermeneutik des Markusevangeliums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Buchreport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Editorial Liebe Leserin, lieber Leser, über das Markusevangelium, lange Zeit als theologisch und erzählerisch anspruchsloser Text verkannt, notiert Günter Röhser in seinem Beitrag unter Rubrik NT aktuell, dass es „seit ungefähr sechzig Jahren (…) einen unglaublichen Boom an exegetischen Veröffentlichungen [erlebt], die alle mit der (Wieder-) Entdeckung des Evangelisten als profilierten Theologen und geschickten Erzähler zu tun haben“. Grund genug, dem Evangelium ein eigenes Heft der ZNT zu widmen! Nach der Einführung in aktuelle Forschungsfragen durch Günter Röhser eröffnet Reinhard v. Bendemann die Rubrik Zum Thema mit einer Würdigung des Markusevangeliums als „Herausforderung für die Theologie“. Es ist nicht zuletzt die schon häufig beobachtete Nähe zu Paulus, die das theologische Schwergewicht des Markusevangeliums ahnen lässt. Hierzu hat Heidrun Mader einen weiteren spannenden und orientierenden Beitrag beigesteuert. Auch textgeschichtlich erledigt sich das Markusevangelium keineswegs nebenbei. In einem ausführlichen Beitrag aus dem der ntl. Exegese benachbarten, häufig von dieser aber kaum wahrgenommen Feld der Textkritik führt Claire Clivaz anhand eines kleinen Details in die textkritischen Probleme des vieldiskutierten Markusschlusses ein. Unter dem Strich geht es um nicht mehr als um zwei Buchstaben, aber die Sache ist spannend wie ein Krimi, und die Auflösung wird hier natürlich nicht verraten. Die von Sandra Huebenthal und Eve-Marie Becker bestrittene Kontroverse führt eindrucksvoll vor Augen, welches Theorieniveau die Markus-Forschung u. a. auf den Feldern der Erinnerungstheorie und der antiken Literaturgeschichte inzwischen erreicht hat. Unter der Rubrik Hermeneutik und Vermittlung zeigt Gudrun Guttenberger, dass interessierte Textanwendung und valides Textverstehen durchaus zwei Zeitschrift für Neues Testament 24. Jahrgang (2021) Heft 47 unterschiedliche Dinge sind. Gerade mit dem Markusevangelium sollte man es sich hier nicht zu leicht machen. Der Buchreport stellt mit den gesammelten Markus-Studien von Cilliers Breytenbach einen Band vor, der auf eigene Weise in dreieinhalb Jahrzehnte Markus-Forschung Einblick gibt. Wir wünschen eine anregende Lektüre! Susanne Luther Christian Strecker Manuel Vogel 4 Editorial NT aktuell Warum eigentlich Markus? Ausgewählte Perspektiven der Forschung Günter Röhser Warum eigentlich Markus? - Natürlich deswegen, weil er in der Bibel steht. Aber auf den ersten Blick spricht manches dagegen, gerade das Markusevangelium in den Mittelpunkt des Interesses zu rücken: Inhaltlich scheint es weitgehend überflüssig, weil sein gesamter Stoff nahezu vollständig auch im Matthäusevangelium enthalten ist. Gegenüber seinen beiden Seitenreferenten Matthäus und Lukas scheint das MkEv merkwürdig unvollständig ( Jesu Geburt und Ostererscheinungen werden nicht erzählt), der „Anfang“ ist schwer zu bestimmen und ein richtiger Schluss scheint nicht vorhanden, die Gleichnisse sollen nach der sog. Parabeltheorie (Mk 4,11f.) die Menge (4,1) nicht für die Reich-Gottes-Botschaft gewinnen, sondern scheinbar verschließen… Aber wie gesagt, vielleicht scheint das alles nur so zu sein, und die Neugier des Auslegers und der Leserin sind dadurch jedenfalls erst recht geweckt. Des Weiteren steht das MkEv im Zentrum der historisch-kritischen Evangelienforschung, seit sich im 19. Jh. die Annahme durchgesetzt hat, es sei das älteste der vier kanonischen Evangelien. Diese Annahme kann bis heute als eines der wenigen einigermaßen gesicherten Ergebnisse der Markusforschung gelten. 1 Aber erst seit ungefähr sechzig Jahren erlebt das MkEv einen unglaub- 1 S. zuletzt A. Damm, Ancient Rhetoric and the Synoptic Problem: Clarifying Markan Priority (BEThL 252), Leuven u. a. 2013, der aufgrund der Anwendung bestimmter rhetori- Zeitschrift für Neues Testament 24. Jahrgang (2021) Heft 47 6 Günter Röhser lichen Boom an exegetischen Veröffentlichungen, die alle mit der (Wieder-)Entdeckung des Evangelisten als profilierten Theologen und geschickten Erzähler zu tun haben. Jedoch ist dies nur die Seite der wissenschaftlichen Forschung. Die andere Seite ist diejenige, die erneut fragen lässt: Warum eigentlich Markus? Das MkEv ist von allen kanonischen Evangelien dasjenige mit der schwächsten Wirkung und geringsten Rezeption in der Kirchen- und Kulturgeschichte, und d. h. auch: im Leben von christlichen Gemeinden und Menschen. 2 Michael Kok nennt es „das Evangelium am Rande“ 3 . Insofern muss die Antwort auf die Titelfrage lauten: Weil es unsere Aufmerksamkeit braucht - und verdient! Das sollen die folgenden Ausführungen zeigen, die einige Fragestellungen ansprechen sollen, denen nachzugehen sich m. E. für Wissenschaft und Praxis lohnt. 4 Aber ob das MkEv jemals seine Geheimnisse preisgeben wird? „Geheimnis“ war und ist weiterhin ein Schlüsselbegriff in vielen Untersuchungen zum MkEv, auch wenn von William Wredes Theorie vom „Messiasgeheimnis“ aus dem Jahre 1901 nur noch das Stichwort geblieben ist. Beginnen wir mit einer Textstelle, die in diesem Zusammenhang eher weniger genannt wird: In Mk 4,22 heißt es: „Denn nicht gibt es Verborgenes, außer damit es offenbar werde, und nichts ward geheim, außer damit es ins Offenbare komme.“ Peter Dschulnigg, dessen Kommentarübersetzung ich hier wiedergebe, bezieht die Stelle auf das Geheimnis des Reiches Gottes (4,11), das von den Jüngern „trotz aller Verborgenheit zu offenbaren und verkünden ist“. 5 Klaus Berger stellt den Abschnitt unter die Überschrift „Jesus erklärt, wie das Gericht sein wird“ und übersetzt: „Alles Verscher Prinzipien bei der Benutzung von Quellen eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die Posteriorität von Mt und Lk gegenüber Mk erkennt. 2 Ausnahmen bestätigen die Regel. Eine sehr bemerkenswerte ist etwa die „Catena in Marcum“, eine Anthologie patristischer Kommentare zum MkEv aus dem 5./ 6. Jh. (hg. u. übers. v. W. Lamb [TENT 6], Leiden 2012). 3 M. J. Kok, The Gospel on the Margins: The Reception of Mark in the Second Century, Minneapolis 2015 (mit ausführlicher Forschungsgeschichte zur Papias-Notiz über Markus als Verfasser, verbunden mit der These, das MkEv sei nur deshalb mit der Autorität des Petrus in Verbindung gebracht und als apostolisch akzeptiert worden, um es oppositionellen Kreisen zu entziehen, und deshalb auch nur wenig zitiert worden). S. auch J. Verheyden, The Reception History of the Gospel of Mark in the Early Church, in: G. van Oyen (Hg.), Reading the Gospel of Mark in the Twenty-First Century. Method and Meaning (BEThL 300), Leuven u. a. 2019, 395-428, wonach Markus, wenn überhaupt, dann durch die Brille von Matthäus und Lukas gelesen worden ist. 4 Einen bunten Querschnitt durch die aktuelle Markus-Forschung (mit vielen Textbearbeitungen) bietet der Sammelband: Oyen, Reading. Verschiedenste Aspekte der Markus- Forschung sind jetzt auch in dem Sammelband mit Aufsätzen von Cilliers Breytenbach vereinigt: The Gospel according to Mark as Episodic Narrative (NT.S 182), Leiden 2020. 5 P. Dschulnigg, Das Markusevangelium (ThKNT 2), Stuttgart 2007, 139 f. Natürlich erhebt sich sofort die Frage, wann dies (angesichts der anderweitigen Schweigegebote an die Warum eigentlich Markus? 7 borgene kommt dann ans Licht. Alles Geheime wird offenbar.“ 6 - Das sind sehr unterschiedliche Auslegungen. Aber könnten nicht beide im Sinne des Evangelisten, ja dieses geradezu typisch für ihn sein? Im Bereich der Verwendung von Metaphern und Symbolen fordert er den kreativen Verstehensprozess seiner Leserschaft förmlich heraus - wie Matthias Klinghardt eindrücklich am Beispiel von „Boot“ und „Brot“ gezeigt hat. 7 Und diese Erzählstrategie führt zwangsläufig zu einer gewissen Offenheit für unterschiedliche Interpretationen und Assoziationen. Doch sollte man den Versuch, zu gewissen Leitlinien für das Verständnis zu finden, nicht vorschnell aufgeben. Fangen wir mit der schwierigen Frage des „Anfangs“ an. Ein schwieriger, aber bedeutungsvoller Anfang und ein rätselhaftes, weil offenes Ende Im Folgenden gehe ich von der Annahme aus, dass die Probleme um das Verständnis von Mk 1,1 uns mitten hinein in aktuelle Fragestellungen der Markusforschung führen und zugleich in Korrelation zu der Frage des vermeintlich abrupten Schlusses in Mk 16,8 stehen. Geht es um die Übersetzung des ersten Verses im MkEv, welcher zugleich (s) eine Überschrift darstellt, so stellt sich zunächst die Frage, ob man die Wortverbindung „Evangelium Jesu Christi“ als Gen. subj. 8 (das legt die „wörtliche“ Jünger) eigentlich erfolgen soll (erst nachösterlich oder zumindest anfänglich auch schon vorher? ). 6 K. Berger/ C. Nord, Das Neue Testament und frühchristliche Schriften, Frankfurt/ Leipzig 6 2003, 403. Vgl. auch K. Berger, Kommentar zum Neuen Testament, Gütersloh 2011, 151 (mit Verweis auf das vorauszusetzende Erntebild in 4,8.20 und die Talio in V. 24). 7 M. Klinghardt, Boot und Brot. Zur Komposition von Mk 3,7-8,21, BThZ 19/ 2002, 183-202. Man könnte mühelos weitere Beispiele solcher metaphorischer Leitbegriffe hinzufügen: Weg, Wüste, Haus, Berg-… 8 So Berger/ Nord, Das Neue Testament, 394: „das Evangelium, das Jesus Christus, Gottes Sohn, verkündet hat“. Prof. Dr. Günter Röhser , Jahrgang 1956, Studium der Evangelischen Theologie in Erlangen, Heidelberg und Neuendettelsau. Promotion (1986) und Habilitation (1993) in Heidelberg. Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Lehrtätigkeit in Bamberg und Siegen, 1997-2003 Professor für Bibelwissenschaft an der RWTH Aachen, seit 2003 für Neues Testament an der Universität Bonn. Homepage: www.guenter.roehser.de 8 Günter Röhser deutsche Übersetzung nahe) oder als Gen. obj. („Evangelium über/ von Jesus Christus“) 9 versteht. Ist es verfrüht, im Sinne des Markus von einer bewussten Uneindeutigkeit und Komplementarität des Verständnisses auszugehen, wie sie nun einmal durch den griechischen Genitiv ermöglicht und m. E. nahegelegt wird? Außerdem könnte mit „Evangelium“ sowohl der Inhalt des MkEv (Botschaft Jesu oder/ und von Jesus) als auch das MkEv selbst (als schriftliches Werk) gemeint sein. Dies hängt jedoch von der Interpretation des ersten Wortes („Anfang“) ab: Betrachtet man das ganze MkEv lediglich als den „Anfang“ des Evangeliums, der über sich hinausweist, dann kann das Ziel und die Fortsetzung der Darstellung nur das Osterevangelium von Jesus Christus (im Sinne des paulinischen Evangeliums von 1Kor 15,3b-5) sein (vgl. Mk 16,6f.) und damit nicht notwendigerweise eine schriftliche Darstellung. 10 Ein offener Schluss, der aus dem Markustext hinausweist, passt dazu sehr gut. Es gibt aber noch drei andere Möglichkeiten: - Griech. archē kann auch mit „Ursprung“, „Grund“ wiedergegeben werden. Der Markustext stellte dann das Gründungs- und Ursprungsgeschehen für die Verkündigung des Evangeliums dar, auf das diese sich grundlegend und bleibend zu beziehen hat. Er ist selbst die „‚Grunderzählung‘ des Heils“ 11 , das im Evangelium verkündigt wird. Von der Strukturlogik dieses Ansatzes her bedarf Mk 16 keiner Fortsetzung, da ja alles Wesentliche gesagt ist. In der aktuellen Forschung entspricht dem ein Verständnis des MkEv als „ätiologische Erzählung“ (= „Begründungserzählung“) 12 oder als „Mythos“ (= „fundierende Geschichte“) 13 . „Der Zyklizität des Mythos entspricht die Zirkularität der Darstellung bei Markus. Die mythisch durchformte ätiologische Jesuserzählung findet ihre Vollendung durch den Schluss in 16,7 [Hinweis auf Galiläa als Region des Anfangs; Anm. d. V.] und 8.“ 14 - Es geht aber auch schlichter: archē kann einfach auf sich selbst bzw. auf die erläuternden Verse Mk 1,2-3 verweisen: Hier beginnt das Buch, die „Evangelienschrift“, oder zumindest eine Erzählfolge von Ereignissen, die den Inhalt des Evangeliums ausmachen: das Leben, Wirken, Sterben und Auferstehen 9 So die meisten. 10 So Peter Pokorný in mehreren Veröffentlichungen, am ausführlichsten in: Ders., From the Gospel to the Gospels (BZNW 195), Berlin/ Boston 2013, Kap. 6 („The Gospel in the Gospel according to Mark“). 11 So der Titel eines Forschungsberichts von K. Scholtissek, ,Grunderzählung‘ des Heils. Zum aktuellen Stand der Markusforschung, ThLZ 130/ 2005, 858-880. 12 P.-G. Klumbies, Das Markusevangelium als Erzählung (WUNT 408), Tübingen 2018, 47f. 13 L. Schenke, Das Markusevangelium. Literarische Eigenart - Text und Kommentierung, Stuttgart 2005, 16-21. 14 Klumbies, Markusevangelium, 39. Warum eigentlich Markus? 9 Jesu von Nazareth. Dies fügt sich zum o. g. doppelten Verständnis der Genitivverbindung „Evangelium Jesu Christi“. Eve-Marie Becker, die den historiographischen Charakter des MkEv betont, spricht von einer „Ereignisgeschichte“ 15 . Selbstverständlich kann diese auch nach Mk 16,8 noch weitergehen (etwa mit den Ostererscheinungen und der Wiederkunft Jesu), sodass der offene Schluss von der Strukturlogik her kein Problem darstellt. 16 - Es gibt aber auch noch eine vierte Möglichkeit: „Anfang des Evangeliums“ bezeichnet einen bestimmten Eingangsabschnitt des MkEv bzw. dessen Inhalt. Diskutiert werden vor allem zwei Abgrenzungen des „Anfangs“ („Prolog“): (a) Mk 1,1-3, und (b) Mk 1,1(2)-(13)15. 17 (a) Diese Abgrenzung bedeutet, eine - theologisch hoch bedeutsame - programmatische Intertextualität des MkEv mit den heiligen Schriften Israels (hier: der Prophetie) herzustellen. Denn entgegen der Interpunktion im Novum Testamentum Graece (Nestle-Aland) wird das Schriftzitat dann nicht zum Folgenden ( Johannes der Täufer), sondern als Inhalt von V. 1 zu V. 1 gezogen: Der Anfang des Evangeliums liegt in alttestamentlicher Zeit ( Jesaja) 18 und besteht darin, dass Gott im Blick auf Jesus äußert, seinen Boten ( Johannes den Täufer) vor ihm ( Jesus, dem Herrn) her senden zu wollen, der ihm den Weg bereiten wird. Nur dies ist der „Anfang des Evangeliums“, und er liegt lange vor Jesu und des Täufers irdischem Wirken und besteht in dem vom Propheten protokollierten Reden und Ankündigen des Gottes Israels. (b) Hier umfasst der „Anfang“ nicht nur die Ankündigung des Täufers und seiner Sendung, sondern auch dessen gesamtes Wirken, die Taufe (Geistbegabung) und Versuchung Jesu sowie den Beginn von Jesu öffentlicher Wirksamkeit in Galiläa. Dies entspricht dann ungefähr dem ersten Hauptabschnitt in antiken Biographien (Herkunft und erstes Wirken der Hauptperson). 19 15 E.-M. Becker, Das Markus-Evangelium im Rahmen antiker Historiographie (WUNT 194), Tübingen 2006, 110, 407-410. 16 Vgl. das Ende der Apostelgeschichte und dazu: T. M. Troftgruben, A Conclusion Unhindered. A Study of the Ending of Acts within its Literary Environment (WUNT II 280), Tübingen 2010. 17 Vgl. H.-J. Klauck, Vorspiel im Himmel? Erzähltechnik und Theologie im Markusprolog (BThSt 32), Neukirchen-Vluyn 1997. 18 So auch Becker, Markus-Evangelium, 245 f., allerdings unter Zurückweisung der Bezeichnung „Prolog“ (109). 19 Vgl. D. Frickenschmidt, Evangelium als Biographie. Die vier Evangelien im Rahmen antiker Erzählkunst (TANZ 22), Tübingen/ Basel 1997, bes. 351-369 (zu Mk 1,1-15). Auch die Gegenüberstellung mit einer anderen bedeutenden Person ( Johannes) ist dafür nicht untypisch. 10 Günter Röhser Was den Schluss des Evangeliums angeht, so ist auch hier wieder zu fragen, ob ein sinnvoller Aufriss gefunden werden kann, der mit Mk 16,8 endet, bzw. ob eine biographische Darstellung so enden kann (mögliche Gliederungsgesichtspunkte, die in der Forschung diskutiert werden, sind: geographische und topographische Markierungen, Adressaten des Wirkens Jesu, Aspekte der Christologie bzw. von Nachfolge und [Nicht-]Verstehen der Jünger, zwei- oder dreiteiliger Grundaufbau, chronologische Angaben und Wochenstruktur des Erzähltextes, Bedeutung der Dreizahl wichtiger Ereignisse und symmetrischer Strukturen). Die Frage nach der Funktion des Schlusses kann jedoch m. E. nur beantwortet werden, wenn man den Erzählcharakter des MkEv ernst nimmt. Diese Überlegungen führen uns ganz von selbst zur Gattungsfrage. Das MkEv als geschichtliche Erzählung biographischen Charakters Wenn wir das MkEv so bezeichnen, dann kommen darin drei Bestimmungen zusammen; wir gehen also gewissermaßen von einem „Gattungsmix“ aus. 20 Eve- Marie Becker stellt in ihren Arbeiten den historiographischen Charakter des MkEv heraus. Die materialreichste Darstellung zu den Evangelien als antike Biographien bietet immer noch Dirk Frickenschmidt. 21 Die ältere Entgegensetzung von Evangelium (Historisierung des Kerygmas) und hellenistischer Biographie (Zeichnung einer individuellen Persönlichkeit und ihrer Entwicklung) darf heute als überwunden gelten. Trotzdem muss die Frage nach der dominanten formgeschichtlichen Prägung der Evangelien weiter diskutiert werden. Eine Stärke des Biographie-Vergleichs ist es, dass er durch seine Orientierung an der Hauptperson sowohl deren Charakterisierung durch Worte und Taten bzw. die Enthüllung von deren (ggf. noch verborgener) Identität (in unserem Falle also: die Christologie des MkEv) formgeschichtlich zu beschreiben vermag als auch das Rollenvorbild und die Modellfunktion, die der Hauptperson zukommen (in unserem Falle also: das Leben und Sterben Jesu, das in die Nachfolge ruft). Letzteres darf dabei nicht ethisch-moralisch enggeführt werden, denn die „Art von Zusammenleben mit der Hauptperson“ (vgl. Plutarch, Aemilius 1), die durch eine Biographie (bzw. das Evangelium) ermöglicht werden soll, bedeutet eine „grundlegende Bereicherung“ des eigenen Lebens der 20 So auch jüngst A. Seifert, Der Markusschluss. Narratologie und Traditionsgeschichte (BWANT 220), Stuttgart 2019, 87. 21 Zu beiden s. oben Anm. 15 und 19! - Ein neuerer Vertreter des biographischen Ansatzes ist M. R. Licona, Why Are There Differences in the Gospels? What We Can Learn from Ancient Biography, Oxford 2017, der seine Titelfrage durch den Vergleich mit differierenden Parallelperikopen bei Plutarch u. a. zu beantworten sucht. Warum eigentlich Markus? 11 Lesenden, die über eine moralische Vorbildfunktion weit hinausgeht. 22 Damit hilft dieser Ansatz auch, Einseitigkeiten in der Markus-Exegese zu vermeiden: in der Betonung der Christologie und Soteriologie einerseits oder der Anthropologie und Nachfolgethematik andererseits, aber auch in der Beschreibung der Rolle Jesu als „divine agent“ einerseits oder als „ethical role model“ andererseits. 23 Den Streit darüber, ob die Evangelien gegenüber der Biographie eine Gattung sui generis darstellen, halte ich für überflüssig. Denn schon immer war klar, dass eine Gattung Teil einer bestimmten Literaturgeschichte ebenso wie innovationsfähig ist und sowohl aufgrund dominierender formaler als auch inhaltlicher Merkmale bestimmt wird. Ob aber die Darstellung Jesu als Gottessohn oder der eschatologische Anspruch des Kerygmas von Jesus Christus schon eine eigene Gattung begründen, ist letztlich eine Ermessensfrage und m. E. eher zu verneinen. Dann stellen aber die Evangelien nur eine Sonderform oder Untergattung der antiken Biographie dar. Sucht man eine gemeinsame Bezeichnung für sie, so empfiehlt sich am ehesten die von Detlev Dormeyer vorgeschlagene „kerygmatisch-historiographische Biographie“ 24 bzw. „historiographische Idealbiographie“ 25 . An dieser Stelle soll auch noch einmal der Vorschlag erwähnt werden, das MkEv als „Mythos“ zu bezeichnen. Dies steht in engem Zusammenhang mit der oben erwähnten Interpretation von Mk 1,1 und zielt auf den identitätsstiftenden, existenzbegründenden Charakter des Evangeliums. Natürlich hängt es davon ab, was genau man unter „Mythos“ versteht; man kann aber vielleicht so viel sagen: Wohl gibt es mythische Züge im MkEv - wie auch in anderer biographischhistoriographischer Literatur der Antike -, aber als Gattungsbezeichnung ist „Mythos“ schon wegen fehlender fester Formmerkmale nicht geeignet, und das MkEv spielt nicht in ferner Vorzeit und nicht in einer numinosen Sphäre, sondern in einer wenige Jahrzehnte zurückliegenden geschichtlichen Vergangenheit - ist also letztlich kein „Mythos“, sondern eine „geschichtliche Erzählung“. 26 22 D. Frickenschmidt, Evangelium als antike Biographie, ZNT 1/ 1998, Heft 2, 29-39, 37. Vgl. auch ders., Evangelium, 217-224.386f. 23 Zusammenfassend dazu (mit weiterer Lit.): A. Herrmann, Versuchung im Markusevangelium. Eine biblisch-hermeneutische Studie (BWANT 197), Stuttgart 2011, 36-43. 24 D. Dormeyer, Evangelium als literarische und theologische Gattung (EdF 263), Darmstadt 1989, 173.188. 25 Ders., Das Markusevangelium, Darmstadt 2005, 124 (jeweils mit ausführlicher Forschungsgeschichte). - Der Begriff „Idealbiographie“ ist gewählt im Anschluss an Klaus Baltzers Bezeichnung für ein biographisches Schema im Alten Testament für Gesetzgeber, Könige und Propheten. „Im Unterschied zur antiken Biographie werden im Alten und Neuen Testament die prophetischen und königlichen Gründer nicht als gemischte Charaktere, sondern als Idealgestalten vorgestellt“ (D. Dormeyer, Einführung in die Theologie des Neuen Testaments, Darmstadt 2010, 72). 26 Vgl. Scholtissek, Grunderzählung, 879f. 12 Günter Röhser Das Markusevangelium als Erzählung Die allgemeinste Bestimmung des MkEv ist „Erzählung“ bzw. „Erzähltext“. Damit ist Grundlegendes gesagt: 1. Das MkEv ist kein bloßer Bericht von vergangenen Ereignissen (im Sinne einer Dokumentation oder eines Verlaufsprotokolls), es ist auch kein argumentativer oder appellativer Text; sondern in ihm wird eine Geschichte erzählt. Das heißt nicht, dass das Evangelium nicht solche Texte und Elemente enthielte - im Gegenteil: Es wird manches berichtet und beschrieben, es wird viel geredet, argumentiert und appelliert; aber alles dieses ist eingebettet in eine Gesamterzählung, in einen narrativen Gesamttext, der vorwiegend aus (biographisch) erzählenden Elementen besteht. 2. Der Unterschied zwischen einer Erzählung und einem Bericht besteht darin, dass erstere immer schon eine bewusste Deutung des berichteten Geschehens enthält - anders ausgedrückt: in dem „Ineinander von Bericht und Deutung“ 27 in der Erzählung. Und zwar entsteht dieses Ineinander sowohl durch die „Einbettung jeder Episode in die Gesamterzählung“ 28 als auch durch die perspektivische Interpretation des im Einzelnen dargestellten Geschehens. Jeder Erzähler wählt aus der Fülle der Ereignisse eine bestimmte Anzahl aus, ordnet sie in einer bestimmten Weise an und unterwirft sie seinem Gestaltungswillen. So verleiht er ihnen durch den Einsatz bestimmter sprachlicher Darstellungsmittel eine bestimmte „Bedeutung“, die er seinen Leserinnen und Lesern vermitteln will. 3. Dies bedeutet weiterhin, dass wir es bei einer Erzählung mit einem Stück „Dichtung“ zu tun haben - nicht notwendigerweise im Sinne einer rein fiktiven Geschichte (wie beim Märchen), aber doch im Sinne einer bewusst gestalteten (wie bei den Evangelien). Dichtung aber ist literaturwissenschaftlicher Analyse zugänglich. Damit sind wir bei einer Forschungsrichtung angelangt, die in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts im anglo-amerikanischen Raum eingesetzt und sich seitdem auch bei uns verbreitet hat: der biblischen Erzählforschung bzw. Erzähltext- oder narratologischen Analyse. Begründer dieser Forschungsrichtung im Hinblick auf das Neue Testament waren David Rhoads und Donald Michie mit 27 P. Müller, ,Wer ist dieser? ‘ Jesus im Markusevangelium. Markus als Erzähler, Verkündiger und Lehrer, Neukirchen-Vluyn 1995, 15. 28 Ebd.; zum Ganzen 171f. Warum eigentlich Markus? 13 ihrem Buch „Mark as Story“ 29 . Kategorien und Unterscheidungen wie „story“ und „discourse“, realer und impliziter Autor bzw. Leser, Erzählstil und Erzählperspektive („point of view“), der allwissende Erzähler des auktorialen Erzählstils, der „plot“ und die „events“, Figuren, Charaktere und „settings“ sind seither in aller Munde und haben ihre Leistungsfähigkeit für die Exegese vielfach erwiesen. Zur vertiefenden Beschäftigung mit dem Werk von Rhoads, Dewey und Mitchie sowie seiner Entwicklung in den drei Auflagen und den Diskussionen, die es ausgelöst hat, verweise ich hier auf den von Kelly R. Iverson und Christopher W. Skinner herausgegebenen Sammelband, der anlässlich des 30jährigen Jubiläums des Werkes erschienen ist und der instruktive Beiträge namhafter Vertreterinnen und Vertreter des Narrative Criticism enthält. 30 Eine bis heute gebräuchliche englische Bezeichnung für das ganze Unternehmen ist „(New) Literary Criticism“. Da es sich jedoch der Sache nach um Erzähl(text)analyse handelt, ist es besser, von „Narrative Criticism“ zu sprechen (der Ausdruck geht auf Rhoads zurück und ist auch nur in der Bibelwissenschaft gebräuchlich) oder von „narratological criticism“. Der Hauptunterschied zu herkömmlicher, historisch-kritischer Arbeit am Neuen Testament ergibt sich schon aus Rhoads‘ Vergleich des MkEv mit einer „short story“: Erzählforschung kann die biblischen Texte unter völliger Absehung von einleitungswissenschaftlichen Fragestellungen betrachten. Es interessiert (zunächst oder überhaupt) nicht, wer wann für wen geschrieben hat, sondern die Erzählung wird ganz aus sich selbst heraus analysiert; sie ist eine „autosemantische“ Größe. Der Schwerpunkt des Interesses hat sich aber im Laufe der Zeit ganz von selbst vom Text und seinem Erzähler auf die Lesenden bzw. Hörenden verlagert, da Texte nun einmal normalerweise für Letztere (und damit auch für Exegetinnen und Exegeten) gemacht werden. So kann man den „reader-oriented narrative criticism“ in Gestalt des „reader-response criticism“ als die Seele des Narrative Criticism bezeichnen, 31 auch wenn es daneben noch die Ansätze des „text-“ und des „author-oriented“ narrative criticism gibt. „Despite their differences, all three approaches aim to answer the same question: How should the implied reader respond to the text? “ 32 An den Merkmalen des Textes soll abgelesen werden, wie die Lesenden verstehend reagieren sollen. 29 Mark as Story: An Introduction to the Narrative of a Gospel, Philadelphia 1982, Minneapolis 2 1999 mit Joanna Dewey; Minneapolis 3 2012). 30 K. R. Iverson/ C. W. Skinner (Hg.), Mark as Story. Retrospect and Prospect (SBL.RBS 65), Atlanta 2011. 31 Als dafür maßgebliches Werk (für das MkEv) darf wohl „Let the Reader Understand: Reader-Response Criticism and the Gospel of Mark“ (Minneapolis 1991, Harrisburg 2 2001) von Robert M. Fowler gelten (der Buchtitel ist Mk 13,14 entnommen). 32 So C. W. Skinner in der Einführung (12) zu dem in Anm. 30 genannten Band mit Bezug auf den Beitrag von M. A. Powell (ebd. 19-43). 14 Günter Röhser Zur Würdigung der literaturtheoretischen Ansätze lässt sich Folgendes festhalten: Sie leiten an zu einer vertieften Beschäftigung mit dem Bibeltext, seinen Strukturen und beabsichtigten Wirkungen. Damit liefern sie ein zusätzliches Instrumentarium für die semantische und pragmatische Analyse eines Textes im Rahmen einer methodisch verantworteten Exegese. Vor allem aber ist Erzähltextanalyse jederzeit ohne historische und theologische Spezialkenntnisse von und mit interessierten Schülerinnen und Schülern wie auch mit Erwachsenen durchzuführen: Sie ist Anleitung zu eigenen intelligenten Beobachtungen am Text! 33 Damit ist aber auch ihre Grenze bezeichnet: So berechtigt und notwendig methodisch der Vorrang der synchronen vor der diachronen Analyse auch ist, so wenig ist prinzipiell eine Exegese angemessen, welche auf die historische Fragestellung verzichtet. Dies zeigt auch ein Blick auf die Entwicklung von „Mark as Story“ in den drei Auflagen mit der stärkeren Berücksichtigung des kulturellen und historischen Hintergrundes der Erzählung und ihrer Leserinnen und Leser (und damit von deren Verstehensvoraussetzungen). Und nur eine ideologische Sichtweise kann die Erzählforschung von der historischen Forschung strikt abgrenzen wollen. Mittlerweile gibt es Ansätze, die über das Nebeneinander der beiden Zugänge auch theoretisch-konzeptionell hinauskommen wollen und beides zu integrieren suchen. Zu nennen ist hier vor allem die kognitive Narratologie - in der deutschsprachigen Evangelienexegese zur Zeit maßgeblich vertreten durch Sönke Finnern und Jan Rüggemeier. 34 David Rhoads selbst ist zwischenzeitlich in zahlreichen Veröffentlichungen vom (Biblical) Narrative Criticism zum (Biblical) Performance Criticism („Performanzkritik“) fortgeschritten. 35 Dieser Ansatz vertritt die These, ein (antiker) Text wie das MkEv sei ursprünglich nicht zum einfachen Lesen oder Vorlesen, sondern zum inszenierten Vortrag bestimmt gewesen (z.- B. im Gottesdienst). 33 Eine gelungene Einführung (zum MkEv) bietet: U. E. Eisen, Das Markusevangelium erzählt. Literary Criticism und Evangelienauslegung, in: S. Alkier/ R. Brucker (Hg.), Exegese und Methodendiskussion (TANZ 23), Tübingen/ Basel 1998, 135-153. 34 S. Finnern, Narratologie und biblische Exegese. Eine integrative Methode der Erzählanalyse und ihr Ertrag am Beispiel von Matthäus 28 (WUNT II 285), Tübingen 2010; J. Rüggemeier, Poetik der markinischen Christologie. Eine kognitiv-narratologische Exegese (WUNT II 458), Tübingen 2017. Zusammenfassend zur Methode: S. Finnern/ J. Rüggemeier, Methoden der neutestamentlichen Exegese. Ein Lehr- und Arbeitsbuch, Tübingen 2016, 173-235. - Zur selben Zeit ist erschienen: M. R. Whitenton, Hearing Kyriotic Sonship. A Cognitive and Rhetorical Approach to the Characterization of Mark’s Jesus (BIS 148), Leiden/ Boston 2016. 35 S. etwa D. Rhoads, What is Performance Criticism? , in: H. E. Hearon/ P. Ruge-Jones (Hg.), The Bible in Ancient and Modern Media, Eugene 2009, 83-100. Vgl. auch https: / / www. biblicalperformancecriticism.org/ (zuletzt abgerufen am 16.10.2020). Warum eigentlich Markus? 15 Das im Erscheinen begriffene Buch von Jan Heilmann wird an dieser Forschungsrichtung die nötigen Korrekturen anbringen. 36 Neben der Hauptperson Jesus sind Gott, Johannes der Täufer und die Jüngerinnen und Jünger, die Gegner Jesu sowie die sog. Nebenfiguren die wichtigsten Charaktere der markinischen Erzählung. Am meisten und längsten werden in der Forschung die Jünger auf die verfolgte Erzähl- und Lesestrategie hin untersucht - sind sie doch gewissermaßen die ersten Hörer der Stimme Jesu, mit der der Erzähler sich identifiziert. Dies begann schon 1977 mit einem einflussreichen Aufsatz von Robert C. Tannehill, 37 viele weitere Arbeiten folgten. Idealtypisch gibt es drei Möglichkeiten, was der Evangelist erzählpragmatisch mit seiner Darstellung erreichen will: - Die Lesenden sollen sich mit den Jüngerinnen und Jüngern identifizieren. Markus geht es „um eine sensible Charakterisierung der Nachfolge Jesu zu allen Zeiten“. 38 - Die Lesenden sollen sich v. a. kritisch von den Jüngern distanzieren. Markus geht es darum, gegen bestimmte Auffassungen und Haltungen zu polemisieren. 39 - Die Lesenden sollen wahrnehmen, dass ihre Verstehensmöglichkeiten diejenigen der Jünger im Text (Motiv vom Jüngerunverständnis! ) bei weitem übersteigen. Markus geht es darum, dass sie sich ihrer Glaubenserkenntnis vergewissern, sie immer weiter vertiefen und dankbar dafür werden. 40 Generationen von Religionslehrerinnen und -lehrern haben mit diesen Optionen gearbeitet und die Jünger in dieser Weise unterrichtlich „verwendet“; und sie haben dabei ganz im Sinne des Markus und des Narrative Criticism gehandelt. 36 J. Heilmann, Lesen in Antike und frühem Christentum. Kulturgeschichtliche, philologische sowie kognitionswissenschaftliche Perspektiven und deren Bedeutung für die neutestamentliche Exegese, Habil. Bochum 2019 (erscheint in der Reihe TANZ). 37 R. C. Tannehill, The Disciples in Mark: The Function of a Narrative Role, JR 57/ 1977, 386- 405; wiederabgedruckt (zusammen mit weiteren wichtigen Beiträgen und einem vorzüglichen Forschungsbericht des Herausgebers) in: W. R. Telford (Hg.), The Interpretation of Mark, Edinburgh 2 1995, 169-195. 38 Scholtissek, Grunderzählung, 874. 39 S. dazu W. Telford, The Theology of the Gospel of Mark, Cambridge 2 2003, 127-163. 40 Zum Jüngerunverständnis vgl. umfassend O. Franzmann, Jüngerunverständnis. Zur Geschichte und Interpretation eines Motivs der Evangelien; zugleich auch ein Beitrag zur Forschungsgeschichte des Messiasgeheimnisses im Markusevangelium, Diss. Bonn 2015 (http: / / hdl.handle.net/ 20.500.11811/ 6221). 16 Günter Röhser Aber auch Gott kann man im Text zum Gegenstand einer Figurenanalyse machen. Christian Blumenthal hat gezeigt, welch aktive Rolle Gott in der markinischen Erzählung spielt, auch wenn (oder gerade weil) er in vielen Fällen nur in von Jesus zitierter Rede in Schriftworten erscheint, und wie er auch über Passion und Tod Jesu hinweg verborgen anwesend bleibt. 41 Blumenthal gibt auch - mit vielen anderen Narratologen - den entscheidenden Hinweis für das Verständnis des Markusschlusses: Dieser will nicht die Frage offenlassen, wie die damaligen Jüngerinnen und Jünger sich anschließend verhalten haben, sondern Mk 16,7 verweist zurück auf 14,28 und über die dortige Ankündigung Jesu (die in 16,7 als erfüllt dargestellt wird: Vorangehen nach oder in Galiläa) zurück auf den (biographischen) Anfang des Evangeliums in Galiläa (1,14), wo alles begann. Dort ist Jesus zu finden, „nicht hier“ im Grabe (16,6). Der offene Schluss weist nicht nur über den Text hinaus (16,7: Sehen des Auferstandenen), sondern v. a. in ihn hinein. Die Lesenden sollen also mit ihrer Lektüre von vorne beginnen, die Erzählung vom Evangelium immer besser verstehen und Jesus, dem „Vorangehenden“, nachfolgen. Es geht nicht so sehr darum, die Botschaft des schriftlichen Evangeliums anzunehmen und weiterzusagen 42 oder überhaupt das Evangelium zu verkündigen 43 , sondern darum, selber besser zu verstehen und Konsequenzen für das eigene Leben zu ziehen. 44 Man kann dazu leicht die Gegenprobe machen, indem man fragt, was sich durch die Anfügung des sekundären Markusschlusses (Mk 16,9-20) geändert hat. Ob dieser nun im Rahmen der Vierevangeliensammlung 45 oder der sog. Kanonischen Ausgabe 46 entstanden ist - das Evangelium endet jedenfalls jetzt mit dem Auftrag und der Durchführung der Mission (jetzt geht es ums Weitersagen! ). Die Glaubenden wissen jetzt, was sie zu tun haben (ganz im Sinne von 41 C. Blumenthal, Gott im Markusevangelium. Wort und Gegenwart Gottes bei Markus (BThSt 144), Neukirchen-Vluyn 2014. 42 So aber T. Heckel, Vom Evangelium des Markus zum viergestaltigen Evangelium (WUNT 120), Tübingen 1999, 41 ff., der Mk 1,1 im Sinne von „Grundlegung des Evangeliums Jesu Christi“ versteht, welche auf eine „Vervollständigung“ (54) durch die Rezipienten des MkEv abzielt. 43 Müller, ,Wer ist dieser? ‘, 179. 44 Vgl. auch Seifert, Markusschluss, 257 f. - Kritisch zu dieser Zirkularitätsthese äußert sich jetzt: R. von Bendemann, ,Er ist nicht hier […] Er geht euch voraus nach Galiläa‘ (Mk 16,6f.). Die Bedeutung des Erzählschlusses für die narrative Topographie des zweiten Evangeliums, in: Oyen, Reading the Gospel of Mark, 39-68, 59ff. 45 So J. A. Kelhoffer, Miracle and Mission. The Authentication of Missionaries and Their Message in the Longer Ending of Mark (WUNT II 112), Tübingen 2000, 137-156. 46 So M. Klinghardt, Das älteste Evangelium und die Entstehung der kanonischen Evangelien, Bd. I (TANZ 60/ 1), Tübingen 2 2020, 344 f., der allerdings die „primäre literarische Funktion“ dieses Textes nicht in der „Mitteilung bestimmter Inhalte“, sondern in der Integration des MkEv in eine erste Ausgabe des Neuen Testaments sieht (ebd. 345). Warum eigentlich Markus? 17 13,10); einer Rückkehr zu den Anfängen bedarf es jetzt nicht mehr. Auch als Abschluss einer Jesusbiographie kann 16,15-20 (Missionsauftrag, Himmelfahrt, Beglaubigung der Botschaft durch Wunderzeichen; vgl. Mt 28,16-20) viel besser verstanden werden, als dies bei 16,8 der Fall ist (dort endet die biographische Erzählung mit dem Tod - spätestens der Auferweckung [16,6] - Jesu). Narrative Christologie und Geheimnismotiv Ich versuche, Grundlinien der Forschung dazu wie folgt zusammenzufassen: Narrative Christologie 47 ist die Darstellung der Identität Jesu als/ durch Erzählung, anders ausgedrückt: seine Charakterisierung durch Taten und Worte im Rahmen seiner erzählten Biographie. Dabei hat sie es einerseits mit den sog. christologischen Hoheitstiteln zu tun, die sie andererseits in den narrativen Gesamtzusammenhang einbettet. Diese Einbettung wiederum geschieht auf zweierlei Weise: a) dadurch, dass die titularen Bezeichnungen Jesu miteinander kombiniert werden (sowohl an einzelnen zentralen Stellen wie Mk 8,28-31 und 14,61f. als auch durch den unmittelbaren, den näheren und den weiteren Kontext) und sich dadurch gegenseitig ergänzen, vertiefen und ggf. auch modifizieren; b) dadurch, dass einige wichtige Bezeichnungen (der Heilige Gottes, der Gesalbte, der Sohn Gottes) erzählerisch der Geheimnis-„Theorie“ unterworfen werden, die sich in Schweigegeboten Jesu an Dämonen und Jünger zeigt (1,24f.34; 3,12; 8,30; 9,9), die für die Letzteren aber nur bis zur Auferstehung Jesu Geltung haben (9,9b). Was ist der erzählerische Sinn dieser das ganze MkEv übergreifenden Konstruktion, und gibt es weitere Texte, die dabei zu berücksichtigen sind? Ich nenne exemplarisch zwei Extrempositionen, die miteinander im Streit liegen und denen m. E. beiden nicht gefolgt werden kann: a) Ferdinand Hahn vertritt in seiner „Theologie des Neuen Testaments“ ein das gesamte Heilsgeschehen umfassendes Verständnis des von ihm sog. Offenbarungsgeheimnisses (Schlüsselstelle: Mk 4,11). Der Geheimnischarakter einer verborgenen Offenbarung, die (bis zur Parusie) nicht durch äußere Manifestation, sondern nur dem Glauben zugänglich ist, betrifft sowohl die Gottesherrschaft als auch die Christologie. Alle Schweigegebote (auch diejenigen an Geheilte und Zeugen des Geschehens, die wiederholt 47 Der Ausdruck geht zurück auf R. C. Tannehill, The Gospel of Mark as Narrative Christology, Semeia 16/ 1979, 57-95. 18 Günter Röhser übertreten werden), die Rede Jesu in Gleichnissen und das Motiv des Jüngerunverständnisses sind Ausdruck dieser Konzeption. 48 b) Heikki Räisäinen soll hier als klassischer Vertreter der „separatistischen“ Interpretation genannt werden. 49 Er erkennt überhaupt kein gemeinsames Konzept hinter den verschiedenen separaten „Geheimnis“-Motiven (die zum Teil gar keine sind). Er kann darauf hinweisen, dass das Geheimnis des Reiches Gottes (4,11) den Jüngern offenbart ist und ihr Unverständnis von Jesus scharf getadelt wird, beides sich überdies widerspricht und der Stellenwert des eigentlichen „Messiasgeheimnisses“ (Schweigebote an Dämonen und Jünger) für das MkEv fraglich ist. 50 Eine mögliche mittlere Lösung könnte sein: Jesus gebietet Schweigen, weil er nicht durch Dämonen oder fehlbare Menschen als der offenbar gemacht werden will, der er ist (Identitätsfrage! ), sondern allein durch Gott 51 - vorläufig in der Auferweckung (dann endet auch das Schweigegebot), endgültig dann für alle Welt sichtbar in der Parusie (Schlüsselstellen: Mk 9,9; 13,26; 16,6f.). Erst am Ostermorgen wird das von einem Römer abgelegte, etwas zweideutige Bekenntnis (15,39: „Dieser Mensch war ein Gottessohn“) bestätigt und präsentisch vereindeutigt. Das Reden Jesu in Gleichnissen und das Jüngerunverständnis gehören zu dieser Geheimnis-„Theorie“ nicht unmittelbar hinzu. Deutlich ist: Der Evangelist will von Ostern her ein Gesamtbild von Jesu Identität entstehen lassen. Das betrifft dessen Vollständigkeit 52 ebenso wie dessen Zuverlässigkeit - was wiederum dem zirkularen Lesecharakter des MkEv gut entspricht. Wie aber verhalten sich die erzählerisch späteren Zeugnisse vom leidenden und gekreuzigten Menschensohn zu den erzählerisch früheren vom vollmächtig auftretenden Gottessohn, Dämonenaustreiber, Wunderheiler und Lehrer? Eine - für viele - exemplarische Lösung findet sich bei Detlev Dormeyer. In der „Hinführung“ zu den Wundererzählungen im MkEv in dem 2013 er- 48 F. Hahn, Theologie des Neuen Testaments I. Die Vielfalt des Neuen Testaments, Tübingen 2 2005, 511-514. 49 H. Räisänen, Das ‚Messiasgeheimnis‘ im Markusevangelium (SFEG 28), Helsinki 1976, bes. 159-168 (engl. 1990, 2 2000). 50 S. auch die gründliche Darstellung und Auseinandersetzung bei F. Fendler, Studien zum Markusevangelium (GTA 49), Göttingen 1991, 106-146. 51 Dieser Gedanke findet sich etwa bei K. Berger, Formen und Gattungen im Neuen Testament, Tübingen/ Basel 2005, 179.410-412; Rüggemeier, Poetik, 372.505-507 (andere Aufstellungen Rüggemeiers halte ich hingegen für Eintragungen in den Text, die sich auch kognitiv-narratologisch nicht eindeutig begründen lassen). 52 Vgl. etwa Fendler, Studien, 143 f.; Müller, ,Wer ist dieser? ‘, 139 ff. („integrative Christologie“). Warum eigentlich Markus? 19 schienenen Kompendium der Wundererzählungen 53 vertritt er die These, Jesus wolle nach Markus nicht vordergründig als außergewöhnlicher Wundertäter und Magier wahrgenommen werden. Die Schweigegebote an Dämonen und Geheilte dienten dazu, diesem Missverständnis zu wehren. Vielmehr könnten die Wunder nur in der Nachfolge bis zum Kreuz und im Bekenntnis zu dem Gekreuzigten richtig verstanden werden. - Man könnte noch hinzufügen, dass Jesus auch in der Passion seine Würde und Vollmacht behält: Er weiß souverän um sein Leiden und dessen genauere Umstände und kündigt sie vorher an. Als Gekreuzigter ist er auch - nicht-paradoxal - der König der Juden (15,26) und verzichtet lediglich auf den Gebrauch seiner Wundervollmacht (15,30-32). Die früheren Zeugnisse sollen also durch das Kreuz nicht entwertet oder kritisiert, sondern gegen Missverständnisse geschützt werden. Dass solche Klärungen notwendig sind, weiß der Evangelist: Wunder sind nicht eindeutig (3,22; 13,22), Hoheitsaussagen können gewaltig missverstanden werden (8,29-32; 10,37f.). Hier bestehen auch noch andere Korrelationen in der Markus-Auslegung: Eine soteriologische Deutung des Todes Jesu (10,45; 14,24) steht eher in Spannung zu der Charakterisierung Jesu als vollmächtiger Wundertäter und will im Glauben an das Evangelium angenommen werden, wohingegen Leiden und Sterben Jesu als Versuchung und Möglichkeit der Bewährung der Gottessohnschaft eher das Vorbildhafte im Verhalten Jesu betonen und in die praktische Kreuzesnachfolge rufen (Kombinationen nicht ausgeschlossen). Welcher Option man folgt, entscheidet auch über die Nähe der markinischen Theologie zu Paulus. 54 Rom-, Kultur- und Imperiumskritik Wenn es richtig ist, dass die Erzählung des MkEv nicht ohne ihre historische Dimension verstanden werden kann, dann kann und muss man auch versuchen, seine Entstehung aus dem geschichtlichen und kulturellen Hintergrund seiner Zeit heraus zu erklären. Man kann hier grob drei Schwerpunkte von Fragestellungen unterscheiden, die sich allerdings in der Praxis der Forschung überschneiden und in den Veröffentlichungen in Kombination erscheinen. Wir finden mit Blick auf ihre Fokussierung: 53 D. Dormeyer, in: R. Zimmermann (Hg.), Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen I. Die Wunder Jesu, Gütersloh 2013, 193-201. 54 Vgl. hierzu den Beitrag von Heidrun Mader in diesem Heft. 20 Günter Röhser a) Arbeiten, die den genauen historischen Ort der markinischen Gemeinde und der Entstehung des MkEv zu ermitteln suchen (in der Regel ist dies der jüdisch-römische Krieg und die Zeit um 70 n. Chr.); 55 b) Arbeiten, die sich mehr mit dem allgemeinen römisch-kulturellen Hintergrund beschäftigen, vor dem das MkEv und seine Botschaft verstanden werden müssen und mit dem es sich auseinandersetzen muss; 56 c) Arbeiten, die das MkEv speziell mit dem Aufstieg der Flavier (seit Vespasian) in Verbindung bringen. 57 Die These der Imperiumskritik im MkEv lautet: Das MkEv stellt einen Gegenentwurf zu der Propaganda der römischen Kaiser, speziell des flavischen Hauses, dar. 58 Der politischen und militärischen Macht der Unterdrückung stellt Jesus das Ideal des Machtverzichts gegenüber. Man muss sich ab sofort zwischen dem Imperium der Römer und der durch Jesus heraufgeführten Gottesherrschaft entscheiden. Zentraler Text dieses Ansatzes ist Mk 10,42-45 - zweifellos der beste, aber auch der einzige Text, der direkt auf die reale Herrschaftspraxis der Zeit zu sprechen kommt. Hat man erst einmal diesen zeitgeschichtlichen Horizont erkannt, kann man unschwer den Weg Jesu ans Kreuz, der zum Heil führt, mit dem Aufstieg der Flavier zur Macht, der zur Unterdrückung führt, oder mit dem Bild eines römischen Triumphzuges 59 kontrastieren. Das Evangelium ist bewusst darauf angelegt, diesen Gegensatz zu erkennen. Die Stärke dieses Ansatzes liegt in seiner hermeneutischen Anschlussfähigkeit an heutige kirchliche und gesellschaftliche Herausforderungen. 60 Zugleich wird aber auch seine Grenze sichtbar: Es besteht die Gefahr eines Zirkelschlus- 55 Exemplarisch: B. J. Incigneri, The Gospel to the Romans: The Setting and Rhetoric of Mark’s Gospel (BIS 65), Leiden 2003. Nach ihm ist das MkEv in der zweiten Hälfte des Jahres 71 n. Chr. entstanden und setzt sich in vielerlei Hinsicht mit der durch den Triumphzug des Titus (nach der Eroberung Jerusalems) entstandenen Bedrängnis der römischen Gemeinde der Christusgläubigen auseinander. 56 Exemplarisch: M. Peppard, The Son of God in the Roman World: Divine Sonship in Its Social and Political Context, Oxford 2011 (zum MkEv: 86-131). 57 Exemplarisch: M. Ebner, Evangelium contra Evangelium. Das Markusevangelium und der Aufstieg der Flavier, BN 116/ 2003, 28-42; A. Winn, The Purpose of Mark’s Gospel: An Early Christian Response to Roman Imperial Propaganda (WUNT II 245), Tübingen 2008; ders., Reading Mark’s Christology under Caesar: Jesus the Messiah and Roman Imperial Ideology, Downers Grove 2018. 58 S. etwa H. Blatz, Die Semantik der Macht. Eine zeit- und religionsgeschichtliche Studie zu den markinischen Wundererzählungen (NTA NF 59), Münster 2016, der im MkEv ein gegen Vespasian gerichtetes „hidden transcript“ im Sinne von J. C. Scott findet. 59 S. etwa M. Lau, Der gekreuzigte Triumphator. Eine motivkritische Studie zum Markusevangelium (NTOA/ StUNT 114), Göttingen 2019. 60 Vgl. M. Ebner, Die Rede von der „Vollmacht“ Jesu im MkEv - und die realpolitischen Implikationen, ZNT 16/ 2013, Heft 31, 21-30. Warum eigentlich Markus? 21 ses; man findet solche Elemente im Text wieder, die man vorher (aus ihm) als seinen kulturellen und historischen Hintergrund rekonstruiert hat. So bleibt es dabei: Auch auf diesem Wege wird man dem MkEv nicht alle seine Geheimnisse entlocken können. Aber gerade deshalb kommt es für heutige Rezipientinnen und Rezipienten mitunter „so frisch und unverbraucht (…) wie am ersten Tag“ 61 daher und birgt lohnende Herausforderungen für Lehre und Forschung, Verkündigung und Unterricht. 61 Klauck, Vorspiel, 115. Zum Thema Das Markusevangelium als Herausforderung für die Theologie Reinhard von Bendemann Das Evangelium des „Markus“ 1 , welches im späteren neutestamentlichen Kanon das zweite Buch bildet, erzählt in der Form einer vordergründig relativ einfach gebauten, auf Jesus fokussierten und nur gelegentlich durch Nebenhandlungen oder komplexere Eingriffe in die Zeitstruktur angereicherten linear-episodischen Erzählung einen ca. einjährigen Zeitraum der Wirksamkeit Jesu bis zu seinem Tod. Von den späteren Großevangelien des Matthäus, Lukas und Johannes a posteriori her betrachtet, fällt der Text vergleichsweise kurz aus. Es fehlen sowohl im Bereich der Taten Jesu als auch in dem seiner Reden zahlreiche Stoffe. Aus solchen Gründen galt das Markusevangelium über Jahrhunderte, teils noch bis heute, als unspektakulär oder - je nach methodischem Betrachtungswinkel - auch als rudimentär oder defizitär. Es hat es allerdings in jeder Hinsicht in sich. Bereits frühe wichtige Repräsentanten der kritischen Evangelienforschung, die erstmals konsequenter nach der Erstleserperspektive und dem Entstehungskontext fragten, haben das Besondere und Unverwechselbare des Textes gespürt und in ersten Ansätzen erfasst. So hat klassisch William Wrede das scheinbar Abbreviatorische, Ambivalente und Rätselhafte des zweiten Evangeliums auf den Begriff des „Messiasgeheimnisses“ 1 Im folgenden Beitrag werden die Begriffe „Markus(evangelium)“ und „markinisch“ der Konvention halber und aus Gründen der Kürze synonym für den Text des zweiten Evangeliums resp. seinen uns nicht bekannten Verfasser und die ihm zukommenden Merkmale verwendet. Zeitschrift für Neues Testament 24. Jahrgang (2021) Heft 47 24 Reinhard von Bendemann gebracht, und Martin Dibelius prägte die Rede vom „Buch der geheimen Epiphanien“. 2 Tatsächlich stellt das Markusevangelium eine Pionierleistung der frühchristlichen Literatur dar, deren literarische und theologische Bedeutung kaum zu überschätzen ist. Es bietet die spannendste und herausforderndste Jesusgeschichte, die wir im neutestamentlichen Kanon finden. Dies wollen wir im Folgenden anhand einiger ausgewählter Aspekte transparent machen. 1. Aus dem Schatten ans Licht - Forschungsgeschichtliches und Methodisches Das zweite Evangelium war in der etwa zweitausendjährigen Geschichte seiner Rezeption die längste Zeit ein „Buch im Schatten“. Schon die frühe handschriftliche Bezeugung des Textes fällt deutlich schmaler aus als im Fall der übrigen kanonischen Evangelien. Die Kirchenväter der ersten vier Jahrhunderte haben sich sehr selten ausdrücklich und dezidiert mit Markus oder Teiltexten des Evangeliums befasst. Vielmehr wurde das zweite Evangelium fast ausschließlich eingebettet, d. h. innerhalb der Klammer der Evangelien des Matthäus und Lukas gelesen, wobei vor allem das kanonisch erste Evangelium bestimmend war. Auch der in der Alten Kirche als das „geistliche“ Evangelium besonders hoch geschätzte johanneische Entwurf warf seine langen Schatten über Markus. Dies gilt cum grano salis und mit einigen wenigen bemerkenswerten Ausnahmen auch für die Rezeption im Mittelalter, in der Reformationszeit und der frühen Neuzeit. Wir stehen vor dem aufregenden Befund: Erst die philologisch-historische Kritik des 19. Jh.s hat Markus als eigenen Entwurf entdeckt. Leitend war das Altersargument. Mit der sukzessiven Durchsetzung der sog. Zwei-Quellen- Theorie als Lösung für das synoptische Problem trat das zweite Evangelium als ältestes Evangelium ins Rampenlicht. Die frühe kritische Forschung interessierte sich dabei vorrangig für den historischen Jesus hinter dem Text. Erst allmählich wurde deutlich, dass auch Markus kein „Leben Jesu“ schreibt und sein Entwurf nicht eins zu eins abbildet, wer Jesus war, was er gesagt hat und was er tat. Die frühe formkritische Forschung am Beginn des 20. Jh.s wendete darum ein Arsenal überlieferungskritischer Fragen auf Markus an: Im Fokus stand die Suche nach vorliterarischen Traditionen, die Markus verarbeitet hat, und die nun ihrerseits näher an den historischen Jesus heranführen sollten. Der Evangelist 2 W. Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. Zugleich ein Beitrag zum Verständnis des Markusevangeliums, Göttingen 1901; M. Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums, Tübingen 6 1971, 232. Das Markusevangelium als Herausforderung für die Theologie 25 galt dabei in erster Linie als ein Sammler und Tradent, mit bescheidenen eigenen literarisch-theologischen Möglichkeiten und Interessen. Postulate der Entwicklung bestimmter traditioneller Vorgaben, Motive und Stränge der Überlieferung blieben und bleiben dabei stets hypothetisch. 3 Die redaktionsgeschichtliche Forschung wertete die Leistung des Evangelisten auf. Sie gestaltete sich im Fall des zweiten Evangeliums allerdings von Beginn an schwierig, da die „Redaktion“ des Evangelisten oft nicht klar zu ermitteln ist; seine literarisch-theologische Konzeption und seine Sprache prägen vielmehr das Ganze durch und durch. In theologischer Hinsicht traute man Markus seit den 1960er Jahren mehr zu. Man stellte ihn sich dabei in der Sache als einen „Kopf“ vor, analog zu Paulus, oder tatsächlich auch: vergleichbar mit den großen theologischen Lehrern des 20. Jh.s. Man ließ Markus diejenigen Probleme „lösen“, die die Theologie in dieser Zeit beschäftigten; man fand bei ihm z.-B. einen Beitrag zur „Kreuzestheologie“ oder zum Glaubens-Verständnis - und zwar so, wie man in dieser Zeit die „Kreuzestheologie“ oder die Rechtfertigung/ die Glaubensgerechtigkeit - vor allem bei Paulus - verstand. Oder man suchte ihn historisch in den in dieser Zeit so viel bemühten Problemkreis der sog. „Parusieverzögerung“ einzuzeichnen. Entsprechende redaktionsgeschicht- 3 Eine oft wiederholte und variierte Grundthese der Markusforschung bleibt im Kern richtig: Der Evangelist war der Erste, der die frühe nachösterliche Verkündigung von Jesus mit der Überlieferung seiner Geschichte und Taten synthetisiert hat (vgl. R. Bultmann, Geschichte der synoptischen Tradition, FRLANT 29, Göttingen 10 1995, 372 f., formuliert mit dem heute nicht mehr verständlichen „Kerygma“-Begriff). Fragen der historischen Belastbarkeit des markinischen Bildes der Wirksamkeit Jesu sind in der Forschung nach wie vor nicht erledigt; sie sind jedoch weitgehend in die seit den 1960er Jahren neu aufgeblühte Jesus-Forschung abgewandert. Siehe zu den methodischen Problemen (auswahlweise): T. Holmén/ S.E. Porter (Hg.), Handbook for the Study of the Historical Jesus, Bd.-1-4, Leiden/ Boston 2011. Prof. Dr. Reinhard von Bendemann , Jahrgang 1961, Studium der Evangelischen Theologie, Altphilologie und Philosophie in Göttingen, Bern und Bonn, Vikar und Pfarrer z.A. in der Rheinischen Landeskirche, Promotion (1995) und Habilitation (1999) in Bonn, dort Lehrstuhlvertretung (1999- 2001), Lehrstuhl für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Universität Kiel (2001-2008). Seit 2008 ist er Professor für Neues Testament und antikes Judentums an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: frühchristliche Soteriologie und Anthropologie, Evangelienliteratur (Markus und Lukas), neutestamentliche Hermeneutik. 26 Reinhard von Bendemann liche Beiträge führten (und führen noch) im Rückblick betrachtet in vielen Fällen faktisch zu modernen Interpretationen. Die jüngere und jüngste Markus-Forschung setzt höchst spezialisiert und differenziert an. 4 Bei aller Unterschiedlichkeit der Zugänge ist ein gemeinsamer Nenner der, dass man Markus zunächst einmal Markus sein lassen möchte, d. h. ihn als eigenständiges Werk gelten lässt. Einen wesentlichen Beitrag hierzu leistet u. a. die konsequente Einbeziehung erzählanalytischer und rezeptionskritischer Konzepte und Instrumente, wie sie im Bereich der Literaturwissenschaften entwickelt wurden und weiterhin werden. Es bleibt jedoch ein Problem: Der/ die Markusinterpret/ in ist mit seinem/ ihrem Gegenstand zunächst einmal in einem viel höheren Grad allein, als dies bei anderen frühchristlichen Texten der Fall ist. Es fehlen Vergleichs- und Messinstrumente, wie wir sie z.-B. in der Matthäus- und Lukasforschung auf Basis der Zwei-Quellen-Theorie besitzen; eine präzise kommunikative Situation, wie sie teils bei der Briefliteratur bestimmt werden kann, ist für Markus nur sehr schwer zu ermitteln. Die Gefahr projektiver und zirkulärer Fehlinterpretationen und Forschungssondermeinungen bleibt darum im Fall des zweiten Evangeliums besonders hoch. In theologisch-hermeneutischer Hinsicht stellt sich eine Grundfrage, die im Fach unterschiedlich bzw. auch widersprüchlich beantwortet wird: Kann, darf und soll man einen Text, der in der Kirchengeschichte ca. 18 Jahrhunderte lang stets eingebettet, in der ökumenischen Klammer zwischen Matthäus, Lukas und Johannes gelesen wurde, aufgrund des Altersarguments quasi zum Eckstein erzählter Theologie im Neuen Testament machen? Ist Markus „wertvoller“ resp. einflussreicher, weil er von Matthäus und Lukas ganz weitgehend zur Grundlage ihrer Werke gemacht wurde - und diesen vorausgegangen ist? Oder ist er umgekehrt ein Stück weit ersetzt durch diejenigen Entwürfe, die ihn aufgenommen, 4 Im Rahmen des für diesen Beitrag gesetzten Umfangs muss auf die ausdrückliche Nennung von Forschungsbeiträgen fast ganz verzichtet werden; jede hier mögliche Auswahl wäre gegenüber der so breit gefächerten Markusforschung unfair und bliebe dezisionistisch. Für diejenigen, die sich mit Markus (erstmals) intensiver beschäftigen wollen, möchte ich immerhin vier jüngere wissenschaftliche Kommentare auswahlweise empfehlen: M.E. Boring, Mark. A Commentary (The New Testament Library), Louisville/ London 2006; A.Y. Collins, Mark. A Commentary (Hermeneia), Minneapolis 2007; C. Focant, L’évangile selon Marc (Commentaire Biblique: Nouveau Testament), Paris 2004; G. Guttenberger, Das Markusevangelium (ZBK 2), Zürich 2017. Zum Stand der gegenwärtigen Markusforschung (auswahlweise): G. van Oyen (Hg.), Reading the Gospel of Mark in the twenty-first Century. Method and Meaning (BETL 301), Leuven/ Paris/ Bristol 2019. C. Breytenbach, The Gospel according to Mark as Episodic Narrative (NT.S 182), Leiden/ Boston 2021. Das Markusevangelium als Herausforderung für die Theologie 27 aber auch stark transformiert haben? Wie gehen wir mit der Zuschreibung der Kanonizität um? Tatsache ist, dass Markus von früh an und bis heute in der Christenheit - und über sie hinaus - gelesen worden ist und weiterhin gelesen wird. 2. Abschied vom heidenchristlichen Nein zur Tora bei Markus Unter den zahlreichen historischen Fragen, die die Markusforschung weiterhin umtreiben, ist die der religionsgeschichtlichen Einordnung besonders wichtig und zugleich auch strittig. Die ältere Markusforschung hat das zweite Evangelium, oftmals in einem vereinfachenden Anschluss an Paulus, als Zeugnis einer sogenannten „heidenchristlichen“ Theologie verstanden. Dieses Urteil lässt sich in dieser Weise heute nicht mehr halten. In der Diskussion sind dabei deutlicher, als dies oft früher geschehen ist, unterschiedliche Ebenen zu unterscheiden. Auf der ersten Ebene ist es unstrittig, dass Markus einen Jesus erzählt, der als Jude in jüdischen Lebenszusammenhängen und Diskussionen steht. Hiervon zu unterscheiden ist die Ebene der avisierten Leserschaft. Für diese gilt dies nicht in gleichem Maß. Vieles spricht dafür, dass das Evangelium für eine in wesentlichen Teilen nichtjüdisch-christusgläubige Leserschaft verfasst ist. So erklärt sich z.-B., dass der Erzähler jüdische Praktiken teils für seine Leserschaft übersetzt resp. erläutert (besonders deutlich: Mk 7,3f.; vgl. 3,17; 5,41; 7,11.34; 15,42). Doch spricht zugleich manches dafür, dass innerhalb der intendierten Leserschaft Fragen der jüdischen Halacha noch lebendig sind. Besonders die Streitgespräche (v. a. Mk 2,1-3,6; 11,27-12,37) lassen sich als innovative und wesentliche Darstellungsbauformen des zweiten Evangeliums kaum befriedigend lesen, wenn sie lediglich im Sinne einer Vergangenheitsbewältigung aufgefasst werden. Sie sind vielmehr Ausdruck von Gestalten eines Fragens und Argumentierens, das nur unter jüdischen Prämissen verständlich und kommunikabel wird. Inhaltlich tangiert ist vor allem der Vorwurf der Blasphemie, den die markinischen Schriftgelehrten bereits in Mk 2,7 erheben und der am Ende dann auch das Verhör vor dem Synhedrium bestimmt (Mk 14,64). Insgesamt entwickelt sich die markinische Christologie terminologisch wie erzähltechnisch so, dass sie lebendiges innerjüdisches Fragen aufnimmt, weiterführt und korrigiert - und zwar so, dass es hier nicht lediglich um praeterita (Vergangenes) geht (siehe unten Punkt 6). Auf der dritten Ebene schließlich ist der hinter dem Erzähler/ der Erzählung stehende Verfasser selbst höchst wahrscheinlich kein „Heidenchrist“, sondern ein christusgläubiger Jude; für ihn und seine Erzählung gibt es eine lebendige 28 Reinhard von Bendemann Bindung nicht nur an die heiligen Schriften Israels, die auch für Markus Normendiskurse entscheiden können, sondern auch an zeitgenössische jüdische Glaubensüberzeugungen und Frömmigkeitsformen. So scharf der Konflikt zwischen Jesus und seiner Gruppe und anderen jüdischen Akteuren auch geführt wird - dies darf man nicht bagatellisieren und verharmlosen -, so wenig entstehen dabei erzählerisch einfache schwarz-weiß- Fronten. So ist z.-B. richtig, dass die markinischen Schriftgelehrten die Hauptgegner Jesu sind; doch gibt es auch einen Schriftgelehrten, dem Jesus am Ende zugesteht, „nicht fern von der Königsherrschaft Gottes“ zu sein (Mk 12,34: die doppelte Verneinung bedeutet Bejahung; Figur der Litotes). Wir begegnen weiteren freundlichen jüdischen Charakteren, wie z.-B. Simon von Kyrene, der - anders als die Jesusjünger, von denen das eigentlich zu erwarten wäre - das Kreuz trägt (vgl. Mk 15,21/ 8,34: im Griechischen jeweils das gleichlautende Verb), oder dem jüdischen Ratsherrn Josef von Arimatäa, der offenbar mit der Jesusbewegung sympathisiert und die Pflicht der Bestattung des Leichnams Jesu auf sich nimmt (Mk 15,43.45f.). Zugleich erweisen sich im zweiten Evangelium Charaktere und Gruppen als „Feinde“ resp. „Gegner“ Jesu, die auch im zeitgenössischen Judentum als feindlich wahrgenommen werden können. Dies gilt besonders für die Zugehörigen zum Haus des Herodes („Herodäer“ oder „Herodianer“), die schon in Mk 3,6 am Plan der Beseitigung Jesu beteiligt sind (vgl. auch Mk 6,14-29; 8,15; 12,13). Präzise Zuordnungen und Verortungen von jüdischen Positionen bleiben auf der Ebene der Beanspruchung und Bestreitung schwierig. Über die frühjüdischen Gruppierungen, die in der Forschung oftmals als quasi festumrissene Vergleichsgrößen aufgefasst werden, sind wir teils überhaupt erst durch Markus informiert. Der Text enthält z.-B. den frühesten Beleg für den griechischen Begriff „Sadduzäer“ (Mk 12,18). Besonders problematisch ist im Rückblick auf die ältere Markusforschung die These einer sogenannten „Gesetzeskritik“ bzw. eines klaren „Nein“ zur Mose- Tora. Diese verfehlt das erzählerisch-theologischen Gefälle des Evangeliums. Gewiss sind im Tora-Verständnis - der griechische Begriff „Gesetz“ fehlt - bei Markus beträchtliche Umbrüche und Weiterentwicklungen zu verzeichnen, die mit dem Standpunkt Jesu und seiner späteren Aneignung in den ca. 30-40 Jahren nach dessen Tod zusammenhängen. Doch ist im Markusevangelium der Lebenszusammenhang zu den Forderungen der Mose-Tora keineswegs vollständig gekappt. Beredt ist hier das oben schon angeführte Streitgespräch mit dem Schriftgelehrten über die Frage nach dem höchsten Gebot in Mk 12,28-34, welches wechselseitig affirmierend und freundlich verläuft. Das „erste Gebot“ wird hier als ein Doppelgebot aufgefasst. Dieses will im Sinn des Markus aber in keinem Fall die übrigen Tora-Gebote entkräften oder ersetzen. Die Anspie- Das Markusevangelium als Herausforderung für die Theologie 29 lung auf Hos 6,6 (oder 1Sam 15,22 LXX) in Mk 12,33 ist ebenfalls nicht so zu verstehen, dass hier die sog. Kulttora programmatisch kritisiert würde. Der markinischen Erzählung ist eine scharfe Unterscheidung von ethischer Tora und rituell-kultischer Tora insgesamt unangemessen, und gegen die Annahme, dass Markus jede Beziehung zu jüdisch-rituellen Vorschriften verloren hätte, spricht schon Mk 1,40-44. Der in der Forschung immer wieder für den „gesetzeskritischen Heidenchristen“ bemühte Abschnitt Mk 7,1-23 geht von einem Reinigungsproblem aus, das in der Tora gar nicht geregelt ist. Streitpunkt sind vielmehr „väterliche Überlieferungen“, d. h. Meinungen aus dem Bereich der Tradition und interpretativen Lehre. In Mk 7,15 wird dann im Sinn des Markus auch nicht die gesamte Speisetora entkräftet und erledigt, wie dieser Text in der Forschung oft verstanden wurde. Deutlich ist dagegen, dass im Sinn des Markus jüdische und christusgläubige Menschen miteinander essen dürfen/ sollen. Beachtet werden sollte auch, dass im zweiten Evangelium über die Zukunft des Gottesvolkes per se nicht apodiktisch negativ geurteilt wird; prophetische Kritik an den Eliten darf nicht in dieser Weise missverstanden werden. Möglich ist auch, dass Markus eine Tür für ein eschatologisch-heilvolles Geschick der Stadt Jerusalem offen hält. Zwar hat die Stadt sich in Gestalt ihrer Kultus-Aristokratie der Evidenz Jesu verweigert sowie den Tod Jesu mit betrieben. Sie bleibt mit dem tödlichen Lebensende Jesu verknüpft. Doch wird Jerusalem für Markus nicht zum tödlichen Gegen-Raum Galiläas. Die auf E. Lohmeyer zurückgehende und in der Sache auch in jüngeren literarischen Untersuchungen des Markusevangeliums oft aufgegriffene Qualifikation Jerusalems als „Ort der Sünde und des Todes“ 5 im Gegenüber zu Galiläa als quasi idealem Topos trifft nicht die markinische Sicht; anders als in der Spruchquelle Q wird Jerusalem als solches nicht mit dem Gericht bedroht (das Logion über den Tempel ist im Angesicht der faktischen bzw. kurz bevorstehenden tatsächlichen Zerstörung des Tempels gesprochen: Mk 13,2f.). Zudem ist im Licht des dem Markusevangelium von Beginn an Richtung verleihenden Jesaja-Buches (und auch im Licht des in der Passion wichtigen Sacharja-Buches) das erwartete resp. erhoffte Erscheinen des Menschensohnes und das endzeitliche Handeln Gottes kaum ohne Jerusalem denkbar. Dass Markus eine entsprechende heilvolle Hoffnung für die Stadt nicht weiter ausführt - und dies nicht kann -, liegt an dem gegebenen Faktum des Todes Jesu in der Stadt sowie der Erwartung bzw. der Einsicht in ihre Zerstörung durch die Römer. Mit dem zweiten Evangelium verbindet sich damit insgesamt die Notwendigkeit, gerade in der protestantischen Forschung lange Zeit bestimmende theologische Geschichtsbilder zu korrigieren. Markus widersetzt sich einem 5 E. Lohmeyer, Galiläa und Jerusalem (FRLANT 34), Göttingen 1936, 33. 30 Reinhard von Bendemann Geschichtsschema, nach dem die „heidenchristliche“ Kirche Israel resp. das „Judentum“ sehr bald nach dem Tod Jesu quasi abgelöst habe (sog. „Substitutionstheorie“). Markus steht als Entwurf mit anderen neutestamentlichen Schriften wie z.-B. dem lukanischen Doppelwerk in Nachbarschaft, die uns zeigen, dass es ein vitales christusgläubiges Judentum bis zum Ende des ersten Jahrhunderts (und über dieses hinaus) gegeben hat und dass die Lebensverbindung von Christentum und dem in sich so vielfältigen und reichen Judentum nonsubstituierbar (unersetzlich/ unauflösbar) ist. 3. Der apokalyptisch-eschatologische Rahmen der markinischen Jesusgeschichte Die markinische Jesusgeschichte ist der Gattung nach kein apokalyptischer Text. Sie wird jedoch inhaltlich ganz wesentlich dadurch geprägt, dass sie prophetisch-apokalyptische Sprachformen der ältesten Jesustradition zur Geltung bringt und dabei im Episodischen wie im Gerüstbau der Erzählung auch Schemata der Wirklichkeitswahrnehmung nutzt, wie sie die frühjüdisch-apokalyptische Literatur kennt. Gerechnet wird mit einem qualifizierten Ende des „jetzigen“ Welt-Zeitraums. Die raumzeitliche Schnittstelle, an der die himmlische Welt sich in die irdische Welt hinein öffnet, wird im Eingangsteil des Evangeliums u. a. durch das Zerreißen der Himmel und das Eingehen des schöpferischen Geistes in Jesus markiert, der damit zum endzeitlichen Repräsentanten und Agenten Gottes auf der Erde wird (Mk 1,9-11); diese universal-zeitenwendende Dimension und Bedeutsamkeit spiegelt sich wahrscheinlich auch im Zerreißen des den Kosmos abbildenden (äußeren oder inneren) Tempelvorhangs in der Stunde des Todes Jesu (Mk 15,38; vgl. Josephus, Bell. V 214). Apokalyptisches Reden und Denken wird dabei im Markusevangelium unter veränderten zeitgeschichtlichen Bedingungen weiter transformiert. Im Hintergrund stehen apokalyptische Erwartungen, Interpretamente und Sprachformen, die wahrscheinlich in unmittelbarem Zusammenhang mit der drohenden Katastrophe Jerusalems am Ende des jüdischen Krieges kursieren, mit denen sich das zweite Evangelium kritisch auseinandersetzt. Nach der für das Verständnis der theologischen Konzeption des Evangeliums eminent wichtigen Endzeitrede (Mk 13,5-37), der längsten Rede Jesu im zweiten Evangelium, die sich in planvoller Achterstellung noch einmal an die erstberufenen Jünger richtet, liegt der Fokus auf der Aussage: „noch nicht das Ende“ (Mk 13,7). Der markinische Jesus wehrt hier jeder Verwechslung innergeschichtlicher Ereignisse mit dem erhofften/ erwarteten Endzeithandeln Gottes. Die Rede bietet in dieser Hinsicht eine Art Negativ-Checkliste. Die in Mk 13,26 im Anschluss an Dan 7,13f. avisierte Das Markusevangelium als Herausforderung für die Theologie 31 Ankunft des Menschensohnes - nach Markus die eigentlich unverwechselbare Kategorie für das Erfassen der Identität Jesu (siehe unten Punkt 6) - beendet alles menschliche Erwarten, Deuten und Handeln. In Mk 13,24-27 antizipiert die Hauptfigur in für die Leserschaft verlässlicher Weise das eigentliche Ende des Plots des Markusevangeliums; die Bedeutung Jesu für die Zeit und Welt wird hier in nicht mehr überholbarer Weise fixiert (siehe unten Punkt 7). Eine Markus verpflichtete Theologie kann und darf folglich die apokalyptische Signatur nicht verlieren. Diese verhält sich zur Geschichte und Verkündigung Jesu nicht wie ein Äußeres (vgl. die Metapher der „Eierschalen“ o. ä.), sondern trägt, durchdringt und prägt diese in nuce. Mit dem Verlust des eschatologischen reframings würde das Ganze der markinischen Theologie wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen. 6 Die zentrale hermeneutische Herausforderung, der sich schon die frühen Rezipienten des Markusevangeliums konfrontiert sahen, lautet: Wie kann man eine solche apokalyptische Wirklichkeitssicht in einer Zeit und Welt kommunizieren, die ihre Prämissen - nämlich v. a. die einer himmlischen Machtsphäre im Gegenüber zu irdischen Mächten und die einer vergehenden Zeit im Gegenüber zu einer realen kommenden, gänzlich neuen Welt - nicht mehr teilt? 4. „Es verließen ihn alle“ (Mk 14,50) - Zur markinischen Jüngergeschichte Die markinische Erzählung führt die „großen“ Anfangsgestalten der Jesusnachfolge wie Simon Petrus oder die beiden Zebedaiden Jakobus und Johannes sukzessive an ihre äußersten Grenzen, bis hin zum völligen Versagen - und dies im Zusammenhang einer Erzählstrategie, mittels derer sich die Leserschaft mit den Jüngern mehr und mehr identifizieren muss. Dieser Befund ist in der Forschung und in der Rezeptionsgeschichte oft nicht scharf genug herausgestellt worden. In Spannung zu der ihnen in der Parabeltheorie zugesagten Einsicht in das Geheimnis der Königsherrschaft Gottes (Mk 4,11f.) verstehen die Jünger im ersten Teil der Erzählung nicht, im zweiten Teil missverstehen sie Jesus und damit das Desiderat ihrer eigenen Leidensnachfolge; dies alles wird in einer subtilen Erzählstrategie auf die Leserschaft weitergelenkt. Nach den Erzählungen des Nichtverstehens und des Missverstehens beschreibt dann die dritte Phase, nämlich die der gänzlich verfehlten praktischen Konsequenzen, den entscheidenden 6 In der Sache kann man an das berühmte dictum Karl Barths in der 2. Aufl. seines „Römerbriefs“ denken: „Christentum, das nicht ganz und gar und restlos Eschatologie ist, hat mit Christus ganz und gar und restlos nichts zu tun“ (K. Barth, Der Römerbrief, 1922/ Nachdruck Zürich 1978, 298). 32 Reinhard von Bendemann Höheresp. Tiefpunkt der Jüngergeschichte. Der Kontrast zwischen Anspruch und Realisierung könnte schärfer nicht sein. In Mk 14,71 endet die Erzählung der Gruppe der Zwölf als handelnde Subjekte im zweiten Evangelium. Nur in der Figurenrede - immerhin Mk 14,28 in Jesusrede und 16,7 in Engelrede - ist angedeutet, dass es jenseits des Endes der Erzählung in der Begegnung mit dem Auferstandenen zu einer neuen Beziehung zwischen Jesus und den Jüngern, d. h. zu einer Restitution kommen könnte. Doch wenn man die engsten Jünger des markinischen Jesus unter dem Aspekt betrachtet, ob sie sich als Identifikationsfiguren für das Handeln der Leserschaft anbieten, müssen sie am Ende der Erzählung als quasi verbraucht angesehen werden. Handelt es sich bei Mk 16,8 um den ursprünglichen Schluss, so reihen sich am Ende auch die Frauen in die Geschichte sukzessiven Nachfolgeversagens ein. Die Notiz ihrer Furcht, mit der die Erzählung endet, ist im Sinne des Markus negativ zu verstehen. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass der Erstleserschaft des zweiten Evangeliums, die in einer Zeit lebte, in der mindestens Petrus oder auch die Zebedaiden in der sich etablierenden und ausbreitenden Christenheit bereits einen Namen hatten und in der auch bekannt gewesen sein muss, dass der Bruder Jesu, Jakobus (vgl. zu ihm: Mk 3,32-35; 6,3: „Ärgernis nehmen an“), nach dem Tod Jesu eine Leitungsfunktion in der frühen Jerusalemer Gemeinde übernommen hatte (vgl. insgesamt: Gal 1 f.), die auf die Erstjünger und auch auf die Familie Jesu gerichteten kritischen Nuancen entgehen konnten. Auch wenn die späteren Evangelien die kritischen Züge im Blick auf Petrus nicht gänzlich tilgen bzw. sie weiterentwickelt haben, gilt: Es gibt keinen anderen neutestamentlichen Erzähltext, der sich im Blick auf Petrus so negativ äußert, wie das Markusevangelium (vgl. aber Gal 2). Dieser Gesamtbefund fordert in Hinsicht auf die markinische Ekklesiologie eine differenzierte Analyse und Bewertung. In Kürze: Er darf nicht einfach im Sinne eines Konzessionsmodells interpretiert werden, d. h. in dem Sinn, Versagen werde hier als uranfängliche Möglichkeit der Kirche etabliert. Nach Mk 8,38 verhalten sich die Anfangsjünger so, dass sie den Geistträger Jesus - unvergebbar - verleugnen und sich der Menschensohn bei seinem Kommen ihrer schämen muss. Sicher werden die Anfangsjünger auch nicht gänzlich disqualifiziert. Ihre Rolle, die sie für die Leserschaft übernehmen, ist wichtig, und ihnen verbleibt eine mögliche, freilich nicht mehr narrativ umgesetzte positive Rolle über die erzählte Passion hinaus. - Dass der Erzähler und seine Leserschaft nichts von einer Tradition der Christuserscheinung vor Petrus (und weiteren Jüngern) wissen, ist nahezu ausgeschlossen (vgl. Mk 16,7). Zu beachten ist auch, dass die Das Markusevangelium als Herausforderung für die Theologie 33 Erzählung das Wissen zu erkennen gibt, dass die Anfangszeugen mehrheitlich nicht mehr am Leben sind. Wie manche in der Forschung vertreten haben, sucht die markinische Erzählung ihren ekklesiologischen Ort strukturell nicht bei Petrus und den Zwölfen, sondern in den randständigen „Heldinnen“ und „Helden“, denen man ein adäquates Verhalten innerhalb der erzählten Welt zunächst nicht zutraut. Bleibende Identifikationsfiguren für die Leserschaft wären dann nicht Petrus und die Zwölf, sondern Nebenfiguren wie Bartimäus, der in die Nachfolge Jesu eintritt (Mk 10,46-52), oder die namenlose Frau, die Jesus salbt und damit die kommende Passion richtig versteht (Mk 14,3-9), oder auch Simon von Kyrene, der das Kreuz trägt (Mk 15,21), oder Josef von Arimatäa, der Jesus bestattet (Mk 15,43-46). Richtig ist, dass sich hier ein Kontrast zu den „echten“ Jüngern ergibt; allerdings ist die Intentionalität des Handelns dieser Nebenfiguren oft nicht klar; es ist erst die markinische Deutung, die ihnen einen positiv-vorbildlichen Sinn zuschreibt. Aus diesem Gesamtbefund scharfer Kontraste und zugespitzter Konflikte, die jedoch nicht einseitig aufgelöst werden, ergibt sich ein erster, wichtiger Zugang zur christologischen Leitfrage des Evangeliums (siehe unten Punkt 6): Der Entwurf des Markus repräsentiert als älteste kohärente Jesusgeschichte so etwas wie ein programmatisches ad fontes („zurück zu den Quellen/ Ursprüngen“). Er insistiert als Erzählung auf dem solus Christus - Jesus allein ist zentral - in einer Zeit, in der sich die etablierende und ausbreitende Christenheit bereits auf ein sich verfestigendes Apostelbild und eine sich verfestigende kirchliche Tradition bezieht und sich zugleich christliches Zeugnis in Beziehung zu outsidern lebendig, übergangsreich und mehrdimensional gestaltet. 5. Ansätze kommunikativ-egalitärer Gruppenstrukturen - Zur markinischen Ethik Unter dem Aspekt der Kommunikation mit der Leserschaft und ihrer ethischen Orientierung sind die Episoden, in denen Jesus sich mit seinen Schülern/ Jüngern „privat“ zurückzieht (vgl. Mk 7,17-23; 9,28f.; 10,10-12 u. a.), bzw. die längeren didaktischen Szenen, die der Schüler-/ Jüngerunterweisung dienen, besonders wichtig. Der erzählte Weg an die Schwelle zum Leiden in Jerusalem (Mk 8-10) wird planvoll durch eine dreifache Abfolge von Leidensankündigungen Jesu (Mk 8,31; 9,31; 10,32-34; vgl. 9,9.12; 10,45; 12,8-11), groben Missverständnissen auf Seiten der Jünger (Mk 8,32f.; 9,33f.; 10,35-41) und korrektiven Abschnitten der Lehre Jesu (Mk 8,34-9,1; 9,35-50; 10,42-45) strukturiert. Die Leser und Leserinnen lernen hier zusammen mit den Jüngern: Kreuz-Tragen bedeutet 34 Reinhard von Bendemann Selbstverleugnung, es bedeutet, dazu bereit zu sein, von allen Statuswünschen und allem Insistieren auf eigener Würde abzusehen und die Schmach/ Schande (weiter-)zutragen, die der Glaube an einen Gekreuzigten mit sich bringt. Es ist richtig, dass sich dem Markusevangeliums vergleichsweise wenig darüber entnehmen lässt, wie die angesprochenen Jünger ihre Gruppe denn positiv gestalten und zusammenhalten sollen; das zweite Evangelium bietet kein wirkliches Gruppenethos. In Hinsicht auf die Gestaltung der Innenrelationen der angesprochenen Gruppe zeichnet sich das zweite Evangelium dagegen vor allem durch einen anti-hierarchischen, nicht an Status, ökonomischer Disposition und Ansehen orientierten Impuls aus. „Herrschaft“ bedeutet nach Markus Sklavendienst, „Erster“ sein wollen bedeutet „Letzter“ zu sein (vgl. vor allem Mk 10,35-45). Das zweite Evangelium setzt sich hierbei wahrscheinlich nicht direkt mit römisch-imperialen Strukturen auseinander; es richtet sich aber in aller Klarheit gegen die Übernahme entsprechender top-down-Verhaltensmuster in die eigene Gruppe. Im Unterschied zu Konzepten der griechisch-römischen Antike, die ebenfalls die Vorstellung kennt, dass der wahre Herrscher Diener der Seinen sein soll, geht es bei Markus nicht um eine Strategie, wie man Macht möglichst klug kaschiert bzw. effizient durchsetzt. „Dienst“ negiert nach Markus hierarchische Abhängigkeits- und Herrschaftsstrukturen als solche. Ein Bild wie im lukanischen Doppelwerk, das von Christinnen und Christen weiß, die eigene Sklaven besitzen, ist für Markus ekklesiologisch nicht denkbar. Vergleichbar ist, was Philo von Alexandria über die Essener schreibt, bei denen es „auch nicht einen einzigen Sklaven“ gibt (Quod omnis probus liber sit 79). Die markinische Konzeption stellt ein bleibendes Korrektiv im Blick auf jedwede Formen kirchlicher und auch gesellschaftlicher Hierarchiebildung dar. 6. Das Menschensohn-Geheimnis - Zur markinischen Christologie Wegweisend wurde über die formkritische Forschung hinaus vor allem das literarische Konzept des „Messiasgeheimnisses“ im zweiten Evangelium, wie William Wrede, dem wir diesen die Forschung bis heute in den Bann nehmenden Begriff verdanken, es für alle Evangelien postuliert hat. Wredes Ausgangspunkt erwies sich allerdings bald als unsachgemäß. Die These, dass der irdische Jesus keinerlei messianischen Anspruch erhoben habe - im Unterschied zur Christenheit nach Ostern -, und dass das „Messiasgeheimnis“ beide Befunde in der Erzählung der Wirksamkeit Jesu vermitteln würde, steht auf tönernen Füßen. Allerdings hat Wrede mit Recht eine Dramatik innerhalb der Erzählung erkannt, die in späteren Forschungsbeiträgen, die sich bis heute zumeist an den sogenannten „Hoheitstiteln“ orientieren, nicht immer gewahrt wurde. Markus Das Markusevangelium als Herausforderung für die Theologie 35 gibt keine (statische) Christus-„Lehre“, weshalb der markinische Entwurf auch nicht einfach mit Paulus zu vergleichen ist. 7 Vielmehr muss der Dynamik der Erzählung Rechnung getragen werden. Deutlich wird diese Dynamik z.-B. daran: Bis zum 8. Kapitel agiert der markinische Jesus als ein machtvoller Wundertäter; dem geistbegabten Sohn Gottes dienen die Engel (Mk 1,12f.); als Menschensohn hat Jesus die Gott vorbehaltene Vollmacht, Sünden zu vergeben (vgl. Mk 2,5f.); er gebietet über den von Gott geschaffenen Sabbat (Mk 2,27f.); die Dämonen geben in seiner Gegenwart klein bei (Mk 1,21-28; 5,1-20; 9,14-27); er behandelt und heilt zahlreiche Kranke (vgl. die Bündelung dieses Bildes in den erzählerischen Summaren: Mk 1,32-34; 3,10f.; 6,54-56 u. a.). Das zweite Evangelium ist in seiner ersten Hälfte ein Wundergeschichtenbuch; die wunderbaren Machttaten Jesu haben eine positive Darstellungsfunktion; sie sind essentieller Bestandteil der „neuen Lehre gemäß/ kraft Vollmacht“ (Mk 1,27); sie sollen und wollen nicht vom „Kreuz“ Jesu her korrigiert werden - wie man in der älteren Forschung z. T. meinte. Gerade die zahlreichen Wundererzählungen und -summare unterscheiden das zweite Evangelium von der Q-Tradition (hier nur Lk 7,1-10 par; vgl. 11,14-23 par u. a.). Jesus erweist sich dabei nicht allein als Herr über physische Leiden und Tod (vgl. Mk 5,35-43; vgl. 9,14-29), er gilt auch als Herr über die Chaos-Mächte (Mk 4,41; 6,45-52). Von Mk 8,27 an wird dieses Bild unbedingter Autorität und Handlungsvollmacht (auctoritas und potestas) Jesu jedoch sukzessive und sachlich durchaus spannungsreich überschrieben durch die gewisse Prognose des Leidensgeschickes. Episoden, die die Hoheit Jesu anzeigen (vgl. besonders Mk 9,2-10), werden planvoll mit Aussagen des kommenden Martyriums ausbalanciert. Ab dem Ende des so wichtigen Weg-Abschnittes Mk 8-10 häufen sich Aussagen, in denen die Hauptfigur die Limitierung ihrer Machtmittel und Möglichkeiten betont und sich ganz der Notwendigkeit des von Gott verhängten Leidens und Sterbens unterordnet (vgl. Mk 10,40: Jesus hat nicht die Macht, die Sitzordnung im Escha- 7 Um nur einen zentralen Befund anzusprechen: Paulus interpretiert das Kreuz und die Auferwekkung Jesu in anderer Weise, als es Markus tut: Die Wurzel „Kreuz“/ „Kreuzigen“/ „gekreuzigt“ wird im zweiten Evangelium - anders als bei Paulus zumeist - nicht kritisch-demarkativ resp. polemisch verwendet. Sie verweist in den relativ wenigen expliziten Äußerungen realistisch auf das schändliche Lebensende Jesu; unter dem Aspekt der Scham/ Schmach/ Erniedrigung wird sie auch ethisch gebraucht (so im ersten Beleg in Mk 8,34). Das Markusevangelium setzt sodann in den wichtigen Prognosen Jesu die Rede von der Auferstehung voraus (Mk 8,31; 9,31; 10,34); das Evangelium weiß im Rückblick auch von Erscheinungen des Auferstandenen (vgl. Mk 16,7). Doch gibt es bei Markus nicht den bei Paulus in 1Thess 4,13-18 und 1Kor 15 etablierten Konnex von Auferstehung Jesu und Auferstehung der toten Christen. Das entscheidende Datum ist vielmehr die kontingent erwartete Ankunft des Menschensohnes (vgl. Mk 13,24-27). Siehe unten Punkt 7. 36 Reinhard von Bendemann ton zu vergeben; 13,32: der Christus nesciens [der nicht-wissende Christus]). Insbesondere dem Spott, der den Gekreuzigten trifft und der zur Selbst-Rettung auffordert, hat Jesus nichts entgegenzusetzen (Mk 15,29-32); die Ohnmacht kulminiert in Jesu letztem Wort, dem aramäischen Zitat aus Ps 22,2 am Kreuz. Man kann damit durchaus von einer Entwicklung der Jesus-Figur im Verlauf der Erzählung sprechen, die konsequent auf die Kommunikation mit der Leserschaft abgestimmt ist. Das literarische Spiel von Nicht-Verstehen, Missverstehen und Versagen hat dabei nicht nur ethische Implikationen; es bezieht sich vielmehr sehr konkret auf bestimmte messianologische Konzepte. - Beide Bereiche verhalten sich dabei für Markus so wie zwei Seiten derselben Medaille. In Gestalt der Jünger soll die Leserschaft vor allem lernen, dass eine politische Messianologie insuffizient ist, um Jesu Bedeutung zu erschließen. Vom ersten Vers an setzt das zweite Evangelium voraus, dass Jesus der „Christus“ (außer in Mk 1,1 nur in 8,29; 9,41; 12,35; 13,21; 14,61, 15,32) und zugleich „Sohn Gottes“ (siehe hierzu Punkt 7) ist; beide Attribute erzeugen vor einem antik-jüdischen Hintergrund zusammen genommen die Erwartung einer royalen Figur, die mächtig zugunsten Israels in die Geschichte eingreifen wird; im Hintergrund steht die ideal-nationale Erinnerung an den König David und sein Reich (vgl. den „Sohn Davids“ in Mk 10,47f.; 12,35-37). So ist Jesus jedoch nicht zu verstehen (zum Versagen davidischer Kategorien für Jesus vgl. auch Mk 11,1-11). Am deutlichsten wird eine dezidierte Abgrenzung von politischen bzw. imperialen Verstehenskategorien im achten Kapitel. Der scharfe Tadel an die Adresse des Petrus „bei den Dörfern von Cäsarea Philippi“ ist von der Leserschaft in eine zeitgeschichtliche Verbindung zum jüdischen Krieg und entsprechende Konzepte von Herrschaft zu bringen. Möglich ist, dass im achten Kapitel konkrete zeitgeschichtliche Bezüge zum Herrschaftsantritt des Kaisers Vespasian im Hintergrund stehen. Mk 8,22-26 lässt konkret an eine Blindenheilung denken, die Vespasian als Retter in Alexandria zur Legitimierung seiner Herrschaft zugeschrieben wurde (vgl. Tacitus, Historien IV 81 f.; Sueton, Vita Vespasiani VII). Mk 8 bietet ein Erzählgefüge, in dem das „Sehen“, „Durchdringen“ und „Begreifen“ Jesu als einer ganz anders gearteten Herrscherfigur möglich wird (vgl. Mk 8,14-26 vor 8,27-33). Diese narrative Konstruktion ermöglicht es der Leserschaft, die verschiedenen Facetten wahrzunehmen, die das notwendige Leiden des Menschensohnes aufweist. Wie den Christustitel setzt Markus die Vorstellung der Gottessohnschaft Jesu voraus. 8 Er nutzt sie, um positiv zu klären, wer Jesus ist: nämlich Repräsentant 8 In frühjüdischen Texten verweisen Begriffe wie „Geist-Begabter“, „Gesalbter“/ „Messias“ und „Sohn Gottes“ nicht auf distinkte „Amtsbereiche“, sie sind vielmehr funktional ge- Das Markusevangelium als Herausforderung für die Theologie 37 und Agent Gottes (siehe unten Punkt 7). Auch der Verstehenskategorie der Gottessohnschaft (Mk 1,11 affirmiert die Himmelsstimme die Erzähleraussage in 1,1; vgl. 3,11; 5,7; 9,7; 13,32; 14,61; 15,39; vgl. im Gleichnis: 12,6) haftet jedoch bei Markus etwas Ambivalentes an; sie ist auch Dämonen möglich (Mk 3,11; 5,7). Sehr umstritten ist dabei besonders die Gottessohn-Aussage des römischen Zenturio unter dem Kreuz in Mk 15,39. Man hat ihr in der Forschung teils zu viel aufgebürdet. Betont wurde oft das „heidnische Bekenntnis“ zum Gekreuzigten im Rückblick auf die Wirksamkeit Jesu (zum Problem oben Punkt 3). In Mk 15,39 geht es allerdings nicht so sehr um eine positive Belichtung des Zenturio und seines „Bekenntnisses“, als vielmehr im Kontrast um eine Abwertung all der erzählten jüdischen Akteure, die den Gekreuzigten verspotten. Die Auseinandersetzung mit messianischen Konzepten geschieht dabei im zweiten Evangelium nicht im luftleeren Raum. Die christologische Leitfrage des Evangeliums ist vielmehr als solche wahrscheinlich ausgelöst und bestimmt durch konkrete zeitgenössisch-jüdische Erwartungen und entsprechende Sprachformen und Interpretamente in der Schlussphase des jüdisch-römischen Krieges (vgl. zum zeitgeschichtlichen Hintergrund messianischer Erwartungen: Josephus, Bell. VI 285.288-309; Ant. XX 97-99; 102; 167-172 u. a.). Hierfür sprechen u. a. die Warnungen Jesu in der testamentarischen Abschiedsrede Mk 13,5f.21f. Entscheidend ist, dass Markus die Frage der wahren Identität Jesu nicht „auflöst“. Die Auflösung erfolgt auch keineswegs im Gefolge der Auferweckung Jesu. - In dieser Richtung hat man in der Forschung seit William Wrede v. a. Mk 9,9 missverstanden. Vielmehr bleibt Jesus designiert, er wird aber nicht abschließend identifiziert. Denn es gilt: Erst der „Menschensohn“ wird bei seinem Kommen am Ende der Zeit (Mk 13,24-27) Eindeutigkeit herstellen. Von diesem „Menschensohn“ spricht bei Markus nur Jesus selbst, niemand sonst. Und er spricht von ihm stets in der 3. Person, wenngleich ganz deutlich ist, dass Jesus und der „Menschensohn“ als himmlisch-hoheitliche Figur eine Einheit bilden (v. a. Mk 2; vgl. 8,38). Der „Menschensohn“ bildet ein kritisches Widerlager zum „Sohn Gottes“, zum „Christus“, zum „Sohn des Hochgelobten“ u. a. (vgl. Mk 8,31.38; 9,9.12; 13,26; 14,21.61f. im jeweiligen Kontext). Er ist die einzige nichtambivalente Verstehenskategorie für Jesus; diese liegt jedoch nicht offen. Der „Menschensohn“ bildet erzählerisch die Theozentrik des Markusevangeliums in nuce ab: Gott selbst behält sich die Lösung des Rätsels der Geschichte vor. fasst und können je nach betontem Aspekt (prophetisch, kultisch, königlich), besonders wenn es um eschatologisch erwartete Gestalten geht, ineinander übergehen (vgl. die Rede vom „Messias“ für eine endzeitlich erwartete Gestalt in 11QMelch und 4Q521; vgl. 4Q175 für die Erwartung eines eschatologischen Propheten wie Mose/ Dtn 18,15-18), wobei weitere metaphorische Bezeichnungen aus den Schriften Israels hinzutreten können. 38 Reinhard von Bendemann 7. Die Theozentrik der Erzählung und das Ende der Geschichte Rückblickend hat William Wredes so berühmte These des „Messiasgeheimnisses“ zu einer vereinseitigenden Fokussierung auf die christologische Frage im zweiten Evangelium geführt. Wie oben mit Blick auf den apokalyptischen Rahmen der Erzählung schon angesprochen wurde (siehe oben Punkt 3), verfolgt dieses jedoch die Frage nach der Identität Jesu von Beginn an und durchgängig nur innerhalb der Klammer einer anderen Leitfrage: Nämlich der, wie das endzeitliche Handeln des Gottes Israels in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zum Ziel kommt. Damit schließt das zweite Evangelium an die strikte Theozentrik der Verkündigung Jesu an. Für Markus ist es Gott in seiner Geschichtsmächtigkeit an der Schnittstelle der Zeiten, der Jesus bringt - nicht umgekehrt. Schon der Erzählanfang stellt diese Theozentrik unmissverständlich sicher: Jesus ist im ersten Satz, der den initialen Kontrakt des Erzählers mit der Leserschaft begründet, der Sohn Gottes (Mk 1,1; textkritisch allerdings unsicher); wie es sich mit dem „Anfang“, dem „Ursprung“ des „Evangeliums“ verhält, wird in Gottesrede eingeleitet, die sich an Israel richtet. Die Kombination von Mal 3,1 (vgl. Ex 23,20) und Jes 40,3LXX in Mk 1,2f. zielt dabei zunächst auf das ab Mk 1,4 berichtete Wirken des Johannes, setzt aber zugleich den Ton für das Auftreten Jesu, in den bei seiner Taufe in Mk 1,10f. „der Geist“ einfährt und der daraufhin von der Himmelsstimme als „geliebter“ und erwählter „Sohn“ angesprochen wird. Vorausgesetzt ist eine frühchristliche Vorstellung, nach der Jesus ein David-Nachkomme „nach dem Fleisch“ ist, er aber zum „Sohn“, d. h. zum Repräsentanten und Agenten Gottes, durch den lebensschaffenden, schöpferischen Geist Gottes geworden ist (vgl. Röm 1,3f.). Es ist darum dann auch das Evangelium Gottes (Mk 1,14), welches Jesus bekannt macht (vgl. zum „Evangelium“: Mk 1,1.15; 8,35; 10,29; 13,10; 14,9). D. h. es geht darum, dass Gott sowohl selbst der Garant und der Urheber des anhebenden Heilsgeschehens ist als auch der Inhalt von dessen Verkündigung. Er realisiert das Vollwerden/ Erfülltsein der Zeit, indem seine Königsherrschaft unmittelbar vor der Durchsetzung steht (Mk 1,15). Hier kommt ein apokalyptisches Schema zum Zug: Was in der Sphäre der Transzendenz schon entschieden ist (vertikale Dimension), realisiert sich nun unaufhaltsam durch Jesus in der Geschichte (horizontale Dimension). Nimmt man die strikte Theozentrik der markinischen Jesusgeschichte ernst, die insbesondere auch in der Menschensohn-Christologie ihren Ausdruck findet, so gilt: Streng genommen hat die Christenheit (bis heute) ein qualitativ vollgültiges Verständnis von Jesus noch nicht; die Christenheit ist vielmehr immer noch unterwegs zu einem offenbaren und von geschichtlichen Verstellungen und Verblendungen freien Blick. Die Auflösung gibt es erst am Ende, bis dahin bleibt auch alles Fragen immer nur vorläufig, und niemand kann das Ende aus- Das Markusevangelium als Herausforderung für die Theologie 39 rechnen (vgl. Mk 16,6: „er ist nicht hier“ kritisch gegenüber denen, die sagen: „er ist hier“; vgl. Mk 13,6.21-23). In dieser Konzeption liegt sehr wahrscheinlich auch der sachliche Grund, warum das ursprüngliche Evangelium mit Mk 16,8 enden kann (und muss): Der Schluss möchte nicht einer theologia gloriae („Theologie der Herrlichkeit“) wehren, wie man in der Forschung im Rückgriff auf Luther (Heidelberger Disputation [1518; WA 1, 350-374]) in verschiedenen Variierungen gemeint hat. Die Schlussgebung der Erzählung will nicht das „Kreuz“ als Heilsgeschehen gegenüber der Osterherrlichkeit aufwerten. Auch geht es in Mk 16,7f. nicht darum, den Weg der Leserschaft zurück zum Buchanfang resp. nach Galiläa zu lenken. Entsprechende Interpretationen der letzten Verse des Markusevangeliums basieren auf modernen Prämissen. Vielmehr bringt die Schlussgebung der markinischen Erzählung zum Ausdruck, dass Ostern in seiner Bedeutung nicht an das futurum (die Zukunft) heranreicht, wenn der Menschensohn „in der Herrlichkeit seines Vaters mit den heiligen Engeln“ kommen wird (Mk 8,38) und wenn er die Sammlung der „Auserwählten“ einleitet (Mk 13,26f.). Da es sich um ein echtes futurum handelt, welches auch vom point of view des Sprechzeitraums der Erzählung her gesehen noch aussteht, kann dieses im Buchschluss nicht in die vergangenheitlich-retrospektive Erzählung integriert werden und diese als solche schließen; dass dieses qualifizierte futurum mit Gewissheit eintreffen wird, ist jedoch durch die Prognose der Hauptfigur (vgl. Mk 8,38; 13 u. a.) für die Leserschaft sichergestellt. Narratives Gestalten paulinischer Theologoumena? Paulus und Markus im Vergleich Heidrun E. Mader Hinführung Paulus und Markus 1 , die frühesten Autoren der Christusbewegung, schufen je ein eigenes literarisches Genre, mit dem sie die weiteren frühchristlichen Literaturformen prägten: Paulus entwarf den Apostolischen Gemeindebrief, Markus wenig später ein „Evangelium“. 2 Beide Autoren freilich bezeichnen ihr Verkündigen als Evangelium und verwenden den Begriff titelartig (Mk 1,1; Röm- 1). Beide betonen, dass sein inhaltlicher Kern Tod und Auferweckung Jesu sind, die universal allen Menschen, jüdischen und paganen, zum Heil dienen. Die Unterschiedenheit der Literaturformen hat dazu geführt, dass die beiden frühesten Autoren nicht miteinander in Verbindung gebracht, sondern zwei verschiedenen Entwicklungssträngen zugeordnet wurden: Jesus habe den Anstoß zur Traditionsbildung für die Logienquelle und für das Markusevangelium gegeben, Paulus die Briefe geschaffen. 3 Doch muss diese Unterscheidung präjudizieren, dass Markus unabhängig von paulinischer Theologie sein Evangelium verfasste? Da der Evangelist nach der Abfassung der paulinischen Briefe schrieb, ist es grundsätzlich möglich, dass er paulinische Topoi in seine Narratio aufnahm und erzählerisch ausgestaltete. Der Bekanntheitsgrad des Völkerapostels dürfte 1 Wir bezeichnen im Folgenden mit „Markus“ den Autor oder den Text des anonym verfassten Markusevangeliums in seiner Endgestalt. Die Rede vom männlichen Autor ist dem Namen angepasst, ohne eine Aussage über das Geschlecht des/ der Verfassenden zu treffen. 2 Die Überlieferungen, auf die Markus zurückgreift, sind freilich älter als die Evangeliumsschöpfung. Sie mögen etwa gleichzeitig mit der Entstehung der paulinischen Briefe zu datieren sein. Zeitlich vor dem Markusevangelium, zwischen 40 und 65 n. Chr. ist die sogenannte Logienquelle Q einzuordnen. 3 G. Theißen, Die Entstehung des Neuen Testaments als literaturgeschichtliches Problem, Heidelberg 2 2011, 93. 42 Heidrun E. Mader zur Abfassungszeit groß genug gewesen sein. 4 Dass im Markusevangelium an keiner Stelle auf Paulus explizit hingewiesen wird, ist kein Argument gegen die Aufnahme seiner Theologie, da der Zeitrahmen der erzählten Geschichte keine sinnvolle Möglichkeit bietet, den später wirkenden Völkerapostel zu nennen. 5 Ob sich vor dem Hintergrund dieser möglichen Berührungspunkte tatsächlich ein Einfluss paulinischer Theologie auf das Markusevangelium plausibilisieren lässt, muss in vergleichender Textarbeit beurteilt werden. Diese habe ich in meiner Habilitationsschrift von 2018 monographisch vorgenommen. 6 In 2020, dem Jahr ihrer Publikation ist parallel eine weitere Monographie erschienen, die das Verhältnis von Markus zu Paulus untersucht. 7 Diese beiden Titel waren nach fast hundert Jahren die ersten, die dieses Thema wieder monographisch aufnahmen. Martin Werners Urteil aus dem Jahr 1923, Markus habe mit Paulus nicht mehr als allgemeine frühchristliche Konsenstopoi gemein, 8 zeigte Wirkung, gestärkt durch Rudolf Bultmann, der Werners Ergebnisse übernahm. 9 Werner schloss 1923 damit die Diskussion vorerst ab, die Gustav Volkmar im Umfeld der jüngeren Tübinger Schule Ferdinand C. Baurs 1857 mit der These eröffnet hatte, dass Markus ein durch 4 Paulus selbst kennt bereits eine Paulus-Fama in Gal 1,23-24 und Röm 3,8. Ferner sind die Sammlung seiner Briefe, die Deuteropaulinen, Paulus‘ hervorgehobene Rolle in der Apostelgeschichte sowie Bemerkungen im Zweiten Petrusbrief über seine Briefe (2Petr 3,15-16) ein greifbares Echo auf seine hervortretende Rolle und auf seinen theologischen Einfluss innerhalb des frühen Christentums. Der Römerbrief lag in den römischen Gemeinden vor, der erste Korintherbrief ist ökumenisch adressiert. Siehe ferner zur frühen Paulusrezeption A. Lindemann, Paulus im Ältesten Christentum: Das Bild des Apostels in der Rezeption der paulinischen Theologie in der frühchristlichen Literatur bis Marcion (BhTh 58), Tübingen 1979, bes. 396-399, und aktueller: ders., Paulus, im ältesten Christentum. Überlegungen zur gegenwärtigen Diskussion über die frühe Paulusrezeption, in: J. Schröter/ S. Butticaz/ A. Dettwiler (Hg.), Receptions of Paul in Early Christianity: The Person of Paul and His Writings Through the Eyes of His Early Interpreters (BZNW 234), Berlin/ Boston 2018, 23-58, 58: „Es ist jedenfalls kein Zufall, dass der neutestamentliche Kanon eine so starke Dominanz der Briefe des Paulus erkennen lässt.“. 5 Vgl. J. Schröter/ S. Butticaz/ A. Dettwiler, Introduction, in: dies., Receptions, 3-22, 11: „[…] if Paul is not mentioned by a Christian writer, this does not mean that the writer was not influenced by Paul’s theology or by the impact of Paul’s ideas.“. 6 H. E. Mader, Markus und Paulus: Die beiden ältesten erhaltenen literarischen Werke und theologischen Entwürfe des Urchristentums im Vergleich (Biblische Zeitschrift - Supplements 1), Leiden 2020. 7 M. Pérez i Díaz, Mark, a Pauline Theologian. A Re-reading of the Traditions of Jesus in the Light of Paul’s Theology (WUNT II.521), Tübingen 2020. 8 M. Werner, Der Einfluss paulinischer Theologie im Markusevangelium (BZNW 1), Gießen 1923 (repr. Berlin 2020). 9 R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition; mit einem Nachwort von G. Theißen (FRLANT 29) Göttingen 10 1995, 372: „Dass Markus nicht von der paulinischen Theologie getragen ist, hat M. Werner […] richtig gezeigt.“ Paulus und Markus im Vergleich 43 und durch paulinisches Evangelium sei. Volkmar sah die historische Wahrheit des Markusevangeliums in einer das „Wesen Jesu“ charakterisierenden Verschränkung der irdischen Wirksamkeit Jesu und des Wirkens des Auferstandenen, wie es sich im Schaffen des Apostels Paulus zeigte. 10 Markus betätige sich als „poetischer Geschichtsschreiber“, indem er in die historischen Quellen eine allegorische Dimension einziehe, die das Leben des irdischen Jesu transparent mache für das Wirken des Auferstandenen in seinem Apostel Paulus und dessen gesetzesfreier Heidenmission. 11 Die Reaktionen auf Volkmars steile These waren zahlreich und kontrovers. 12 Werner wollte nach 66 Jahren Diskussion über Volkmars These zu einer „definitiven Entscheidung in dieser Sache“ durch einen Punkt-für-Punkt-Vergleich kommen. 13 Zwischen den Polen der divergierenden Ergebnisse der Pioniere Volkmar und Werner verortet sich auch die heutige Forschungsdiskussion. Die unterschiedlichen 10 G. Volkmar, Die kanonischen Synoptiker in Uebersicht mit Randglossen und Register und das Geschichtliche vom Leben Jesu, Zürich 1876, 269, schlussfolgert: „Es ist eine kostbare Quelle für das Leben Jesu, aber auch eine solche für das Leben des Paulus und der Christenheit nach ihm.“ Vgl. J. Wischmeyer, Universalismus als Tendenz und Entwicklungsmoment: Die Fragen nach Markus und Paulus in der historisch-kritischen Geschichtsschreibung des Urchristentums von 1850 bis 1910 in: O. Wischmeyer/ D. Sim/ I. Elmer (Hg.), Paul and Mark: Comparative Essays Part I. Two Authors at the Beginnings of Christianity (BZNW 198) Berlin/ Boston 2014, 19-42, 25, und A. Skoven, Mark as Allegorical Rewriting of Paul, in: Wischmeyer/ Sim/ Elmer, Paul and Mark, 13-27, 18f. 11 G. Volkmar, Marcus und die Synopse der Evangelien nach dem urkundlichen Text und das Geschichtliche vom Leben Jesu, Zürich 1876, 644. Vgl. dazu Wischmeyer, Universalismus, 27; Skoven, Allegorical Rewriting, 18 f. 12 Siehe dazu ausführlich Mader, Markus und Paulus, 68-70. 13 Werner, Der Einfluss paulinischer Theologie, V. PD Dr. Heidrun E. Mader , Studium der Evangelischen Theologie in Oberursel, Heidelberg und Cambridge (UK). Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Neues Testament an der Universität Heidelberg, dort auch Promotion (2011) und Habilitation (2018). In 2020 arbeitete sie als wissenschaftliche- Mitarbeiterin und- Vorstandsmitglied- im LOEWE Exzellenzprojekt „Positionierung von Religionen“ der Universitäten Frankfurt und Gießen. Seit Ende 2020 vertritt sie an der Universität Hamburg die Professur für Neues Testament. An der Universität Stellenbosch ist sie Research Fellow of New Testament Studies. Drei aktuelle Forschungsschwerpunkte sind der Galaterbrief, das Motiv der Frauenbeschneidung in frühjüdischen und frühchristlichen Texten sowie Emotionen in biblischen Narrativen. 44 Heidrun E. Mader methodischen Ansätze Volkmars und Werners sind zu beachten, um die Divergenz ihrer Ergebnisse einordnen zu können. Suchte Volkmar im Rahmen der Tendenzkritik nach der theologischen Motivation des Markus, sein Evangelium zu schreiben, so sah Werner die Intention des Markusevangeliums stärker im historischen Darstellen, passend zum formgeschichtlichen Ansatz und zur Leben-Jesu-Forschung. 14 Ihre unterschiedlichen exegetischen Ansätze sind in der heutigen Weiterführung der Diskussion nicht gegeneinander auszuspielen, sondern anhand der Geschichte der exegetischen Methodenentwicklung ist zu überlegen, wie sie jeweils fortzusetzen und in der erweiterten Form zusammenzuführen sind. Denn für beide Ansätze gilt, dass sie aufgrund der methodischen Weiterentwicklung der Exegese grundlegend überdacht werden müssen. 15 Allein deswegen ist es nicht legitim, sich auf eine ihrer Positionen ohne weitere Kommentierung zu berufen. 16 Andererseits gilt, dass sich ihre divergenten Herangehensweisen bis in die heutige Markusforschung fortsetzten und so unterschiedliche Sichten auf Markus als Redaktor förderten: Dieser wurde entweder als gestaltender Literat oder als Sammler gesehen, der die vorhandenen Jesustraditionen zusammenstellte. 17 Mit dem Erstarken und der Weiterentwicklung des redaktionsgeschichtlichen Ansatzes auch für das Markusevangelium wurde der Sammler zunehmend als gestaltender Theologe gesehen. 18 Damit kehrte seit den frühen 1990er Jahren auch mehr Bewegung in die Frage nach dem Verhältnis zwischen Markus und Paulus zurück. 19 Einschlägig brachte Joel Marcus mit „Mark - Interpreter of Paul“ (2000) den Stein 14 Siehe dazu ausführlicher Mader, Markus und Paulus, 87f. 15 Eine differenzierte Würdigung und Kritik der jeweiligen Ansätze findet sich in Mader, Markus und Paulus, 87-94. 16 Dies tat beispielsweise noch in seinem gehaltvollen Beitrag U. Luz, Theologia crucis als Mitte der Theologie im Neuen Testament, EvTh 34/ 1974, 116-141, in welchem er zwar eine große theologische Nähe zwischen beiden Autoren sieht, diese aber nicht auf Kenntnis des einen beim anderen zurückführt. Ein kurzer Verweis auf Werner genügt ihm. 17 Übersichtlich zusammengestellt z.-B. bei C. Black, The Disciples According to Mark: Markan Redaction in Current Debate, Grand Rapids 2 2012, 8-33. 18 W. Marxsen, Der Evangelist Markus: Studien zur Redaktionsgeschichte des Evangeliums (FRLANT 67), Göttingen 2 1959, war prägend für den redaktionsgeschichtlichen Ansatz. Darin geht Marxsen von einer „mittelbaren Abhängigkeit“ des Markus von Paulus aus (98). 19 M. Goulder, Those Outside (Mk 4: 10-12), NT 33/ 1991, 289-302; J. Donahue, The Quest for the Community of Mark’s Gospel, in: F. v. Segbroeck/ C. Tuckett/ G. v. Belle/ J. Verheyden (Hg.), The Four Gospels 1992 (FS Frans Neirynck Bd.- 2, BEThL 100), Leuven 1992, 817-838, und W. Schenk, Sekundäre Jesuanisierungen von primären Paulus-Aussagen bei Markus, in: Segbroeck/ Tuckett/ v. Belle/ Verheyden, The Four Gospels, 877-904, verorteten Markus in der paulinischen Tradition. Vgl. zur Diskussion der 1990er Jahre H. Omerzu, Paul and Mark - Mark and Paul: A Ciritcial Outline oft he History of Research, in: E. Becker/ T. Engberg-Pedersen/ M. Müller (Hg.), Mark and Paul: Comparative Essays Paulus und Markus im Vergleich 45 für die Debatte erneut ins Rollen. Dieser Beitrag wurde in dem zweibändigen Sammelband Paul and Mark/ Mark and Paul 20 neu aufgelegt; endgültig war so die Debatte wieder aufgenommen. Die Artikel im Doppelband sowie weitere aktuelle Publikationen, die zur Thematik Markus/ Paulus beitragen, verfolgen folgende Zugangsweisen: Historische Perspektiven stellen die Literatur- und Theologiegeschichte sowie die Gemeindegeschichte. Die Theologie- und Gemeindegeschichte waren bereits für Volkmar relevant, dort jedoch von der stark polarisierten Form der Tübinger Schule geprägt. Diese Dichotomie des frühen Christentums wird heute differenzierter aufgefächert. 21 Der die Tendenzkritik ablösende formgeschichtliche Ansatz sowie das korrigierte Bild vom Judentum haben entscheidend dazu beigetragen, die Polarität aufzulösen und die Konflikte, die sich in den Paulusbriefen abzeichnen, in komplexere Gefüge einzuordnen. Eine entscheidende Weiche stellte zudem der redaktionsgeschichtliche Ansatz. 22 Wer Markus als stark theologisch konzipierenden Redaktor sieht, der eine kohärente Narratio schuf, überlegt sich auch, welche theologischen Einflüsse Markus geprägt haben mochten. Last but not least spielt die methodologische Frage nach der Bestimmung von „Einfluss“ eine Rolle. Volkmar benutzte den Einflussbegriff im Rahmen seines Parteienbildes und tendenzkritischen Ansatzes methodologisch unreflektiert. Werner hingegen stellte durch seinen formgeschichtlichen Ansatz die Definitionsfrage schärfer ein. Er ließ das Kriterium des Unterschiedes dominieren, um Einfluss auszuschließen, und befragte bei Gemeinsamkeiten zunächst die gemeinsame urchristliche Tradition. Diesem Vorgehen wurde längerfristig mehr Part II. For and Against Pauline Influence on Mark (BZNW 199), Berlin/ Boston 2014, 51-61, 51. 20 Wischmeyer/ Sim/ Elmer, Paul and Mark: Comparative Essays Part I; Becker/ Engberg- Pedersen/ Müller, Mark and Paul: Comparative Essays Part II. Der Doppelband vereint 35 Beiträge von NeutestamentlerInnen vorwiegend aus dem skandinavischen, deutschen und australischen Raum. Das Verhältnis von Markus zu Paulus erfuhr durch diesen Doppelband beachtliche Aufmerksamkeit und erwies sich als „hot topic“. Die verschiedenen exegetischen Ansätze, die die Beiträge bieten, zeigen das Spektrum auf, innerhalb dessen Paulus und Markus vergleichbar sind. Einen Konsens in der Frage nach dem Verhältnis zwischen Markus und Paulus bietet der Doppelband dagegen nicht. Nötig blieb eine Darstellung, die die unterschiedlichen Ansätze und Themenfelder zusammenführt. 21 Vgl. dazu in Bezug auf das Verhältnis von Markus zu Paulus, Wischmeyer, Einführung/ Introduction, in: Wischmeyer/ Sim/ Elmer, Paul and Mark: Comparative Essays Part I, 1-15, 1. 22 Vgl. J. Marcus, Mark - Interpreter of Paul, NTS 46/ 2000, 473-487, 474. 46 Heidrun E. Mader Respekt entgegengebracht. Doch wird zunehmend beachtet, dass Unterschiede und Lücken nicht per se Einfluss ausschließen. 23 Folgende Punkte schlage ich vor, die für die Frage nach paulinischem Einfluss auf Markus und für die Bestimmung des Nähegrads der ersten beiden frühchristlichen Autoren zu beachten sind: 24 1. Eine diachron genealogische Aussage wie „Paulus hat Markus beeinflusst“ schließt prinzipiell nicht andere Einflussfaktoren auf Markus aus. 2. Ein Problem sind die unbekannten Größen in der Landschaft frühchristlicher Traditionen. Auch einflussreiche andere Persönlichkeiten oder Gruppen der jungen Jesusbewegung, von denen uns keine schriftlichen Überlieferungen erhalten sind, kommen als Einflussfaktoren generell in Frage. Aller historischen Forschung ist notgedrungen die quellenbedingt selektive Rückschau zu eigen. Man muss sich des Theoriecharakters der eigenen Aussagen bewusst bleiben, ohne den naiven Anspruch zu erheben, dass die eigene Theorie die damalige Realität eins zu eins spiegelt. 3. Vor der Quellenarbeit selbst lässt sich theoretisch abklären, welchen Haupteinflussfaktoren Markus ausgesetzt gewesen sein könnte 25 und welche Kombinationsmöglichkeiten von Einflussfaktoren existierten: 26 23 Vgl. Schröter/ Butticaz/ Dettwiler, Introduction, 11: „Receptions of Paul in early Christianity were thus diverse, selective, and multifaceted. Even if Paul’s letters are quoted or referred to, we should question whether this is in the interest of making Paul’s theology meaningful for a later context or whether such quotations serve another purpose, different from Paul’s ideas or even opposed to them.“. 24 Siehe ausführlich Mader, Markus und Paulus, 5-19. 25 Wenn bei der Theoriebildung ein gewisser Abstraktionsgrad gewählt wird, heißt das nicht, dass z.-B. in A in der Graphik die Vielfalt frühjüdischer Traditionsbildung ignoriert wird, sondern nur, dass im Modell die Auffächerung etwa des „Judentums vor 70 n. Chr.“ in Unterströmungen zwar zu größerer Komplexität des Modells führen würde, jedoch dadurch für das Problem, das das Modell illustrieren soll, kein theoretischer Erkenntniszugewinn entsteht. 26 Die in der Grafik verwendete Bezeichnung „christliche“ Tradition/ Literatur für B und C macht nicht einen Gegensatz zu jüdischen oder paganen Traditionen auf, sondern meint solche Äußerungen, die sich kerygmatisch auf Jesus von Nazareth beziehen. Vgl. zusätzlich die Tabelle bei Mader, Markus und Paulus, 9-14, die die jeweiligen Einflusswahrscheinlichkeiten rechnerisch ausdrückt. Paulus und Markus im Vergleich 47 4. Die Analyse muss ergebnisoffen vorgehen. Induktiv führen Einzelanalysen am Schluss zu einem Gesamturteil. D. h., erst wenn immer wieder an Einzelpunkten paulinischer Einfluss probabel erscheint, soll ein Urteil gefällt werden, ob es wahrscheinlicher ist, dass das paulinische Erbe das Markusevangelium beeinflusste, als dass dieser Einfluss nicht existierte. Der Kranz vieler aufgrund der Einzelanalysen gewonnener Argumente wird zu einem Urteil führen. 5. Daneben wird für die Einflussfrage relevant sein, ob sich die genannten Einzelpunkte (Begriffe, Motive, einzelne Argumentationsgänge) kombinieren und zu größeren theologischen Konzepten zusammensetzen lassen, die bei beiden Autoren vergleichbar sind. Dabei muss es nicht zu vollständigen Überschneidungen kommen. Einfluss kann auch mit Selektivität oder kritischer Auseinandersetzung einhergehen. 6. Die Unterschiede zwischen den Gattungsformen „Brief“ und „Evangelium“ sind genauer in den Blick zu nehmen. Denn die zu vergleichenden theologischen Topoi sind durch die jeweilige literarische Form mitgeprägt. Etliche Unterschiede, die in der Literatur zwischen Paulus und Markus hervorgehoben werden, betreffen dieses formale Gewand. Dennoch lässt sich die 48 Heidrun E. Mader theologische Substanz der Topoi gut vergleichen, auch wenn diese durch ihr jeweiliges Gewand modifiziert vorliegen. 27 7. Neben einem genealogisch-evolutionären Einflussbegriff, wie er bei der Anwendung von diachron arbeitender historisch-kritischer Methode vorausgesetzt wird, ist ein von literaturwissenschaftlicher Intertextualitätsforschung befruchteter Einflussbegriff mit zu bedenken. Die Intertextualitätsforschung bietet einen hilfreichen Zugang zur textvergleichenden Vorgehensweise - besonders hinsichtlich der beiden Befunde, dass Markus an keiner Stelle explizite Bezüge zur paulinischen Theologie markiert und in anderer Gattungsform als Paulus die theologischen Topoi präsentiert. 28 In meinen Untersuchungen habe ich unter Berücksichtigung dieser kriteriologischen Punkte, ausgehend vom Paulus und Markus gemeinsamen Evangeliumsbegriff, 29 sukzessive Themenfelder exploriert, die inhaltlich systematisch zusammenhängen. Sie werden im Folgenden ergebnishaft skizziert. 30 27 Zur Vertiefung der Rede von „Form“ und „Substanz“ und zur Frage, ob diese Kategorien angemessen sind, siehe Mader, Markus und Paulus, 15 f. mit Lit. 28 E. Wong, Evangelien im Dialog mit Paulus: Eine intertextuelle Studie zu den Synoptikern (NTOA 89), Göttingen 2012, 16-23, hat neben historisch-kritischen Methoden den intertextuellen Ansatz von M. Pfister, Konzepte der Intertextualität in: U. Broich/ M. Pfister (Hg.), Intertextualität - Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 35), Tübingen 1985, 1-30, in seine Studien zum Verhältnis von den Synoptikern zu Paulus eingebracht. Vertiefend zum Kriterium der Intertextualität siehe Mader, Markus und Paulus, 16-19. 29 Nicht überraschend gibt es über den gemeinsamen Evangeliumsbegriff bisher die meisten Beiträge in der Markus/ Paulus-Forschung: Wischmeyer/ Sim/ Elmer, Paul and Mark: Comparative Essays Part I enthält allein vier Artikel, die sich mit dem jeweiligen Evangeliumsbegriff auseinandersetzen (O. Wischmeyer, Romans 1: 1-7 and Mark 1: 1-3 in Comparison: Two Opening Texts at the Beginning of Early Christian Literature, 121-146; G. Theißen, „Evangelium“ im Markusevangelium: Zum traditionsgeschichtlichen Ort des ältesten Evangeliums, 63-86; A. Lindemann, Evangelium bei Paulus und im Markusevangelium, 313-360; U. Schnelle, Paulinische und markinische Christologie im Vergleich, 283-312), und auch in dem Band von Schröter/ Butticaz/ Dettwiler, Receptions of Paul, konzentriert sich der Beitrag zu Markus und Paulus (R. Bieringer, Proclaimed Message or Proclamation of the Message? A Critial Analysis of the Meaning of εὐαγγέλιον in the Letters of Paul in the Gospel of Mark, 61-88) auf den gemeinsamen Evangeliumsbegriff. 30 Die hier vorgestellten Ergebnisse finden sich detailliert in Mader, Markus und Paulus, exegetisch erarbeitet und argumentiert. Die folgenden Fußnoten verweisen auf die ausführlichen Argumentationen im Buch. Paulus und Markus im Vergleich 49 1. Das Evangelium proklamiert Heil für jüdische und pagane Menschen gleichermaßen 1.1 Die titelartige Verwendung des Evangeliumsbegriffs In Röm 1,1 bezieht sich Paulus auf das εὐαγγέλιον Gottes (1,1) sowie auf das εὐαγγέλιον Jesu Christi (1,3f.9), das dasselbe ist. Paulus ist als Apostel grundsätzlich dazu berufen, das Evangelium zu verkünden (1,1), und er möchte es in Rom den Adressierten verkünden (1,15) und ihnen zeigen, wie er den Inhalt des εὐαγγέλιον konkret versteht. Programmatisch definiert er in Röm 1,16 sein Verständnis von Evangelium in nuce: Das εὐαγγέλιον, im Glauben ergriffen, ist rettende Kraft Gottes sowohl für die jüdischen als auch für die griechischen Menschen. Die Implikationen dieses Evangeliumsverständnisses entfaltet Paulus im Detail in den folgenden Kapiteln (Röm 1-11). Somit eignet sich der Evangeliumsbegriff, der im Proömium wiederholt zentral eingespielt und ausgeführt wird, als eine Art Titel für den Haupttteil des Briefes (1,1). 31 Wie Paulus im Römerbrief eröffnet Markus sein Werk mit dem Evangeliumsbegriff in 1,1, so dass εὐαγγέλιον auch für das Markusevangelium eine titelartige Rolle erhält. Ebenfalls analog zum Römerbrief wird das Evangelium einerseits Gott (1,1) und andererseits Jesus Christus (1,14) zugeschrieben. 32 Im weiteren Verlauf der markinischen Narratio nimmt εὐαγγέλιον eine Schlüsselrolle ein. Sechs weitere Male begegnet der Begriff an zentralen christologischen Stellen, je am Anfang der Narratio (Mk 1,14.15), in der Mitte (Mk 8,35; 10,29) und am Ende (13,10; 14,9). 33 Mit den insgesamt sieben Belegen weist das Markusevangelium zwar weit weniger Belege als das Corpus Paulinum mit seinen 51 Belegen auf, doch reiht es sich im neutestamentlichen Vergleich an die zweite Stelle hinter Paulus ein. Die synoptischen Seitenreferenten hingegen betiteln ihre Narrationes nicht mit εὐαγγέλιον und benutzen den Begriff nicht in gleicher Weise zentral. 34 Ob der frühchristliche Gebrauch von εὐαγγέλιον durch Paulus selbst eingeführt wurde oder bereits von vorpaulinischer Tradition, 35 ist für die Fragestellung, 31 Vgl. Wischmeyer, Comparison, 145. 32 Ferner verankert Mk wie Röm 1,2 das Evangelium in der Vorankündigung der Propheten. Vgl. dazu Wischmeyer, Comparison, 127. 33 Vgl. zur Schlüsselrolle, Theißen, Evangelium, 65-67. 34 Lukas bezeichnet sein Werk als διήγησις und Matthäus seines als βίβλος. Im Lukasevangelium kommt εὐαγγέλιον gar nicht vor. Matthäus übernimmt den Begriff viermal von Markus (Mt 4,23; 9,35; 24,14; 26,13), versieht ihn jedoch mit dem Zusatz des Genetivattributs τῆς βασιλείας. Vgl. zur schwächeren Rolle des Evangeliumbegriffs bei Matthäus und Lukas gegenüber Markus auch Bieringer, Proclaimed Message, 61.80-81. 35 Die Möglichkeiten werden in Mader, Markus und Paulus, 24-27, durchdacht. Siehe ferner Bieringer, Proclaimed Message, 88. 50 Heidrun E. Mader wie nah der markinische Gebrauch des Evangeliumsbegriffs am paulinischen ist, nicht entscheidend. Relevant für diese Fragestellung ist seine inhaltliche Füllung: 1.2 Die Gleichheit von jüdischen und paganen Menschen in Christus und das ,Zuerst‘ Israels Im Römerbrief ist Kerninhalt des Evangeliums, dass in Christus jüdische und pagane Christusgläubige gleichermaßen gerecht sind. Diese systematische Universalität hebt freilich das geschichtliche Zuerst (πρῶτον) nicht auf, das Paulus Israel in der Abfolge der Heils-Chronologie zuschreibt (Röm 1,16; 9,1-5; 11,17- 24). Es entspricht der markinischen Erzählchronologie von Jesu messianischem Wirken: Jesus richtet sich zuerst an Israel und wendet sich sodann nach und nach Menschen aus den Völkern zu. 36 Diese Bewegung ereignet sich in der markinischen Narratio vor allem in Mk 6-9. Verdichtet und programmatisch ist sie in der Perikope der Syrophönizierin zum Ausdruck gebracht (in Mk 7,27 kommt πρῶτον in Kombination mit der Bezeichnung Ἕλλην wie in Röm 1,16 vor). 37 Der paränetische Kontext des Zuerst, der pagane Christusgläubige mahnt, jüdischen Glaubensgeschwistern gegenüber nicht überheblich zu werden, zeigt sich sowohl im Ölbaumgleichnis in Röm 11,17-24 als auch in der Erzählung der Syrophönizierin in Mk 7,24-30. Ferner wird in den beiden Speisungswundererzählungen, die die Erzähleinheit der Bewegung Jesu von der jüdischen zur paganen Bevölkerung rahmen (Mk 6,30-44 und 8,1-9), das Zuerst des Heils für die jüdischen Menschen deutlich: Die erste Speisung findet auf jüdischem Gebiet statt und weist semantisch auf jüdische Tradition, während die zweite Speisung auf paganem Gebiet stattfindet und semantisch auf Universalität verweist. 38 Trotz des ,Zuerst‘ der jüdischen Menschen in der Heilschronologie streben sowohl Paulus als auch der markinische Jesus Gleichheit für jüdische 36 Eine gute monographische Darstellung der sukzessiven Evangeliumsverbreitung Jesu unter der paganen Bevölkerung bietet K. Iverson, Gentiles in the Gospel of Mark: ,Even the Dogs under the Table Eat the Children’s Crumbs‘ (BIS 65), London 2007. Speziell für Markus und Paulus hat J. Svartvik, „East is East and West is West“. The Concept of Torah in Paul and Mark, in: Wischmeyer/ Sim/ Elmer, Paul and Mark: Comparative Essays Part I, 157-188, die Thematik besprochen. Siehe die Verarbeitung und Weiterführung seiner Thesen in Mader, Markus und Paulus, 128-140. 37 Siehe bereits J. Marcus, Mark - Interpreter of Paul, in: Becker/ Engberg-Pedersen/ Müller, Mark and Paul: Comparative Essays Part II, 29-49, 32. Siehe die Weiterführung dieser Beobachtungen zur Erzählung von der Syrophönizierin vor dem paulinischen Hintergrund des ,Zuerst‘ Israels in Mader, Markus und Paulus, 165-169. 38 Vgl. z.-B. M. Boring, Mark: A Commentary, Louiseville 2006, 182-183.219-226. Für Markus und Paulus hat dies Svartvik, East is East, argumentiert. Ferner ausgeführt in Mader, Markus und Paulus, 169-176. Paulus und Markus im Vergleich 51 und pagane Menschen in Christus an. Dies hält Paulus immer wieder fest (Röm 3,9; 3,30; 10,12; 11,25), und das Markusevangelium macht deutlich, dass sich Jesu Aufruf zur Kreuzesnachfolge in Mk 8,34-9,1 sowohl an die Zwölf, die Israel repräsentieren, als auch an die Menge auf paganem Gebiet richtet. 1.3 Das universale Heil in Christus wird von Auflagen der Tora entkoppelt und an die πίστις ἐν Χριστῷ (Paulus) bzw. Nachfolge Jesu (Markus) gebunden Paulus und Markus entkoppeln das universale Heil in Christus von Auflagen aus der Tora. Zunächst in Kürze Paulus: Wäre Proselytismus für pagane Menschen Bedingung, vollgültiges Gemeindeglied werden zu können, wie es Paulus’ Opposition in Galatien forderte, wäre Christus umsonst gestorben, so Paulus im Galaterbrief. Denn bestünde die Mehrheit der Gemeinde aus ProselytInnen, die durch ἔργα νόμου - bei männlichen Gemeindegliedern in erster Linie durch die Beschneidung - Teil der Gemeinde würden, hätte dies zur Folge, dass nicht mehr die Gnade Gottes, die Gott jüdischen Menschen durch ihre Geburt und allen Menschen in Christi Kreuzestod und Auferweckung zuteilwerden lässt, an erster Stelle steht, sondern ein Gesetzeswerk. 39 Damit würde für die pagane Gemeindemehrheit die theologische Reihenfolge des Bundesnomismus 40 39 Die Wendung ἔργα νόμου im Griechischen ist so bisher nur bei Paulus belegt. Eine analoge Formulierung in hebräischer Sprache findet sich nur in 4QMMT (Zeile C27: m’śj htwrh). Vgl. M. Bachmann, Was für Praktiken? Zur jüngsten Diskussion um die ἔργα νόμου, NTS 55/ 2009, 35-53, 43, der auch eine gute Übersicht über die jüngere Forschungsdiskussion zu den ἔργα νόμου bietet (35-39). Paulus verwendet das Syntagma acht Mal, sich gruppierend in Gal 2-3 und Röm 3, jeweils im Kontext der strittigen Beschneidung von paganen Christusgläubigen (Gal 2,3; Röm 3,30). Vgl. auch Bachmann, Praktiken, 51. Bachmanns Lesart der ἔργα νόμου als Halakhot im Lichte der Parallele von 4QMMT ist zuzustimmen. Die Qumranparallele macht deutlich, dass mit dem Begriff auf die präskriptive Ebene über den Praktiken abgehoben wird. Siehe Bachmann, Praktiken, 50-51. Meine Ausführungen spitzen das Verständnis der ἔργα νόμου über die breite exegetische Diskussion hinaus auf die Dynamik zu, die der Proselytismus innerhalb des Bundesnomismus auslöst: Siehe H. Mader, Proselytismus als Mehrheitsphänomen in den galatischen Gemeinden als Kontext für Paulus‘ Kritik an des Gesetzes Werken, in: U. Eisen/ H. Mader (Hg.), Talking God in Society: Multidisciplinary (Re)constructions of Ancient (Con)texts. Festschrift Peter Lampe, Bd.- 1. (NTOA 120/ 1), Göttingen 2020, 557-573. Wenn Proselytismus, ein Minderheitsphänomen im Judentum, in christlichen Gemeinden plötzlich zum Mehrheitsphänomen würde (wie die Opposition in Galatien es wollte), geriete das gnadenreiche „Getting-In“ in den Bund mit Gott, wie es im jüdischen Bundesnomismus gedacht wird, ernsthaft in Gefahr. 40 Die New Perspective hat richtig herausgestellt, dass das Judentum eine Gnadenreligion ist - gegenüber der traditionellen, von der Reformation geprägten Sicht vom Judentum als Religion der „Werkgerechtigkeit“. Siehe grundlegend E. Sanders, Paul and Palestinian Judaism: A Comparison of Patterns of Religion, London 1977, 75, 420-422, 544; J. Dunn, 52 Heidrun E. Mader vertauscht, nach der Gott zuerst gnadenreich und souverän erwählt und der Mensch dann auf diese Erwählung mit Toraobservanz antwortet - nicht die Gnade aber durch Toraobservanz herbeiführt. Aus diesem Grund lehnt Paulus jede Form von ἔργα νόμου ab, die paganen Menschen jüdische Regelungen nahelegen. Neben der Beschneidung gilt dies vor allem für die Speisegebote (Gal 2 und Röm 14). Paulus hat mit der Entkoppelung von den Auflagen aus der Tora theologische Pionierarbeit geleistet, die unter frühchristlichen Autoritäten umstritten war und nicht flächendeckend in frühchristlichen Kreisen in dieser Weise übernommen wurde. Die lukanische Darstellung des Apostelkonvents in Apg 15 zeigt, dass zwar die Beschneidung ad acta gelegt wurde, jedoch für Speisegebote unterschiedliche Regelungen getroffen wurden. Trotz kritischer Auseinandersetzung mit Auflagen aus der Tora, die die Exklusivität Israels markieren, greift Paulus für ethische Weisungen, die er in apostolischer Autorität gibt, positiv auf ethische Torainhalte zurück. In der Paränese von Galater- und Römerbrief (Gal 5,14 und Röm 13,8-10) verweist Paulus auf das Nächstenliebegebot in Lev 19,18 als Zusammenfassung und Erfüllung der Tora. Auch neben dieser expliziten Nennung des Nächstenliebegebotes ist die Agape ethisches Leitprinzip, welches Paulus christologisch entwickelt. Paulus wirbt, Christus nachzuahmen, wie er selbst in seiner an der Agape orientierten Lebenshaltung tut (1 Kor 11,1). So mündet das Leben in der πίστις ἐν Χριστῷ in die Mimesis Christi. 41 Für das Markusevangelium ist zu beobachten, dass das Wirken Jesu dem paulinischen Konzept nahesteht. 42 Aus der markinischen Erzählpragmatik ist zu schließen, dass die Gleichheit von jüdischen und paganen Gläubigen nicht vollständig etabliert war und die Torapraxis weiterhin Konfliktpotential barg. Es fällt auf, dass der Markusevangelist als einziger Evangelist den Begriff νόμος nicht verwendet und damit die Tora nicht mehr als feste Bezugsgröße bei ihm greifbar wird. Im Unterschied zum matthäischen Jesus, der generelle Aussagen über die Gültigkeit der Tora trifft (Mt 5,17-19), bezieht der markinische Jesus solche Aussagen nur auf das Evangelium und seine eigenen Worte (Mk 8,38; 13,31). Die Erzählungen über einzelne Gebote verteilen sich auffällig auf zwei Hälften der Narratio: In der ersten Hälfte (Mk 1,1-8,26) handeln solche The New Perspective on Paul, Tübingen 2005, 167-170; ders., The Theology of Paul, the Apostle, Grand Rapids 1998, 152-153. J. Barclay, Paul and the Gift, Grand Rapids 2015, 565, stellt in neuerer Zeit zurecht die Beobachtungen zur Gnadenreligion deutlicher ein und differenziert nochmals: „(…) grace is everywhere in the theology of Second Temple Judaism, but not everywhere the same. On the critical question of the congruity of grace, we have found not unanimity, but diversity.“. 41 Vgl. M. Konradt, Liebesgebot und Christusmimesis: Eine Skizze zur Pluralität neutestamentlicher Agapeethik ( JBTh 29), 2014, 65-80. 42 Siehe ausführlich Mader, Markus und Paulus, 178-242. Paulus und Markus im Vergleich 53 Erzählungen von Geboten der rituellen Tora (Sabbat, Reinheit/ Unreinheit von Speisen/ Menschen). Diese werden durch die Erzählungen kritisch dargestellt. In der zweiten Hälfte der Erzählung (Mk 8,27-16,8) werden Texte der sozialen Tora thematisiert (Ehescheidungsverbot, Gebote der Nächstenliebe, das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe). Diese werden positiv von Jesus vertreten. 43 In der Mitte der beiden Erzählblöcke von ritueller und sozialer Tora steht das Kreuzesnachfolge-Gebot Jesu (Mk 8,34-9,1). Es ist in Gebotsform imperativisch formuliert. Von der Befolgung dieses Gebotes hängt das ewige Leben ab (8,35; 10,17.21). Jesu Worte von 8,34-9,1 werden in der unmittelbar anschließenden Erzählung im Beisein von Mose und Elia, den Repräsentanten des Gesetzes und der Propheten, von Gott selbst autorisiert (9,7). 44 So ergibt sich das Bild, dass die Worte Jesu autoritativ den Heilsweg für die Glaubenden definieren, während die Autorität der ἐντολαί der Tora diesen Worten deutlich nachgeordnet bleibt. Dabei werden die Ritualgebote relativiert, im Falle der Speiseregelungen sogar neutralisiert (7,1-23) mit engen Berührungen zu paulinischen Aussagen in Röm 14, bis in Begriffsparallelen hinein. 45 Es fällt ferner auf, dass solche Gebote der Ritualtora thematisiert werden, die für die Gemeindepraxis zur Zeit des Markusevangeliums noch eine Rolle spielten (Sabbat in Mk 1-3; Reinheit und Unreinheit von Menschen in Mk 1,40-45; 5,1-43; Reinheit und Unreinheit von Speisen Mk 7,1-23) und die zu den boundary markers der Tora gehörten, die die Funktion hatten, Israel als auserwähltes Volk abzugrenzen. Im Gegensatz zu dieser kritischen Darstellung erweisen sich die ethischen Gebote der Tora in den markinischen Erzählungen und Gesprächen als komplementär zum Nachfolgegebot Jesu und konkretisieren dies. Diese Zweitei- 43 Vgl. für dieses markinische Gesetzesverständnis B. Repschinski, Nicht aufzulösen, sondern zu erfüllen: Das jüdische Gesetz in den synoptischen Jesuserzählungen, Würzburg 2009, 143-211. 44 Im markinischen Nachfolgegebot liegen gerade bei den im Gegenüber zu Q eigenen Begriffe interessante Überschneidungen zu wichtigen paulinischen Texten vor: ἀπόλλυμι und σώζω Mk 8,35/ 1 Kor 1,18; κερδαίνω und ζημιόω Mk 8,36/ Phil 3,7-8; ἐπαισχύνομαι Mk 8,38/ Röm 1,16; δύναμις Mk 9,1/ 1 Kor 1,18; Röm 1,16. Vgl. T. Engberg-Pedersen, Paul in Mark 8: 34-9: 1. Mark on What It Is to Be a Christian, in: Becker/ Engberg-Pedersen/ Müller, Mark and Paul: Comparative Essays Part II, 189-209 und erweitert in Mader, Markus und Paulus, 220-224. 45 Mk 7,1-23 kann als Wirkungsgeschichte von Röm 14 plausibel gemacht werden. Vgl. K. Larsen, Mark 7: 1-23: A Pauline Halakah? in: Becker/ Engberg-Pedersen/ Müller, Mark and Paul: Comparative Essays Part II, 169-187, mit ausgeweiteter Argumentation Mader, Markus und Paulus, 153-162. Die Position des markinischen Jesus zur Tora und insbesondere zu den Speiseregelungen wird unter ExegetInnen lebhaft diskutiert. Zu der hier skizzierten Interpretation gibt es auch starke gegenteilige Meinungen, die Jesu Ausführungen zur Speisehalacha in Mk 7,1-23 als innerjüdische Debatte verstehen, in welcher Jesus die Speiseregelungen nicht per se für ungültig erkläre. Ausführlich zu dieser Diskussion in Mader, Markus und Paulus, 148-152. 54 Heidrun E. Mader lung der Tora hatte zwar Paulus so noch nicht systematisch vorgenommen. Beschneidung, Speisegebote und Befolgung des Kalenders wurden vielmehr unter dem Druck der Forderungen der galatischen Opposition zu Gegenständen, die Paulus besonders scharf kritisiert. Doch war bei Markus die Zeit vorangeschritten: Die Beschneidung als Eintrittsbedingung war bereits ausgeräumt, der Tempel als zentrale Kultstätte des jüdischen Ritus war zerstört. Theologische Uneinigkeiten blieben in der Handhabung der Speisegebote und der mit ihr verbundenen Tischgemeinschaft sowie bei der Sabbatobservanz. Das Markusevangelium macht die Jesushistorie für diese gemeindepraktischen Themen transparent. Dabei macht die markinische Narratio wie Paulus drei Punkte klar: 1. Die Auflagen aus der Tora dienen nicht dem Heil, sondern allein in Christus sind jüdische und pagane Menschen gleichwertig in das Heil eingeschlossen. 2. Spezifische Probleme werden bei denjenigen Geboten der Tora sichtbar, die die Exklusivität der Erwählung Israels betonten. 3. Inhalte der Tora kommen in Paränese/ ethischen Weisungen vor. Doch ist das Leitprinzip der Weisungen nicht der Tora entnommen, sondern besteht in der Kreuzesnachfolge Christi (Markus) bzw. in der Christusmimesis, die als Gekreuzigtenmimesis spezifiziert wird (Paulus). So wird das Evangelium in der πίστις ἐν Χριστῷ gelebt (Paulus) bzw. in der Jesusnachfolge (Markus). Angesichts dieser gemeinsamen Inhalte legt es sich nahe, dass Markus der paulinischen Position eine jesuanisch-ätiologische Legitimation gab. So werden trotz des unterschiedlichen Genres von Paulus und Markus gemeinsame theologische Topoi kommuniziert - beim Markusevangelisten so, dass er in seiner Narratio zu großen Teilen Jesus selbst die markinische Theologie entfalten lässt, sei es in direkter Rede oder in Taten. 46 Als Erzähler deutet Markus - stellenweise auch direkt - Jesu Anweisungen aus (so z.-B. in Mk 7,19c) und geht somit in seinem Selbstverständnis als autoritativ gestaltender Autor noch über seine Erzählfigur Jesus hinaus. Über die Worte der Jesusfigur hinaus werden die theologischen Inhalte umfassender durch die als göttliches Evangelium autorisierte Erzählung transportiert Mk (1,1). Durch die Überblendung seiner Erzählung mit dem Evangeliumsbegriff in Mk 1,1 fasst Markus die gesamte Erzählung, die die Ereignisse mit und um Jesus historiographisch in theologischer Deutung erzählt, als Evangelium Jesu Christi auf. Dadurch, dass die Erzählung sich selbst als „Anfang/ Ursprung (ἀρχή) des Evangeliums“ bezeichnet, öffnet sich ihr Evangeliumsbegriff für weitere Gemeindeverkündigung, so dass diese Erzählung nicht exklusiv Evangelium ist. Und dennoch ist sie voll und ganz Evangelium. Dieser Anspruch ist mit dem Anspruch des Apostels - der in seinen Schriften als Briefautor selbstreferentiell 46 Siehe Mader, Markus und Paulus, 41-53. Paulus und Markus im Vergleich 55 die Rolle des gemeindeleitenden Theologen einnimmt - darin vergleichbar, dass sein Evangelium das Evangelium Gottes und Christi sei, jedoch nicht exklusiv an ihn als Verkündiger gebunden. Entscheidend ist, dass Markus konzeptionell gegenüber dem paulinischen (und vorpaulinischen) Evangeliumsinhalt die historiographische Komponente des Evangeliums, wie Jesus es predigte, ergänzt. Er bindet damit den Evangeliumsbegriff an Jesu Predigt vom Reich Gottes und an sein Wirken auf seinem Weg. 2. Das Mysterion des Kreuzestodes verstehen und nicht verstehen Die Aufnahme des Evangeliums und das Leben nach dem Evangelium werden von Paulus und Markus sowohl für die (noch) Ungläubigen als auch für die bereits Gläubigen problematisiert. Dabei stellen beide Autoren den Kreuzestod Christi sowohl als Kern des Evangeliums als auch als dessen kritischen Punkt heraus, welcher Jesu Ausgeliefertsein an die Menschheit, sein Leiden und Sterben in Schande vor der Welt paradox mit Gottes Heilshandeln verbindet. Diese Aspekte des Kreuzestodes Christi werden im Neuen Testament nur von Paulus und Markus als Mysterion (1 Kor 2,7; Mk 4,11) bezeichnet, das beim menschlichen Verstand auf Widerstand stößt, jedoch den Gläubigen als Offenbarung gegeben ist. Paulus führt dies verdichtet in 1 Kor 1-3 aus. Im Markusevangelium wird dies besonders in der Parabel vom Sämann (Mk 4,1-20) thematisiert, die freilich in der Entwicklung der Narratio mit weiteren Motiven und Bezugstexten (zentral z.-B. 8,23) gedeutet wird. 47 Paulus und Markus malen ihren Zuhörern das Unverständnis der Ungläubigen gegenüber diesem Kreuzeswort vor Augen, um sie zur Einsicht zu motivieren, dass auch sie sich die vollständige Christologie, die Leid, Statusverzicht, Hingabe und Dienen mit beinhaltet, immer wieder zu Herzen nehmen sollen, um in der christusmimetischen Kreuzesnachfolge Glaubensfrüchte zu tragen. So werden sowohl die Hörerschaft des Markusevangeliums als auch die korinthischen Gemeindeglieder durch die jeweilige Textpragmatik in eine Paränese hineingenommen. Paulus ermahnt die Gemeindeglieder, dass auch sie als bereits Gläubige anfällig dafür sind, der heilsbringenden Kraft des Christusgeschehens Unverständnis entgegenzubringen. Sie seien auf die Erneuerung des Geistes angewiesen (z.-B. 1 Kor 2,6ff; 3,16), um das Heil des Kreuzes zu begreifen und nicht in Selbstruhm gegen das Wort vom Kreuz zu handeln. Indem er aufzeigt, dass Ἰουδαῖοι und Ἕλληνες die Kreuzesbotschaft verfehlen, motiviert er die korinthischen Gläubigen, es selbst besser zu machen. 47 Ausgeführt in Mader, Markus und Paulus, 244-290. 56 Heidrun E. Mader Markus seinerseits zeichnet die Ungläubigen als Negativschablone und wirbt bei den Gläubigen darum, es anders als die Ungläubigen zu machen. Sie sollen nicht „draußen bleiben“ (Mk 4,11), sondern sich um Jesus herum gruppieren. Durch das Jüngerunverständnismotiv zeigt er, dass es auch innerhalb der Nachfolge schwierig bleibt, die vollständige Christologie zu begreifen und Kreuzesexistenz in das eigene Leben zu integrieren. Indem er die Nachfolgenden in seiner Erzählung so häufig versagen lässt, 48 motiviert er wiederum die Hörerschaft, es an diesem Punkt besser zu machen. Paränetisch betonen also beide Texte, dass „die drinnen“ in Gefahr stehen, auf die Seite „derer draußen“ zurückzugleiten ins Unverstehen des Kreuzesevangeliums. Das Jüngerunverständnis ist als Leitmotiv der Narratio eine markinische Spezialität unter den Synoptikern. Auch die Zusammenhänge des Verstehens und Nichtverstehens sind nicht in gleicher Weise bei Matthäus und Lukas auffindbar. Gleiches gilt für die Zuspitzung des Mysterions des Reiches Gottes auf Jesu Kreuzestod. Zwar sind die Texte über das Mysterion bei Paulus und Markus in einerseits Diskurs- und andererseits Erzählform unterschiedlich. Auf einer systematisch-theologisch abstrakten Ebene und auch auf der textpragmatischen Ebene weisen sie jedoch erstaunlich subtile, miteinander inhaltlich vernetzte Gemeinsamkeiten auf. 49 Schluss Meine detaillierten Untersuchungen dieser hier nur kurz skizzierten Themenblöcke zeigen, dass die Gemeinsamkeiten zwischen Markus und Paulus ein vernetztes theologisches System ergeben. Da die aufgezeigten spezifischen Ähnlichkeiten sich wiederum von anderen frühjüdischen und -christlichen theologischen Entwürfen abheben, ist es plausibel, die Gemeinsamkeiten nicht lediglich auf eine gemeinsame jüdisch-christliche Tradition, sondern spezieller auf paulinischen Einfluss auf das Markusevangelium zurückzuführen. Mein Befund zeigt, 50 dass besonders die universal ausgerichtete Theologie des Römerbriefes sowie die Kreuzestheologie des 1. Korintherbriefes das Markusevangelium prägen. Aus diesen beiden Briefen ergeben sich quantitativ die meisten Parallelen, auch die meisten, die bis in gemeinsame Begrifflichkeiten hinein fassbar werden. Mit dem Thema der Speisetora kommen zudem der antiochenische Zwischenfall im Galaterbrief in den Blick und Texte im Philipperbrief, die vom Leben in Christus versus Leben nach dem Gesetz handeln. 48 Mk 4,13; 4,40; 6,37.45.52-53; 7,18; 8,4-21; 9,33-37; 10,25-45; 14,66-72. 49 Siehe Mader, Markus und Paulus, 290-293. 50 Zusammenfassend ausgeführt in Mader, Markus und Paulus, 294-307. Paulus und Markus im Vergleich 57 Besonders die großen Themen des Römerbriefes und 1. Korintherbriefes, die jeweils am Briefanfang programmatisch platziert sind (Röm 1,16ff./ 1Kor 1,18ff.), sind bei den theologischen Gemeinsamkeiten zwischen Markus und Paulus herauszuhören. Im Römerbrief ist es das Evangelium, das durch Christi Kreuzestod jüdische und pagane Christusgläubige gleichermaßen gerecht macht. Im 1. Korintherbrief sind es der Anstoß, den die Menschheit am Kreuzestod Jesu nimmt, und die Implikationen des Anstoßes für die Kreuzesexistenz der Gläubigen (v. a. 1Kor 1-4), die Markus in seine Narratio aufnimmt. Wenn programmatische Stichworte am Anfang dieser Paulusbriefe von Markus aufgenommen und paulinisch-theologische Aussagen narrativ umgesetzt werden, liegt es nahe, sich vorzustellen, dass Markus mit Wiedererkennungseffekten aus der Gemeinde rechnete. So könnte Markus für seine Gemeinde die Kenntnis dieser Briefe vorausgesetzt haben. Die gemeinsamen Themen und Begrifflichkeiten deuten entweder auf eine gute Kenntnis der Briefe - besonders des Römerbriefes und 1. Korintherbriefes - oder auf ein Hören des Apostels in actu oder zumindest auf ein Hören paulinischer Tradition. Freilich wäre auch eine Kombination von Briefkenntnis und Apostelhören denkbar. Wo lassen sich diese Szenarien am besten lokalisieren? Die Verbreitung der Briefe ist in dieser frühen Zeit noch nicht lokalisierbar. Für Rom ist gut denkbar, dass hier nicht nur der Römerbrief, sondern auch der 1. Korintherbrief vorliegt. 51 Schreibt Markus in Rom, 52 mag der Evangelist den Apostel dort in dessen letzter Lebensphase (Act 28,30) gehört haben. Zu Rom passte auch die Tatsache, dass sowohl Paulus als auch Markus zu gemeinsamem Tisch motivieren und in ähnlicher Weise die Speisegesetze bewerten. Die Parallelen zwischen Mk 7,15.19 und Röm 14,14.20 erweisen sich als besonders dicht. Demnach wären also Markus‘ Bemühungen in Mk 7-8, zu gemeinsamem Tisch zu motivieren, auch noch fünfzehn Jahre nach Röm 14 im römischen Szenario nötig gewesen. 51 1 Clem 47,1-3; 49,5 zeugt von genauen Kenntnissen der Korintherbriefe in Rom wahrscheinlich am Ende des 1. Jh. n. Chr. Verbindungen zwischen Korinth und Rom sind auch mit Aquila und Prisca in Act 18,1-3 bezeugt. Siehe ferner die ökumenische Adresse in 1Kor 1,2. 52 Einschlägig M. Hengel, Die Entstehungszeit und Situation des Markusevangeliums in: H. Canik (Hg.), Markus-Philologie: Historische, literargeschichtliche und stilistische Untersuchungen zum zweiten Evangelium, Tübingen 1984, 1-45; in neuerer Zeit z.-B. B. Incigneri, The Gospel to the Romans: The Setting and Rhetoric of Mark’s Gospel, Leiden 2003 und überzeugend M. Lau, Der gekreuzigte Triumphator: Eine motivkritische Studie zum Markusevangelium (NTOA 114), Göttingen 2019, 117-131. Für Syrien, 53 das als Abfassungsort für Markus auch vorgeschlagen wird, liegen uns keine Daten für konkrete Verbindungsmöglichkeiten zu unseren Ergebnissen vor. Damit ist Syrien - wie jeder andere Ort auch - nicht ausgeschlossen, jedoch lassen sich für die oben genannten Faktoren keine plausiblen syrischen Anknüpfungspunkte finden. 53 Z. B. G. Theißen, Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien: Ein Beitrag zur Geschichte der synoptischen Tradition, Freiburg (Schweiz)/ Göttingen 2 1992, 247; A. Collins, Mark: A Commentary (Hermeneia), Minneapolis 2008, 7-10; J. Marcus, Mark 1-8 (The Anchor Yale Bible 27A) New Haven 2009, 33-37. 58 Heidrun E. Mader Mk 16 im Codex Bobbiensis: Neue Materialien zur conclusio brevior des Markusevangeliums Claire Clivaz Dieser Beitrag untersucht den kürzeren Markusschluss im Codex Bobbiensis, auch bekannt als VL 1, G.VII.15 oder Codex k, der ältesten erhaltenen lateinische Handschrift des Markusevangeliums (nachfolgend: HS, pl. HSS) des MkEv. 1. Einführung: Das Rätsel des kürzeren Mk-Schlusses 1.1 Der Handschriftenbefund und die Debatte um das Ende des MkEv Der Beitrag ist Teil des Projekts MARK16, das sich mit dem bekannten textkritischen Problem der stark divergierenden HSS-Überlieferung am Ende des MkEv befasst, 1 und zwar auf der Grundlage des nunmehr weitestgehend digital zugänglichen HSS-Bestandes. 2 Bisherige Publikationen des Projekts haben gezeigt, dass sich zwar die Annahme des ursprünglichen Mk-Schlusses in Mk 16,8 seit Jahrzehnten behauptet, 3 dass es aber hierzu auch in früheren Epochen der Forschungsgeschichte bereits lebhafte Diskussionen gegeben hat. 4 Ein neuerlicher Blick auf den HSS-Befund zeigt, dass die Frage neu aufgerollt werden muss: keine HS von Mk 16 wird vor dem 4. Jh. datiert, womit sich ein großer zeitlicher 1 Das Projekt ist auf fünf Jahre angelegt und wird vom Schweizerischen Nationalfonds (SNSF) gefördert. Zur virtuellen Forschungsumgebung des Projekts vgl. https: / / mark16. sib.swiss. Alle Weblinks in diesem Beitrag wurden zuletzt am 29.04.21 aufgerufen. Mein Dank gilt Prof.-Dr.-Manuel Vogel für seine ausgezeichnete deutsche Übersetzung dieses Artikels, und auch Prof. Dr. Teunis van Lopik und Prof. Dr. Jean-Daniel Dubois für ihre nützlichen Bemerkungen. 2 Eine große Zahl ntl. HSS ist heute online zugänglich im New Testament Virtual Manuscript Room (NTVMR, INTF, Münster, https: / / ntvmr.uni-muenster.de/ ), auf der Webseite des Center for the Study of New Testament Manuscripts (CSNTM, http: / / www.csntm.org/ ), sowie auf den Webseiten einzelner Bibliotheken oder Projekte. Zum digitalen Teil von MARK16 vgl. C. Clivaz, The Impact of Digital Research. Thinking about the MARK16 Project, Open Theology 5/ 2019, 1-12, open access unter https: / / doi.org/ 10.1515/ opth-2019-0001. 3 Vgl. C. Clivaz, Returning to Mark 16,8: What’s new? , EThL- 95/ 2019, 645-659, hier 644-649, open access unter https: / / poj.peeters-leuven.be/ content.php? url=article&id=3286928&journal_code=ETL; und C. Focant, La canonicité de la finale longue (Mc 16,9-20): vers la reconnaissance d’un double texte canonique? , in: Ders., Marc, un évangile étonnant. Recueil d’essais (BETL 194), Leuven 2006, 371-381, 371. 4 Vgl. C. N. Croy, The Mutilation of Mark’s Gospel, Abingdon, 2003, 18. 60 Claire Clivaz Spielraum für textgeschichtliche Hypothesen zum MkEv auftut. Die frühesten Zeugen für den Mk-Schluss in 16,8 sind der Codex Sinaiticus (01) und der Codex Vaticanus (03), gefolgt von der wesentlich jüngeren Minuskel 304, dem koptische Papyrus sa 1 (P. Palau Rib. Inv.-Nr. 182), 5 oder dem koptischen Amulett sa 393var (Äth 2006.8). 6 Einige HSS lassen den zufälligen Verlust von Folioseiten nach 16,8 erkennen, so etwa die Minuskeln 1420 7 und 2386 8 oder die äthiopische HS Chester Beatty W 912. 9 Belegt sind außerdem mindestens drei Fälle von Blattersetzung am Ende des MkEv, nämlich im Codex Bezae (05), 10 in den lateinischen Codices a (VL 3, Codex Vercellensis, 4. Jh.) 11 und n (VL 16, 5.-Jh.) 12 . 5 Vgl. H. Quecke, Das Markusevangelium saïdisch. Text der Handschrift PPalau Rib. Inv.-Nr. 182 mit den Varianten der Handschrift M 569 (Papyrologica Castroctaviana), Rom 1972. 6 Vgl. G.- Emmenegger, Der Abgarbrief und seine Verwendung in koptischen Amuletten, in: K. Dietz u. a. (Hg.), Das Christus-Bild. Zu Herkunft und Entwicklung in Ost und West, Würzburg 2016, 121-136. Transkription und französische Übersetzung open access unter https: / / mr-mark16.sib.swiss/ show? id=c2EzOTN2YXI=. 7 Ich bin in der Minuskel 1420 auf zwei Indizien gestoßen, die deutlich auf einen Blattverlust nach Mk 16,8 hinweisen (f. 47v). Erstens enthält f. 48r den zweiten Teil der lukanischen Kephalaia. Die fehlende Seite enthielt mutmaßlich vorderseitig weiteren Text des Mk-Schlusses und rückseitig den ersten Teil der Liste der lk. Kephalaia. Zweitens enden die drei anderen Evangelien der Handschrift mit einem förmlichen ἀμήν (f. 61v zum MtEv, f. 150r für das LkEv und 195r für das JohEv). Von hier aus kann sicher auf ein entsprechendes ἀμήν nach dem Ende des MkEv auf dem fehlenden Blatt geschlossen werden (Am Ende von f. 47v steht nach Mk 16,8 kein ἀμήν). 8 Nach J. Keith Elliott kommt auch für die Minuskel 2386 ein Blattverlust nach Mk 16,18 (f. 92v) in Frage, vgl. J.-K. Elliott, The Last Twelve Verses of Mark: Original or Not? , in D. A. Black (Hg.), Perspectives on the Ending of Mark: 4 Views, Nashville 2008, 80-102, 82. Außerdem gibt es einen Hinweis auf eine liturgische Pause nach γάρ, dem letzten Wort von 16,8 in Form eines Kreuzes und dem Wort τέλος. Dieselbe Notierung findet sich auf dem vorangehenden Blatt f. 92r nach Mk 15,41 (Hinweis von Dr. Mina Monier). 9 CB W 192 f. 29v ist digital zugänglich unter https: / / viewer.cbl.ie/ viewer/ object/ W_912/ 58/ . Wie Bruce Metzger erläutert hat, fehlen die Wörter ἐφοβοῦντο γάρ am Ende der Seite und „die Vorderseite jedes der beiden folgenden Blätter enthält eine seitenfüllende Miniatur, mit jeweils unbeschriebener Rückseite. [… Wie die beiden Punkte nach dem letzten Wort zeigen], ist das Manuskript in seiner jetzigen Form fragmentarisch und enthielt ursprünglich weiteren Text.“ (B.-Metzger, The Ending of the Gospel according to St. Mark in Ethiopic Manuscripts, in J. Reumann-(Hg.), Understanding the Sacred Texts, Toronto 1972, 167-180, 180 Anm. 29; mit einer Ergänzung wieder abgedruckt in Ders., New Testament Studies, Leiden 1980, 127-147, das Zitat 140 Anm. 29). 10 Folio 348v wurde im 9. Jh. in Lyon ersetzt, E. A. Lowe, The Codex Bezae and Lyons, JTS 25/ 1924, 270-274. 11 Die Vetus Latina wurde durch den Text der Vulgata ersetzt, vgl. C. H. Turner, Did Codex Vercellensis (a) contain the last twelve verses of St. Mark? , JTS-29/ 1927, 16-18. Nach Turners Ansicht, „muss a den kürzeren Mk-Schluss enthalten haben oder gar keinen“ (18). 12 Das Ende des MkEv wurde im Laufe des 7. Jh.s ersetzt; vgl. online Chur, Bischöfliches Archiv, 041.0.1, S.-88 https: / / www.e-codices.unifr.ch/ en/ csg/ 1394/ 88 und St. Gallen, Stiftsbibliothek, 1394, p.-91: and https: / / www.e-codices.unifr.ch/ en/ csg/ 1394/ 90/ 0/ Sequence-748, Mk 16 im Codex Bobbiensis 61 Eines der bisher wichtigsten Ergebnisse des MARK16-Projekts lautet, dass der Mk-Schluss über Jahrhunderte hinweg Gegenstand einer eingehenden Diskussion war. Mina Monier, Postdoktorand bei MARK16, hat etwa gezeigt, dass die Minuskel 304 das klare Interesse erkennen lässt, das MkEv mit 16,8 enden zu lassen, zugleich aber auch Spuren einer anhaltenden späteren Diskussion zeigt. 13 In einem in 2020 erschienenen Artikel 14 führe ich neun HSS vom lateinischen Codex k vom Ende des 4. Jh.s bis zur griechischen Minuskel 579 aus dem 13. Jh. auf, die eine über die Jahrhunderte fortdauernde Diskussion zu den Textvarianten des Mk-Schlusses belegen. 15 Dazu gehören des weiteren die Minuskel 274 mg , das griechisch-koptische Lektionar l1602, die koptische HS sa9 (M 569), 16 131 äthiopische HSS, die den kürzeren und den langen Mk-Schluss enthalten, 17 sowie HS 2374 aus dem Zentralarchiv für armenische HSS (Matenadaran), in vgl. J. Wordsworth u. a. (Hg.), Portions of the Gospels according to St. Mark and St. Matthew from the Bobbio Ms. (k) Now Number G. VII.15 at the National Library at Turin, together with Other Fragments of the Gospels from Six Mss. At the Libraries of St. Gall, Coire, Milan and Berne (usually cited as n, o, p, a2, s and t), Oxford 1886, 72-74; online unter https: / / archive.org/ details/ portionsofgospel00worduoft/ page/ 72/ mode/ 2up. 13 M. Monier, GA 304, Theophylact’s Commentary and the Ending of Mark, Filología Neotestamentaria 52/ 2019, 94-106, hier 101, open access: http: / / reader.digitalbooks.pro/ book/ preview/ 125526/ filo-8? 1574842521282. 14 C. Clivaz, Looking at Scribal Practices in the Endings of Mark 16, in: P. Pouchelle/ J.-S. Rey (Hg.), Henoch Sonderheft 2020, 209-223. 15 In chronologischer Reihenfolge: Codex k, syh mg , die Majuslen 083, 099, 019, 044 und die Minuskeln 1, 304, und 579. 16 Vgl. die Transkription der Folioseiten 59v and 60r mit dem kürzeren und dem langen Schluss, eingeleitet und kommentiert bei Quecke, Das Markusevangelium saïdisch, Appendix I. 17 59 von 194 äthiopischen HSS enthalten nur den längeren Schluss, während „von den verbleibenden 133 äthiopischen HSS alle bis auf zwei den kürzeren Schluss enthalten, der unmittelbar an 16,8 anschließt und 16,9-20 vorausgeht“, so Metzger, The Ending, 147. Von diesen beiden Ausnahmen ist die eine von Metzger nicht näher beschrieben und die andere (CB W 912) weist ein zufälliges Ende in 16,8 auf (vgl. 140 Anm. 29). Schließlich enden in der bei Metzger genannten Kollationierung von Macomber zwei HSS in 16,8 (EMML 2868 and 3875), doch „sollte diesem Umstand keine größere Bedeutung beige- Dr. Claire Clivaz ist nach sieben Jahren als Assistenzprofessorin für Neues Testament und Digital Humanities an der Universität Lausanne seit 2015 am Swiss Institute of Bioinformatics (SIB) tätig. Dort leitet sie seit 2018 die von ihr ins Leben gerufene Projektgruppe Digital Humanities+. Sie ist außerdem Leiterin weiterer Projekte im Schnittfeld von Neuem Testament und Digital Humanities. Ihre Publikationen bewegen sich auf diesen beiden Gebieten. 62 Claire Clivaz welchem der lange Mk-Schluss „einen charakteristisch anderen (aus einer anderen Quelle übernommenen) Text enthält.“ 18 Diese fortdauernde Diskusion zum Mk-Schluss schlägt sich auch nieder in den Minuskeln 1210, 1230, 1192 und nun auch 2937, 19 einer von H.A.G. Houghton und Mina Monier in Alexandria neu entdeckten HS. 20 Schon früher ist sie aufgefallen bei HSS der Minuskelfamilie f1, besonders in den Minuskeln 1 und 1582. 21 Die verbreitete Ansicht, dass „sich die Akzeptanz des langen Mk-Schlusses über Jahrhunderte gehalten hat“, 22 muss folglich überdacht werden: Der lange Schluss wurde kontinuierlich zusammen mit dem kurzen und dem kürzeren Schluss abgeschrieben, und dies mitunter zusammen mit kommentierenden Notizen über die Häufigkeit seines Vorkommens in den HSS. Für ein hinreichendes Verständnis dieses Phänomens bedarf der kürzere Schluss besonderer Aufmerksamkeit. Der vorliegende Beitrag richtet sein Augenmerk auf dessen früheste Bezeugung im Codex k. Der Onlinekatalog Earlier Latin Manuscripts datiert ihn zwischen 380 und 420, also in die Zeit des Codex Sinaiticus und des Codex Vaticanus. 23 1.2 Der unterschätzte Befund zum kürzeren Mk-Schluss Der verbreiteten Meinung, dass der Codex Bobbiensis der einzige Textzeuge für die conclusio brevior ist, 24 ist der Befund der vorigen Abschnitts an die Seite zu stellen. Tatsächlich umfasst die äthiopische Tradition 131 HSS, die beide Enden ohne eine Unterbrechung vor dem kürzeren Schluss enthalten 25 - entweder ganz ohne Unterbrechung (mindestens 34 äthiopische HSS, 26 dazu die messen werden, denn bei beiden handelt es sich lediglich um Lektionare für die Passionswoche“, wie Metzger erklärt (147). 18 J. Knust/ T. Wasserman, The Pericope of the Adulteress ( John 7: 53-8: 11): A New Chapter in Its Textual Transmission, SEÅ 85/ 2020, 49-82; 76 Anm. 81, mit Bezug auf A. Sukri, Divine Liturgy from the Seventies to the Armenian New Year, Bazmavep 35/ 1877, 211. 19 In Transkription zugänglich unter http: / / ntvmr.uni-muenster.de/ manuscript-workspace und https: / / mr-mark16.sib.swiss. 20 H. A. G. Houghton/ M. Monier, Greek Manuscripts in Alexandria, JThS 71/ 2020, 119-133, https: / / academic.oup.com/ jts/ article/ 71/ 1/ 119/ 5824945. 21 Vgl. hierzu etwa M. D. C. Larsen, Gospels Before the Book, Oxford 2018, 119. 22 N. C. Croy, The Mutilation of Mark’s Gospel, Nashville 2003, 19. 23 https: / / elmss.nuigalway.ie/ catalogue/ 811. 24 B. M. Metzger, The Early Versions of the New Testament: Their Origin, Transmission and Limitations, Oxford 1977; Oxford Scholarship Online, 2011, 315: „k ist der einzige Textzeuge, der nur den kürzeren Mk-Schluss enthält. Dieser findet sich auch in L Ψ 274 al, jedoch zusammen mit dem langen Schluss.“ DOI: 10.1093/ acprof: oso/ 9780198261704.001.0001. 25 Metzger, The Ending, 147. 26 Metzger, The Ending, 137. Ein vollständiger kritischer Apparat des kürzeren Mk-Schlusses der äthiopischen HSS-Überlieferung auf der Grundlage von Metzgers Aufsatz fehlt bisher. R. Zuurmond hat in seiner Edition von 1985 den bei Metzger erreichten For- Mk 16 im Codex Bobbiensis 63 griechische Minuskel 579), oder mit einer Unterbrechung vor dem längeren Ende (mindestens 13 HSS), 27 wie auch in der Majuskel 044. Diese ist neben der Minuskel 579 einer von mindestens zwei Zeugen für den ohne Unterbrechung an 16,8 anschließenden kürzeren Schluss. In einigen anderen griechischen, koptischen und syrischen HSS dokumentieren Text- oder Randnotizen, dass der Schreiber mit der Möglichkeit des ursprünglichen kürzeren Schlusses gerechnet hat. 28 Während diese Fülle an Daten eine kontinuierliche Lektüre-Geschichte erkennen lässt erkennen lässt, sprechen die ältesten Textzeugen gegen die Auffassung Stephen Hultgrens von der Verstümmelung bzw. Überschreibung des Mk-Schlusses. Seine „Hypothese setzt voraus, dass das Originalmanuskript oder eine frühe Abschrift des Markusevangeliums derart ,sauber‘ verstümmelt wurde, dass nachfolgende Abschreiber im frühesten Stadium der Textgeschichte über keinerlei Hinweis verfügten, dass Mk 16,8 nicht der ursprüngliche Schluss war.“ 29 Tatsächlich zeigen die patristischen Quellen die Präsenz des langen Schlusses im 2. Jh., 30 während die Schreiber des Codex Sinaiticus und des Codex Vaticanus „Kenntnis davon hatten (…), dass der Mk-Schluss umstritten war“, so schungsstand nicht voll ausgeschöpft; vgl. R. Zuurmond, Novum Testamentum Aethiopice: The Synoptic Gospels. General Introduction. Edition of the Gospel of Mark, Wiesbaden 1989, 295. 27 Metzger, The Ending, 137. Nicht berücksichtigt sind hier die auf S.-141-147 als Zeugen für die conclusio brevior gesammelten 129 HSS. 28 Die Liste der conclusio brevior HSS enthält: Griechisch: GA 019, 044, 083, 099, 274 mg , 579, l1602; mit den Kommentaren GA 1422 und GA 2937 (Dank an Mina Monier); Lateinisch: VL 1 (Codex Bobbiensis); Syrisch: Vat. Syr. 268, CB Syr. 703 und Alqosh 25; Sahidisch: sa 9, sa 14L (https: / / mr-mark16.sib.swiss); sa 366 (Dank zu Anne Boudh’ors und Sofía Torallas Tovar); sa 102v, sa 121v and sa 474 (Dank an Siegfried G. Richter und Katharina D. Schröder); Fayumisch 32; Bohairisch und Arabisch (Dank an Albert ten Kate): A mg (Huntington HS 17) und E1 mg (Or 1315); und 131 äthiopische HSS. Unter den griechischen HSS nennt W. L. Lane, The Gospel According to Mark: The English Text with Introduction, Exposition, and Notes, Eerdmans, 1974, p.-602 außerdem l961, doch enthält dieses Lektionar nach E. Amélineau, Notice des manuscrits coptes de la Bibliothèque Nationale renfermant des textes bilingues du Nouveau Testament, Notices et extraits de la Bibliothèque Nationale et autres bibliothèques 34/ 1895, 363-427, 376 nicht Mk 16. Lane hat möglicherweise l961 und GA 099 verwechselt, die beide ganz oder teilweise in der koptischen HS BNF 129 (8) enthalten sind. 29 S. Hultgren, ,A Vision for the End of Days‘: Deferral of Revelation in Daniel and at the End of Mark, ZNW 109/ 2018, 153-184,-166 (https: / / doi.org/ 10.1515/ znw-2018-0010; here p.-166). 30 So bei Justin, Irenäus und Tatian, vgl. K. W. Clarke, The Theological Relevance of Textual Variation in Current Criticism of the Greek New Testament,-JBL 85/ 1966, 1-16, 9 f. Aber das Problem des Mk-Textes im 2. und 3. Jh. ist überaus komplex, so P. Head, The Gospel of Mark in Codex Sinaiticus: Textual and Reception-Historical Considerations“, TC: A Journal of Biblical Textual Criticism- 13/ 2008, 1-38 (http: / / jbtc.org/ v13/ Head2008.pdf), 1 Anm. 3. MARK16 wird sich hiermit in absehbarer Zeit näher befassen. 64 Claire Clivaz Elliott. 31 Der Codex Vaticanus enthält nach Mk 16,8 eine absichtliche Lücke von anderthalb Spalten. Diese fehlt am Ende der anderen Evanglien, die jeweils in der nächsten Spalte des Blattes direkt anschließen. 32 Im Codex Sinaiticus ist die Sachlage zu Mk 16 schwieriger zu beurteilen, zeigt aber ebenfalls Hinweise auf die Aktivität des Schreibers. 33 Vor diesem veränderten Horizont befasst sich der vorliegende Beitrag mit Codex k, einer der wichtigen HSS für einen neuen Anlauf, dem Rätsel des Mk- Schlusses auf die Spur zu kommen. Dieser Codex, der einen zweifelhaften Ruf genießt, weil er zwar einerseits der älteste Lateinische Codex des MkEv und des MtEv ist, nach landläufiger Auffassung aber zugleich zahlreiche Fehler enthält, bietet den kürzeren Mk-Schluss, jedoch mit einer leichten Abweichung vom griechischen Text. Nach meiner Meinung hat Codex k eine spezifische Variante des kürzeren Mk-Schlusses. 34 Dies deckt sich mit der Einschätzung von Matthew Larsen, dass „der Codex Bobbiensis (k) als weiterer eigener Mk- Schluss angesehen werden kann“, 35 eine Sicht, die bereits Tischendorf im Jahr 1849 geäußert hat. 36 Seit etwa 15 Jahren hat erfreut sich der Codex k eines lebhaften Interesses der Forschung, auch innerhalb der ntl. Exegese, bleibt aber doch weithin ein Unbekannter, sobald es um Details geht. Nach einem Überblick zum gegenwärtigen Stand der Forschung soll es anschließend um die merkwürdige Formulierung et 31 Elliott, The Last Twelve Verses, 85. 32 Clivaz, Returning, 648. 33 Elliott, The Last Twelve Verses, 85 macht auf einen offenbar kalkulierten Leerraum im Codex Sinaiticus Q.77 (Folio 5r) aufmerksam, wo sich eine Leerstelle nach dem Ende des MkEv findet. Doch wie bereits D. Jongkind, Scribal Habits of Codex Sinaiticus (TaS. ThS 5), Gorgias Press 2013, (https: / / doi.org/ 10.31826/ 9781463211592), 42 überzeugend herausgestellt hat, „hätte der sogenannte längere Mk-Schluss unmöglich auf dieses Blatt gepasst.“ MARK16 wird sich demnächst hiermit befassen. Dann wird auch das Fehlen von Mk 15,47b-16,1a im Codex Sinaiticus, üblicherweise als Auslassung aufgrund eines Homoioteleuton verstanden (Elliott, The Last Twelve Verses, 85), nochmals neu zu bedenken sein. Die Namen der in 16,1 genannten Frauen fehlen übrigens auch in den HSS 05, k, n und im Petrusevangelium; vgl. hierzu C. H. Turner, Western Readings in the Second Half of St. Mark’s Gospel, JThS 29/ 1927, 1-16, 13: „Die Namen fehlen in D, k und n, d. h. (da n mit a äquivalent ist) in unseren drei gewichtigsten westlichen Zeugen. a b und i sind korrupt.“ Der Codex Sinaiticus ist wie der Codex Vaticanus auch das Ergebnis eines bedeutenden editorischen Werkes, wie von P. Cecconi, The Codex Sinaiticus and Hermas: The ways of a crossed textual transmission, ZAC 22/ 2018, 278-295 neuerdings am Beispiel des Hirten des Hermas gezeigt wurde. 34 Vgl. Clivaz, Looking at Scribal Practices, 218. 35 Larsen, Gospels Before the Book, 116. 36 Beim kürzeren Schluss folgt der Codex Bobbiensis „ganz seinem eigenen Weg“, so C. Tischendorf, Rechenschaft über meine handschriftlichen Studien auf meiner wissenschaftlichen Reise von 1840 bis 1844, II: Die Bobbienser Evangelienfragmente zu Turin (Schluss), Jahrbücher der Literatur 126/ 1849, 1-71, 4 Anm. 6. Mk 16 im Codex Bobbiensis 65 qui cum puero erant („und die mit dem Knaben waren“) im kürzeren Mk-Schluss gehen, mit dem Ergebnis einer Transkription, Edition und Übersetzung. In 2016 hat H.A.G. Houghton den kürzern Mk-Schluss des Codex k unter Hinweis auf die Wahl zwischen puero und Petro wie folgt übersetzt: But those who were also with the boy [for Petro, Peter? ] told in brief everything which they had been instructed. After this, Jesus himself appeared too and sent the holy and unchanging <message> of eternal salvation through them from the east all the way right to the east [west? ]. Amen. 37 Die vorliegende Untersuchung beleuchtet eine in manchen Versionen des kürzeren Schlusses enthaltene alternative Tradition: Die Begleiter des Petrus berichten vor der endgültigen Erscheinung kurz über erhaltene Anweisungen. Dieser Befund gibt den Anstoß für weitere Untersuchungen zum Problem des Mk-Schlusses. 2. Zum Stand der Forschung: Die fällige Neubewertung des Codex k 2.1 Die Beschreibung des Codex k oder VL 1 Im vierten Band der Codices Latini Antiquiores (CLA) als Nr.- 465 gezählt und nach der Regalnummer in der Universitätsbibliothek Turin mit G.VII.15 bezeichnet, handelt es sich bei dem Codex k um eine HS „von unsicherer Herkunft“, so Elias Avery Lowe. 38 „Aus zwei Gründen wird Afrika vorgeschlagen: Der Text von k steht dem Evangelientext am nächsten, den der afrikanische Autor Cyprian verwendet hat, und die in k verwendete Unzialschrift hat ihre nächste Parallele in zwei HSS Cyprians aus dem 5. Jh. (**458, 464). Er hat sich wahrscheinlich von frühester Zeit an in Bobbio befunden, und dass ein für den normalen Gebrauch so wenig geeignetes Buch die Zeit überdauert hat, hat wohl damit zu tun, dass es sich um ein Relikt des Gründers von Bobbio handelt“, nämlich St. Columban, dies freilich eine Katalognotiz erst des 18. Jh.s. 39 Daher rührt also der Name Codex Bobbiensis. Die Sigel k geht auf Konstantin von Ti- 37 H.A.G. Houghton, The Latin New Testament: A Guide to its Early History, Texts, and Manuscripts, Oxford Scholarship Online 2016, 161. 38 E. A. Lowe, Codices Latini Antiquiores. A Palaeographical Guide to Latin Manuscripts Prior to the Ninth Century, Teil IV, Perugia-Verona/ Oxford 1947, n° 465, 18. 39 A.a.O. 66 Claire Clivaz schendorf zurück. 40 In der digitalen Kultur der Gegenwart hat er von Seiten der Leuven Database of Ancient Books (nun verwaltet von der Trismegistos-Website) die Sigel 7820 erhalten, und auf papyri.info wird er unter der Nr.-66572 geführt. 41 Überzeugt von der Bedeutung dieser HS für die neutestamentliche Textkritik und ihre digitalen Möglichkeiten hat das MARK16-Projekt angeregt, Codex k in den Bestand der HSS Liste des Instituts für Neutestamentliche Textforschung (INTF) aufzunehmen und ihn mit eigener Dokumenten-ID dem New Testament Virtual Manuscript Room (NTVMR) hinzuzufügen. 42 Hier wird er nun unter der Sigel VL 1 geführt, Vetus Latina 1, entsprechend der von Bonifatius Fischer für die altlatinische Überlieferung eingeführten Sammelbezeichnung VL. 43 Im vorliegenden Beitrag verwende ich die vom INTF für den NTVMR eingeführten Sigel und referiere auf den Codex k hauptsächlich mit VL 1. Das MARK16-Projekt befindet sich in täglichem Austausch mit dem NTVMR für den Aufbau eines eigenen digitalen manuscript room für Mk 16, darin auch Fotografien und Transkriptionen von VL 1 f. 40r, 40v, and 41r. 44 Die Sigel VL 1 sichert der HS einen prominenten Platz in der ntl. Textkritik und steht zugleich für eine Art retour en grâce dieses Codex, dem oft nachgesagt wird, er sei unsorgfältig geschrieben. Lowe ist im obigen Zitat zurückhaltend, wenn er von einem „unbrauchbaren Buch“ spricht. Deutlicher wird Pieter Willem Hoogterp in seiner der HS gewidmeten Dissertation von 1930. Er urteilt, dass „der Kopist sehr inkompetent ist und auf phantastische und völlig verständnislose Weise den Archetyp hohen Alters reproduziert, geschrieben in einer Kursivschrift, die für einen Kopisten, der nur eine vage Vorstellung von 40 Vgl. E. Stampini, Recensione di Il Codice Evangelico k della Biblioteca Universitaria Nazionale di Torino, Rivista di Filologia et di Istruzione Classica 62/ 1914, 355-358, 355. Tischendorf hat den Codex k samt Transkription in fünf Heften der Jahrbücher der Literatur publiziert: C.- Tischendorf, Rechenschaft über meine handschriftlichen Studien auf meiner wissenschaftlichen Reise von 1840 bis 1844. II. Die Bobbienser Evangelienfragmente zu Turin, Jahrbücher der Literatur 120/ 1847, 43-56; 121/ 1848, 50-72; 123/ 1848, 40-46; 124/ 1848, 1-8; 126/ 1849, 1-71. Die Transkription von Mk 16 findet sich in Heft 126/ 1849, 3f. 41 Vgl. https: / / www.trismegistos.org/ text/ 66572 und http: / / papyri.info/ dclp/ 66572. Zu den zahlreich divergierenden Bezeichungen antiker Manuskripte und Papyri vgl. C. Clivaz, The New Testament at the Time of the Egyptian Papyri. Reflections Based on P12, P75 and P126 (P. Amh. 3b, P. Bod. XIV-XV and PSI 1497), in: C.-Clivaz/ J.-Zumstein (Hg.), Reading New Testament Papyri in Context - Lire les papyrus du Nouveau Testament dans leur contexte (BETL 242), Leuven 2011, 15-55. 42 http: / / ntvmr.uni-muenster.de/ community/ vmr/ api/ projects/ bibliacoptica/ mssview/ ? docID=200001. 43 Vgl. The Vetus Latina Online Database unter https: / / about.brepolis.net/ vetus-latina-database/ . 44 Vgl. https: / / mr-mark16.sib.swiss/ show? id=Vkwx. Mk 16 im Codex Bobbiensis 67 korrektem Latein hatte, möglicherweise nur schwer zu entziffern war“. 45 Bridget Gilfillan Upton stellt fest, dass seine Sprache „undurchdringlich ist fast bis zur Unverständlichkeit“ 46 , während William Farmer hervorhebt, dass der Text „zahlreiche Abschreibfehler enthält“. 47 Diese schelchte Reputation hat zur Folge, dass die HS oft nur oberflächlich zur Kenntnis genommen wird, wenn überhaupt. In seiner gelehrten Edition des Mk-Textes der Vetus Latina notiert Jean-Claude Haelewyck, dass er VL 1 nicht herangezogen habe, weil „die Handschrift völlig unleserlich ist und es nutzlos war, das Vetus-Latina-Institut überhaupt um Fotografien zu bitten“. 48 Doch obschon die HS im Jahr 1904 durch ein Feuer beschädigt wurde, 49 ist sie größtenteils noch immer lesbar, und mein herzlicher Dank geht an dieser Stelle an die Universität Turin, die dem Mark16-Projekt drei Abbildungen von G.VII.15 zur Verfügung gestellt hat. Bereits im Mai 1989 hatte David Parker die Gelegenheit, die HS in der Turiner Bibliothek in Augenschein zu nehmen, und in 1991 hat er einen Artikel veröffentlicht, der als Comeback von VL 1 in der gegenwärtigen Forschung gelten darf. 50 Der mangelnde Kenntnisstand zu diesem alten Textzeugen schlägt sich auch in den Angaben bei Trismegistos nieder, die den Eindruck erwecken, dass das MkEv in VL1 anstatt mit dem kürzeren Schluss mit 16,8 endet und dass in das MkEv auf das MtEv folgt, erstaunlicherweise, denn die umkehrte Reihenfolge - erst Markus, dann Matthäus - wurde in der Studie von Wordsworth u. a. nachgewiesen, die VL 1 im Jahr 1886 ediert und damit der Auffassung Tischendorfs von 1847 widersprochen haben 51 . Vollends bestätigt wurde diese Sicht von Parker. 52 Woodsworth hat Signaturen auf den Quaternionen (den in VL 1 verwendeten Lagen des Codex aus vier Bögen, d. h. 8 Blättern bzw. 16 Seiten) entdeckt, die Tischendorf entgangen waren. Er konnte auch „zeigen, dass es sich um ein Buch mit den vier Evangelien mit dem Matthäusevangelium am Schluss han- 45 P. W. Hoogterp, Etude sur le Latin du Codex Bobiensis (k) des Evangiles, Groningen 1930, 8. 46 B. G. Upton, Hearing Mark’s Endings (BIS 79), Leiden 2006, 197. 47 W. R. Farmer, The Last Twelve Verses of Mark, Cambridge 2005, 48, zitiert bei N. P. Lunn, The Original Ending of Mark. A New Case for the Authenticity of Mark 16: 9-20, Eugene (Or) 2014, 60 Anm. 168. 48 J.-C. Haelewyck, Evangelium secundum Marcum, Vetus Latina. Die Reste der altlateinischen Bibel 17, fasc. 1, Freiburg 2013, 2. 49 Vgl. Stampini, Recensione, 355. 50 D. C. Parker, Unequally Yoked: The Present State of the Codex Bobbiensis, JThS 42/ 1991, 581-588; wieder abgedruckt in: D. C. Parker, Unequally Yoked: The Present State of the Codex Bobbiensis, in: Ders, Manuscripts, Texts, Theology. Collected Papers 1977-2007 (ANTT-40), Berlin-2009, 25-32 (Zitate hier nach der Erstveröffentlichung). 51 Wordsworth u. a. (Hg.), Portions of the Gospels, XI-XII; Tischendorf, Rechenschaft, Jahrb. 120/ 1847, 47 Anm. 1. 52 Parker, Unequally Yoked, 586. 68 Claire Clivaz delte“, 53 auch wenn nur 96 Folioseiten von Mk 8,8 bis Mt 15,36 erhalten sind. 54 Parker hat sich der HS in seinem Aufsatz in großartiger Weise angenommen und dabei auch die Einschätzung des Turiner Bibliothekars Dr. Edmondo Lupieri berücksichtigt. 55 Parker kommt zu dem Ergebnis, dass der Codex „ursprünglich aus 415 Blättern bestand, ein Blatt weniger als 52 Quaterionen“, und dass „die Seiten in einer Weise neu nummeriert werden sollten, die den fehlenden Blättern Rechnung trägt. Die Seiten 1-48 sollten als die Seiten 257-304 gezählt werden, 49-94 als 306-351 und 95-96 als 356-357.“ 56 Er bekräftigt, dass in der HS das MkEv dem MtEv voransteht, „eine unübliche Reihenfolge der Evangelien“, die sonst zumindest noch in der Minuskel 90 belegt ist, „einer Kopie einer HS des späten 13. Jh.s. aus dem 16. Jh.“ 57 Die überaus sorgfältigen Bemühungen von Wordsworth, Parker und Lupieri um den Aufbau von VL 1 zeigen beispielhaft, welche Aufmerksamkeit nötig ist, um dieser HS mit ihren mancherlei Besonderheiten die gebührende Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. 58 Bruce Metzger gehört zu denjenigen Forschern, die eine positive Sicht auf VL 1 vertreten: 59 „Es handelt sich um die wichtigste altlateinische Handschrift und zweifellos um den ältesten erhaltenen Vertreter des afrikanischen Texttyps (…). Der Schreiber war, obwohl ihm zahlreiche Abschreibfehler unterlaufen sind, 53 Wordsworth u. a. (Hg.), Portions of the Gospels, XII. 54 A.a.O., IX. 55 Parker, Unequally Yoked, 586. 56 Parker, Unequally Yoked, 585.587. 57 Parker, Unequally Yoked, 585 f Anm. 1 mit Bezug auf Th. Zahn, der die Frage der Reihenfolge der Evangelien in Codex k ausführlich diskutiert; vgl. Th. Zahn, Geschichte des neutestamentlichen Kanons, Bd 1, Berlin-1918, 370f. 58 M. Larsen hat sich jüngst mit dem Aufbau der HS befasst, dabei aber nicht auf Parkers Untersuchung (v. a. die Nummerierung der Quaternionen) Bezug genommenen. Er gelangt zu einem recht spekulativen Ergebnis: Der Codex Bobbiensis sei eine absichtliche Zusammenstellung der zweiten Hälfte des MkEv und der ersten Hälfte des MtEv. Der Codex Bobbiensis wäre damit ein Evangeliencodex für Reisende, die ihn für Predigt und Lehre verwendet haben (M.-Larsen, A Real-and-Imagined Biography of a Gospel Manuscript,-Early Christianity-12/ 2021, 103-131, hier 124). Ich danke Matthew Larsen für die Zusendung des Aufsatzes vor Erscheinen. 59 Schon Flecks Beschreibung in der ersten modernen Edition von VL 1 war geradezu enthusiastisch: „Aber wir lieben die Fehler [des Kopisten], welcher Art auch immer, grammatisch, orthographisch oder historisch“, denn dieser Kopist ist gegenüber seiner griechischen Vorlage mit großer Ernsthaftigkeit verfahren (F. F. Fleck, Anecdota maximam partem sacra in itineribus italicis et gallicis collecta, in: Wissenschaftliche Reise durch die südlichen Deutschland, Italien, Sicilien und Frankreich, II 3, Leipzig 1837, X). 150 Jahre später urteilt Petitmengin: „[E]inige unserer ehrwürdigsten Manuskripte, wie der Codex Bobiensis der Evangelien (Nr.-465), präsentieren das Wort Gottes in einer Weise, die die Gründer der British and Foreign Bible Society begeistert hätte“ (P.-Petitmengin, Les plus anciens manuscrits de la Bible latine, in: J. Fontaine/ Ch. Pietri (Hg.), Le monde latin antique et la Bible, Bible de tous les temps, Bd.-2, Paris 1985, 89-123, 100). Mk 16 im Codex Bobbiensis 69 keineswegs unkundig, denn er schreibt mit fester und geübter Hand.“ 60 Das Argument für ein frühes Datum von VL 1 - zwischen 380 und 420 für den ELMSS Katalog 61 - ist allgemein anerkannt. Gelegentlich wird die Auffassung vertreten, dass der Archetyp von VL 1 auf Papyrus geschrieben war, eine Lowe zugeschriebene Sicht, 62 doch hat Metzger dies in 1977 präzisiert; es handelt sich nur um einen mündlichen Bericht von Ploij aus dem Jahr 1936. 63 Die Datierungsfrage kann durch linguistische Beobachtungen zusätzlich vertieft werden. Die von Hans von Soden aufgezeigte Nähe von VL 1 zu Cyprians Mt- und Mk-Zitaten 64 legt den Schluss nahe, dass seine lateinische Vorlage vor das 4. Jh. zu datieren ist. In einer akribischen linguistischen Analyse von 1930 hat Hoogterp gezeigt, dass der Codex Bobbiensis die Kopie eines „sehr alten Archetyps in Kursivschrift ist, der für einen Kopisten, der nur eine vage Vorstellung von korrektem Latein hatte, schwer zu entziffern war.“ 65 Dieses mühevolle Kopieren einer Kursivschrift des 3. Jh.s kann zahlreiche Fehler in VL 1 erklären. 66 Drei Jahre später hat Adolphine Bakker in ihrer Dissertation eine Feststellung getroffen, die diese Hypothese stützt: In einigen Passagen sind dem Kopisten zahlreiche Fehler unterlaufen, in anderen dagegen kein einziger, ganz so, als hätte er stellenweise Schwierigkeiten gehabt, den Text zu entziffern. Sie zieht daraus den Schluss, dass „wenn wir dem Kopisten Gerechtigkeit widerfahren lassen wollen, wir ihm zugestehen müssen, dass er sein Bestes gegeben hat.“ 67 Bakkers Hinweis auf die unregelmäßige Fehlerdichte, die möglicherweise von schwer entzifferbaren Passagen herrührt, stützt Hoogterps Hypothese einer 60 Metzger, The Early Versions of the New Testament, 315. Vgl. auch B. Fischer, Beiträge zur Geschichte der lateinischen Bibeltexte (Vetus Latina 12), Freiburg 1986, 197.199. Für einen erschöpfenden bibilographischen Überblick vgl. G. Vagnone (Hg.), Lettere di C. von Tischendorf à V.-A.-Peyron, Bd.-1, Bollettino dei Classici 17/ 1996, 171-175, 171 f Anm. 2. 61 https: / / elmss.nuigalway.ie/ catalogue/ 811. 62 Vgl. Houghton, The Latin New Testament, 22; Larsen, Gospels Before the Book, 117. 63 Vgl. Metzger, The Early Versions, 315 Anm. 3, mit Bezug auf D.-Plooij in BBC 11/ 1936, 11. 64 H. Von Soden, Das lateinische Neue Testament in Afrika zur Zeit Cyprians, Leipzig 1909, 106-134; vgl. etwa auch A. Vööbus, Early Versions of the New Testament. Manuscript Studies (Papers of the Estonian Theological Society in Exile 6), Evanston (IL) 1954, 33- 65, 51. Die von Adolphine Bakker in 1933 vorgetragene Hypothese von Spuren eines „irischen Scheibrohrs“ in der HS war bereits von Burkitt in 1904 ausgeschlossen worden und auch von B. Metzger in 1977. (vgl. Metzger, The Early Versions, 315 Anm. 2; A. H. A. Bakker, A Study of Codex Evang. Bobbiensis (k), Part I, N. V. Noord-Hollandische Uitgeversmaatschappij 1933, 8-12; F. C. Burkitt, Further Notes on Codex k, JThS 5/ 1903-04, 100-107). 65 Hoogterp, Etude sur le Latin, 7. 66 Hoogterp, Etude sur le Latin, 15: „Wir sehen, dass die meisten der zitierten Fehler durch die Beschaffenheit der kursiven Schrift erklärt werden können, wie sie zwischen 237 und 247 üblich war.“ 67 Bakker, A Study, 14. 70 Claire Clivaz Vorlage in Kursivschrift. Beider Untersuchungen bestätigen die Datierung der Vorlage von VL 1 in das 3. Jh. 68 2.2 VL 1 in der gegenwärtigen Forschung Zwar wurde der Codex Bobbiensis in der Zeit vor dem 2. Weltkrieg verhältnismäßig gründlich erforscht, doch vorwiegend auf dem Feld der christlichen Apokryphen und der ntl. Textkritik. 69 Von der Exegese des NT war er lange Zeit fast völlig vergessen. 70 Mit Blick auf die vergangenen ca. 15 Jahre markiert die Dissertation von Jayhoon Yang aus dem Jahr 2004 eine Wende. Yang stellt zutreffend fest, „dass der Markus-Schluss ein reiches Feld ist“, und seiner Hoffnung, „dass mehr Markus-Arbeiter sich an der Ernte beteiligen“, kann man sich nur anschließen. 71 Er schlägt vor, den kürzeren und den längeren Schluss als Niederschlag von „Strategien in einem Wettbewerb“ zu lesen, „der durch Werbung und Legitimation entschieden wird“, 72 v. a. zwischen Maria Magdalena und Petrus: „Der kürzere Schluss unterscheidet sich vom längeren in der Charakterisierung wichtiger Figuren wie Maria Magdalena und Petrus. Der Verfasser des kürzeren Schlusses wertet Maria Magdalena dadurch ab, dass er ihre Rolle bei der Überbringung der Botschaft der Engelsgestalt verdunkelt. Im längeren Schluss war sie die erste und singuläre Augenzeugin der Erscheinung, nicht aber im kürzeren.“ 73 Durchweg ist in den antiken Evangelien das Zeugnis der Frauen am Grab Gegenstand einer Diskussion, in der es um Konkurrenz um 68 Vgl. auch J. K. Elliott, The Endings of Mark’s Gospel and the Presentation of the Variants in the Marc Multilingue Edition, in: C.-B. Amphoux/ J.- K. Elliott/ B.- Outtier (Hg.), Textual Research on the Psalms and Gospels - Recherches textuelles sur les psaumes et les évangiles, Papers from the Tbilisi Colloquium on the Editing and History of Biblical Manuscripts - Actes du Colloque de Tbilisi, 19-20 septembre 2007, Textual Research on the Psalms and Gospels (NT.S-142), Leiden 2012, 113-124, 119: ein „Text, der in das frühe 3. Jh. zurückreicht“. 69 Vgl F. Bovon/ P. Geoltrain (Hg.), Ecrits apocryphes chrétiens I (Pléiade 442), Paris 1997, 403; Parker, Unequally. 70 Beispeilsweise notiert James Kelhoffer in einer Anmerkung, dass die HS „den kürzeren Schluss“ (it k ) bewahrt, tatsächlich handet es sich jedoch um die gebräuchliche griechische Verison, die mit VL 1 in keinem Zusammenhang steht, vgl. J. A. Kelhoffer, Miracle and Mission (WUNT 2.112), Tübingen 2000, 1; vgl. auch den vollständigen griechischen Text 232 f Anm. 215). Merkwürdig ist die Äußerung Larsens, dass sich seit dem Aufsatz von Parker von 1989 zu VL-1 in der Forschung „nichts mehr getan“ habe (Larsen, A Real-and- Imagined Biography, 130). 71 J. Yang,-Other Endings of Mark as Responses to Mark: An Ideological-Critical Investigation into the Longer and the Shorter Ending of Mark’s Gospel, White Rose 2004, 220. Die Arbeit ist online verfügbar unter http: / / etheses.whiterose.ac.uk/ 3555/ . 72 Yang,-Other Endings, 212. 73 Yang,-Other Endings, 217. Mk 16 im Codex Bobbiensis 71 Legitimation geht. Yang übersieht freilich eine wichtige Auslassung von VL 1 in Mk 16,1, nämlich das Fehlen der Liste der Frauen, insbesondere Marias, Mutter des Jakobus, und Salomes. 74 Dagegen hat Yang beobachtet, dass sie im längeren Schluss fehlen. Diese kaum beachtete Auslassung 75 in VL 1 muss berücksichtigt werden, um das gesamte Kapitel 16 in seiner Fassung in VL 1 zu verstehen. Die Konkurrenz zwischen Petrus und Maria Magdalena reicht nicht aus, um zu veranschaulichen, worum es in Mk 16 in VL 1 geht. Kara Lyons-Pardue hat zwar in ihrer im vergangenen Jahr erschienenen Studie die Frauen im längeren Mk-Schluss von VL 1 berücksichtigt, jedoch insofern unpräzis, als sie offenbar annimmt, dass VL 1 mit der griechischen Fassung des kürzeren Schlusses identisch ist, und deshalb den lateinischen Text gar nicht heranzieht. Der im Appendix der Studie enthaltene Satz „und sie sagten niemandem etwas“ findet sich gar nicht in der HS. 76 Sie erwähnt nicht die Auslassung der Frauen in Mk 16,1, auch nicht den Befund zu cum puero in der conclusio brevior, sondern lediglich das Vorhandensein des kürzeren Schlusses und die Hinzufügung von Mk 16,3f. 77 Dementsprechend misslich ist ihre Kritik an der Monographie von Gilfillan Upton von 2006. 78 Sie will Uptons Überlegungen zur rhetorischen Wirkung des kürzeren Schlusses nicht gelten lassen und hält dem entgegen, k sei der einzige Beleg einer solchen Lesart. 79 Upton hat sich aber ihrerseits bereits mit diesem Argument auseinandergesetzt angesichts nicht weniger Ausnahmen, 80 wie oben in Abschnitt 1 dargelegt. Nach meiner Auffassung ist Uptons Studie, die zwei Jahre nach der Dissertation von Yang erschienen ist, ein sprechendes Beispiel für die schrittweise Rehabilitation von VL 1 in der ntl. Exegese. Sie schenkt den Details von VL 1 die gebührende Aufmerksamkeit, 81 etwa im parallelen Vergleich mit der 27. Auflage des NT Graece von Nestle/ Aland und der Übersetzung der New Revised Standard Version (NRSV). 82 Im selben Jahr hat Camille Focant einen Artikel zum Problem des Mk-Schlusses veröffentlicht, in welchem er hervorhebt, dass „in diesem Manuskript [VL-1], 74 Yang,-Other Endings, 114. 75 Vgl. aber Turner, Western Readings, 13; Elliott, The Endings of Mark’s Gospel, 119. 76 K. J. Lyons-Pardue, Gospel Women and the Long Ending of Mark, Edinburgh 2020, Kindle edition, l. 6049. 77 Lyons-Pardue, Gospel Women l. 5940. 78 Upton, Hearing Mark’s Endings. 79 Lyons-Pardue, Gospel Women, l. 1834 Anm. 216: Uptons „Verfahren (ist) irreführend und bestechend zugleich“. 80 Upton, Hearing Mark’s Endings, 171: 579 ohne Lücke zwischen den unterschiedlichen Schlüssen des MkEv.; 019, 099, 044, und l1602 mit beiden Schlüssen. 81 Upton, Hearing Mark’s Endings, 192. 82 Upton, Hearing Mark’s Endings, 171-180. 72 Claire Clivaz in v. 8 die Worte ,und sie sagten niemandem etwas‘ weggelassen wurden, um einen Widerspruch mit dem Folgenden zu vermeiden“, denn „gemäß diesem Schluss hätten die Frauen den Jüngern die Nachricht kundgetan und Jesus hätte sie ausgesandt, um die ,heilige und unvergängliche Predigt des ewigen Heils‘ zu verkünden“. 83 Nach Parkers grundlegendem Artikel von 1991 steht Focant für ein neu erwachtes Interesse der ntl. Exegese an VL 1 mit Yang, Upton and Lyons-Pardue, während die ntl. Textkritik und die Altertumswissenschaft dieser HS schon immer ihre Aufmerksamkeit geschenkt haben, zuletzt H.- A.- G.- Houghton (2016), Matthew Larsen (2018 und 2021) und Jean-Claude Halewyck in der Vetus-Latina-Ausgabe des MkEv (2013-2018). 84 3. Qui cum puero erant: Ein Fehler in VL 1 oder nicht? Wir wenden uns nun der höchst merkwürdigen Formulierung des kürzeren Schlusses in VL 1 zu, et qui cum puero erant. Sie ist auf der Folioseite f. 41r in klarer Schrift geschrieben, erkennbar ohne Hast. Doch gehen die Meinungen hier auseinander, ob et qui cum puero erant oder et qui cum Petro erant, oder sogar eis qui cum Petro erant zu lesen ist. Im Folgenden geht es um einen Überblick über die bisherige Forschung (3.1), um vier Fragen und Antworten (3.2) und den Vorschlag einer Transkription, Edition und Übersetzung der conclusio brevior in VL 1 (3.3). 3.1 Die bisherige Forschung zur Alternative puero/ Petro im kürzeren Schluss in VL 1 Matthew Larsen hat sich in seiner Monographie von 2018 nicht mit der Phrase et qui cum puero erant befasst, 85 erwähnt sie aber als fehlerhafte Schreibung in seinem Aufsatz von 2021. 86 H.A.G. Houghton (2016) lässt die Frage offen: Er wählt puero als Übersetzung, fügt aber Petro in Klammern hinzu. 87 Haelewyck (2018) nimmt in diesem Satz für Korrekturen vor und liest Petro. 88 Außerdem korrigiert er wie die meisten anderen Forscher, die Petro lesen, das et in et qui cum puero 83 C. Focant, Un silence qui fait parler (Mc 16,8), in: Ders., Marc, un évangile étonnant. Recueil d’essais-(BEThL-194), Leuven 2006, 341-358, 343. 84 H.A.G. Houghton, The Gospel according to Mark in two Latin Mixed-text Manuscripts, RBén 126/ 2016), 16-58; ders., The Latin New Testament; Larsen, Gospels Before the Book; ders., A Real-and-Imagined Biography; Haelewyck, Evangelium secundum Marcum. 85 Larsen, Gospels Before the Book, 117. 86 Larsen, A Real-and-Imagined Biography, 110: „Dies ist natürlich als harmloser Textfehler leicht zu erklären“. 87 Houghton, The Latin New Testament, 161. 88 Haelewyck, Evangelium secundum Marcum, fasc. 10, 798 Anm. Mk 16 im Codex Bobbiensis 73 erant zu eis, um eine Formulierung zu erhalten, die mit dem griechischen kürzeren Schluss übereinstimmt: eis qui cum Petro erant, was heißt, dass die Frauen den Personen berichten, die Petrus begleiten. Diese doppelte Korrektur wurde zuerst in der Einleitung der Edition von Wordsworth vorgeschlagen 89 und dann in 1901 prominent übernommen von F. Crawford Burkitt, von J.- M.- S.- Baljon in 1906 und von G. Wohlenberg in 1910. 90 Doch seit dem 19.-Jh. haben andere Forscher die Lesart et qui cum puero erant favorisiert, so etwa Fleck 91 in der ersten modernen Edition von VL 1 aus dem Jahr 1837. Tregelles, der in 1854 et qui cum puero erant las, schlug eine Änderung nur für puero vor und ergänzte „[l. cum Petro]“. 92 Tischendorf, der oft Fleck korrigiert, behält jedoch puero bei 93 und fügt seit der Ausgabe von 1859 in Klammern „corrige petro“ hinzu, 94 des weiteren Wordsworth u. a. in ihrer Edition von 1886 (jedoch nicht in der Einleitung), 95 Turner und Burkitt (1903/ 1904), 96 Cipolla (1913), 97 Hoogterp mit Petro in Klammern (1930), 98 Jülicher (1970), 99 Upton (2006), 100 und Houghton, mit Fragezeichen und Petro in Klammern (2016). 101 89 Wordsworth u. a. (Hg.), Portions of the Gospels, CXXX. 90 F. C. Burkitt, Two Lectures on the Gospels, London/ New York 1901, 27; J.M.S. Baljon, Commentaar op het evangelie van Markus, Utrecht 1906, 271. Diese doppelte Korrektur wurde auch von G. Wohlenberg ab der 2. Aufl. seines Mk-Kommentars aus dem Jahr 1910 übernommen; vgl. G.-Wohlenberg, Das Evangelium des Markus (KNT 2), Leipzig 3 1930, 389. 91 Fleck, Anecdota maximam partem, 46. 92 S. P. Tregelles, An Account of the Printed Text of the Greek New Testament, with Remarks on its Revision upon Critical Principles, together with a Collation of the Critical Texts of Griesbach, Scholz, Lachmann, and Tischendorf, with that in Common Use, London 1854, 253. 93 Tischendorf, Rechenschaft über meine handschriftlichen Studien, Jahrbücher 126/ 1849, 4; Ders., Jahrbücher 120/ 1847, 43 f über Flecks Edition. 94 Vgl. C. Tischendorf (Hg.), Novum Testamentum Graece, Leipzig 2 1849, 147 Anm. zu Mk 16,9-20 https: / / archive.org/ details/ bub_gb_QyxbMbtSJVQC/ page/ n245/ mode/ 2up. 95 Wordsworth u. a. (Hg.), Portions of the Gospels; vgl. S.-23 mit S. CXXX. In der Transkription auf S.-23 verlautet nichts über et qui cum puero erant, vgl. https: / / archive.org/ details/ portionsofgospel00worduoft/ page/ 23/ mode/ 2up. 96 In JTS 5/ 1903-04 publizierten Turner und Burkitt Bemerkungen zu ihren eigenen Beoachtungen zum MS: Sie nehmen bei puero keine Korrektur vor. Vgl. C. H. Turner, A Re-Collation of Codex k of the Old Latin Gospels, JTS 5/ 1903-04, 88-100; F. C. Burkitt, Further Notes on Codex k, JTS 5/ 1903-04), 100-107. 97 C. Cipolla u. a., Il codice evangelico k della Biblioteca universitaria nazionale di Torino, riprodotto in fac-simile per cura della Regia accademia delle scienze di Torino, Turin 1913, 68 (in der Liste der Korrekturen zur Folioseite 41 f. keine Erwähnung von puero). 98 Hoogterp, Etude sur le Latin, 9. 99 A. Jülicher, Das Neue Testament in altlateinischer Überlieferung. II. Marcus-Evangelium, Itala-2, Berlin 1970, 158. 100 Upton, Hearing Mark’s Endings, 174.192. 101 Houghton, The Latin New Testament, 161. 74 Claire Clivaz In einem Aufsatz von 2020 habe ich die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass puero das Echo einer polymorphen Christologie sein könnte, eine Hypothese, die ich in in 3.2. näher überprüfen werde. 102 Zunächst erfordert aber der voranstehend referierte Forschungsstand eine nähere Befassung mit dem Problem. Zuvorderst ist anzuerkennen, dass die betreffenden Buchstaben in klarer Schrift geschrieben sind. Man liest ohne Schwierigkeiten et qui cum puero erant. 103 Zweitens liegt kein grammatischer oder orthographischer Fehler vor. Wie Hoogterp hervorhebt, „sieht das Wort richtig aus, ist aber im Kontext unverständlich“. 104 Es handelt sich also nicht um einen Schreibfehler wie etwa bei Maxriam in Mt 1,20 auf f. 44r, wie Yang meinte. 105 Drittens enthält die HS zahlreiche Korrekturen. Adolphine Bakker vergleicht puero mit der Schreibung regnus statt Petrus in Mk 14,66, f. 34v. 106 Aber ein Blick in das Cipolla-Faksimile zeigt, dass regnus in f. 34v sorgfältig zu Petrus korrigiert wurde. 107 Hoogterp erklärt den Fehler im Rahmen seiner Kursiv-Hypothese: 108 regnus wurde später vom Zweikorrektor (6.-7. Jh.) aus logischen Erwägungen geändert. Nach Hoogterp gilt insgesamt, dass die HS „ausgiebig korrigiert wurde“. 109 Dementsprechend ist es überaus bemerkenswert, dass die Korrektoren puero in f. 41r unverändert gelassen haben, während Hoogterp nachvollziehbar eine Buchstabenkonfusion aufgrund der Abschrift von einer lateinischen Kursivhandschrift annahm. 110 Larsen hat bereits seine Verwunderung hierüber zum Ausdruck gebracht, 111 zu Recht, denn auf Folioseite 41 r. wurde an anderen Stellen durchaus korrigiert: Ein doppeltes cum wurde durch Expunktion getilgt, wahrscheinlich vom zweiten Korrektor. 112 Im letzten Satz wurde das fehlende praedication[em] 113 in einer Marginalie am unteren Seitenrand nachgetragen. Andererseits haben die 102 Clivaz, Looking, 218-223; vgl auch Acta Petri 21,29 (Hinweis Jean-Daniel Kaestli). 103 Vgl. f. 41r, zugänglich über https: / / mr-mark16.sib.swiss/ show? id=Vkwx 104 Hoogterp, Etude sur le Latin, 9. 105 Yang,-Other Endings of Mark as Responses to Mark, 194. 106 Bakker, A Study, 19. 107 Cipolla u.a., Il codice evangelico k, f. 34v. 108 Hoogterp, Etude sur le Latin, 12-14. 109 Hoogterp, Etude sur le Latin, 8. Er ist mit Sunday und Wordsworth gegen Cipolla der Ansicht, dass nicht nur einer, sondern zwei Korrektoren am Werk waren (vgl. Cipolla, Il codice evangelico k, 13). 110 Hoogterp, Etude sur le Latin, 12. 111 Larsen, A Real-and-Imagined Biography, 110f.: „Es ist merkwürdig, dass der Korrektor (die zweite Hand) so viele andere Fehler korrigiert, diesen aber stehengelassen hat.“ 112 Wordsworth u. a. (Hg.), Portions of the Gospels, 23, v.8 Anm. 2. 113 Wie Wordsworth u. a., Portions of the Gospels, 23, Anm. zu v. 9 feststellen, ist praedicationis eine sekundäre Lesart, die praedicationem ersetzen sollte; vgl. auch Hoogterp, Etude sur le Latin, 107. Mk 16 im Codex Bobbiensis 75 Korrektoren das zweite usque stehen gelassen, das als „Emphase durch Wiederholung“ 114 verstanden werden kann, und sie haben, wie gesagt, auch puero nicht geändert, außerdem auch nicht et qui zu eis qui, wie Wordsworth u. a. und andere Forscher vorgeschlagen haben. Hieraus ergeben sich vier Fragen, die nachfolgend zu stellen und zu beantworten sind: 3.2 Vier Fragen, die für eine Transkription und Edition der conclusio brevior in VL 1 zu bedenken sind (1) Ist ein Hintergrund denkbar, der erklärt, warum die Korrektoren puero stehengelassen haben? Das Fehlen einer Korrektur von puero ist, wie gesagt, ziemlich erstaunlich. Beispielsweise wurde nämlich maledixisti in Mk 15,34 (f. 38v) in dereliquisti geändert. 115 Aus einer konsequent rezeptionsorientierten und rezeptionsgeschichtlichen Sicht scheint mir eine polymorphe Christologie ein plausibler Hintergrund zu sein, der erklärt, warum puero in VL 1 nicht korrigiert wurde. Nach wegbereitenden Studien in den 50er und 60er Jahren 116 ist das Thema der polymorphen Christologie mit zwei Aufsätzen aus dem Jahr 1981 von Eric Junod und Guy Stroumsa verstärkt in den Blick geraten. Dem Beitrag von Junod verdankt die Forschung eine gültige Definition dessen, was unter polymorpher Christologie zu verstehen ist, 117 und Stroumsa hat sein besonderes Augenmerk auf die Johannesakten und das Johannesapokryphon gerichtet. 118 Aus den 1990er und frühen 2000er Jahren stammen die Studien von Pieter J.-Lalleman zu den apokryphen Apostelakten 119 und von Hughes Garcia zwei Aufsätze und seine Dissertation. 120 Weitere Studien zur apokryphen Literatur folgten, etwa Combs Artikel über das Petrusevangelium von 2014. 121 114 Upton, Hearing Mark’s Endings, 192. 115 F. C. Burkitt, Notes. 1. On St. Mark XV 34 in Cod. Bobiensis, JThS 1/ 1900, 278f. 116 Vgl. die Arbeiten von Weigandt, Puech, de Lubac, Ménard, und Peterson, auf die Eric Junod, Polymorphie du Dieu Sauveur, in: J. Ries (Hg.), Gnosticisme et monde hellénistique, Publications de l’Institut orientaliste de Louvain 27, Louvain 1982, 38-46, 38 f verweist. 117 E. Junod, Polymorphie, 39; zitiert beispielsweise von P. J. Lalleman, Polymorphy of Christ, in: J. N.-Bremmer (Hg.), The Apocryphal Acts of John, Studies on the Apocryphal Acts of the Apostles, Kampen 1995, 97-118, 99 und P. Foster, Polymorphic Christology: Its Origins and Development in Early Christianity, JThS 58/ 2007, 66-99, 66. 118 G. Stroumsa, Polymorphie divine et transformations d’un mythogène: l’Apocryphon de Jean et ses sources, VC 35/ 1981, 412-434. 119 Lalleman, Polymorphy of Christ. 120 H. Garcia, La polymorphie du Christ. Remarques sur quelques définitions et sur de multiples enjeux, Apocrypha 10/ 1999, 16-55; ders., L’enfant vieillard, l’enfant aux cheveux blancs et le Christ polymorphe, RHPR 80/ 2000, 479-501; ders., La polymorphie du Sauveur gnostique. Une contribution à l’étude du gnosticisme ancien, Diss. Paris 2003. 121 J. R. Combs, A Walking, Talking Cross: The Polymorphic Christology of the Gospel of Peter, Early Christianity 5/ 2014, 198-219. 76 Claire Clivaz Dagegen ist das Verhältnis zwischen christologischer Polymorphie und der ntl. Literatur bisher kaum erforscht. Der wichtige Aufsatz von Paul Foster von 2007 mit einem Überblick zu nichtkanonischen und kanonischen Texten stellt eine Ausnahme dar. 122 Immerhin kann Bogdan Bucur in seiner in 2019 vorgelegten Monographie zu christophaner Exegese von einem anerkannten Forschungsthema ausgehen. 123 Eine klare Typisierung dessen, was als polymorphe Christologie bezeichnet wird, steht indes noch aus. Lalleman weist mit Recht darauf hin, dass „verschiedene Phänomene in frühchristlichen Texte voreilig als Polymorphie bezeichnet wurden, wo es eigentlich um Metamorphose geht.“ 124 Eine Klärung des Sachverhalts ist m. E. dadurch zu erreichen, dass kanonische und nichtkanonische Texte miteinander untersucht werden. Der Ausdruck ἐν ἑτέρᾳ μορφῇ in Mk 16,12, dem Garcia in seiner Dissertation immerhin eine Fußnote widmet, 125 spielt in Fosters Untersuchung eine Schlüsselrolle. Foster meint, dass „Darstellungen Jesu in mehreren Gestalten sowohl in doketischen wie in ,protoorthodoxen‘ Christologien verwendet werden, um die je eigene Auffassung von der Natur der Person Christi zu entwickeln.“ 126 Mit dieser neuen und kühnen Sicht 127 geht er über James Kelhoffer hinaus, der den Ausdruck ἐν ἑτέρᾳ μορφῇ in Mk 16,12 lediglich als „merkwürdige Aussage“ einordnet. 128 Nach Foster zeigt der Ausdruck „die zunehmende Bedeutung von Beschreibungen eines polymorphen Christus im Laufe des 2. Jh.s und später.“ 129 Es liegt nahe, von hier aus nach möglichen Hinweisen auf christologische Polymorphie zu fragen, die sich speziell auf Jesus als Kind beziehen. 122 Foster, Polymorphic Christology. 123 Vgl. B. Bucur, Scripture Re-envisioned. Christophanic Exegesis and the Making of a Christian Bible (The Bible in Ancient Christianity 13), Leiden 2019, 225-228; 254-256. 124 Lalleman, Polymorphy of Christ, 99. 125 Garcia, La polymorphie, 121 Anm. 344: „Mk 16,12 und der Ausdruck ἐν ἑτέρᾳ μορφῇ verweist an sich auf hellenistische mythologische Traditionen und ist mit Joh 20,15 in Verbindung zu bringen ( Joh 20,11-18 ist die genaue Parallele zu Mk 16,9-11). James A. Kelhoffers überaus gelehrtes Buch, Miracle and Mission […], bietet gleichwohl keinen Kommentar zum mythologischen Thema des Polymorphismus oder der Metamorphosen Christi (die andere Gestalt Jesu wird auf eine theologische und innerkanonische Erklärung des Geheimnisses von Jesu Inkognito vor den Jüngern in Emmaus reduziert).“ Mein Dank geht an Hughes Garcia, der mir seine bisher noch unpublizierte Dissertation zur Verfügung gestellt hat. 126 Foster, Polymorphic Christology, 66.99. 127 Christologische Polymorphie wurde oft als Phänomen angesehen, das erst recht spät in das christliche Denken eindrang. Jacques E. Ménard, Transfiguration et polymorphie chez Origène, in: Epektasis. Mélanges Daniélou, Paris 1972, 367-372 bei Lalleman, Polymorphy of Christ, 101 vermutet iranischen Einfluss auf Origines. 128 Kelhoffer, Miracle and Mission, 89. 129 Foster, Polymorphic Christology, 71. Mk 16 im Codex Bobbiensis 77 Foster verweist auf das Judasevangelium, wo Jesus, vor der Kreuzigung im Gespräch mit seinen Jüngern „als Kind“ erscheint (33,1.15-20). 130 Diese Lesart der Editio princeps wird allerdings in der zweiten Auflage durch drei Punkte ersetzt und in einer Anmerkung als sehr unsicher eingestuft. 131 In der gebotenen Vorsicht werden wir die Stelle also nicht als Beleg innerhalb unserer Diskussion werten. Foster nennt aber außerdem zwei Belege für Erscheinungen Jesu nach der Kreuzigung als alter Mann, als junger Mann und als Kind: In Acta Petri 21,29 gemäß dem Bericht einer alten Frau an Petrus, 132 und im Johannesapokryphon berichtet Johannes von einer Vision, in der Christus als Kind, als alter Mann und dann als ein junger Mann erscheint. 133 Wie Eric Junod in 1981 bemerkte, „gibt es gibt das Motiv der Polymorphie in verschiedenen Epochen, ein Motiv, das sowohl alt als auch sehr einfach ist, das sich als erfolgreich erweist und sich vor allem für vielfältige Kombinationen und Erweiterungen eignet.“ 134 Er vermutet den Ursprung des Motivs in Ägypten und sieht einen Zusammenhang zur Polymorphie des Sonnengottes Horus, der ebenfalls manchmal als Kind, als junger Mann oder als alter Mann erscheint, entsprechend den Stationen des täglichen Laufs der Sonne. 135 Von daher kann man einen ägyptisch-nordafrikanischen Hintergrund für Mk 15,35b in VL 1 annehmen, der Region also, die, wie bereits notiert, oft als Entstehungsort von VL 1 angenommen wird. Tatsächlich heißt es in Mk 15,35 (f. 38v): et quidam eorum qui aderant cum audissent aiebat ,helion uocat‘ („und einer von denen, die anwesend waren und hörten, sagte: ,er ruft 130 Vgl. die Diskussion bei Foster, Polymorphic Christology, 80-83. 131 R. Kasser/ M. Meyer/ G. Wurst (Hg.), The Gospel of Judas, Washington 2 2008, 30 Anm. 8: „Möglicherweise ,als Kind‘ oder ,eine Erscheinung‘ oder auch ,eine Decke‘. Die Bedeutung von ’nhrot ist unklar.“ 132 Vgl. M. Döhler (Hg.), Acta Petri. Text, Übersetzung und Kommentar zu den Actus Vercellenses (TU 171), Berlin 2018, 107: „Einige sagten: ,Wir sahen einen Alten, welche Gestalt er hatte, können wir dir nicht erzählen.‘ Andere aber: ,Einen jungen Mann‘, 〈wieder〉 andere aber sagten: ,Wir haben einen Knaben gesehen, der unsere Augen leicht berührte; so wurden unsere Augen geöffnet.‘ Petrus rühmte darauf den Herrn und sagte: Du alleiniger Herr und Gott, wieviele Münder brauchen wir, dich zu loben, damit wir dir gemäß deiner Barmherzigkeit danken können? Also, Brüder, wie ich euch kurz zuvor berichtet habe, größer ist unser beständiger Gott als unsere Gedanken, wie wir von den alten Witwen erfahren haben, die jeweils auf andere Weise den Herrn gesehen haben‘.“ 133 AJ II,2,1-II,2,12: „ich] sah im Licht [ein Kind] bei mir [stehen]. Während ich [es] anstarrte, [wurde] es wie ein alter Mann. Dann [änderte] er seine Erscheinung in die eines Dieners. Da war [nicht eine Vielheit] vor mir, sondern eine [Erscheinung mit] mehreren Gestalten im [Licht], und [die Gestalten] erschienen durcheinander und die [Erscheinung] hatte drei Gestalten.“ Zitiert aus M. Waldstein, Das Apokryphon des Johannes (NHC II,1; III,1; IV,1 und BG 2), in: H.-M. Schenke u. a. (Hg.), Nag Hammadi Deutsch (Studienausgabe), Berlin/ New York 2007, 74-123, 78. 134 Junod, Polymorphie, 41. 135 Junod, Polymorphie, 42. 78 Claire Clivaz Helion‘“). 136 Hougthon nimmt mit anderen Forschern an, dass „Helion, der Name des Sonnengottes, anstelle von Heliam in Mk 15,34 [richtig: 15,35, Anm. d. Vfn.] steht“. 137 Auch nach Larsen „hängt Jesus am Kreuz und ruft nach Helios, dem Sonnengott“. 138 Aber in VL 1 ist nicht direkt gesagt, dass Jesus am Kreuz Helios/ Helion anruft, sondern dass dies die Wahrnehmung aus der Beobachterperspektive ist. Dieser quidam („einer“) ist keiner von Jesu Begleitern. Er steht für eine in Ägypten verbreitete Meinung: Clemens von Alexandria erzählt, ein Grammatiker namens Alexarch habe sich als Repräsentation des Helion ausgegeben und der Arzt Menakrates habe sich den Namen Zeus beigelegt. 139 Zweifellos ist der Ruf Jesu am Kreuz nach Helios aus der Sicht eines ägyptischen quidam im 2. und 3. Jh. bedeutsam. Mk 15,35 bestätigt mithin die ägyptische Herkunft von VL 1 und, so Junod, denselben kulturellen Hintergrund auch für das Motiv der Polymorphie der drei Lebensalter. 140 Dieser Befund spricht dafür, dass die Schreiber von VL 1, sollten sie die Petrusakten und das Johannesapokryphon gekannt haben, der Phrase et-qui cum puero erant in der conclusio brevior einen entsprechenden Sinn beilegen konnten. Eindeutig steht puero in der HS, ebenso eindeutig wurde es von späterer Hand nicht korrigiert, und dementsprechend wird puero in unserer Transkription beibehalten (3.3). Aus der Perspektive einer Geschichte der Interpretation ist es wichtig, dieses besondere Detail in seinem spezifischen kuturellen Überlieferungszusammenhang nicht aus den Augen zu verlieren. (2) Kann von einer christologischen Polymorphie bereits in der Entstehungszeit von VL 1 ausgegangen werden, oder handelt es sich um einen schlichten Lesefehler, der der Kursivschrift der Vorlage geschuldet ist (Hoogterp)? Wenn es vorstellbar ist, dass die beiden Korrektoren cum puero als ein Echo christologischer Polymorphie aufgefasst haben, wie verhält es sich dann mit dem Schreiber von VL 1? Nach meinem Dafürhalten ist das nicht zu entscheiden, und die eine Möglichkeit muss die andere ja auch nicht ausschließen: Der Lesefehler kann dadurch begünstigt worden sein, dass der Schreiber in Kategorien christologischer Polymorphie dachte. Wir müssen die Frage also offen lassen. 136 Wordsworth u. a., Portions of the Gospels, 21. 137 Houghton, The Latin New Testament, 22. 138 Larsen, A Real-and-Imagined Biography, 111. 139 Protreptikos 4,54,3: „Und nicht nur Könige, sondern auch einfache Bürger pflegten sich mit göttlichen Namen zu schmücken, wie z.-B. der Arzt Menekrates, der den Beinamen Zeus hatte. Warum soll ich den Alexarchos erwähnen? Dieser war seines Zeichens ein Grammatiker, verwandelte sich aber, wie Aristos von Salamis erzählt, in Helios.“ Zitiert aus O. Stählin, Des Clemens von Alexandreia ausgewählte Schriften Bd.-1 (BKV 2. Reihe, Bd.-7), Kempten 1934, 45. 140 Auch Larsen, A Real-and-Imagined Biography, v. a. 116-120, votiert entschieden für einen nordafrikanischen Hintergrund von VL 1. Mk 16 im Codex Bobbiensis 79 (3) Kann mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, dass puero bereits in der Vorlage von VL 1 stand? Dafür, dass in der Vorlage nicht puero, sondern Petro stand (Hoogterp’s Vorschlag), gibt es meiner Meinung zufolge drei gewichtige Argumente. (a) Zwar ist Mk 16 in mehreren Varianten überliefert, doch gibt es im Unterschied zur Erwähnung der drei Lebensalter in ActPetr 21,29 oder AJ II,2,1-12 nirgends einen weiteren Anhaltspunkt im Text, der auf christologische Polymorphie deuten würde, zumal an den genannten Stellen, wie Junod anmerkt, die polymorphe Erscheinung den Zeugen rätselhaft erscheint. 141 Im kürzeren Mk-Schluss ist hiervon absolut nichts zu bemerken. (b) In allen anderen mir aktuell 142 zugänglichen Varianten des kürzeren Schlusses wird eindeutig und ausnahmslos Petrus genannt. Diese Beobachtung erhält zusätzliches Gewicht im Vergleich mit den Textvarianten am Anfang des Satzes in den unterschiedlichen alten Übersetzungen des kürzeren Schlusses, s. u. unter (4). Die stabile Überlieferung des Petrusnamens ist ein starkes Argument für seine Beibehaltung in der Edition der conclusio brevior in VL 1. (c) Der kürzere Schluss in k hat die Funktion eines endgültigen Abschlusses der Erzählung. Alles wird nun breviter dargestellt und es gibt keinerlei Raum mehr für Begebenheiten mit außergewöhnlichen Erscheinungen oder weitere Belehrungen. Diese drei Argumente legen es m. E. nahe, in der Edition cum Petro als Lesart vorzuschlagen, die höchstwahrscheinlich in der Vorlage von VL 1 und der vorangehenden Texttradition stand. (4) Wenn puero ein Lesefehler aus einer HS in Kursivschrift ist, ist dann auch et qui in eis qui zu ändern? Wie wir in 3.1 gesehen haben, wurde in der Forschung mit der Änderung von puero in Petro oft auch et qui in eis qui geändert, um eine Übereinstimmung mit dem Wortlaut des griechischen kürzeren Schlusses zu erreichen. 143 So versteht etwa Laurent die Aussage in k: „Die Frauen hätten die Nachricht den Jüngern überbracht“ 144 . Wenn wir aber et qui beibehalten, ist gesagt, dass die Leute des Petrus - qui cum Petro erant - einen kurzen Bericht 141 Junod, Polymorphie, 39: „Das Hauptmerkmal der Polymorphie besteht in der Paradoxie einer Einheit, die sich in mehreren Formen manifestiert; diese paradoxe Erscheinung verursacht in der Regel Probleme für die Person, die sie erlebt“. 142 Über den Wortlaut der von Metzger und- William F.- Macomber kollationierten äthiopischen HSS von Mk 16 wird erst die inzwischen begonnene Kooperation mit Damien Labadie (CNRS) Aufschluss geben. 143 Vgl Nestle-Aland 28 online: Πάντα δὲ τὰ παρηγγελμένα τοῖς περὶ τὸν Πέτρον συντόμως ἐξήγγειλαν. Μετὰ δὲ ταῦτα καὶ αὐτὸς ὁ Ἰησοῦς ἀπὸ ἀνατολῆς καὶ ἄχρι δύσεως ἐξαπέστειλεν δι‘ αὐτῶν τὸ ἱερὸν καὶ ἄφθαρτον κήρυγμα τῆς αἰωνίου σωτηρίας. ἀμήν. www.nestle-aland.com/ en/ read-na28-online/ text/ bibeltext/ lesen/ stelle/ 51/ 160001/ 169999/ . 144 Focant, Un silence, 343 (s. o., Ende Abschnitt 2.2). 80 Claire Clivaz von den erhaltenen Instruktionen geben. So hat etwa Tischendorf in puero korrigiert, jedoch et qui beibehalten (s. o. unter 3.3.). 145 Zunächst: Auch andere alte Übersetzungen belegen, dass die Begleiter des Petrus als Subjekte eines Berichts auftreten können. Während die griechischen Zeugen des kürzeren Schlusses eindeutig dem eis qui entsprechen, bieten die syrische Harklensis (615/ 616 n. Chr.) 146 und äthiopische HSS abweichende Lesarten. In der von Yohanna besorgten Edition und Übersetzung des kürzeren Schlusses der syrischen Harklensis heißt es: „Alle diese Dinge, die dem Haus des Petrus aufgetragen wurden, haben wir kurz wiedergegeben. Danach sendete Jesus selbst durch sie vom Osten bis in den Westen die heilige und unvergängliche Verkündigung der ewigen Erlösung. Am[en].“ 147 In dieser Version wurden die „Dinge“ dem „Haus des Petrus“ mitgeteilt, nicht der Gruppe von Frauen, und ein „Wir“ berichtet innerhalb der Erzählung davon. Von den Frauen verlautet nichts. In der äthiopischen Version heißt es: „Und alle Dinge, die er Petrus und seinen Leuten aufgetragen hatte, berichteten sie vollständig, und danach zeigte sich Jesus ihnen, und vom Aufgang der Sonne bis in den Westen sandte er sie, um die ewige Erlösung durch das heilige Evangelium zu verkündigen, das unzerstörbar ist.“ 148 In dieser Version sind Petrus und seine Begleiter die Berichtenden, entsprechend dem et qui in VL 1: Metzger vergleicht diesen äthiopischen kürzeren Schluss mit der griechischen Version und hält fest: „Da die maskuline Verbform […], sie berichteten vollständig‘ nicht zum zugehörigen Subjekt passt, d. h. den Frauen am Grab, erscheint das Verb in den HSS 31 und 57 in femininer Form. Ebenso wird in den HSS 31 und 35 das maskuline Suffix ,ihm‘ bei dem Wort, das hier mit ,die er aufgetragen hatte‘ übersetzt ist, in ,ihnen‘ (fem. pl.) geändert.“ 149 Mit anderen Worten: Die HSS 31, 35 und 57 haben den Text an die griechische Version angeglichen. Alle anderen von Metzger herangezogenen HSS nennen dagegen Perus und seine Leute als diejenigen, die berichten, entsprechend et qui in VL 1. Wenn es sich hier um eine alternative Tradition handelt, gibt es keinen Grund mit Metzger die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass „der ursprüngliche Übersetzer in das Äthiopische den ersten Satz des kürzeren Schlusses miss- 145 Tischendorf, Novum Testamentum, 320, Anm. 9-20, 1. 146 S. S. Yohanna, The Gospel of Mark in the Syriac Harklean Version. An Edition Based upon the Earliest Witnesses, Rom 2015, 5. 147 Yohanna, The Gospel of Mark in the Syriac Harklean Version, 93. 148 Metzger, The Ending, 1980, 135. 149 Metzger, The Ending, 136. Mk 16 im Codex Bobbiensis 81 verstanden hat“. 150 Bedauerlicherweise bezieht sich Metzger in seinem Aufsatz nicht auf den kürzeren Schluss in k, der die Beurteilung der äthiopischen Version in allen Einzelheiten ermöglicht hätte. Eine alternative Texttradition ist umso wahrscheinlicher, als die Harklensis ein „Wir“ als Subjekt des Berichts einführt. Während puero sich unter den Versionen des kürzeren Schlusses nur in VL 1 findet und als Lesefehler aus einer Vorlage in Kursivschrift erklärt werden kann, erfährt die Tradition, die die Leute des Petrus als Berichtende nennt - et qui cum Petro erant, Unterstützung aus anderen alten Übersetzungen. Zweitens spricht Mk 16,8 in VL 1 für das Szenario, dass die Frauen ihres Weges gingen, während „die bei Petrus waren“ eigenständig berichteten. Wie wir wissen, wird in 16,8 VL 1 nicht gesagt, dass die Frauen stumm geblieben seien. Der Text formuliert auf eigene Weise durch das autem astelle von καί am Anfang: „Illae autem cum exirent a monumento fugerunt“ (16,8a). 151 Der Jüngling gibt den Frauen einen Auftrag, aber sie flohen weg vom Grab. Wenn zu Recht das autem so verstanden und auch et qui auf dieser Sinnlinie gelesen wird, wäre erklärt, warum die Leute des Petrus alles ihnen Aufgetragene berichteten, omnia quaecumque praecepta erant. Die zweifache Rückkehr nach Galiläa, die der Frauen und des Petrus samt Begleitern, findet sich, wie Junod hervorhebt, auch in einem anderen Evangelienschluss, nämlich im Petrusevangelium, Kap. 54 und 58. Die Frauen kommen „nach Hause zurück“ (54), ohne von dem Jüngling am Grab mit dem Überbringen einer Nachricht beauftragt worden zu sein. Kap 57 erwähnt nichts von ihrem Schweigen, wie in VL 1 Mk 16,8b. Petrus und seine Begleiter sind betrübt (58.59), weil sie „noch nicht von der Auferstehung erfahren haben“. 152 Leider bricht der fragmentarische Text ab, als Petrus mit Andreas und Levi zum Fischen geht, wohl vor der Erscheinung Jesu. Interessanterweise heißt es in den letzten erhaltenen Zeilen „Wir, die zwölf Jünger“ und dann „Ich, Simon Petrus“. Die syrische Harklensis hat hier ebenfalls in „Wir“, wie oben angemerkt. Während das EvPetr und VL 1 in der Forschung wiederholt vergleichend untersucht wurden, 153 war der Vergleich speziell dieser doppelten Heimkehr - 150 Metzger, a.a.O. 151 Wordsworth u. a. (Hg.), Portions of the Gospels, 23. Wie in 3.1 bereits notiert kann das erste cum, vom ersten Korrektor durch Punkte getilgt, weggelassen werden (Vgl. 23, v.8, Anm. 2). 152 Vgl. E. Junod, Evangile de Pierre, in: F. Bovon/ P. Geoltrain (Hg.), Ecrits apocryphes chrétiens I (Pléiade 442), Paris 1997, 254 Anm. 59: „Wie die Frauen (s. Kap. 54) kehren die Jünger nach Hause, d. h. nach Galiläa, zurück, was ihren Zustand der Traurigkeit erklärt: Sie wissen noch nichts“. 153 Vgl. v. a. T. P. Henderson, The Gospel of Peter and Early Christian Apologetics. Rewriting the Story of Jesus’ Death, Burial, and Resurrection (WUNT II.301), Tübingen 2011, sowie Junod, Evangile de Pierre, 252 Anm. 35. Der Vergleich wird selbstredend auch das 82 Claire Clivaz einerseits der Frauen, andererseits des Petrus und seiner Leute - nach meiner Kenntnis bisher ein Desiderat, wobei EvPetr nicht nur mit et qui cum Petro erant in VL 1 übereinstimmt, sondern eben auch mit den äthiopischen und syrischen Versionen des kürzeren Schlusses. Hier besteht weiterer Forschungsbedarf (s. u. unter 4). Kurz gesagt: Nach alten Übersetzungen des kürzeren Schlusses sind die Leute des Petrus die Berichtenden. Dementsprechend behalte ich et qui in der Edition als Echo dieser alternativen Tradition bei. 154 Die Untersuchung unter 3.2. hat, so hoffe ich, gezeigt, warum eine Edition des kürzeren Schlusses in VL 1 et qui cum Petro erant anstatt et qui cum puero erant oder eis qui cum Petro erant bieten sollte. Das Hauptargument lautet, dass keine Version, in der die Begleiter diejenigen sind, die den Bericht geben, puero statt Petro enthält (Sollten im Fortgang des Projekts solche Textzeugen auftauchen, wäre selbstredend neu zu überlegen). Der folgende Teil bietet eine Transkription, eine annotierte Edition und eine Übersetzung des kürzeren Schluss in VL 1. 3.3 Die conclusio brevior in VL 1: Transkription und Edition. 3.3.1 Transkription Die von Mina Monier und mir besorgte Transkription ist auf der Website des MARK16-Projekts zugänglich (s. u.). Dabei haben wir uns so exakt wie möglich an der Fotografie von f. 41 f orientiert, die wir aus der Turiner Bibliothek erhalten haben. Als Grundlage diente uns die Transkription von Wordsworth u. a. Im September 2020 hatte ich die Gelegenheit, die HS im Original zu sehen. Die genannten Schritte haben zu unserer Transkription geführt; Anmerkungen s. u. unter 3.3.2 EvPetr und das MkEv insgesamt heranziehen. Für Henderson, The Gospel of Peter and Early Christian Apologetics, 230.233 ist „EvPetr 12,50-13,57 bei weitem der ,markinischste‘ Abschnitt dieses Evangeliums“, womit er sich zugleich von Köster abgrenzt, der das EvPetr in Abhängigkeit von einer vormk. Quelle sieht. C. H. Turner, The Gospel of Peter, JThS 14/ 1913, 161-187, 174 zieht in Betracht, dass das EvPetr „auf anderen Quellen fußt, v. a. auf dem verlorenen Mk-Schluss“. Henderson, 207 resümiert, dass „die Forschung mehrheitlich der Auffassung ist, dass die Ähnlichkeiten zwischen dem EvPetr, dem Codex Bobbiensis, dem Martyrium Jesajas und der Ascensio Jesajae in einer allen gemeinsamen Tradition zu suchen sind, wobei das EvPetr dieselbe am umfangreichsten bewahrt hat“. 154 So auch Houghton, The Latin New Testament, 161, zitiert in Abschnitt 1.2. Mk 16 im Codex Bobbiensis 83 VL 1, f. 41r 155 ; transcription by Mina Monier and Claire Clivaz, auf Grundlage der HS und der Edition von Wordsworth et al., S.-23; SNSF MARK16 CC-BY-4.0 3.3.2 Edition und Übersetzung Omnia autem quaecumque 156 praecepta erant et 157 qui 158 cum P[et]ro 159 erant breuiter exposuerunt posthaec et ipse Iesus adparuit et ab orientem 160 usque in 161 orientem 162 misit per illos sanctam et incorruptam [praedicationem] 163 salutis aeternae. Amen. 155 https: / / mr-mark16.sib.swiss/ show? id=Vkwx; Dank an Hugh Houghton für eine kritische Prüfung des Lateinischen. 156 Quaecumque hat hier keine besondere Bedeutung: „Seit Cicero wird quicumque als unbestimmtes Relativpronomen verwendet“ (Hoogterp, Etude sur le Latin, 163). 157 Das et meint augenscheinlich, dass die Frauen ihrerseits Bericht erstattet haben. Die Rolle der Frauen in Mk 16 VL 1 bedarf für ein angemessenes Verständnis weiterer Untersuchungen, namentlich im Blick auf 16,1 und die Ergängung zwischen 16,3 und 16,4 (Dank an Joel Marcus, der mich auf das Gewicht des et vor qui hingewiesen hat). 158 Zur Entscheidung et qui beizubehalten vgl. die Diskussion zu Frage 4 unter 3.2. 159 Zur Entscheidung puero durch Petro zu ersetzen vgl. die Diskussion zu Frage 3 unter 3.2. 160 Für ab orientem gibt Hoogterp, Etude sur le Latin, 110 Beispiele für einen Akkusativ nach a/ ab. 161 Hoogterp, Etude sur le Latin, 119. 162 Upton, Hearing Mark’s Endings, 192 versteht das (im MS unkorrigierte) doppelte usque als „Emphase durch Wiederholung“. Entsprechend behalte ich auch die Wiederholung von orientem bei, ersetze also nicht das zweite durch das logisch geforderte occidentem. Gemeint ist: Die ganze Welt empfängt die Predigt der ewigen Erlösung. Für Hoogterp, Etude sur le Latin, 9 ist das zweite usque eine Dittographie. Beide Sichtweisen schließen einander nicht aus. 163 As Wordworth et al. have already noted, the letters -dicationis should have been preceeded by -dicationem (Wordsworth et al. [eds.], Portions of the Gospels, p.-23, footnote on 9). 84 Claire Clivaz Alle übermittelten Weisungen aber legten auch die, die mit Petrus waren, kurz aus; und danach erschien Jesus selbst und sandte durch sie die heilige und unvergängliche Predigt des ewigen Heils vom Osten zum Osten. Amen. 4 Ergebnis Ziel dieses Beitrags war zu zeigen, dass Codex k bzw. VL 1 ein wichtiger Teil des Rätsels ist, das der Schluss des MkEv in den Handschriften des 4. Jh.s aufgibt, gleichen Ranges mit GA 01 und GA 03. Der Codex bedarf als Kopie einer Vorlage aus dem 3. Jh., mithin einer frühen Stimme unter den alten Textzeugen des NT, eingehender Forschungen. Die Phrase et qui cum puero erant war eine eigene Untersuchung wert: Sie ist in VL 1 in klarer Schrift geschrieben und wurde auch von späteren Korrektoren nicht angetastet. Für (den Schreiber und) die Korrektoren von VL hatte sie eine Bedeutung. In der Transkription wurde sie dementsprechend beibehalten. Die Diskussion unter 3.2 hat aber ergeben, dass die Vorlage sehr wahrscheinlich et qui cum Petro erant enthielt, wie auch ausnahmslos alle anderen Versionen des kürzeren Schlusses „Petrus“ enthalten. Dieser Faktor ist umso wichtiger, als äthiopische und syrische Versionen darin alternative Lesarten bieten, dass sie wie VL 1 den Bericht über empfangene Instruktionen den Leuten des Petrus zuschreiben - et qui. Außerdem hat der kürzere Schluss in VL 1 die Funktion eines definitiven Erzählabschlusses (breviter), der nur noch kurze Formulierungen zulässt und keinen Raum für weitere Erzählmotive wie etwa wunderbare Erscheinungen oder weitere Unterweisungen bietet. Deshalb wurde der Knabe in der Edition durch Petrus ersetzt. Die wichtigste Besonderheit des kürzeren Schlusses in VL 1 besteht am Ende darin, dass „die mit Petrus waren“ von Instruktionen durch Jesus berichten, und zwar „kurz“ (breviter), während die Frauen vom Grab geflüchtet sind, ohne dass von ihrem Verstummen die Rede ist (16,8b). Ein Vergleich des hier vorausgesetzten zweifachen, voneinander unabhängigen Aufbruchs von Jerusalem mit der Darstellung am Ende des EvPetr bietet sich an. Von hier aus können weitere Gemeinsamkeiten, die zwischen beiden Texten bestehen, untersucht werden, etwa das Fehlen der Namen der Maria, Mutter des Jakobus, und der Salome in 16,1 und EvPetr 50 oder das Fehlen der Notiz über das Schweigen der Frauen in 16,6b und EvPetr 57. Zu untersuchen ist auch das Verhältnis des zwischen 16,3 und 16,4 eingeschobene Verses zu EvPetr 35-44 wie auch zum Evangelium nach Bartholomäus I,6-9. 164 Die sehr alte alternative Tradition eines Berichts durch 164 D. W. Palmer, The origin, form and purpose of Mark XVI,4 in Codex Bobbiensis, JThS 27/ 1976, 113-122, 122. Mk 16 im Codex Bobbiensis 85 die Leute des Petrus, auf die wir in lateinischen, äthiopischen und syrischen Versionen des kürzeren Schlusses gestoßen sind, ist für ein besseres Verständnis dessen, worum es in den unterschiedlichen Versionen des Schlusspassagen des MkEv bis zum 4. Jh. geht, von großer Bedeutung. Die Arbeit geht also weiter. Kontroverse Markus: Autor oder Erinnerungsfigur? Einleitung in die Kontroverse Manuel Vogel Arbeitstitel für die vorliegende Kontroverse war: „Das Markusevangelium: Gedächtnisspur oder historische Quelle? “ Im Zuge der Vorgespräche mit den Autorinnen zeigte sich aber, dass die anfangs formulierte Alternative beiden Positionen, die nun im kontroversen Gespräch zur Darstellung kommen, nicht gerecht wurde. Denn einerseits wird die Frage nach dem Autor Markus in einem historisch identifizierbaren Kontext der antiken Literaturgeschichte (Eve-Marie Becker) in voller Kenntnis der reichhaltigen text- und kulturwissenschaftlichen Erträge der neueren Markus-Forschung gestellt. Und andererseits macht auch die Erforschung des Markusevangeliums als Erinnerungstext (Sandra Huebenthal) ein genuin historisches Interesse geltend, sofern eine Lektüre, die im Paradigma der Erinnerung die Funktion des Markusevangeliums im Prozess frühchristlicher Identitätsbildung erforscht, die Frage nach dem Entstehungsmilieu des Textes als historische Frage für unverzichtbar ansieht. Hier besteht im Grundsatz Einigkeit zwischen beiden Positionen. Deshalb würden auch die Gegensätze „historisch/ ahistorisch“ oder (methodologisch) „diachron/ synchron“ nicht verfangen. Wo liegt also der Dissens? Er liegt in der Frage nach Begriff und Bedeutung des „Autors“ für das Verständnis des Markusevangeliums. Während es für Eve- Marie Becker an der Zeit ist, die Frage nach dem Autor als einer textexternen, Zeitschrift für Neues Testament 24. Jahrgang (2021) Heft 47 88 Manuel Vogel historisch zu erforschenden Größe neu zu stellen, macht Sandra Huebenthal geltend, dass es einen „Markus“ bis ins zweite Jh. gar nicht gegeben hat, der Text selbst sich also gegen ein wie auch immer zu bestimmendes Autor-Konzept sträubt. Oder gehört sogar das Verwischen der eigenen Spuren noch zur Genialität einer Autorenpersönlichkeit, die als solche zu würdigen ist? Und wie verhält es sich mit der „Theologie“ dieses Evangeliums, die, je mehr wir ihren narrativen Finessen auf die Spur kommen, unwillkürlich nach einem „Kopf“ ruft, dem wir sie zuschreiben können? Aber woher kommt eigentlich der Reflex, einen Text wie das Markusevangelium „jemandem“ als „geistiges Eigentum“ zuzuschreiben? Möglicherweise von einer unguten Mischung aus Genieästhetik und Besitzdenken? Und wäre diese gar ein Grund für die Abneigung gegen den text- und kulturwissenschaftlich verordneten Verzicht auf das Autorkonzept und den Widerwillen gegen das Programm, etwaige Verfasserinnen und Verfasser (nun problemlos auch im Plural und unter Einschluss möglicher weiblicher Personen) ganz auf die Entstehungsverhältnisse hin transparent zu machen, aus denen heraus und in die hinein sie literarisch gewirkt haben? Oder geht es darum, das intuitive und legitime Bedürfnis, individuelle Geistesleitungen als solche zu benennen und zu bewundern, gegen egalitäre Gleichmacherei zu verteidigen? Spätestens hier wird es ziemlich grundsätzlich, und außerdem ließe sich das Spiel des Fragestellens in Rede und Gegenrede noch lange fortsetzen, was nicht nur für den Sachgehalt beider Teile der vorliegenden Kontroverse spricht, sondern nicht zuletzt auch für das Markusevangelium selbst. Der Stab sei also ohne weitere Worte an die Autorinnen dieser Kontroverse weitergereicht. Und Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, wünschen wir eine anregende Lektüre! Das Markusevangelium als Gründungsgeschichte verstehen Oder: Wie liest sich das älteste Evangelium als Erinnerungstext? Sandra Huebenthal 1. Historiographie vs. Erinnerungstext: Zwei Hermeneutiken im Vergleich Das Markusevangelium ist für Eve-Marie Becker eine Sonderform frühkaiserzeitlicher historiographischer Prosaliteratur und auf diesem literaturhistorischen Hintergrund eine Gattung sui generis. Deren Autor, von der exegetischen Forschung der vergangenen 200 Jahre eher stiefmütterlich behandelt, wird als eigenständige Autorenpersönlichkeit, individueller Schöpfer von Literatur und Historiograph vorgestellt. Die Leerstelle „Markus“ zu füllen sei deshalb notwendig, weil die Kenntnis des Autors in neuzeitlicher Hermeneutik eine Schlüsselkategorie für das Verstehen eines literarischen Werkes ist. 1 Dieser Ansatz beruft sich auch auf die Hermeneutik Schleiermachers, nach der es für das Verständnis eines Textes als essentiell ist, sich empathisch in den Autor hineinzuversetzen. Damit ist nicht gesagt, dass die Autorintention der einzige Maßstab für die Interpretation eines Textes sein muss; vielmehr geht es darum, den Gefühlen des Autors nachzuspüren und seine Erfahrungen nachzuempfinden. Interessanterweise hat Friedrich Schleiermacher selbst kaum der Autorpersönlichkeit des Markus nachgespürt, sondern vor allem dem Selbstverständnis Jesu. Offensichtlich hat Schleiermacher das Markusevangelium nicht als eigenständiges literarisches Werk, sondern als Teil der kanonisierten christlichen Traditionsliteratur verstanden, und damit, wie Jan Assmann sagen würde, als Teil des kulturellen Gedächtnisses, das seine christliche Identität prägte. 2 Um in die Nachfolge Christi und damit in die Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft 1 Ich verweise auf die im Beitrag von E.-M. Becker genannten einschlägigen Arbeiten. 2 J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 5 2005, 48-66. 90 Sandra Huebenthal der Christen eintreten zu können, erschien es ihm wichtiger, sich in Jesus hineinzuversetzen als in Markus, der nur ein weiteres Mitglied dieser Gemeinschaft ist. In der Postmoderne haben sich die hermeneutischen Spielregeln gegenüber der Neuzeit wiederum verändert. Spätestens seitdem Roland Barthes den „Tod des Autors“ proklamiert und Paul Ricœur festgehalten hat, dass jedes Textverstehen ein Selbst-Verstehen vor dem Text ist, 3 geht es nicht mehr darum, einen Autor zu verstehen, sondern die im Text versprachlichten Erfahrungen. Anders formuliert: Nicht die Person des Markus und ihre Erfahrungen sind in dieser Hermeneutik der Schlüssel zur fruchtbaren Lektüre des Evangeliums, das unter seinem Namen überliefert ist; der Schlüssel liegt vielmehr im Verständnis der in diesem Text beschriebenen Erfahrungen und in der Möglichkeit, mit eigenen Erfahrungen an sie anzuknüpfen. Die folgenden Argumente sollen zeigen, dass ich das Markusevangelium ebenfalls als historische Quelle lese. Dabei geht es mir nicht darum, herauszufinden, wer oder wie der Autor ist, um durch emotionale Einfühlung in den Autor im Sinne Schleiermachers den Text zu verstehen; vielmehr geht es darum, die Pragmatik des Textes zu verstehen, von welchen Erfahrungen und in welchen Kontext hinein er spricht - und welche Identitätsangebote er macht. Mein Blick richtet sich also in erster Linie auf den Text und seinen Kontext und zu deren Erschließung verwende ich andere Werkzeuge als die historisch-kritische Exegese. Werfen wir zunächst einen Blick in den Werkzeugkasten: Um das Markusevangelium zu verstehen und auszulegen, verwende ich einen hermeneutischen Zugang, der auf den Erkenntnissen kulturwissenschaftlicher Gedächtnistheorie aufbaut. 4 Vor der Lektüre des eigentlichen Textes stehen daher Vorüberlegungen dazu, wie Gruppen erinnern und Erinnerungen weitergeben und wie Identitätsentwürfe und Identitätsvergewisserung in Gruppen vor sich gehen. 3 Vgl. R. Barthes, Der Tod des Autors in: F. Jannidis/ G. Lauer/ M. Martinez/ S. Winko (Hg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Reclam, Stuttgart 2000, S.- 185-193; und P. Ricœur, Philosophische und Theologische Hermeneutik in: P. Ricœur/ E. Jüngel, Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache, EvTh 74/ 1974, 24-34. 4 Dieser Zugang wird ausführlich beschrieben in S. Huebenthal, Das Markusevangelium als kollektives Gedächtnis (FRLANT 253), Göttingen 2 2018; dies., „Frozen Moments“ - Early Christianity through the Lens of Social Memory Theory, in: S. Butticaz/ E. Norelli (Hg.), Memory and Memories in Early Christianity (WUNT I 398), Tübingen 2018, 17-43. Für einen ersten Überblick empfiehlt sich: dies., Erinnerung/ Gedächtnis in: WiBiLex: www.bibelwissenschaft.de/ stichwort/ 48895 (2020). Das Markusevangelium als Gründungsgeschichte verstehen 91 2. Neutestamentliche Texte als Erinnerungstexte: die grundlegenden Annahmen Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass Erzählen eine anthropologische Konstante ist. Mit Max Frisch lässt sich sagen, dass Menschen Erfahrungen gemacht haben und nun die Geschichten zu ihren Erfahrungen suchen. 5 Das trifft auf einzelne Menschen ebenso zu wie auf Gruppen, die Erfahrungen teilen oder ihre Gemeinschaft auf Erfahrungen zurückführen. Solche verbindenden Erfahrungen werden zu gemeinsamen Erfahrungen und zu einem Erfahrungsfundament, auf dem die gemeinsame Geschichte - auch die gemeinsame Geschichte mit Gott - aufbaut. Die Bibel als Bestandteil des gemeinsamen kulturellen Gedächtnisses der Christen bewahrt solche Erfahrungsfundamente in Form von Gründungsgeschichten oder fundierenden Erzählungen für künftige Generationen. Beobachtungen aus kulturwissenschaftlicher Forschung, Mündlichkeitsforschung, historischer Psychologie und anderen Disziplinen bilden die Grundlage dafür, wie ich die Genese des Markustextes verstehe. Dabei gehe ich davon aus, dass sich die sozialen Prozesse der Kommunikation, Interaktion und Aushandlung von Erinnerungen und Interpretationen, die im Umfeld der Entstehung des Markusevangeliums vor sich gehen, nicht von den sozialen Prozessen anderer Gruppen unterscheiden. Anders gesagt: Die Mechanismen, die in Erinnerungsgemeinschaften zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten beobachtet wurden, gelten auch für die Gruppe(n), in deren Kontext das Markusevangelium entstanden ist. 5 M. Frisch, Mein Name sei Gantenbein. Frankfurt am Main 28 2000, 8-11. Das Originalzitat lautet: „Ein Mann hat eine Erfahrung gemacht und jetzt sucht er die Geschichte seiner Erfahrung. (…) Man kann nicht leben mit einer Erfahrung, die ohne Geschichte bleibt“. Prof. Dr. Sandra Huebenthal studierte Katholische Theologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen/ Frankfurt sowie am Milltown Institute in Dublin und wurde 2005 in Frankfurt promoviert. 2010-2013 wurde sie von der DFG mit einer eigenen Stelle an der Universität Tübingen gefördert, wo sie sich 2013 habilitierte. Nach Vertretungen an den Universitäten Basel und St. Andrews lehrt sie seit 2015 am Department für Katholische Theologie der Universität Passau. Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind die Themenbereiche Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorie und frühchristliche Identitätskonstruktion, Bibel und Wirtschaft, Biblische Methodik und Hermeneutik sowie Hochschuldidaktik. 92 Sandra Huebenthal Ich gehe außerdem davon aus, dass ein Text, der die fundierenden Ereignisse beschreibt, aus denen eine Erinnerungsgemeinschaft ihr Selbstverständnis bezieht, nicht einfach von außen an diese Gruppe herangetragen werden kann. Damit sich eine Gruppe einen Text, der ihre Gründungsereignisse erzählt, zu eigen macht, muss dieser Text sozial akzeptiert werden. Es braucht einen Aushandlungsprozess, damit die Geschichte so erzählt wird, wie die Gruppe sie jetzt erlebt und nicht, wie sie lediglich von einer Einzelperson verstanden wird. Auch für gemeinsame Erinnerungen an Gründungsereignisse gilt, dass die Wahrheit eine soziale Übereinkunft ist. Die kulturwissenschaftliche Forschung hat erkannt, dass Traditionen, zu denen es keine lebendige Verbindung mehr gibt, verschwinden, und dass an deren Stelle neue Traditionen in die Vollzüge einer Gruppe integriert werden. Das bedeutet auch, dass sich die Wahrnehmung der fundierenden Ereignisse im Laufe der Zeit verändern kann. Dabei ist der Abstand zu den Gründungsereignissen ebenso entscheidend wie die Gruppenzusammensetzung, die sich im Laufe der Zeit ebenfalls verändern kann. Eine besondere Rolle spielen bei der Weitergabe von Gruppenerinnerungen und -traditionen über mehrere Generationen hinweg Momente der Krise. Typische Krisenerfahrungen sind Generationenwechsel; insbesondere mit dem Ausscheiden der Gründungsgeneration wächst gewöhnlich der Wunsch, das Gruppengedächtnis zu fixieren und zentrale Punkte für die Zukunft festzuhalten. Ähnliches gilt für die Bedrohung oder den Verlust des Heimatkontextes, sei es durch Krieg, Vertreibung oder durch Systemwechsel. Krisen führen außerdem oft zu Veränderungen in den Gedächtnis- und Kommunikationsmedien. Dass diese Ideen nicht neu sind, zeigt ein Blick auf die frühe Kirche. So hält Euseb als Grund für die Verschriftlichung des Matthäusevangeliums fest: Matthäus, der zunächst unter den Hebräern gepredigt hatte, schrieb, als er auch noch zu anderen Völkern gehen wollte, das von ihm verkündete Evangelium in seiner Muttersprache; denn er suchte denen, von welchen er schied, durch die Schrift das zu ersetzen, was sie durch sein Fortgehen verloren (h.e. III,24). Ähnliches findet sich auch für Markus, wenn Euseb von den Zuhörern des Petrus sagt, sie wollten von der Lehre seiner göttlichen Predigt auch Aufzeichnungen besitzen. Daher wandten sie sich mit verschiedenen Bitten an Markus, den Verfasser des Evangeliums, den Begleiter des Petrus, er möchte ihnen schriftliche Erinnerungen an die mündlich vorgetragene Lehre hinterlassen (h.e. II,15). Es gilt außerdem, dass alles, was nach drei Generationen noch nicht in irgendeiner Form fixiert ist - sei es durch einen Text, ein Ritual oder ein Bild - in den nächsten Jahrzehnten unwiederbringlich verloren gehen wird. Insofern ha- Das Markusevangelium als Gründungsgeschichte verstehen 93 ben Gruppen ein Interesse daran, ihren Blick auf die Ereignisse, die sie geprägt haben und die ihr Selbstverständnis bestimmen, zu fixieren. Eine Form der erfolgreichen Fixierung ist eine Gründungserzählung. Ein solcher Text hält nicht nur Ereignisse fest, die zentral für das Selbstverständnis einer Gruppe sind, sondern inkludiert auch die Deutung dieser Ereignisse und gibt damit Auskunft über das Selbstverständnis der Gruppe. Die Auswahl der Geschichten und die Art und Weise, wie sie erzählt werden, lässt durchblicken, wie die Gruppe, die sie erzählt, sich selbst versteht. Auch dieser Vorgang ist generisch und lässt sich daher auch noch heute beobachten. Wann immer man in eine noch unbekannte Gruppe kommt, empfiehlt es sich, genau zuzuhören, denn mit den Geschichten, die diese Gruppe (mit)teilt, erzählt sie auch etwas über ihr Selbstverständnis. Ich gehe davon aus, dass die gleichen Mechanismen auch in den Gruppen früher Jesusnachfolger wirksam waren. Dabei bedienen sich diese Gruppen wie andere Gruppen, Familien und Interpretationsgemeinschaften der in ihrem kulturellen Kontext vorhandenen Motive und Formen. Die Art und Weise, wie eine Geschichte erzählt wird, aber auch, welche kulturellen Rahmungen zur Deutung herangezogen werden, sagt eine Menge über die jeweilige Gruppe und ihren (historischen) Kontext. Wenn, wie Eve-Marie Becker annimmt, in der Zeit der Entstehung des Markusevangeliums mit der Profilierung flavischer Literatur eine bestimmte Textgattung besondere Konjunktur hatte, 6 dann liegt es nahe, dass die Jesusnachfolger dieses Genre kannten, womöglich als Kommunikationsform nutzten und damit inhaltlich wie medial an einen vorhandenen Diskurs anknüpften. Das ist heute nicht anders: Wer die Generation der 85-jährigen erreichen will, wird nicht twittern und wer mit 25-jährigen ins Gespräch kommen möchte, wird es nicht mit einer Postwurfsendung oder mit dem Festnetz versuchen. 3. Das Markusevangelium als Gründungsgeschichte von und für Jesusnachfolger Die Erkenntnis, die dem hier dargestellten Ansatz zugrunde liegt, ist die, dass die Erinnerungsgemeinschaft(en), in deren Kontext das Markusevangelium ent- 6 So T. Baier, „Quintilian’s approach to literary history via imitatio and utilitas“, in: The Literary Genres in the Flavian Age. Canons, Transformations, Reception (ed. by F. Bessone/ M. Fucecchi; Trands in Classics Supplementary Vol. 51; Berlin/ Boston: Walter de Gruyter, 2017), 47-61, vgl. auch die Ausführungen in Becker, E.-M, The Birth of Christian History: Memory and Time from Mark to Luke-Acts (AYBRL; New Haven: Yale University Press, 2017); und dies., Der früheste Evangelist. Studien zum Markusevangelium (WUNT 380; Tübingen: Mohr Siebeck, 2017) 94 Sandra Huebenthal stand, nicht anders strukturiert waren als andere Gruppen und dass bei der Aushandlung von ( Jesus-)Erinnerungen dieselben sozialen Mechanismen wirksam waren, wie in anderen Gruppen auch. Damit ist eine wichtige Vorentscheidung getroffen: Wenn das Markusevangelium im Kontext einer Gruppe entstand und Entwurf einer Gründungsgeschichte ist, dann muss es von dieser Gruppe akzeptiert worden sein. Damit ist nicht gesagt, dass nicht eine Autorpersönlichkeit diese Geschichte komponiert und verschriftlicht haben könnte, doch der Spielraum dieser Autorenpersönlichkeit wäre dadurch begrenzt, dass sich der Gruppenkonsens in der Geschichte wiederfinden muss. Eine Deutung oder Wendung im Text, die dem Erinnerungsgut oder Selbstverständnis der Gruppe widerspricht, hat es schwer, akzeptiert zu werden. Der Autor Markus erschafft also nicht selbst narrative Erinnerungen, sondern trägt dazu bei, ein vorhandenes kollektives Gedächtnis zu externalisieren, indem er es in ein anderes Medium überführt. 7 Das Markusevangelium wird demnach kaum in einer einsamen Studierstube entstanden sein, in der ein Autor unterschiedliche Traditionen zusammengetragen und in eine plausible Chronologie und erzählerische Choreographie gebracht hat; entscheidend sind vielmehr das Selbstverständnis, die Erfahrungen und der Konsens einer konkreten Erinnerungsgemeinschaft. Das schließt keineswegs aus, dass es sich beim Markusevangelium um Autorenliteratur handeln könnte, die unabhängig von der Erinnerungs- und Rezeptionsgemeinschaft entstanden ist, und von ihr aufgenommen und weitertradiert wurde. Bei einem solchen Textmodell muss allerdings erklärt werden, wie der Text zu den Rezipienten kam und auf welche Weise er in die Gruppe(n) eingeführt wurde. Das Markusevangelium wird also in einer kulturwissenschaftlich-gedächtnistheoretischen Hermeneutik verstanden als Gründungsgeschichte einer Gruppe von Jesusnachfolgern. In diesem Text werden einerseits die Erfahrungen mit Jesus und seiner Botschaft theologisch reflektiert und gedeutet und andererseits ein Entwurf für eine Identität als Nachfolgegemeinschaft kommuniziert. Dass dabei Quellen und Traditionen verarbeitet werden, liegt in der Natur der Sache. Indem das Markusevangelium ein bestimmtes Jesusbild zeigt, grenzt es sich von anderen Entwürfen ab: Die Entscheidung für eine Deutung der Passion Jesu ist immer auch eine Entscheidung gegen andere Perspektiven und Entwürfe. 7 In diesem Punkt unterscheidet sich mein Ansatz von Eve-Marie Beckers Konzeption einer literary memory, vgl. E.-M. Becker, Shaping Identity by Writing History: Earliest Christianity in its Making, RRE 2/ 2016, 152-169. Das Markusevangelium als Gründungsgeschichte verstehen 95 4. Erinnerungstexte und Fragen der Zuordnung zu Textgattungen Im Gefolge der Formgeschichte ist es in der Bibelwissenschaft üblich, vor der Auslegung von Texten die Frage nach der Gattung zu stellen und einen Text oder eine Textsequenz einer bestimmten Gattung zuzuordnen. Die Gattungszuordnung ist konstitutiv für das Verständnis des Textes. Das betrifft Makrogattungen wie „Erzählung“ oder „Brief“ ebenso wie Mikrogattungen wie „Gleichnis“ oder „Wundererzählung“. Neben den Gattungen spielen auch literarische Genres wie „Historiographie“ oder „Biosliteratur“ eine wichtige Rolle. Dieses Vorgehen ist Teil der historisch-kritischen Analyse und kann durchaus innerhalb des formalistischen Paradigmas in der Literaturtheorie verortet werden. 8 Entscheidend ist, dass die hermeneutischen Voraussetzungen, die Formgeschichte und literaturwissenschaftlicher Formalismus teilen, auf Erinnerungstexte in dieser Form nicht angewandt werden können. Wird das Markusevangelium als Gründungsgeschichte verstanden, dann ist das insofern keine Genrezuordnung als die gängigen Genrebezeichnungen auf Autorenliteratur zugeschnitten sind und sich mit externalisierten Erinnerungstexten im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit schwertun, die mit Begriffen wie „Tradition“ oder „Mythos“ bezeichnet und vom historiographischen Diskurs abgegrenzt werden. 9 David M. Litwa fasst zusammen, was einer Erweiterung des Spektrums an Gattungen um Erinnerungstexte im Wege steht: „‚History‘, among its various meanings, tends to designate our story, the story that we believe, that we allow to shape our identity. ‚Myth‘, on the other hand, refers to their story, the story of other people that our community may consider strange, wrongheaded, or implausible.“ Wenn diese hermeneutische Barriere erkannt wird, 10 erschließt sich leichter, warum Erinnerungstexte quer zu gängigen Gattungs- und Genredefinitionen stehen und dass die Zuschreibung „Erinnerungstext“ eine neue Perspektive bieten kann. Wird ein Text als Erinnerungstext verstanden, dann lässt sich durchaus fragen, welchem Genre er zugeordnet werden kann und welche Mikrogattungen er aufnimmt. Das Verständnis dieses Textes entscheidet sich aber nicht an dieser Zuordnung. 8 Vgl. M. B. Dinkler, Literary Theory and the New Testament, New Haven 2019, 42-70. 9 Vgl. D. M. Litwa, How the Gospels became History. Jesus and Mediterranean Myths, New Haven 2019, 218-219. 10 Vgl. hierzu die Ausführungen von W. Kelber, Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte, ZNT 22/ 2019, Heft 43/ 44, 79-143. 96 Sandra Huebenthal Ein Ausweg aus diesem Dilemma könnte es sein, Genre nicht als einen Aspekt des Endproduktes zu verstehen, das nur noch einer Kategorie zugeordnet werden muss, sondern als eine bestimmte Form eines Kommunikationsprozesses. Die Frage lautet dann nicht mehr, wie Michal Beth Dinkler es formuliert, was ein Evangelium ist, sondern wie ein Evangelium qua Genre kommuniziert. 11 Genres werden in dieser Sichtweise verstanden als Teile der kulturellen Referenzrahmen, mit denen ein neutestamentlicher Text interagiert und auf die er zurückgreifen kann. Dann stellt sich die Frage: Werden Ereignisse und Erfahrungen in vorhandene Referenzrahmen einsortiert oder werden neue Referenzrahmen für das Verständnis der Ereignisse und Erfahrungen angeboten? Diese Unterscheidung macht im Anschluss an Maurice Halbwachs den Unterschied zwischen sozialem und kollektivem Gedächtnis aus. 12 Interessant wird es, wenn durch Vergleichstexte rekonstruiert werden kann, wie sich kulturelle Referenzrahmen weiterentwickeln und ab wann ein „neuer“ Referenzrahmen zum Traditionsgut einer Gruppe gehört. Anhand solcher Prozesse können außerdem Rückschlüsse auf den zeitlichen Abstand zwischen Erinnerungstexten und den in ihnen beschriebenen Ereignissen gezogen werden. Damit lassen sich die Texte zwar nicht exakt datieren, doch eine Einschätzung, ob man zwanzig, vierzig, sechzig, achtzig oder noch mehr Jahre von den fundierenden Ereignissen entfernt ist, ist möglich und realistisch. Das heißt auch, dass die Ergebnisse einer kulturwissenschaftlich-gedächtnistheoretischen Untersuchung ein Gesprächsangebot für Einleitungswissenschaft und Exegese sein können, wenn es um Datierungsfragen geht. Im Falle des Markusevangeliums kann das beispielsweise eine Auseinandersetzung mit der sog. Flavierthese sein. 13 5. Erinnerungstexte sind Momentaufnahmen Als Erinnerungstexte verstanden, sind die neutestamentlichen Schriften Momentaufnahmen im Prozess der Identitätsbildung und Identitätsvergewisserung der ersten Generationen der Jesusnachfolger. Die Fragen „Wie lassen sich die 11 M. B. Dinkler, What is a Genre? Contemporary Genre Theory and the Gospels, in: D. P. Moessner/ M. Calhoun/ T. Nicklas (Hg.), The Gospel and Ancient Literary Criticism. Continuing the Debate on Gospel Genre(s) (WUNT I 451), Tübingen 2020, 77-96. 12 Grundgelegt in den Werken M. Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, 1925 und ders., Das kollektive Gedächtnis, 1949/ 50. Vgl. auch Huebenthal, Markusevangelium als kollektives Gedächtnis, 126-131. 13 Vgl. hierzu S. Huebenthal, Anti-Gospel revisited, in: J. Synder/ K. Zamfir (Hg.), Reading the ‚Political‘ in Jewish and Christian Texts. Biblical Tools and Studies 38, Leuven 2020, 137-158. Das Markusevangelium als Gründungsgeschichte verstehen 97 Erfahrungen, die für unser Selbstverständnis entscheidend sind, verstehen und einordnen? “ und „Wer sind wir aufgrund dieser Erfahrungen geworden und wer wollen wir sein? “ stehen im Vordergrund. Auch die Frage „Was ist da eigentlich genau passiert? “ wird nicht in Bezug auf historische Korrektheit, sondern in Bezug auf das Selbstverständnis der Gruppe beantwortet. Anders formuliert: Wenn man das Markusevangelium als Gedächtnistext versteht, geht es nicht darum, wer Jesus in der Vergangenheit war, sondern wer Jesus für diese konkrete Gruppe in ihrer Gegenwart ist. Dieses Verständnis der neutestamentlichen Texte als Momentaufnahmen erlaubt es auch, unterschiedliche Ausprägungen von Gruppenidentitäten zu erkennen, voneinander abzugrenzen und miteinander zu vergleichen. Dass die Form, in der dieser Text vorliegt, mit literarischen Formen und Strömungen seiner Zeit interagiert, ist selbstverständlich. Ob er einer bestimmten Gattung oder einem bestimmten Genre zugeordnet werden kann, ist für das Verständnis des Textes aber zweitrangig. Ich habe an anderer Stelle formuliert, dass das Markusevangelium unbeabsichtigt das erfunden haben könnte, was später als eigene literarische Gattung verstanden wurde: das Evangelium. 14 Wer neutestamentliche Texte als Erinnerungstexte versteht, kann Facetten dieser Texte erkennen, die in der fachexegetischen Diskussion kaum in den Blick genommen werden. Auf den ersten Blick handelt es sich um eine Lektüre des Endtextes mit synchroner Methodik: Sie arbeitet narratologisch, analysiert literarische Motive, Aufnahmen anderer Texte sowie Kommunikationsebenen im Text und interessiert sich besonders für seine Pragmatik. Diese punktuellen Erkenntnisse verbindet sie und versucht eine Linie zu ziehen zu der Erinnerungsgemeinschaft hinter dem Text. Der Begriff „Momentaufnahme“ bedeutet aber auch, dass der Text als Teil eines Prozesses verstanden werden muss. Eine Momentaufnahme verstehen heißt, sie einerseits synchron zu betrachten und andererseits diachron in ihre historischen Kontexte einzuordnen. Eine kulturwissenschaftlich-gedächtnistheoretische Hermeneutik arbeitet ebenso wie historisch-kritische Zugänge in erster Linie produktionsorientiert. Anders als historisch-kritische Zugänge stellt sie aber nicht die Produktionsbedingungen und den Autor des Textes in den Vordergrund, sondern dessen Produktions- und Rezeptionskontexte. Was heißt das für Markusevangelium? Es wird nicht als Jesusbiographie verstanden, sondern als Anfang der Geschichte des Evangeliums Jesu Christi, Sohn Gottes (Mk 1,1), die zunächst untrennbar mit dem Schicksal ihres Protagonisten verbunden ist, aber auch darüber hinausweist. Während im Markusevangelium einerseits der Weg des Menschensohns zum Kreuz erzählt wird, werden auf 14 Huebenthal, Markusevangelium als kollektives Gedächtnis, 455-456. 98 Sandra Huebenthal einer anderen Kommunikationsebene weitere Fragen geklärt. Dazu gehören das adäquate Jesusverständnis (dieser Gruppe), die Konstitution der Erinnerungsgemeinschaft auf der Basis dieses Verständnisses (Mk 1,16-8,30), und ihre Organisation als Nachfolgegemeinschaft (Mk 8,31-11,10). Während die Jesusgeschichte erzählt wird, werden gleichzeitig die entscheidenden Ereignisse und Erfahrungen mit Jesus gedeutet, heilsame und befreiende Begegnungen ebenso wie traumatischen Erfahrungen von Verlust und Verrat (Mk 11,11-15,39) verarbeitet, und Strategien zum Umgang mit Krisensituationen aufgezeigt. So wird die Geschichte des Evangeliums Jesu Christi, Sohn Gottes, im Leben der Erinnerungsgemeinschaft und an künftige Generationen weitergegeben, und so kann die Geschichte des Evangeliums von künftigen Generationen weitergeschrieben werden. 6. Markus: Autor oder Erinnerungsfigur? Über Markus als Autorenpersönlichkeit und Schöpfer des frühesten Evangeliums erfahren wir im Rahmen dieser Untersuchungen fast nichts, noch nicht einmal, ob es tatsächlich eine Person mit dem römischen Allerweltsnamen Markus war, der die Feder geführt hat. Wenn man das Markusevangelium als Erinnerungstext und fundierende Geschichte einer Gruppe von Jesusnachfolgern der dritten Generation versteht, ist die Autorenzuordnung nicht entscheidend: Der Text bezieht seine Autorität nicht von einem Autor, er wirkt aus sich selbst heraus. Dass dem anonym überlieferten Text im zweiten Jahrhundert mit „nach Markus“ eine Überschrift und Autorenzuschreibung zugewachsen ist, lässt sich ebenfalls als Wirkung des kollektiven Gedächtnisses verstehen. Um einen Gründungstext von anderen zu unterscheiden, braucht es ein Distinktionsmerkmal. Was könnte überzeugender sein als ein Autor, der nahe an den fundierenden Ereignissen ist? Die Zuschreibung des frühesten Evangeliums an den Petrus- und Paulusbegleiter Markus schafft eine Tradition und eine Erinnerungsfigur. Dass das in der Mitte des zweiten Jahrhunderts passiert, um die 120 Jahre oder drei Generationen nach den Ereignissen, überrascht aus gedächtnistheoretischer Perspektive keineswegs. An der Schwelle zur vierten Generation ist die lebendige Verbindung zu den Ursprüngen besonders gefährdet. Diese „Epochenschwelle“ 15 kann mit einer ungebrochenen Kette von Tradenten überbrückt 15 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 48-56. Das Markusevangelium als Gründungsgeschichte verstehen 99 werden, und genau das ist es, was Papias, der als erster die Markus-Petrus-Tradition überliefert, mit seiner Zuschreibung erreicht. 16 Papias sieht sich selbst in der vierten Generation nach den fundierenden Ereignissen: Jesus - Johannes - der Presbyter Johannes und Aristion - er selbst. 17 Wenn wir gedächtnistheoretische Begriffe auf seine Situation anwenden, dann steht Papias bereits jenseits des lebendigen Dreigenerationengedächtnisses. Er gehört zu einer Zeit, die auf halbwegs feste Traditionen und Externalisierungen des kollektiven Gedächtnisses zurückgreifen kann und diese bewahren und sichern will. In dieser Sichtweise erschließt sich das nur in Fragmenten erhaltene Werk des Papias als Sammlung von Traditionen und Paratexten. Diese Traditionen sollen durch die schriftliche Fixierung vor dem Vergessen bewahrt und bereits bekannte Texte sollen autoritativ abgesichert werden. Da kommt ein Autor und Zeuge, der bereits in der Tradition zu finden ist, gerade recht. Die altkirchliche Tradition hat die Erinnerungsfigur „Markus“ aufgriffen und weiterentwickelt - und damit gleichzeitig das älteste Evangelium für spätere Generationen als zentralen und identitätsstiftenden Gründungstext bewahrt. 16 Udo Schnelle hält fest: „Niemand würde hinter der eigenständigen Theologie des Mk die Person des Petrus vermuten, wenn es nicht jene Papiastradition gäbe.“ U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 4 2002, 243. 17 Dazu muss man die Papiasfragmente in ihren unterschiedlichen Überlieferungen genauer studieren. Euseb überliefert Papias wohl zutreffend als Angehörigen der vierten Generation (h.e. III 39), Irenäus verschiebt ihn in die dritte Generation und macht ihn zum Teil des lebendigen Dreigenerationengedächtnisses (ad. haer. V 33,3-4), während spätere Zeugen ab dem 5. Jh. Papias wieder in der dritten Generation sehen. Gedächtnistheorie und Literaturgeschichte in der Interpretation des Markusevangeliums Eve-Marie Becker 1. Vergleich zweier Zugänge Die (monographischen) Arbeiten von Eve-Marie Becker 1 und Sandra Huebenthal 2 zum Markusevangelium stimmen darin überein, dass sie die grundlegende Bedeutung des Markusevangeliums - der ältesten Evangelienschrift - für die identity formation des frühen Christentums hervorheben und damit zu der Frage nach der Entwicklung der religiösen und sozialen Gruppenidentität der frühen Christus-gläubigen Gemeinden entscheidend beitragen. Wie Sandra Huebenthal halte auch ich die seit mehreren Generationen ausgearbeitete kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorie (Maurice Halbwachs, La mémoire collective [1939]) nach wie vor für anregend, wenn es darum geht, die Funktion frühchristlicher literary memory im Zusammenhang der Entstehung einer eigenen Kultur der Christus-gläubigen Gemeinden im 1. und 2. Jh. n. Chr. zu beschreiben. Ich nehme die memoria-Forschung - so wie die von Sandra Huebenthal vorgestellten Überlegungen zur Narratologie - daher bei meiner Beschäftigung mit antiker historiographischer Literatur stets auf, ja setze sie voraus 3 und bringe Konzepte wie die counter memory (Michel Foucault) exegetisch konkret zur Anwendung. 4 Allerdings betone ich dabei die individuelle Qualität 1 Vgl. dazu als wichtigste (monographische) Publikationen in chronologischer Folge: E.-M. Becker (Hg.), Die antike Historiographie und die Anfänge der christlichen Geschichtsschreibung (BZNW 129), Berlin/ New York 2005; dies., Das Markus-Evangelium im Rahmen antiker Historiographie (WUNT 194), Tübingen 2006); dies., Shaping Identity by Writing History: Earliest Christianity in its Making, RRE 2/ 2016, 152-169; dies, The Birth of Christian History: Memory and Time from Mark to Luke-Acts (AYBRL), New Haven 2017; dies., Der früheste Evangelist. Studien zum Markusevangelium (WUNT 380), Tübingen 2017. 2 Vgl. bes. S. Huebenthal, Das Markusevangelium als kollektives Gedächtnis (FRLANT 253), Göttingen 2 2018. 3 Becker, Birth, 1-33. 4 Vgl. speziell zur Anwendung auf das Lukas- und Johannesevangelium: E.-M. Becker, John 13 as Counter-Memory: How the Fourth Gospel Revises Early Christian Historiography, in: K.B. Larsen (Hg.), The Gospel of John as Genre Mosaic (SANt 3), Göttingen/ Bristol 2015, 269-281 102 Eve-Marie Becker der Erinnerungsleistung 5 und mache die memoria-Theorie nicht zu einem umfassenden oder gar dem Verstehensschlüssel zu einem einzelnen literarischen Werk wie dem Markusevangelium. Ein Vergleich beider Zugänge zum Markusevangelium zeigt: Die Anwendung der kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorie ermöglicht eine generelle Einordnung von Schriften wie dem Markusevangelium in das kulturelle Format von Entstehungsgeschichten unterschiedlicher Gruppierungen im Prozess ihrer Identitätsformation und widmet sich der Bestimmung der Funktion solcher Erzählungen in bestimmten environments. Wichtig ist hierbei allerdings die Differenz zwischen kommunikativem, literarischem und kulturellem Gedächtnis. Für die Entstehung des Markusevangeliums ist die Konstruktion des kommunikativen Gedächtnisses, d. h. der primären Erinnerungskultur entscheidend (so schon die klassische Formgeschichte). Die Literaturgeschichte kann und muss darüber hinaus jedoch würdigen, wie aus communicative memory gestaltete literary memory wird! Die literaturgeschichtliche Textanalyse fokussiert sich sodann auf die Konstellation von Text, Autor, Gattung (hier: Geschichtsschreibung) und Literaturbetrieb (literary activity) und stellt das Markusevangelium bewusst in die Zeitgenossenschaft mit der griechisch-römischen und frühjüdischen Prosaliteratur. Literaturgeschichtliches Arbeiten ermöglicht die Zusammenarbeit mit den Classics (Alte Geschichte, Klassische Philologien, Judaistik, Archäologie) als den Grundlagenfächern zur Erforschung der antiken Welt, die den historischen Raum, in dem die neutestamentlichen Texte entstehen, weitläufig und mehrfarbig beleuchten. Die markinischen Einzeltexte wie das Markusevangelium als literarischer Gesamtwurf treten - im Blick auf ihre semantische, motivische, formale, stilistische, rhetorische Gestalt und auf ihre Gattung - so in einen größeren literaturgeschichtlichen Untersuchungsradius hellenistischer Kultur, in welchem - um mit Umberto Eco zu sprechen - ihre repetitiven und ihre innovativen Gestaltungselemente gleichermaßen sichtbar werden können. Wenn die literatur- und gattungsgeschichtliche Einordnung des Markusevangeliums im Rahmen der hellenistischen Literatur(en) dann zu dem notwendigen Ergebnis kommt, die Evangelienform sei - bei aller Ähnlichkeit und Vergleichbarkeit mit anderen Gattungsformen (Mikrogattungen) in der Großgruppe der Historiographie (Makrogattung) - dennoch als Gattung sui generis entstanden, so ist damit nicht - wie vielfach behauptet 6 - zugleich vorausgesetzt, die Evangelien seien (als) 5 Becker, Birth, 21ff. 6 So zuletzt z.-B. H.K. Bond, The Biography of Jesus. Genre and Meaning in Mark’s Gospel, Grand Rapids 2020, 1-2. - Die These, die Evangelien seien am besten als biographische Literatur zu verstehen, wie sie zuletzt auch in einigen Beiträgen in R.M. Calhoun u. a. (Hg.), Gedächtnistheorie und Literaturgeschichte in der Interpretation des Markusevangeliums 103 bloße Sub-Literatur (entstanden). Auch sui generis-Literatur weist Qualitätsmerkmale auf. 7 Aus dem Gesagten ergibt sich zugleich: Kulturwissenschaftliche Theoriebildung und literaturgeschichtliche Analyse schließen einander nicht aus, sondern lassen sich als unterschiedliche Zugänge zum Verständnis fundierender Texte in unterschiedlichen Rahmensystemen beschreiben. 8 2. Anfragen an Sandra Huebenthal Meine Fragen an Sandra Huebenthal aus der Perspektive der Literaturgeschichte sind die folgenden: Was ist eine „Gründungsgeschichte“ - wäre Markus konzeptionell mit Livius (ab urbe condita) vergleichbar? Wie wirkt sich das kulturwissenschaftliche Modell auf die konkrete Textexegese aus? Welche philologischen, semantischen, narratologischen, pragmatischen Methoden, die bei der Einzeltextanalyse zur Anwendung kommen können, generiert es konkret? Welches neue Wissen wird erarbeitet? Das heißt: welche sprachlichen, sachlichen, hermeneutischen Erträge für das Verstehen einzelner Textsequenzen wie des Makrotextes erbringt es? Kritisch gefragt: ist die historisch-kritische Exegese, die für das Selbstverständnis neutestamentlicher Exegese als philologi- Modern and Ancient Literary Criticism of the Gospels. Continuing the Debate on Gospel Genre(s) (WUNT 451), Tübingen 2020 wieder vertreten wird, möchte ich an dieser Stelle nicht ein weiteres Mal diskutieren. 7 Ernst Gombrich hat - u. a. unter Verweis auf Ciceros genus-Lehre (De orat. 3,98) - in seinem letzten Buch (2002) eindrucksvoll gezeigt, wie sich die Entwicklung der westlichen Kultur- und Literaturgeschichte wesentlich aus der „Preference for the Primitive“ speist: E.H. Gombrich, The Preference for the Primitive: Episodes in the History of Western Taste and Art, London 2002, 27. 8 Vgl. dazu grundlegend: W. Voßkamp, Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft, in: A. und V. Nünning (Hg.), Konzepte der Kulturwissenschaft, Stuttgart/ Weimar 2003, 73-85. Prof. Dr. Eve-Marie Becker , Studium der Evangelischen Theologie in Marburg und Erlangen-Nürnberg, 2001 Promotion zum Dr. theol., 2004 Habilitation, 2006-2018 Professorin für neutestamentliche Exegese an der Universität Aarhus (Dänemark), 2016-17 Distinguished Visiting Professor of New Testament an der Candler School of Theology der Emory University (Atlanta), 2017-18 Research Fellow am Israel Institute for Advanced Studies in Jerusalem, seit 2018 Professorin für Neues Testament an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. 104 Eve-Marie Becker scher und historischer Disziplin seit Aufkommen der Bibelkritik konstitutiv ist, obsolet geworden? Sind die historischen Fragen zur Genese der frühchristlichen Literatur geklärt? Wächst - mit neuen Textfunden auf Papier und Stein und archäologischen Evidenzen und Daten in Palästina/ Israel und darüber hinaus - unsere data base und unser Wissen über die frühkaiserzeitliche Welt nicht beständig? Sind wir aufgrund der gewachsenen Materialbasis nicht mehr noch als die Philologen und Historiker des 19. Jh.s imstande, in einem umfassenden Sinne „Quellenforschung“ zu betreiben? Im Zusammenhang damit stellt sich mir die weiterführende Frage, ob die kritischen Werkzeuge historischen und philologischen Arbeitens - von der Traditions- und Quellenkritik bis hin zur Sachkritik - ausgereizt oder stumpf geworden sind? Werden die kritischen Instrumente der Textanalyse in einer postmodernen Welt voller individueller und damit beliebig gewordener Fakten als wissenschaftliche tools intersubjektiven Textverstehens nicht vielmehr wichtiger denn je? Soll vielleicht kritische Exegese nur noch in Gestalt ideologischer Hermeneutiken - seien sie durch Feminismus, gender, post colonial approaches motiviert - existieren, nicht mehr aber in Gestalt der historisch-kritischen Fragestellung? In meiner Wahrnehmung der gegenwärtigen Welt und Zeit ist historisch-kritisches Denken, das Mythologeme benennt, fact und fiction kennt und trennt, überlebenswichtig, um nicht nur die westlichen, sondern die globalen Lese- und Interpretationsgemeinschaften miteinander im Gespräch zu halten. Positiv gesagt: Es ist an der Zeit, die Rolle von Kulturtheorie und Literaturwissenschaft in den exegetischen Fächern der Theologie zu diskutieren, indem die Fragestellungen und Begriffe des cultural turn kritisch aufgenommen werden und gleichzeitig der Erkenntnisertrag bzw. der Wissenszuwachs, den Literaturgeschichte und classics fortlaufend generieren, neu definiert wird. 3. Zwei weiterführende Grundfragen zum Markusevangelium 3.1 Autor Auch ich behaupte nicht, dass Markus in einer „einsamen Studierstube“ entstanden sei - der Verfasser wird Mitarbeiter (vielleicht Sekretäre, Schreiber, Kopisten, Mäzene [? ], Träger von Traditionen) gehabt und um deren Kooperation gebeten haben. Der neue turn der Literaturwissenschaften geht ja zum Autor und zu dessen ‚Wiederauferstehung‘ zurück - das sollte auch von Exegeten/ Exegetinnen wahrgenommen zu werden. Wir können uns nicht an die Debatten aus dem Frankreich der 1960er Jahre und deren verzögerte Rezeption in Deutschland halten. Der turn zurück zum Autor ermöglicht es vielmehr, zum einen die Kongruenz von Schreiberhand und Sprachstil in einem literarisch gestalteten Gedächtnistheorie und Literaturgeschichte in der Interpretation des Markusevangeliums 105 Werk wieder in den Blick zu nehmen, um so Prosaschriften und deren literarisches Profil komparativ erschließen zu können - Willi Marxsen hatte „Markus“ immerhin eine besondere, sogar über Matthäus und Lukas hinausgehende individualistische Schreibleistung zuerkannt. 9 Zum anderen wird es - wie Gerhard Kurz betont - wieder möglich, Literatur als Spiegelbild kultivierter menschlicher Kommunikation zu re-humanisieren: 10 Hinter dem Text steht ein Autor aus Fleisch und Blut - nicht nur eine Summe von Zeichen oder ‚Anschlägen‘. 3.2 Gruppenkonsens Für äußerst spannend halte ich die von Sandra Huebenthal aufgeworfene Frage, wie es „Markus“ als individuellem Autor gelingt, dass sich „der Gruppenkonsens in der Geschichte“ wiederfindet. Ist damit vorausgesetzt, dass die Evangelien - anders als Paulus oder so wie Paulus? - ‚konsensuale Erzählungen‘ bzw. Produkte miteinander ausgehandelter Narrative in bestimmten Gruppen sind? Stehen hinter den Kapernaumtraditionen einerseits (Mk 2 f.) und den Jerusalemtraditionen andererseits (Mk 11 ff.) solche Gruppen? Handelt der Evangelist Markus - so wie wir im Anschluss an die Formbzw. Sozialgeschichte vermuten können - divergierende ‚Narrative‘ aus, wenn er Logienüberlieferung, Wundergeschichten und die Passionsgeschichte zu einer kohärenten Erzählung verknüpft und mit einem distinkten plot ausstattet? Grundsätzlich gilt: Die Kategorie der Gruppe - ihre ideologische Prägung und ihre literarische Gestaltungskraft - kann nicht im Rahmen einer Theorie allgemein vorausgesetzt, sondern muss aus den Texten selbst jeweils historisch plausibel gemacht werden. Wie kommen wir zu diesen Gruppen und zu ihrem Profil? Das könnte für die synoptischen Evangelien - eher als für Johannes - in unterschiedlichem Ausmaße gelingen. Aber auch dann sind zwei Fragen zu beantworten: (1) Wie erklären sich das individuelle Vokabular, der individuelle Stil und das individuelle, stringent und äußerst dicht geformte narrative Konzept des Markusevangeliums, das den Endtext ausmacht? Hier muss sich jede Gruppentheorie kritisch befragen lassen - und damit sind wir mindestens an diesem Punkt wieder beim Text und seiner literarischen Gestalt. 9 Vgl. W. Marxsen, Der Evangelist Markus. Studie zur Redaktionsgeschichte des Evangeliums (FRLANT 67), Göttingen 1956; 2 1959), 9. Nun bezeichnete Marxsen Markus zwar als „Individuum“ und „Schriftstellerpersönlichkeit“, hielt aber zugleich fest: Markus hat - anders als Matthäus und Lukas - „lediglich anonyme Einzeltraditionen vor sich. Die Leistung der eigenen Gestaltung ist also hier ungleich höher. Markus bringt… als erster das individualistische Moment in die Formung und Gestaltung der Tradition hinein.“ 10 Vgl. G. Kurz, Hermeneutische Künste. Die Praxis der Interpretation, Stuttgart 2 2020. 106 Eve-Marie Becker (2) Wenn - wie Sandra Huebenthal vorschlägt - Erinnerungstexte allein „Momentaufnahmen“ sind und wir nicht auch ihr formatives Potential (vgl. Gerd Theißen) anerkennen: wie erklärt sich, dass Leser/ Leserinnen des 21. Jh.s noch immer das Markusevangelium fasziniert lesen und darin eine konzeptionelle Stringenz und stilistische Brillanz erkennen (z.-B. Hans-Martin Gauger), die vielen, wenn nicht den meisten literarischen Werken der Menschheitsgeschichte sonst fehlt? Entweder wirkten Markus und seine „Kollegen“ Lukas, Matthäus und Johannes zufällig genial, als sie ihre „Erinnerungstexte“ zusammenstellten, oder Markus und seine Wettbewerber schufen mit bewusst gewählten sprachlichen, literarischen und konzeptionellen Mitteln Weltliteratur: Ich nehme Letzteres an und suche mit Hilfe der Literaturgeschichte im Einzelnen zu erkunden, wer diese Leute waren und worin genau die Kraft und Qualität oder die „Durchschlagskraft“ 11 der von ihnen geschaffenen formativen Literatur im Rahmen frühkaiserzeitlicher Prosaerzählungen liegt. Mehr Arbeit am Konzept der frühchristlichen Autorschaft ist dabei geboten. 12 11 W. Schemme, Art. Autor II., HWPh 1, Basel 1971, 722-723, 722: „Der A(utor) erstrebt nicht Schönheit, sondern höchste Durchschlagskraft der Aussage“. 12 Vgl. dazu E.-M. Becker, Markus, der Historiograph. Ein Beitrag zum Autorschaftskonzept der frühesten Evangelienschrift“ (in Vorbereitung). Hermeneutik und Vermittlung Zur Hermeneutik des Markusevangeliums Gudrun Guttenberger 1. Worum es in diesem Beitrag geht Um die mit diesem Beitrag verbundene Aufgabe zu klären, beziehe ich mich auf den von Hartmut Rosa vorgelegten hermeneutischen Entwurf, 1 der in Anknüpfung an die Arbeiten von Thomas S. Kuhn und Charles Taylor und unter Bezugnahme auf Begriffe von Ludwig Wittgenstein und Hans-Georg Gadamer die Inkommensurabilität der Kulturen und die wirklichkeitskonstituierende Kraft von Sprache und Praktiken annimmt. Innerhalb dieses relativistischen Modells 2 unterscheidet Rosa zwischen „Nostrifizierung“ als Überführung eines einzelnen unvertrauten, fremden Elements in das eigene kulturelle Paradigma, 1 H. Rosa, Lebensformen vergleichen und verstehen. Eine Theorie der dimensionalen Kommensurabilität von Kontexten und Kulturen, in: ders., Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung, Frankfurt 3 2016, 19-59. 2 Die jüngsten Arbeiten von Gerd Theißen (I. Czachesz/ G. Theißen, Kognitive Ansätze in der Exegese. Ihr Beitrag zur methodischen Erforschung der Bibel in: G. Theißen/ C. L. P. Chan/ I. Czachesz (Hg.), Kontrainduktivität und Paradoxie. Zur kognitiven Analyse urchristlichen Glaubens, Berlin 2017, 31-65, bes. 32-35) begründen seinen hermeneutischen Ansatz in einem kognitionswissenschaftlichen, universalistischen Modell von Sprache und Kultur. In universalistischen Modellen wird das Verstehen von universalen, kulturübergreifenden „Eigenschaften“ oder „Bedingungen“ her gesucht, in relativistischen von den kulturellen Differenzen her. Zeitschrift für Neues Testament 24. Jahrgang (2021) Heft 47 108 Gudrun Guttenberger „Verständnis“ als Fähigkeit und Bereitschaft, die je eigene „Landkarte“ der anderen Kultur zu beschreiben und dabei die „Kontraste“ zur eigenen Weltsicht zu greifen, und „Verständigung“ als Formulierung des Vergleichs des Eigenen und des Fremden, die eine „Horizontverschmelzung“ perspektiviert und der „Erfindung“ einer eigenen Beschreibungssprache bedarf. 3 Je verschiedener „Kulturen“ sind, desto komplexer ist ihre Inkommensurabilität: Es differieren nicht einzelne Elemente, gleiche Funktionen werden nicht von anderen Elementen eingenommen, sondern das „System“ differiert. 4 Diese Differenzierungen erlauben es zunächst, die mit der Überschrift verbundene Unklarheit begrifflich zu fassen und zu deuten: In der neutestamentlichen Wissenschaft geht es um das Verstehen des Textes in seinem Eigensinn, wobei (zumindest bei vielen) der eigene kulturelle Standpunkt reflektiert wird, also die Kontraste zur „Welt“ der Forschenden markiert werden. Diese Überlegungen erfolgen im Wissenschaftssystem und verwenden (historische, sozialwissenschaftliche, kulturwissenschaftliche, literaturwissenschaftliche) Fachparadigmata. In diesem Rahmen geht es unter der Überschrift Hermeneutik um eine Gesamtdeutung des Markusevangeliums in seinem historischen, soziopolitischen und kulturellen Kontext. 5 Wenn hingegen (zukünftige) Lehr- oder Pfarrpersonen oder Kollegen und Kolleginnen aus der praktisch-theologischen Disziplin 6 die Überschrift lesen, erwarten sie etwas anderes. Sie suchen Antworten auf eine Frage wie „Was hat uns das Markusevangelium heute zu sagen? “ Ihre Interessen zielen nicht auf das Markusevangelium, sondern auf das „heute“, nicht auf „Verstehen“, sondern auf „Nostrifizierung“. Nun ist es leicht und dank des pejorativen Begriffs geradezu ein Selbstläufer, dieses Anliegen als sachlich unangemessen (und sogar als moralisch schlecht) zurückzuweisen. Eine solche Zurückweisung verkennt aber die inhärenten Dilemmata der Situation, deren 3 Vgl. Rosa, Lebensformen, 53. Rosa unterscheidet „Verständigung“, die durch das Verharren in einer Beobachterposition nicht erreicht werden kann und eine partielle Teilnahme erfordert, weiterhin von der „Bekehrung“ als der Übernahme des fremden kulturellen Systems. Zwischen der der „Verständigung“ dienenden Partizipation und der „Bekehrung“ ist die Grenze nicht leicht zu ziehen. Ulrich Luz ist mit seiner Hermeneutik (programmatisch) sehr nah an dieser Grenze anzusiedeln. 4 Vorsicht ist dann geboten, wenn Gleichheit der Phänomene behauptet wird, wie bei der Erklärung von Besessenheit durch psychotische Störungen oder wenn Funktionsäquivalenz unterstellt wird, wie bei ihrer Deutung als Ausdruck von Protest gegen totalitäre und (kultur)imperialistische Systeme. 5 Zu diesem Typ von Hermeneutiken gehört z.-B. die Arbeit von O. Wischmeyer, Hermeneutik des Neuen Testaments. Ein Lehrbuch, Tübingen 2004. 6 Mein eigener Zugang zur Disziplin der Praktischen Theologie erfolgt über die Religionspädagogik. Dieser prägt auch die hier vorgelegte Perspektive; die Selbstverständigungsdiskurse der praktisch-theologischen Disziplin und die Diskussionen in ihren anderen Subdisziplinen aufzunehmen, übersteigt das Vermögen dieser Skizze. Zur Hermeneutik des Markusevangeliums 109 Kristallisationspunkt der Kanonbegriff ist mit seinem Anspruch, dass die Lektüre neutestamentlicher Texte unabhängig vom kulturellen Kontext der Lesenden Orientierung vermitteln kann. Dilemmatisch ist die Situation deswegen, weil die Zugehörigkeit der exegetischen Disziplinen zur Theologischen Wissenschaft über den „Kanon“ begründet ist, obgleich er in ihrer Fachlogik nicht nur keine wissenschaftlich beschreibbare Funktion hat, sondern im Hinblick auf die angemessenen Auslegungsmethoden ausdrücklich zurückzuweisen ist: Eine wissenschaftliche Auslegung biblischer Texte schließt eine hermeneutica sacra aus. 7 Die Subdisziplinen der Praktischen Theologie, die neutestamentliche Texte als kanonische Texte thematisieren, folgen ihren eigenen Fachparadigmata, sind an ihre eigenen „starken Werte“ 8 gebunden und arbeiten in der Folge der „empirischen Wende“ mit einem eigenem, (zumeist) weniger reflexiven Wissenschaftsbegriff. „Lektüren“ des Markusevangeliums in religionsdidaktischen, seelsorgerlichen oder homiletischen Szenarien haben die Aufgabe, zur religiösen Bildung, zum Gedeihen oder zur Formatierung von religiösen Erfahrungen des „lesenden“ Subjekts beizutragen. Einen „starken Wert“ bildet dabei die Subjektorientierung: Nur wenn eine aktive „Aneignung“ eines Gegenstands, eine Integration in das je eigene Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Urteilen erfolgt, kann von einer gelungenen Auseinandersetzung in den Kategorien von Bildung oder Reifung gesprochen werden. Dieses zentrale Subjekt ist nicht ein „ideales“, sondern ein empirisch zu erhebendes in einer spezifischen Lebenswelt und mit seinen 7 Der Versuch, die exegetischen Wissenschaften als historische Disziplinen zu begründen, ist ebenfalls aporetisch, weil sie bestimmten Phasen der Vergangenheit normative Kraft zuschreiben muss, was wiederum innerhalb der Paradigmata der modernen Geschichtswissenschaften nicht möglich ist. 8 Der Begriff stammt von Charles Taylor und wird von Rosa verwendet, um Kuhns Begriff des Paradigmas mit einer orientierenden Dimension zu versehen, vgl. Rosa, Lebensformen, 32f. Prof. Dr. Gudrun Guttenberger , Studium der Evangelischen Theologie in Bonn, Tübingen, Heidelberg und Mainz. Vikariat, Beschäftigung als Assistentin im Bereich Seelsorge im Seminar Herborn und Tätigkeit im Pfarramt (1988-1994), Dissertation in Heidelberg bei Gerd Theißen, Tätigkeit an der Evangelisch-Theologischen Fakultät Mainz (1998-2001), Habilitation in Mainz, Professorin an der Evangelische Fachhochschule / Hochschule Hannover (2001-2013), sei 2013 Professorin an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Zu ihren neuesten Publikationen zählt ein Kommentar zum Markusevangelium (ZBK). Derzeit arbeitet sie an einem Kommentar zum 1. Korintherbrief (ThHK). 110 Gudrun Guttenberger je eigenen Werten, Erfahrungen, Bereitschaften und Fähigkeiten. Eine solche subjektorientierte Aneignung aber ist „Nostrifizierung“. „Nostrifizierung“ wird somit zum programmatischen Ziel von Lektüreformen in Leseszenarien in solchen Feldern, die in den Subdisziplinen der praktischen Theologie modelliert und reflektiert werden. 9 Anstelle solcher „Nostrifizierung“ eine „Verständigung“, durch die auf der Grundlage von Verstehen dem starken Wert der Subjektorientierung ebenfalls Genüge getan würde, als Norm einzufordern, bedeutet die Verkennung der Komplexität der Konstellation. Die Subjekte, um die es geht, sind eben keine idealen Subjekte. Die Schülerin im 8. Schuljahr einer Realschule, der über den Verlust des langjährigen Partners trauernde Sechzigjährige, selbst die interessierte Besucherin einer Vortragsreihe zur Bibel in der Kirchengemeinde haben i. d. R. weder die Bereitschaft noch die Fähigkeiten, das Markusevangelium zu verstehen. Die allermeisten werden diese auch nicht erwerben wollen. Das ändert sich nicht durch Ermahnung. Wer auf „Verständigung“ als Norm besteht, unterstützt den Bedeutungsverlust der Bibel in praktisch-theologischen Arbeitsfeldern. Die folgenden hermeneutischen Überlegungen zielen also nicht direkt auf das Markusevangelium, sondern sind der Versuch, eine „Verständigung“ zwischen der neutestamentlichen „Heimat“ und der praktisch-theologischen „Welt“ im Hinblick auf Lektüren des Markusevangeliums zu erreichen. Einen ersten Schritt dazu haben wir nun getan: Wir bewerten den Umgang in der praktischen Theologie mit „unseren neutestamentlichen Texten“ nicht negativ, sondern beschreiben die Kontraste. Noch einmal: Der wichtigste Kontrast ist dieser: In der neutestamentlichen Wissenschaft geht es um das Verstehen des Markusevangeliums; dies ist ein „starker Wert“. In der „Welt“ der Praktischen Theologie geht es um die die jeweiligen (autonomen) Subjekte. Subjektorientierung ist ein starker Wert. Nötig ist eine zweite, kurze Vorbemerkung: Die Ergebnisse der überwiegend synchronen, v. a. narrativ-analytischen Markusforschung der vergangenen Jahrzehnte erfordern es, das gesamte Evangelium zu lesen bzw., wenn der Ausgang von einer Episode genommen wird, die jeweiligen Erzählstränge umfassend präsent zu machen. Die in Unterricht und Predigt übliche Lektüre von einzelnen „Perikopen“, die nicht selten auch noch mit einem „evangelienharmonischen“ Fokus präsentiert werden, ist damit nicht gut vereinbar. Thematisiert werden deswegen im Folgenden weder einzelne Episoden oder Passagen der Erzählung, noch übergreifende Motive, die Erleben, Deuten und Verhalten der ältesten 9 Der Lesbarkeit wegen von nun an „praktisch-theologische Leseszenarien“ etc. Zur Hermeneutik des Markusevangeliums 111 Christusanhängenden insgesamt ausmachen, sondern Merkmale, die das Markusevangelium als Erzählung auszeichnen. 2. Sich selbst verstehen und den Text verstehen: Der „hermeneutische Zirkel“ in der neutestamentlichen und der praktisch-theologischen Welt Unter den Einleitungsfragen ist für unseren Zusammenhang die Frage nach dem dominanten religionsgeschichtlichen Hintergrund des Markusevangeliums besonders relevant: Im Rahmen welcher antiken Kultur ist es zu verstehen? In der älteren Forschung wurde das Markusevangelium mit Verweis v. a. auf Mk 14,1f.12; Mk 7,1-23 als heidenchristlicher Text bestimmt und als Zeugnis für ein bereits um 70 n. Chr. vorliegendes christliches Selbstverständnis herangezogen, in dem die Tora auf das Doppelgebot der Liebe (Mk 12,28-32) reduziert und das sog. Ritualgesetz (Mk 7,15) als abgetan gegolten habe. 10 Das historiographische Pendant bilden Varianten der These Ferdinand Christian Baurs, der die Geschichte des Urchristentums als eine dialektische Bewegung vom Judenchristentum über das Heidenchristentum zum Frühkatholizismus erzählte. 11 In den letzten Jahrzehnten ist das Markusevangelium immer häufiger als jüdischer Text klassifiziert worden. 12 Im Kontext eines von Vielfalt bestimmten Judentums vor 70 kann die Verankerung des Markusevangelium in der antiken jüdischen Kultur wahrgenommen und beschrieben werden; so wird eine differenzierte Einzeichnung der traditionell als Belege für eine heidenchristliche Verfasserschaft angeführten Texte in innerjüdische Diskurse möglich. 13 Das historiographische Pendant bildet das Modell des „Parting of the Ways“, nach 10 Vgl. z.- B. bei S. Schulz, Die Stunde der Botschaft, 87-92: „Die alttestamentlich-spätjüdischen Speisevorschriften sind für Markus völlig absurd (…) die gesamte kultisch-rituelle Gesetzgebung wird für ungültig erklärt (…) Die gesamte Kulttora des Alten Testaments mitsamt der pharisäischen Gesetzesauslegung hat für Markus keine theologische Bedeutung vor Gott und ist auch nicht Offenbarung des Willens Gottes (…) Der Wille Gottes ist allein in den Geboten offenbar geworden, die vom Menschen die Mitmenschlichkeit fordern, nichts anderes also als Nächstenliebe (…)“; zeitgenössisch z.-B. noch bei U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 2017, 268.270f. Dort mit dem Versuch verbunden, früh ein eigenständiges Christentum als „Religion“ nachzuweisen; vgl. ders., Über Judentum und Hellenismus hinaus. Die paulinische Theologie als neues Wissenssystem, ZNW 111/ 2020, 124-155. 11 Baur selbst ging von einer Matthäuspriorität aus und beurteilte das Markusevangelium als „neutral“; vgl. Ders., Kritische Untersuchung über die Evangelien, ihr Verhältnis zueinander, ihren Charakter und ihren Ursprung, Tübingen 1947, 561-567. 12 Vgl. z.-B. A. Y. Collins, Mark. A Commentary, Minneapolis 2007, 6. 13 Vgl. G. Guttenberger, Das Evangelium nach Markus, Zürich 2017, 163-175; 326; Collins, Mark, 344-363.623f.640. 112 Gudrun Guttenberger dem sich die Christusanhängenden als Gruppe innerhalb des Judentums konstituierten und sich ihre Wege frühestens vom zweiten Jh. an von denen des entstehenden rabbinischen Judentum allmählich trennten. 14 In der gegenwärtigen Diskussion wird darüber hinaus die Kategorisierung des antiken Judentums als Religion zunehmend fraglich und „jüdisch“, „christlich“ oder „griechisch“ und „römisch“ werden nicht mehr essentialistisch - als gäbe es Eigenschaften, durch die Subjekte wesensmäßig zu charakterisieren wären - verstanden, sondern als Formen kommunikativen Handelns, nämlich als Beanspruchung, Bestreitung und Zuschreibung gedeutet. Greifbar werden damit komplexe Prozesse der Gruppen- und Identitätsbildung, in denen ethnische, regionale, kulturelle, politische und religiöse Kategorien eine Rolle spielen können. Die einschlägigen Markustexte, v. a. Mk 7,2f. können als Formen kommunikativen Handelns beschrieben werden, die sich lebensweltlich und situativ erklären können und gegenüber dem Versuch, den markinischen Text als „jüdisch“ (i.S. einer „festen religiösen Identität“) oder „(heiden)christlich“ zu charakterisieren, sperrig bleiben. 15 Im forschungsgeschichtlichen Rückblick lässt sich die Kategorisierung des Markusevangeliums als „heidenchristlich“ leicht als Widerspiegelung der damaligen Forschungsbedingungen und des zeitgeschichtlichen Deutungsrahmens durchschauen: Protestantische Theologen finden ihre eigene identitätsstiftende Abgrenzung zum „modernitätsfeindlichen“, „rituellen“ und „werkgerechten“ Katholizismus als einer dem „Spätjudentum“ strukturähnlichen Religion, im Markusevangelium wieder und konstruieren fremde Kulturen nach dem Muster normierender Identitätsdiskurse, die sich in der Polemik gegen Kollegen, der Schulbildung, der Rhetorik, kurz in der Institution der Ordinarienuniversität abbilden. Die Klassifizierung als „jüdischer Text“ zeigt sich in der Folge der Bewusstwerdung antijudaistischer Verständnistraditionen und einer Relativierung normativer Identitätskonzepte seit den 70er Jahren: Antijudaismus wird reflektiert, Vielfalt wird wertgeschätzt, Normierungsversuche werden als Formen von Machtansprüchen durchschaut, abweichende Positionen können nicht mehr nur als Polemik gegen Rivalen gedeutet, sondern lebensweltlich erklärt werden. Dass neueste Relativierungen der Kategorien eine erkennbare Affinität zu postmodernen Identitäts- und Gruppenbildungsprozessen haben, 14 Vgl. A. Standhartinger, „Parting of the Ways“. Stationen einer Debatte, in: EvTh 80/ 2020, 406-417; S. Krauter, Vom ‚Parting of the Ways‘ zu ‚Ways that Never Parted‘, in: VuF 65/ 2020, 17-25. 15 Vgl. G. Guttenberger, Ethnizität im Markusevangelium, in: P. v. Gemünden/ R. Hochschildt (Hg.), Jesus Gestalt und Gestaltungen. Rezeptionen des Galiläers in Wissenschaft, Gesellschaft und Kirche, Göttingen 2013, 125-152. Zur Hermeneutik des Markusevangeliums 113 die von Fluidität, 16 Hybridität und Intersektionalität gekennzeichnet sind, ist ebenfalls offensichtlich. Anzunehmen ist auch, dass eine steigende Komplexität in der Lebenswelt der Forschenden aufmerksam macht für Komplexitäten ihres Forschungsgegenstands. Der forschungsgeschichtliche Rückblick demonstriert die Bindung jeden Verstehens an den je eigenen kulturellen Kontext. So wenig wie empirische Forschung in der „Welt“ der praktischen Theologie „objektive“ Ergebnisse hervorbringen kann, so wenig kann es philologische, literaturwissenschaftliche und historische in den Paradigmen der exegetischen Wissenschaften. Damit ist aber keineswegs auf die Differenz schlechterer und besserer Hypothesen verzichtet: Ein Forschungsfortschritt ist trotz der Bindung jeder Deutung an den Kontext der Auslegenden erzielt worden: Die aktuellen Diskussionen über die kulturelle Einordnung des Markusevangeliums werden dem Textbefund besser gerecht als seine Klassifizierung als heidenchristlich. Dabei sind es die Kennzeichen gegenwärtiger Gesellschaft und Kultur und sind es aus der Gegenwart entlehnte Wahrnehmungs- und Deutekategorien, die solche Einsicht ermöglichen. Für die Lektüren des Markusevangeliums in praktisch-theologischen Leseszenarien soll diese Beobachtung im Hinblick auf die Struktur fruchtbar gemacht werden: Jede Textlektüre, selbst die methodisch reflektierte und „abgesicherte“, deckt den Lesenden, seine Einstellungen, Werte, Selbstdeutungen auf: Ohne Vorverständnis gibt es gar kein Verstehen. 17 Dieses Vorverständnis offenzulegen, ist die Voraussetzung für jeden Verstehensversuch. Das gilt für die wissenschaftliche Exegese mit ihrer abgesicherten Methodik, und um wie viel mehr für methodisch ungesicherte, erst recht für „falsche“ oder „ablehnende“ Textlektüren. Ein Missverstehen des Textes schließt ein besseres Verstehen der eigenen Person und der eigenen Welt durch die Lektüre keineswegs aus. Zunächst ist es also ein wichtiger Schritt im Hinblick auf den „starken Wert“ der Subjektorientierung unter der Maßgabe der Individualität dieser Subjekte, den Fokus 16 Die Rede von „fluiden Identitäten“ als Kennzeichen einer (als beängstigend qualifizierten) Postmoderne wird zumeist mit Zygmund Baumann in Zusammenhang gebracht. Begriffsgebrauch und Konzept werden kritisiert von Jürgen Straub, der darauf verweist, dass Fluidität konstitutiver Bestandteil von Identitätskonzepten nicht erst in der Postmoderne ist, sondern den Begriff seit seiner Einführung bestimmt. Das von Baumann Gemeinte erklärt Straub v. a. durch den expotentiellen Zuwachs an biographischer und synchroner Komplexität, die mit dem Verlust von Sicherheits- und Stabilitätsgefühlen einhergehe. Vgl. dazu J. Straub, Ordnung, Reinheit, Identität und ihre Auflösung. Zygmunt Baumans Ideen von Mensch und Moral in der Post-/ Moderne, in: K. Platt (Hg.), Fehlfarben der Postmoderne. Weiter-Denken mit Zygmunt Bauman, Weilerswist, 111- 203. 17 Gadamer spricht vom „Vorurteil“; Der Begriff „Vorverständnis“ begegnet erstmals bei Heidegger; vgl. zu Begriff und Kontroversen G. Kühne-Bertram, Art. Vorverständnis, HWPh (online). 114 Gudrun Guttenberger auf das Selbst-Verstehen zu legen, wie es durch die Lektüre des Textes offengelegt wird. Dieser Schritt gewinnt zugleich für diejenigen, die Leseszenarien in praktisch-theologischen Feldern inszenieren, also Religionslehrende oder Pfarrpersonen eine diagnostische Funktion, die dazu hilft, weitere Leseszenarien so zu konstellieren, dass „Nostrifizierung“, „Verstehen“ und „Verständigung“ als ein Kontinuum konstruiert werden können. Nun sind weder das Markusevangelium noch seine Lesenden in solchen Leseszenarien Größen, die es „einfach gibt“; im Leseszenario werden sie modelliert. Eine solche Modellierung erfolgt notwendig. Häufig geschieht sie unreflektiert mit erfahrungsbasiertem Wissen oder auf der Grundlage von professionsspezifischen Theorien (Entwicklungspsychologie, Milieutheorien etc.). Wenn zusätzlich Theorien aus dem kultur-, sozial- und humanwissenschaftlichen Bereich ausgewählt werden, die auch erschließende Kraft für die Texte des Markusevangeliums gewinnen können, kann die „Inkommensurabilität“ leichter beschreibbar werden. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass das Verstehen des Textes in den Horizont von praktisch-theologischen Lektüreszenarien rückt. 3. Erzählte Zukunft Die Komplexität der Inkommensurabilität der Welten von Text und Lesenden wird besser beschreibbar, wenn bezogen auf einzelne Elemente eine wirkungsgeschichtliche Kontinuität erkennbar wird. Im folgenden Beispiel wird eine solche anhand eines Erzählmusters aufgenommen: Elemente apokalyptischer Vorstellungswelten durchdringen die Erzählung 18 und entfalten eine besondere Wirkung in den beiden längsten Reden des marki- 18 Zur konstitutiven Bedeutung hermeneutischer Überlegungen für die Apokalyptizität eines Textes vgl. Reynolds/ Stuckenbruck, Introduction. Die apokalyptische Prägung des Markusevangeliums wird insbesondere im Kommentar von A.Y. Collins herausgearbeitet. Unter den neueren Arbeiten sind besonders zu nennen die Monographie von E. Shively, Apocalyptic Imagination in the Gospel of Mark: The Literary and Theological Role of Mark von 2012, der Beitrag von G. Macaskill, Apocalypse and the Gospel of Mark in dem von L.T. Stuckenbruck und B.E. Reynolds herausgegebenen Band Jewish apocalyptic tradition and the shaping of New Testament thought von 2017, der Aufsatz von S. Hultgren, „A Vision for the End of Days“. Deferral of Revelation in Daniel and at the End of Mark, ZNW 109/ 2018, 153-184 und der Aufsatz von C. Breytenbach, Das Wissen und Nicht-Wissen um die Zeit als Verhaltensregel: Eine textpragmatische Analyse der Endzeitrede in Markus 13 (in: ders., The Gospel according to Mark as Episodic Narrative, Leiden/ Boston 2021, 274-291. Aus den vielen, interessanten Facetten müssen wenige, grundlegende Aspekte herausgegriffen werden. Besonders bedauerlich ist, dass die mit dem Tempelmotiv verbundenen hermeneutischen Perspektiven nicht ausgeführt werden können, wie sie sich auf dem Hintergrund der Interpretation der Moderne und insbes. Zur Hermeneutik des Markusevangeliums 115 nischen Jesus, in Mk 4,3-32 und Mk 13,5-37. Das betrifft zuerst die hermeneutischen Überlegungen, die in der Erzählung selbst angestellt werden und in der Gleichnisrede eng mit solchen Gleichniserzählungen verknüpft sind, die über die Königsherrschaft Gottes belehren (Mk 4,1). 19 Diese Gleichniserzählungen werden in Mk 4,10-12 mithilfe des aus dem Danielbuch stammenden apokalyptischen Terminus des „Geheimnisses“, das der Entschlüsselung bedarf (und die paradigmatisch in 4,13-20 für das erste Gleichnis der Rede durchgeführt wird), gedeutet. Dieses „Geheimnis“ zu verstehen, ist nur für diejenigen möglich, denen Gott besonderes Wissen verleiht. Daraus entsteht eine Insidergruppe, die über Offenbarungswissen verfügt, und eine Outsidergruppe, der dieses verwehrt bleibt und die „verloren gehen wird“. Ausbleibende Resonanz und Akzeptanz der Verkündigung des Evangeliums werden sowohl in der Gleichniserzählung „Vom vierfachen Ackergrund“ thematisiert als auch mit der sog. Geheimnistheorie gedeutet. Für die Rezeption apokalyptischer Topoi im Markusevangelium typisch ist die uneindeutige Kausalattribuierung ausbleibender Resonanz: Mk 4,12 führt sie auf Gottes Handeln zurück (passiva divina), die Deutung der Gleichniserzählung (Mk 4,15b) macht Satan dafür verantwortlich, wenn es erst gar nicht zu einer Aufnahme des Wortes kommt. Probleme, die nach der Aufnahme auftreten, die anhand des Geschicks der Samengruppen zwei (Mk 4,16f.) und drei (Mk 4,18f.) besprochen werden und sowohl für die spätere Erzählung (Petrusverleugnung und Jüngerflucht) als auch für die Situation des Auditoriums (Mk 13,9-13; 7f.18f.) transparent werden, bleiben im Verantwortungsbereich der Menschen. Eine zweite Besonderheit ist zu ergänzen: Das Bildwort vom Licht in Mk 4,21-23 nimmt das Thema des Geheimwissens erneut auf und begrenzt seine Geltung: Nichts kann geheim bleiben, alles wird offenbar werden. Besonders deutlich greift die Abschiedsrede Jesu eine Reihe von apokalyptischen Topoi auf. 20 Die Rede zeichnet die Gegenwart der Lesenden - unabhängig davon, ob diese vor oder nach Mk 13,14-17 angesetzt wird - als apokalyptisch konzipierte Endzeit. Innerhalb dieser Qualifikation heben die den ersten Teil der Rede rahmenden Warnungen vor Pseudomessiassen und Pseudopropheten (Mk der NS-Zeit durch (von Mary Douglas inspirierten) Reinheitsvorstellungen durch Z. Baumann in herausfordernder Weise auftun. 19 Die Gleichnisrede ist eng mit dem vorangehenden Abschnitt verknüpft, dessen Vorstellungswelt in Mk 3,22-30 im Hinblick auf den Auftrag Jesu mit apokalyptischen Farben ausgestaltet wird (vgl. Shively, Imagination) und die Trennung der Menschen in zwei Gruppen bereits vorwegnimmt (Mk 3,21-35). Zur Gleichnisrede vgl. Guttenberger, Evangelium, 94-113. 20 Die Qualifizierung als eines apokalyptisch geprägten Textes ist nicht zuerst von diesen Topoi, sondern über die Verbindung zu Mk 4,18f. vorzunehmen; die Einwände von M. Wolter, Apokalyptik als Redeform im Neuen Testament, NTS 51/ 2005, 171-191, 183, werden damit gegenstandslos. 116 Gudrun Guttenberger 13,5f.21-23), die vermutlich zur Lebenswelt der Adressaten gehören, hervor, dass das Ende noch nicht da ist (Mk 13,7bβ), und dass die über Menschenmaß schwere Zeit noch andauern wird. Erst mit der Parusie des Menschensohns wird alle Ambiguität aufgelöst und Evidenz herbeigeführt (Mk 13,26). Das fortwährende Warten auf diesen Zeitpunkt erfordert von den Auserwählten (Mk 13,27) Treue und Ausdauer und wird dadurch erschwert, dass der Zeitpunkt des Endes nicht spezifiziert werden kann, selbst nicht durch den Sohn (Mk 13,32). Gleichwohl bleiben dessen Worte (Mk 13,30) die einzig verlässliche Größe in einer dahinschwindenden Welt. Die Versuchung, vor der in der Abschiedsrede so eindringlich gewarnt wird, besteht v. a. darin, die Ambiguität der Situation und das Fernbleiben, die Unerreichbarkeit des Sohnes nicht durchzustehen. 21 Die Zeitspanne, in der über Jesus nur gesagt werden kann „hier ist er nicht“ beginnt bereits mit der Auferweckung, wie die Schlussszene des Evangeliums nahelegt. Der Auferweckte bleibt „außer Landes“ und will wachsam erwartet werden (Mk 13,33-37). Apokalyptische Erzählmuster haben eine bis in die Gegenwart reichende Wirkungsgeschichte. Nach der Analyse der Literaturwissenschaftlerin Eva Horn sind sie für zeitgenössische nicht-fiktionale und fiktionale Zukunftserzählungen typisch, insofern diese das Ende der Menschheit durch den Eintritt einer Katastrophe zu ihrem Gegenstand machen 22 und damit gegenwärtiges Lebensgefühl auf den Punkt bringen: „The present feels as though it is stumbling towards an end“ 23 . Varianten des Musters inszenieren entweder Stresssituationen (kosmischen oder globalen Ausmaßes), in denen Menschen um ihr Überleben kämpfen, oder Szenarien, in denen es darum geht, wie die Katastrophe abgewendet werden und die Menschheit gerettet werden kann. 24 In beiden Varianten werden einerseits Hierarchisierungen von Werten und Beziehungen und andererseits die Bewährung von Charakteren durchgespielt. Prominentes (aber keineswegs einziges) Beispiel ist die „Klimakatastrophe“. Die Geburtsstunde der zeitgenössischen Zukunftserzählungen mit ihrem apokalyptischen Erzählmuster erkennt Horn im frühen 19. Jh. mit Mary Shelleys Pandemie-Erzählung „Last Man“ (die 21 Nach der Vorstellung des Markusevangeliums wird Jesus über die Evangelienerzählung „präsent“ - gebunden an das Vorlesen des Textes, und zwar als Gestalt der Vergangenheit und der Zukunft. Die Abgrenzung erfolgt in Mk 13,5.21-23 gegen die Annahme, er werde in der prophetischen Rede in der Gemeindeversammlung als der Auferweckte und Erhöhte in der Gegenwart präsent. Ein Pendant zu Mt 18,20; 28,20b findet sich im Markusevangelium nicht. 22 E. Horn, The Future as Catatrophe. Imagining Desaster in the Modern Age, New York 2018, 1-20. Die folgende Skizze muss ihre Analyse notwendig vereinfachen. Horn, Future, 5 zur Einordnung in Zeitdiskurse in der Philosophie und Kulturwissenschaft. 23 Horn, Future, 6. 24 Horn, Future, 15. Zur Hermeneutik des Markusevangeliums 117 zugleich eine soziale Dystopie zeichnet) sowie in Byrons Gedicht „Darkness“. Hier werde der religiöse Deuterahmen aufgegeben und das Ende der Welt, der Menschlichkeit und der Menschheit wird dargestellt: In Byrons Gedicht sterben die letzten zwei Menschen in dem Moment, in dem sie wahrnehmen, was aus dem anderen geworden ist: „Their eyes as it grew lighter, and beheld Each other’s aspects - saw, and shriek’d, and died - Even of their mutual hideousness they died, Unknowing who he was upon whose brow Famine had written Fiend.“ Als typisches Kennzeichen aktueller Katastrophenerzählung arbeitet Horn das Muster „catastrophe without event“ 25 heraus, in der die Katastrophe nicht durch ein außergewöhnliches Ereignis, sondern durch die Weiterführung alltäglicher Lebensformen bis zur Erreichung eines „Kipppunktes“ ausgelöst werde, wodurch komplexe Systeme (wie z.-B. das Klima) instabil würden. Die exakte zeitliche Vorhersage des Erreichens eines solchen Kipppunktes ist in komplexen Systemen naturgemäß schwer zu bewerkstelligen und verweist auf die hermeneutische, Horn nennt sie die epistemologische, Ebene der Zukunftserzählungen: Das Problem der Unvorhersagbarkeit dieses Kipppunktes werde typischerweise dadurch gelöst, dass ein „unmöglicher“, postapokalyptischer Standort des Erzählens gewählt werde: der eines zukünftigen Zeugen. 26 Das gilt auch für (weit verbreitete) nicht-fiktionale Werke wie „The Earth After Us. What Legacy Will Humans Leave in the Rocks? “ von dem „Erfinder“ des Anthropozäns, Jan Zalasiewicz: Dort wird die Perspektive eines in hundert Millionen Jahren auf der Erde die Relikte früherer Kulturen suchenden Aliens als Erzähler gewählt. Für die Rezipierenden verbinde sich mit diesem zentralen Problem des Erzählmusters jedoch Unsicherheit: Denn so wenig einerseits sicher sei, dass dieser Kipppunkt in absehbarer Zeit erreicht werde und damit, ob die Katastrophe überhaupt zu Lebzeiten eintreten werde, so wahrscheinlich sei es andererseits, dass wenn sie tatsächlich eingetreten sei, sich die Indizien dafür bereits zuvor hätten beobachten lassen. Die damit verbundenen Widersprüchlichkeiten formuliert Horn folgendermaßen: „What will we have known about the present, seen from a vantage point of future? Both seeing and not seeing, knowing and not knowing, both observer and observed, the Last Man is the ultimate personification of the intricate and entanglement of insight and blindness that characterizes our relation to the future“ 27 . 25 Horn, Future, 8. 26 Horn, Future, 1-3 verweist auf „I’m a Legend“ von 2007. Neuere Dystopien verwenden ähnliche Muster vgl. z.-B. „The Survivalist“ von 2015. 27 Horn, Future, 229. 118 Gudrun Guttenberger Bringen wir das Markusevangelium als antike apokalyptisch geprägte Erzählung und die zeitgenössischen Zukunftserzählungen in einen Zusammenhang: Die Textpragmatik weist (an das Erzählmuster gebundene) Ähnlichkeiten auf: Die mit dem Katastrophalen verbundenen Anforderungen haben eine Prüffunktion für die Güte und Verlässlichkeit von Werten und Beziehungen. Gegen Alarmismus und Verharmlosung ist die Ungewissheit der Gegenwart auszuhalten. Mk 4; 13 können in einer Linie mit zeitgenössischen Zukunftserzählungen gelesen werden und in Leseszenarien in praktisch-theologischen Arbeitsfeldern dazu anregen, die Gefährdung unserer Zivilisation, die Ambiguität unserer Gegenwart im Hinblick auf ihre Verlässlichkeit und die von Alarmismus und Verharmlosung ausgehenden Gefährdungen auszuloten. Die Lektüre kann auch auf ein Nachdenken über gesellschaftliche und individuelle Wertehierarchisierungen und Güterabwägungen geöffnet werden. Eine intertextuelle Analyse (und nicht etwa eine allegorisierende Auslegung) erschließt die wirkungsgeschichtliche Beziehung zwischen markinischem Prätext und zeitgenössischen Posttexten: 28 Echos werden erkennbar: So hat Mk 13,32 in der Rede von der Unvorhersagbarkeit des Zeitpunkts gefolgt von dem Feigenbaumgleichnis als an sich klares Indiz eine Affinität zur „Kipppunkt-Problematik“; auch das „Greuelbild der Verwüstung“ (Mk 13,14) lässt sich in einen Zusammenhang mit diesem bringen. Das oben im Zitat wiedergegebene, die epistemologische Ebene betreffende Dilemma hat eine erschließende Kraft für die Lektüre von Mk 4,10-12 und die Frage nach der Zugehörigkeit zur Ingroup. Die ähnliche Textpragmatik und intertextuelle Beziehungen ermöglichen eine textorientierte (methodisch beschreibbare) „nostrifizierende“ Lektüre, die wiederum zwar noch kein Verstehen des markinischen Textes erreicht, aber Anknüpfungspunkte am Text findet, auch wenn dieser verzerrt wahrgenommen wird. Die zeitgenössischen Zukunftserzählungen in ihrer Vielfalt (Varianten, Sachbuch, Science-Fiction, Hollywood-Film oder „anspruchsvolle“ Literatur wie McCarthys „The Road“) unterstützen darüber hinaus Anschlüsse an die vielfältigen Werte, Lebenswelten, Weltzugänge und ästhetischen Stile heutiger Rezipierenden. Unabwendbar legt ein solches Leseszenario jedoch auch maßgebende Variationsdimensionen, 29 andere wirklichkeitskonstituierende Deutekategorien, offen: Die zeitgenössischen Zukunftserzählung zielen (im Zusammenhang der 28 In konkreten Leseszenarien wird es sich empfehlen, das Markusevangelium mit einem konkreten aktuellen Einzeltext zu verbinden; in diesem Beitrag wird auf das Erzählmuster verwiesen und es können auch nur Beispiele genannt werden. Der Religionsunterricht in der Oberstufe kann weitere antike apokalyptische Texte hinzuziehen und damit das kulturelle Umfeld des Markusevangeliums erschließen. 29 Vgl. Rosa, Lebensformen, 45. Zur Hermeneutik des Markusevangeliums 119 Säkularisierung des Erzählmusters) auf eine Rettung vor der Katastrophe 30 und erhoffen sich diese vom Handeln der Menschen. Die markinische Zukunftserzählung sehnt das baldige Ende der diesseitigen Welt herbei (Mk 13,20), erwartet Rettung von der jenseitigen Figur des Menschensohns (Mk 13,27) und mahnt als proaktives Handeln einzig die Bezeugung des Evangeliums an (Mk 13,11). Das Verhältnis der Lesenden zur erzählten Zukunft unterscheidet sich damit fundamental: Das Auditorium des Markusevangeliums darf - sofern es treu und ausdauernd ist - auf einen guten Ausgang für sich hoffen (Mk 13,26). Für die Leserschaft von modernen Zukunftserzählungen gilt das nicht oder abhängig von den Varianten nur unter der Bedingung der gelingenden Rettung oder nur um einen hohen Preis (Byron). Diesen Kontrast auszuleuchten, diese Grenzen der Nostrifizierung nicht nur auszuhalten, sondern eigens zu inszenieren, ist die Bedingung dafür, sich einem Verstehen des markinischen Textes anzunähern und die mit dem Verstehensprozess verbundene „kategoriale“ Erweiterung der eigenen „Welt“, eine „Verständigung“ nicht von vornherein auszuschließen. Viele unterrichtliche und gemeindliche Lernsettings - dazu regt das übliche „Material“ zum Thema Zukunft gerade an - zielen darauf, diesen Kontrast unsichtbar zu machen. Stattdessen werden die christlichen Varianten solcher „starken Werte“ in das Leseszenario implementiert, die zeitgenössischen Zukunftserzählungen ohnehin bereits inhärent sind, nämlich „Bewahrung der Schöpfung“ und „Abweisung supranaturaler Vorstellungen“. Dadurch wird ein hermeneutischer Stopp ausgelöst: Ein schon zum Greifen nahes (punktuelles) Verstehen - die Beschreibung der Kontraste - wird ausgebremst. Unterbunden wird damit eine Reflexion des „Eigenen“, die das Potential zu einer „Verständigung“ in sich trägt. Die markinische Erzählung kann mit ihrer „Inkommensurabilität“ zum Nachdenken darüber anregen, ob eine Rettung unserer Zivilisation unter allen Umständen wünschenswert ist - und für wen. Sie kann die Macht- und Kontrollphantasien, die nicht nur das Gefährdungs-, sondern auch das Rettungs- und Bewahrungshandeln in diesen Zukunftserzählungen durchdringen, in ein neues Licht stellen. Sie kann dazu beitragen, sich Erfahrungen von Ohnmacht auszusetzen und diese als Konstitutivum des Menschlichen zu erwägen. Und sie kann schließlich ins Nachsinnen darüber geraten, in welches Licht die Annahme eines prinzipiell Unzugänglichen, Jenseitigen, Heiligen, unsere Zukunftserzählungen tauchen würde. 30 Darin ähneln sie dem Erzählmuster der Noaherzählung im Rahmen der priesterschriftlichen Erzählung. Mit diesem biblischen Text wäre dann analog zu verfahren. 120 Gudrun Guttenberger 4. Leid und Tod In der „Passionsgeschichte mit ausführlicher Einleitung“ 31 wird der Weg der Jesusfigur von Beginn an mittels des Geschicks der Figur Johannes‘ des Täufers (Mk 1,14a; 6,14-29), durch die Offenlegung der Bewertungen und Absichten der Antagonisten Jesu (Mk 2,7; 14,63f.; 3,6.22; 11,18; 12,13; 14,1f.) und durch die Aussagen der Jesusfigur selbst (Mk 2,19b; 8,33; 9,11-13.31; 10,33.45; 12,1-12; 14,18-21.27) auf dessen Hinrichtung hin perspektiviert und gedeutet. In diesem zweiten Beispiel soll versucht werden, empirische Befunde zur Deutung von Leid in der pastoralpsychologischen Gesundheitsforschung in ein Leseszenario einzubringen. Auch in diesem Leseszenario ist die Komplexität der Inkommensurabilität durch wirkungsgeschichtliche Zusammenhänge reduziert. Kontraste werden so leichter beschreibbar. Die Frage nach dem Leid ist in christlicher Tradition durch die Verschmelzung philosophischer Traditionen mit biblischen Vorstellungen durch die seit Leibniz so genannte Theodizeefrage formatisiert. Die neuzeitliche Form der Frage gehört in den Kontext der Religionskritik bzw. der Apologetik. 32 Die Relevanz der theoretischen Frage wird für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene kontrovers diskutiert: Für manche markiert die Frage die Sollbruchstelle des Glaubens in der Pubertät, andere erleben sie als Anfechtung ihres christlichen Glaubens, wieder andere berührt die Fragestellung gar nicht. Derzeit wird angenommen, dass ihre Bedeutsamkeit abhängig von Lebenserfahrungen, religiösen Prägungen und Werteorientierungen differiert. 33 Wo Menschen im Zusammenhang von „major life events“ 34 religiöse Fragen in einem christlich geprägten Interpretationsraum stellen, gibt die Theodizee weiterhin 31 M. Kähler, Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus, Leipzig 1892, 34. 32 Aus der umfangreichen Literatur vgl. nur die einschlägigen Artikel von H. Rosenau, Art. Theodizee Dogmatisch, TRE Bd.-10, 222-229; S. Lorenz, Art. Theodizee, HWPh (online); vgl. weiter das verbreitete Lehrbuch von K. v. Stosch, Theodizee, Paderborn 2013. 33 Vgl. G. Büttner/ V.-J. Dieterich, Entwicklungspsychologie in der Religionspädagogik, Göttingen 2016, 172-190; E. Stögbauer-Elsner, Art. Theodizee, in: wirelex.de. 34 Der aus der Psychologie stammende Begriff gehört in die Emotions- und Gesundheitsforschung und bezeichnet dort starke Stressoren, die die körperliche und psychische Gesundheit gefährden. Vgl. D. G. Myers, Psychologie, Berlin, Heidelberg 3 2014, 526 f. Religiöse Einstellungen und Verhaltensweisen werden in diesem Kontext als Copingstrategien konzeptionalisiert. Vgl. dazu A. Dörr, Religiöses Coping als Ressource bei Bewältigung von Life Events in: C. Zwingmann/ H. Moosbrugger (Hg.), Religiosität: Messverfahren und Studien zu Gesundheit und Lebensbewältigung. Neue Beiträge zur Religionspsychologie, Münster 2004, 261-275. Zur Hermeneutik des Markusevangeliums 121 die Kategorien vor. 35 Die Bewältigung („Coping“) von schweren Leiderfahrungen („major life events“) wird in der Gesundheitsforschung untersucht. Viele Untersuchungen beziehen sich auf den „Copingstil“, also auf habitualisierte Bewältigungsstrategien in Stresssituationen. In der religionspsychologischen Forschung wird dabei zwischen einem „self-directing style“, durch den die betroffene Person annimmt, von Gott dazu befähigt zu werden, ihre Probleme selbst zu lösen, einem „deferring-style“, durch den der passive Mensch von Gott Rettung erhofft, und einem „collaborative-style“ unterschieden, durch den die von Leid betroffene Person bereit ist, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen, zugleich aber auch annimmt, dass Gott handelt. Zusätzlich zu den durch die Unterstützung der sozialen Gruppe, z.-B. einer Gemeinde, hervorgerufenen positiven Effekten, lassen sich auch kognitive Deutemuster und emotionale Erfahrungen von Gottesnähe als unterstützende Faktoren erweisen. 36 Die Wirkungen von kognitiven religiösen Deutemustern hat Christoph Morgenthaler im Rahmen einer Befragung von Eltern, die ein Kind verloren haben, untersucht. Dabei hat sich die Deutung, dass sich das Geschehen durch einen unbegreiflichen, aber göttlichen Plan erklären lasse, als stärkender und entlastender erwiesen als die Deutung als Strafe oder dadurch, dass Gott mitleide. 37 Stellt man das Markusevangelium in ein von derartigen pastoralpsychologischen Einsichten mitbestimmtes Leseszenario ein, ist zunächst zu beachten, dass die „Passionsgeschichte mit ausführlicher Einleitung“ in dieser Einleitung einen starken Kontrapunkt setzt: Leuchtet die Erzählung doch den Kontrast zwischen der Würde Jesu, die das Evangelium in seinem besonders engen Gottesverhältnis begründet sieht (1,11; 9,7), und die sich in seiner vollmächtigen Verkündigung, mit er die Menschen gewinnt, sowie in seiner Macht über die Mächte des Chaos (Dämonen, Meer, römische Besatzung) manifestiert, und seinem Leiden und Sterben besonders hell aus. Der Kontrast erschließt sich dabei nicht durch die Kategorie der Gerechtigkeit, sondern durch die der Zugehörigkeit, erkennbar an Präsenz und Absenz Gottes. Dem visionär geöffneten Himmel in der Taufszene und der Überschattung des Zusammentreffens des verklärten Jesus 35 Die Thematisierung im Religionsunterricht und in Lehramtsstudiengängen könnte deutlich davon profitieren, zwischen einem religionskritischen und einem lebenspraktischen Rahmen zu unterscheiden. Beide Fragestellungen gehören zu verschiedenen „Systemen“ (im Sinne Luhmanns) und folgen verschiedenen, nicht miteinander verrechenbaren Codes: Während sich die theoretische Theodizeefrage dem Kriterium der „Wahrheit“ stellen muss, untersteht die „lebenspraktische“ dem Kriterium der Lebensförderlichkeit. Eine „Verständigung“ zwischen beiden „Welten“ ist wiederum eine hermeneutische Aufgabe. 36 Vgl. Dörr, Religiöses Coping, 270-272. 37 Vgl. H. Znoij/ C. Morgenthaler/ C. Zwingmann: Mehr als nur Bewältigen? Religiosität, Stressreaktionen und Coping bei elterlicher Depressivität nach Verlust eines Kindes, in: Zwingmann/ Moosbrugger, Religiosität, 277-298. 122 Gudrun Guttenberger mit den himmlischen Gestalten Mose und Elia durch die göttliche Präsenz anzeigende Wolke korrespondiert das Schweigen Gottes in der Gethsemane- (Mk 14,32-42) und der Kreuzigungsszene, in der der sterbende Jesus die Abwendung Gottes ausdrücklich beklagt (Mk 15,34). Der Kommentar des Zenturios verschärft dem Kontrast noch: So stirbt ein Gottessohn (Mk 15,39). Die Gefühle des leidenden Jesus werden in der Gethsemaneszene eindrücklich gezeigt: Der markinische Jesus bricht unter Zittern und Todesängsten zusammen (Mk 14,34). Die Kreuzigungsszene verstärkt durch die Einblendung der Perspektive der „Feinde“ Jesu und deren spöttischer Kommentierung seiner Ohnmacht (Mk 15,29-32) diese Grundstruktur der markinischen Erzählung: Den Helfer sehen die Umstehenden hilflos, den Wundertäter machtlos, den Moderator der Präsenz Gottes hören sie seine Gottverlassenheit beklagen. In der Perspektive der Feinde falsifiziert die Hinrichtung Jesu seine besondere Würde. Die Perspektive des Erzählers ist eine andere: Leiden und Sterben Jesu und der (geheime) epiphanale Charakter seines Wirkens gehören zusammen und können nicht gegeneinander aufgerechnet werden. In diesem Leseszenario lässt sich zunächst „nostrifizierend“ beschreiben, dass das Markusevangelium keine der argumentativen Strategien einsetzt, durch die in der Diskussion der Theodizeefrage das Leiden relativiert wird: Es wird nicht über Erziehungs- und Bewährungsmodelle bonifiziert; soteriologische Motive leuchten zwar mit Mk 10,45; 14,24 die Vorstellungswelt des Christusglaubens der Adressaten aus, haben für die markinische Erzählung des Todes Jesu aber keine tragende Funktion. Das gilt auch für die Relativierung durch Straf- oder Lohnvorstellungen. Zwar erwartet Unheil diejenigen, die für Jesu gewaltsamen Tod verantwortlich sind (Mk 12,9; 14,21.62), und es wird denen, die ihr Kreuz auf sich nehmen, eschatologischer Lebensgewinn versprochen (Mk 8,35), eine „ausgleichende“ Gerechtigkeit im Diesseits oder Jenseits, wie sie im Zusammenhang des Motivs vom Leidenden Gerechten z.-B. in Sap 2 f. greifbar wird, findet sich aber nicht prominent. Erklärungsstrategien, die auf eine Relativierung der Allmacht Gottes setzen oder darauf verweisen, dass Gott mitleide, sind der markinischen Erzählung sogar gegenläufig: Die Vorstellung von der Allmacht Gottes (Mk 10,27; 14,36) wird bei Mk auf die Glaubenden ausgeweitet (Mk 9,23; 11,22f.); durch die Gottesklage in Mk 15,34 wird die Abwendung Gottes vom Leiden eindrücklich inszeniert. 38 Das Leidensgeschick Jesu wird hingegen v. a. durch das auf Gottes Plan zu beziehende „muss“ (δεῖ, Mk 8,31) erklärt, was wie- 38 Mk 12,6 (vgl. 1,11; 9,7) erklärt die Beziehung von Jesus und Gott über die Vatermetapher als von Liebe bestimmt. Das Potential der Metapher, ein Mitleiden Gottes zu zeigen, wird aber nicht aktualisiert. In der Gleichniserzählung liegt der Akzent nicht auf den Affekten des Weinbergbesitzers (Mk 12,9 ließe allenfalls auf Zorn schließen), sondern auf seinem Gerichtshandeln. Die Gethsemanszene verstärkt dieses Fehlen des Mitleidens Gottes. Zur Hermeneutik des Markusevangeliums 123 derum mit den Schriften verbunden ist (Mk 12,10f.14,27). Einen tieferen Einblick in diesen Plan eröffnet die Erzählung nicht. 39 Die Gethsemaneszene zeigt, wie schwer dieser Plan zu akzeptieren ist. Mit der Vorhersage der Auferstehung (vgl. Mk 16, 6 f.) wird er so konzipiert, dass er über die Todesgrenze hinausreicht. Da die Erscheinungen des Auferstandenen jedoch nicht erzählt werden und das „Sehen“ auf das Ende verwiesen bleibt (Mk 13,27), wird die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits, dem Zugänglichen und dem Unzugänglichen gewahrt. Das Markusevangelium begründet Hoffnung, suggeriert aber keine Evidenz, wo Ambiguität herrscht. Noch im Rahmen einer solchen „nostrifizierenden“ Lektüre, die an Textbeobachtungen anknüpfen kann, diese aber perspektivisch verzerrt wahrnimmt, können zwei Impulse aufgenommen werden, durch die unsere eigenen Wahrnehmungen und Deutungen von Leid linear erweitert werden. Auf der Grundlage der Annahme des göttlichen Plans kann die markinische Erzählung der Passionsereignisse das Stilmittel der Ironie verwenden. Die Wahrnehmung der Situation Jesu durch seine Feinde wird mit einer hintergründigen Deutung versehen: Der Tempel wird durch die Kreuzigung tatsächlich seiner Auflösung überantwortet (Mk 15,38), die Hilflosigkeit Jesu rettet tatsächlich anderen das Leben (Mk 10,45), der Gekreuzigte ist tatsächlich der König, der Verstorbene ist tatsächlich als solcher der Gottessohn. Die Situation ist ganz anders zu bewerten als es prima facie scheint. Kränkungs- und Verletzungsabsicht der Umstehenden treffen ins Leere. Durch die Annahme eines Plans kann eine anscheinend eindeutige Situation einem neuem „Framing“ unterzogen werden, durch die vom Leid Betroffene eine Stärkung ihrer Identität erfahren können. Die kontrastreiche Christologie des Markusevangeliums zeigt erzählend, dass Erfahrungen der Zuwendung und der Verborgenheit Gottes zusammengehören; die Erzählung stemmt sich gegen den Versuch, diese gegeneinander zu verrechnen oder Erfahrungen der Gottesnähe als Illusion zu deuten. Dies kann sowohl auf der Ebene der praktischen Leidbewältigung z.- B. im Zusammenhang von Biographiearbeit unterstützend wirken, als auch zur weiteren Differenzierung der theoretischen Beschäftigung mit der Theodizeefrage (zumindest im Bereich von Unterricht) beitragen: Nach Deutung verlangt nicht nur die Existenz des Übels, sondern auch die Erfahrung von Resonanz, von Ordnung, von Gelingen, von Glück. 40 Zu einem „Verstehen“ der markinischen Erzählung im Hinblick auf das Leiden bedarf es der Wahrnehmung der Kontraste: Gott wird schon hier als abgewandt gezeigt. Gezeigt wird eher das Gegenteil eines mitleidenden Gottes. 39 Mk 12,1-12 zeigt immerhin, dass die Bindung Gottes an sein Volk diesen Plan begründet. 40 Vgl. dazu G. Theißen, Religionskritik als Religionsdiskurs, Stuttgart 2020, 90-95. 124 Gudrun Guttenberger Die Theodizeefrage ist in ihrer theoretischen Strukturierung an die Bedingungen der Aufklärung und die nur nach der Aufklärung in dieser Form möglichen Religionskritik gebunden. Dazu gehören auch die argumentativen Strategien im Umgang mit ihr: Sie setzen theologische und philosophische Argumentationen am Zusammenfluss von antiker Philosophie und biblischen Traditionen voraus. Bewältigungsversuche von Leiderfahrungen im sozialen Zusammenhang christlicher Lebensdeutung sind davon zwar unterschwellig, aber strukturgebend betroffen. Die markinische Erzählung stellt ihre Deutung des Leidens Jesu in keiner Weise in einen religionskritischen Zusammenhang. Weder Gott noch der Glaube an ihn werden durch die Passion Jesu fraglich. 41 Auch wenn die traditionelle Annahme, Religion sei eine stets aktualisierte Dimension antiker Kultur, Atheismus allenfalls bei wenigen, hochgebildeten Oberschichtsmitgliedern eine Möglichkeit gewesen, kritisch diskutiert wird, 42 ist die Wirklichkeitsdeutung der ersten Christusanhänger, die wir in Texten greifen können, massiv und durchgehend von der Erfahrung durchdrungen und geformt, dass Gott Jesus auferweckt und ihn erhöht hat und dass die Gabe des Geistes 43 die Christusgläubigen mit diesem Geschehen verbindet. Die damit einhergehenden Evidenzerfahrungen sind m. E. für Personen, die unsere kulturelle Welt bewohnen, wegen des hohen Grades an Reflexivität im Umgang mit Religion, den wir seit der Aufklärung erworben haben und der in der Postmoderne zwar umstrukturiert, aber keineswegs reduziert worden ist, so nicht zugänglich. 44 Eine Anbahnung des Verstehens kann vielleicht auf einem Umweg erfolgen: Die Wundererzählungen perspektivieren verschiedenartige Ausprägungen menschlichen Leidens auf dessen Überwindung hin. Insbesondere die Exorzismuserzählungen konfigurieren (durch ihre dualistische Deutung) Leiden als „Übel“ par excellence und verbinden mit seiner „Vertreibung“ im Zusammenhang der Errichtung der Königsherrschaft Gottes eine Welt ohne Leid. Die Erzählung zielt überhaupt nicht darauf „Leiden“ (schon gar nicht erfolgreich) in das Leben zu integrieren, sie erzählt von einer kontrafaktischen Wirklichkeit, stellt einen anhaltenden Protest gegen das Leid dar. Das Korrelat dazu bilden 41 Auch den Leiderfahrungen der intendierten Adressaten der Erzählung, die ebenfalls durch den göttlichen Plan gedeutet werden (Mk 13,7.10.14), wird keine Gefahr zugeschrieben, die religionskritisch eingeordnet werden könnte. Die Gefahr besteht vielmehr darin, dass sie ihre religiösen Deutungen ausweiten könnten, indem sie Personen fälschlich als Propheten oder Messias interpretieren könnten. 42 Vgl. J. Rüpke, Pantheon, München 2016, 13-34. 43 Vgl. Mk 13,11. 44 Die Ablehnung solcher Reflexivität in der Aufklärung gegenüber abweisenden, fundamentalistischen Kreisen führt natürlich nicht in das Erleben der Antike zurück, sondern mitten in eine Ideologie hinein, die sich nur durch Verleugnung, Verschwörungstheorien und „Blasenbildung“ stabilisieren lässt. Zur Hermeneutik des Markusevangeliums 125 die schwer erträglichen Radikalisierungen des Leidens Jesu durch Verspottung, Vereinsamung und durch seine Gottverlassenheit. Indem der markinische Jesus diese mit dem Ruf von Ps 22,2 selbst formuliert und beklagt, zeigt das Markusevangelium, wie das Leid einen Menschen zerbricht. Der markinische Jesus stirbt nicht „mit seinem Geschick (irgendwie) versöhnt“, sondern durch es gebrochen. 45 Die Voraussetzung für eine solche Konfigurierung des Leidens - und zwar in beiden skizzierten Extrempunkten - ist m. E. die starke Evidenzerfahrung der frühen Christusanhänger. Die Reflexion dieser Deutung von Leid auf das innerhalb unserer Kultur dominante Muster der „Integration“ deckt möglicherweise eine kulturtypische Vereinseitigung und Verflachung auf. Diese betrifft weniger die professionelle Gesundheitsforschung als die Verselbständigung ihrer inhärenten Werte zu Normen. Ich formuliere vorsichtige (und keineswegs rhetorische) Fragen: Gehört zu einer gesellschaftlichen Utopie vielleicht doch eine Befreiung von Leid - und zwar eine, die realistische Ziele sozialpolitischen Handelns qualitativ übersteigt? Gehört zum Anspruch auf ein menschenwürdiges Leben vielleicht auch die Hoffnung auf eine Befreiung von Einschränkungen, die über die Möglichkeiten von „Inklusion“ deutlich hinausreicht? Und als Korrelat (nicht als Kontrast): Wird das Humanum nicht vielleicht auch dadurch konstituiert, dass Menschen am Leid zerbrechen können - und in einigen Fällen daran zerbrechen müssen? Verdeckt nicht die Rede vom „Coping“ und von der Resilienz (insbesondere da, wo sie generalisiert wird) diese Dimension von Mensch-Sein? Zeigt unsere Art und Weise des Umgehens mit dem Leid, unsere „Bewältigungsbemühung“ nicht auch Merkmale von Bemächtigungsversuchen, die etwas Inhumanes haben und zur Spiegelfechterei degenerieren können? An zwei Beispielen habe ich versucht, die praktisch-theologische und die exegetische „Welt“ miteinander ins Gespräch zu bringen und dabei ein „Verstehen“ des Markusevangeliums in einer Weise anzubahnen, die auch außerhalb der exegetischen Welt Interesse zu finden hofft. Die Umfangsbegrenzung des Beitrags macht nicht nur die Besprechung weiterer Beispiele unmöglich, sondern hat auch dazu geführt, dass die Perspektiven der praktischen Theologie stark reduziert und die der systematischen Theologie gar nicht oder nur höchst unzureichend eingespielt werden konnten. Die Thematisierung hermeneutischer Fragen bringt mit ihrer Komplexität viele unserer Kommunikationsformate und 45 Traditionsgeschichtlich bestehen Beziehungen zur apokalyptischen Weltsicht der Erzählung sowie zum Topos vom leidenden Gerechten. Wie die Gethsemaneszene deutlich macht, bleibt Jesus auch in der Passion der gehorsame Sohn. Auch wenn „das Zerbrechen“ somit nicht die Fundamente der Wirklichkeitsdeutung der Erzählung erreicht, dominiert es die Ebene der dargestellten Affekte und des Erlebens des Protagonisten. 126 Gudrun Guttenberger möglicherweise auch die Bereitschaft und die Fähigkeiten vieler Akteure (die Verfasserin eingeschlossen) und Rezipierenden an die Grenzen. Diese Fragen dürfen aber nicht suspendiert werden, wenn die Disziplinen der wissenschaftlichen Theologie nicht einen Fluchtpunkt und das religionsbezogene Handeln und seine Reflexion in Schule und Gemeinde nicht seine theologische Dimension aufs Spiel setzen will. Buchreport Manuel Vogel Cilliers Breytenbach The Gospel according to Mark as Episodic Narrative Leiden/ Boston: Brill 2021 (NT.S 182) 535 S. ISBN 978-90-04-44333-4 Zeitschrift für Neues Testament 24. Jahrgang (2021) Heft 47 128 Buchreport Die in diesem Band gesammelten zweiundzwanzig Beiträge dokumentieren, dass B. seit seiner Dissertation Nachfolge und Zukunftserwartung nach Markus. Eine methodenkritische Studie von 1984 der Markusforschung bis auf den heutigen Tag eng verbunden ist und sie im Laufe von dreieinhalb Jahrzehnten wesentlich mit geprägt hat. Am Anfang des ersten von vier Hauptteilen (The Gospel according to Mark) steht ein kurzer Text gleichen Titels zu den Einleitungsfragen (3-10), konzipiert für den Artikel zum MkEv in der Encyclopedia of the Bible and Its Reception, hier in leichter Überarbeitung. Erhellend ist zumal die Unterscheidung von realem und implizitem Autor in ihrem Nutzen gerade auf dem Feld der Einleitungsfragen: „We do not know who the historical author Mark was, so we will concentrate on the implied author, who is in the text“ (3). Die Zurückhaltung im Blick auf das historisch Wissbare zahlt sich aus in der geschärften methodischen Aufmerksamkeit auf das, was sich valide aus dem Text selbst erheben lässt, und das ist nicht wenig. Mit The Gospel of Mark as ,Episodic Narrative‘ (11-40) liegt die englische Übersetzung eines Aufsatzes von 1985 vor, der in dem für die deutschsprachige Mk-Forschung wichtigen Sammelband „Der Erzähler des Evangeliums“ (hg. F. Hahn) erschienen ist (hier 139-169, vorliegend wird auf die deutsche Fassung Bezug genommen). Wichtig ist in diesem methodisch an einer reichhaltigen literarischen Erzählforschung geschulten Beitrag v. a. zweierlei: (a) Die Analyse des MkEv entsprechend der narrativen Superstruktur „Szene - Komplikation - Evaluation - Auflösung - Moral“ (vgl. 150-157) ergibt einerseits, „dass das Markusevangelium eine narrative Makrostruktur hat und daher als ,Erzähltext‘ zu gelten hat“ (157). Andererseits gibt es aber signifikante und für das Verständnis des MkEv entscheidend wichtige Abweichungen von diesem Schema, nämlich dort, wo „Auflösung“ und „Moral“ nicht (intradiegetisch) erzählt, sondern (extradiegetisch) für die Zukunft vorausgesagt werden. Gemeint ist damit, „dass die Lösung der Komplikation der ,narrativen‘ Makrostruktur“ in den Aussagen zu suchen ist, die über das bis Mk 16,8 Erzählte hinausgehen“ (154). Das „Element ,Auflösung‘“ ist präsent in der „Voraussage endzeitlichen Geschehens und in Gestalt apokalyptisch-prophetischer Sätze“ (154). Auch für die „Moral“ gilt: Sie liegt in der „Zukunftserwartung“ (157) und besteht in Treue, Wachen, Ausharren und dem Festhalten am Wort. (b) Für „die ,Gliederung‘“ (162) des MkEv - von B. hier kritisch in Anführungszeichen gesetzt, sofern damit (lediglich) ein Verfahren der linearen Textsegmentierung gemeint ist - sind die „hierarchisch zugeordneten Ebenen des Erzähltextes“ (162) zu beachten, näherhin „die Unterscheidung von verschiedenen Kommunikationsebenen innerhalb des Markustextes, die Differenzierung zwischen Makro-Erzählung und einzelnen Episoden, zwischen erzählerischer Darstellung und Zitation, Bewertung, Vo- Buchreport 129 raussage, Ermahnung und die Trennung zwischen dem Erzähltext selbst und seiner narrativen Makrostruktur“ (169). Stets geht es dabei um das Aufspüren von Textsignalen, die „Orientierungspunkte“ (168) für den Leseprozess setzen und damit auch für die Interpretation des MkEv entscheidend sind. Neuesten Datums ist der Beitrag The Gospel according to Mark: The Yardstick for Comparing the Gospels with Ancient Texts von 2020 (41-65). B. teilt die Zurückhaltung, von „Biographie“ im Sinne einer klar bestimmbaren antiken Gattung zu sprechen und das MkEv dieser Gattung zuzuordnen. Dementsprechend will er die „illustrative“ Weise des Textvergleichs, die ein bestehendes Modell voraussetzt, einstweilen zurückstellen zugunsten des „analytischen“ Vergleichs des MkEv „with selected texts that are generally reckoned to belong to the family of Graeco-Roman biographical narratives“ (47), u. zw. „on the basis of what is typical for Mark as a narrative“ (46 f.). Das Interesse dieses analytischen Modus „is heuristic, for it allows us to see in a field of difference certain similarities that are of intellectual interest“, wie B. mit John Kloppenborg formuliert (44). Der Ertrag dieses Vergleichens fällt je unterschiedlich aus. So überwiegen etwa in der Vita Hippocratis des Ps.-Soranus und in Cornelius Nepos‘ De viris illustribus im Blick auf „form, common narrative strategy and mode“ des MkEv (52) die Unterschiede, bei der Vita Aesopi dagegen (49-52) zeigen sich weitgehende Gemeinsamkeiten formaler (Episodenstil, narrative Strategie) und inhaltlicher Art (keine Passagen zu Vorfahren, Kindheit und Jugend, Begabung Äsops durch die Göttin Isis). Beim Vergleich des MkEv mit Lukians Demonax (52 f.) fällt bei gemeinsamer Verwendung von Chrien auf, dass Lukian dieselben anders als bei Mk nicht in einem übergreifenden narrativen Plot organisiert (52). Der analytische Vergleich soll den illustrativen vorbereiten („pave the way“, 62), d. h. letzterer ist nicht verfehlt, sondern er käme nur zum gegenwärtigen Zeitpunkt verfrüht. Freilich könnte sich das MkEv selbst einer Einordnung in ein zu erhebendes biographisches Gattungsschema widersetzen. Es ist nämlich gar nicht unstrittig, ob Jesus überhaupt der Hauptakteur des MkEv ist oder nicht vielmehr Gott, oder ob es eigentlich um eine Person geht oder nicht vielmehr um eine Sache, nämlich das Evangelium. „I am not convinced that the Gospel according to Mark starts as a biography. Moreover, it is not about the life of Jesus, but about the good news he proclaimed.“ (61). In Das Markusevangelium als traditionsgebundene Erzählung? Anfragen an die Markusforschung der achtziger Jahre von 1993 (66-105) geht es um das Verhältnis von synchroner Auslegung im Gefolge des amerikanischen literary criticism und historisch-kritischer diachroner Exegese. B. zeigt, dass dort, wo der literary criticism in der deutschsprachigen Mk-Forschung übernommen wurde, diachrone Fragestellungen vielfach als obsolet und entbehrlich angesehen wurden, zugunsten einer rein textimmanenten Analyse, dies freilich nicht selten unter 130 Buchreport Verzicht auf eine eigene theoretische Durchdringung dessen, was der literary criticism an linguistischer Methode voraussetzt (80: „lediglich auf der Grundlage einer ,Commonsense-Lektüre‘ des Gesamttextes“, 79: „gefährliche Methodenlosigkeit“). Dass aber die Scheidung von mk. Redaktion und verwendeter Tradition im Blick auf ihren Erkenntniswert für das Verständnis des Gesamttextes in Verruf geraten ist oder jedenfalls im Methodenkanon der synchronen Textanalyse nachgeordnet wurde, kommt angesichts des im Laufe der Forschung entstandenen Hypothesengewirrs nicht von ungefähr. Deutlich geworden ist auch, dass die weitgehende stilistische Prägung seines Stoffs durch den Evangelisten die Scheidung von Tradition und Redaktion zusätzlich erschwert (82). Aussichtsreich ist die Frage nach vormk. Tradition für B. aber nach wie vor überall dort, wo literarisch unabhängige parallele Überlieferungen vorliegen (83), etwa in Q oder im ThEv, vorausgesetzt, das ThEv hat an den betreffenden Stellen frühsynoptische Tradition bewahrt. Am Beispiel von Mk 9,9-11 (Elia und der Menschensohn) zeigt B. außerdem überzeugend, dass eine rein textsynchrone Lektüre fallweise einen kohärenten Text gar nicht erheben kann. Für Mk 9,9-11 gilt, „dass synchrone Interpretation keine achrone, textimmanente Interpretation sein kann, sondern eine Konstruktion der zeitgenössischen Endzeiterwartung und Schriftauslegungstradition voraussetzt, die im Umfeld der Hörer des Textes gegenwärtig war, bevor man überhaupt von einem kohärenten Text sprechen kann. Die Kohärenz liegt nicht im Text - es ist die Interpretationsstrategie der Exegeten (…), die mit Hilfe des Textes eine kohärente Lektüre hervorbringt“ (93). In Mark and Galilee: Text World and Historical World (106-118) von 1993 geht es um zweierlei: Erstens wird in einigen wenigen Strichen die mk. Präferenz für ein ländliches Setting herausgearbeitet. Wo Namen größerer Städte fallen, etwa Tyrus, Gerasa, Cäsarea Philippi oder Jericho, betritt Jesus diese Städte i. d. R. nicht, sondern hält sich nur in ihrer Umgebung auf. Hier helfen die antiken historischen Quellen, allen voran Josephus, diesem narrativen Setting etwas von der Farbe zu erstatten, mit der ein Publikum des 1. Jh. diese Landschafts- und Städtenamen hörte und imaginierte (108-111). Ausgesprochen anregend ist zweitens das Gespräch, das B. am Beispiel der Grabungsbefunde zum „Haus des Petrus“ zwischen der Archäologie und dem MkEv eröffnet. Selbst bei sehr vorsichtiger Auswertung der Befunde (Umgestaltung des Gebäudes erst Anfang 3. Jh., Verehrung des Platzes als „Haus des Petrus“ erst Anfang 4. Jh., Datierung des Gebäudes aber jedenfalls späthellenistisch oder römisch, spätestens um 60 n. Chr.) lässt doch das archäologische Interesse den mk. Text - das „Haus des Simon und des Andreas“ (1,29) als „primary centre of spatial orientation in the first half of the Gospel“ (113) in einem neuen Licht erscheinen: Spielt dieses Haus bei Mk deshalb eine solch prominente Rolle, weil es bereits zur Zeit der Buchreport 131 Abfassung des MkEv ein christlicher Versammlungsort war? „So it might just be that archaeology could benefit from the analysis of spatial focalization in Mark’s discourse. The text world thus helps us to construct the historical world.“ (113). Bisher unveröffentlicht ist der Aufsatz Galilee and Jerusalem: Rural Villages versus the Cultic City according to Mark’s Gospel (119-141), der auf einen Vortrag von 2018 zurückgeht. Auch hier geht es darum, die topographische und räumliche Struktur der mk. Erzählung anhand archäologischer Daten und antiker Historiographie nachzuvollziehen, hier nun unterlegt mit reichem Bild- und Kartenmaterial. Ein wichtiges Ergebnis ist, dass das MkEv eine Vertrautheit mit den Ortslagen der einzelnen Episoden voraussetzt, u. zw. auch bei den Lesenden (139). Brisant ist der Gegensatz Galiläa - Jerusalem, der bei einer räumlichen Betrachtungsweise mit besonderer Schärfe hervortritt. „Jerusalem, the city dedicated to the cult, became dysfunctional. It is bound to be destroyed.“ Der Auferstandene erscheint „not in Jerusalem“ (139). Dass sich hier gewichtige theologische Anschlussfragen ergeben, sei nur am Rande notiert. Jedenfalls gerät Galiläa theologiegeschichtlich verstärkt in den Blick als ein wichtiges Zentrum der frühen Jesusbewegung, nicht zuletzt das „Haus des Simon und des Andreas“ als mögliche Referenz auf einen historisch bedeutsamen frühchristlichen Versammlungsort. Wichtig sind auch die Galiläa-Referenzen in späteren Texten, bis dahin, dass noch Kaiser Julian die Christen „Galiläer“ nannte (139 f. Anm. 45). Im Beitrag From Mark’s Son of God to Jesus of Nazareth - un cul-de-sac? (142- 176) von 2013 geht es um die methodischen Anforderungen an die Rückfrage nach dem historischen Jesus. Unter dem Leitmotiv der „Straße“, ansprechend allegorisiert mit durch den Wald geschlagenen Schneisen, Querfeldein-Ralleys nach eigenem methodischen Gutdünken oder notwendigen Grabungen unter (vormk. Tradition) und neben (Q) dem Asphalt, begibt sich B. auf eine Fahrt auf der „Wrede-Straße“ (d. h.: das MkEv als Erzählung), vorbei an Bultmann (Beziehungslosigkeit zwischen Kerygma und historischem Jesus) und Käsemann (spannungreiche Beziehung zwischen beidem) hin zu J.D.G. Dunns „impact“, den Jesu Wirken in den Texten hinterlassen habe, und der Rede von den Synoptikern als „historischen Jesus-Erzählungen“ („historical Jesus narratives“, passim). Bei beiden Ansätzen sieht B. jedenfalls einen noch uneingelösten theoretischen Mehrbedarf durch „insights from cultural anthropology, phenomenology, cognitive psychology, and narratology“ (150). Nach einer theoretischen Fundierung und Differenzierung des Erinnerungsbegriffs (154-161) setzt sich B. dann mit der nötigen Vorsicht und Umsicht selbst ans Steuer (161-171). Der Plot des MkEv ist „a construction of reality in which God is the main actor“ (163) und insofern keine verarbeitete Jesuserinnerung. „Nevertheless, there are major aspects of the plot of this highly theo-logical episodic narrative that can be utilized for historical construction“ (164), etwa das Jüngerunverständnis, die Ableh- 132 Buchreport nung Jesu durch seine Familie oder die Rolle der Herodianer. Auch die Galiläa- Topographie des MkEv ist historisch nicht einfach wertlos (ungeachtet dessen, dass sie zu dem von K. L. Schmidt identifizierten mk. „Rahmen der Geschichte“ gehört; vgl. 143 Anm. 4), und in Anwedung der „old-fashioned historical-critical analysis“ (164) versprechen das „Mark/ Q-substratum“ (168), die zwischen LXX und hebr. Text differenzierende Untersuchung des mk. Schriftgebrauchs (169) und die Analyse semitischer und griechischer Gattungen (169 f) weiteren Ertrag. An zwei Stellen dieses überaus dichten und instruktiven Beitrages möchte ich mit weitergehenden Fragen ansetzen: (a) Zu diskutieren ist m. E., warum gerade das ausgesucht redaktionelle mk. Missverständnismotiv beweisen soll, dass es keinen „pre-Easter faith in Jesus“ (149 Anm. 27) gegeben habe (Q 7,9; 17,6 sind rudimentär und nicht tragfähig). Als Gedankenexperiment: Was hätte wohl der nach Gal 1,18 im Gespräch mit Paulus befindliche Kephas auf die Vorhaltung geäußert, er habe seinen Meister in den Tagen der gemeinsamen irdischen Wanderschaft völlig falsch verstanden? Und: Das Missverständnismotiv lässt sich aus Sicht des literary criticism vermutlich leicht beschreiben und suffizient erklären als ein narratives Mittel, das einen Spannungsbogen bis zum Bekenntnis des Centurio in 15,39 schlägt: Erst hier löst sich das Missverständnis, vorher muss es die Narration Schritt um Schritt begleiten. Historisch wäre es dann praktisch wertlos. Nebenbei bemerkt: Das Jüngerunverständnis ist in der mk. Zeichnung keineswegs nur ein „christologisches“ Problem. Die Jünger versagen auch im Umgang mit Macht (10,37), mit der pharisäischen Halacha (7,18), mit Frauen (14,5) und mit Eltern und Kindern (10,13). (b) Die 148 Anm. 20 zustimmend aufgenommene Beobachtung von B. Lategan, „that Jesus’s life has always been interpreted, positively by his followers, negatively by his opponents“ gilt nicht nur bereits von den Gegnern und Nachfolgern des irdischen Jesus, sondern auch schon von Jesus selbst. Dass es „no way (…) back to the bare, un-interpreted life of Jesus“ gibt, stimmt nur insofern, als auch schon das Handeln Jesu nicht ohne eine irgendwie qualifizierte Selbstauffassung denkbar ist (und sei es nur im - keineswegs unsympathischen! - Typus des traditionsignoranten kynischen Störenfrieds, der mit Vergnügen und ohne Anspruch auf größere Sinntiefe einer saturierten Provinzelite auf die Nerven ging. Alles Biblische wäre dann nachösterliche Verzeichnung). Die Selbstauffassung Jesu ist mithin eine nicht nur legitime, sondern nachgerade unverzichtbare Frage der historischen Jesusforschung. Wenn man die kynische Variante für nicht naheliegend hält und statt dessen der Meinung ist, dass die synoptische Tradition das Wirken Jesu historisch zutreffend in großer Nähe zum Täufer ansiedelt, der seinerseits eine apokalyptisch geprägte biblisch-jüdische Selbstauffassung hatte, dann eröffnet sich mit dem weiten Feld biblisch- Buchreport 133 jüdischer Geschichtsdeutung ein mögliches Kontinuum zwischen täuferischer, jesuanischer und nachösterlich-jesusgläubiger Sinnbildung. Im ersten von fünf Beiträgen des zweiten Teils (Discourse Studies on the Text of the Earliest Gospel) geht es um Alternation between Aorist, Historical Present and Imperfect: Aspects of Markan Narrative Style (179-219). Es handelt sich um die erweiterte Fassung der Frans Neirynck Memorial Lecture von 2018. In Aufnahme der wichtigen Arbeiten zum Stil des MkEv von Neirynk und Peter Dschulnigg zeigt B. anhand des Tempusgebrauchs im MkEv, dass der Evangelist seinen Stil dem Text so flächendeckend aufgeprägt hat, dass die traditionelle Redaktionskritik so nicht mehr durchführbar ist. Konkret geht es um den Wechsel vom Imperfekt (repetitive, kontinuierliche oder distanziert erzählte Handlung im Hintergrund) zum Aorist oder in das historische Präsens zur Hervorhebung einer dramatischen Wendung des Geschehens oder der Rede Jesu. „[T]he use of the imperfect in its relation to the aorist and the historical present should be a warning to any attempt to do successful redactioncritical work on the Gospel according to Mark.“ (216). Mit Metaphor in Argument: The Beelzebul Controversy in the Gospel according to Mark (220-232) von 2019 lenkt B. die Aufmerksamkeit von der im MkEv prominenten Parabeltheorie 4,10-12 auf die parabolai, die der mk. Jesus im argumenativen Kontext von 3,22-30 verwendet, dem frühesten Beleg für parabolē im MkEv. Deutlich wird, dass die verwendeten Bilder von Königreich (3,24) und Haus (3,25.27) ihr argumentatives Gewicht erst im weiteren Kontext der Erzählung erhalten: Der „Stärkere“ in 3,27 verweist auf den von Johannes angekündigten „Stärkeren“ in 1,7, und der „Satan“ (3,23) gemahnt an den Satan der Versuchungsszene (1,13), dem Jesus, getrieben vom „Geist“ (1,12), widerstanden und ihn besiegt/ gebunden hat (228). In Incomprehension en route to Jerusalem (Mark 8: 22-10: 52) (234-245), zuerst 2018 erscheinen in einem u. a. vom Vf. herausgegeben interdisziplinären Band über Interconnection(s) between Knowledge and Journey in the Greco-Roman World, führt B. vor, wie Mk den Weg Jesu nach Jerusalem im Mittelteil des MkEv metaphorisch als einen Weg des Verstehens in der Nachfolge gestaltet, den auch die Lesenden „mitgehen“ können. Die dabei verwendete Tradition wird in der frühchristlichen „communal memory“ (243) verortet, zu der nicht nur gehörte, dass Jesus von Nazareth nach Jerusalem gewandert ist und einen Kreis von Anhängern gebildet hat, sondern auch das Versagen und das Nichtverstehen dieser seiner Begleiter. Ich wiederhole hier meine bereits formulierte Anfrage: Ist das Jüngerunverständnis nicht auch als weitestgehend narratives Motiv beschreibbar, das Mk verwendet hat, um die Mitarbeit der Lesenden für ein echtes Verstehen zu stimulieren? Woher können wir wissen, dass das mk. Jüngerunverständis zu den „historischen Jüngern“ führt oder auch nur zu ihrem 134 Buchreport nachösterlich zweifelhaften Ruf? (Selbst die Jüngerflucht kann, wenn es denn so gewesen ist, seitens der Jünger wider besseres Wissen erfolgt sein. Sie hätten dann das richtig geglaubt und falsch gehandelt). Auch Das Markusevangelium, Psalm 110,1 und 118,22f.: Folgetext und Prätext (246-273) verdankt sein Thema einem Sammelband (The Scriptures in the Gospels), in welchem der Beitrag in 1997 erschienen ist. Am Beispiel des Schriftbeweises aus Ps 110,1 zur Widerlegung der schriftgelehrten Auffassung über die Davidssohnschaft des Messias und dem aus Ps 118,22f entwickelten Motiv der „Verwerfung“ und wunderbaren Auferweckung Jesu wird deutlich, was im Rahmen der (zu Beginn des Beitrags skizzierten) längst hoch entwickelten Intertextualitätsforschung unter Intertextualität zu verstehen ist: Es geht nicht nur um Sinnbezüge innerhalb des MkEv, die durch die untersuchten Psalmzitate allererst geschaffen werden, sondern auch um die zahlreichen Übersetzungs- und Zitatvarianten (LXX, Symmachus, Theodotion, Qumrantexte, Targumim, etc.), um Echos und Einsprengsel anderer biblischer Prätexte, die sich erst dem zweiten Blick erschließen, sowie um ein verzweigtes Netzwerk frühchristlicher Rezeptionen der untersuchten Verse. Hier bedarf es äußerster philologischer Aufmerksamkeit auch noch auf die kleinsten Varianten und Abweichungen, die bei näherem Hinsehen eine frühchristliche Deutungsarbeit von erheblichem „schriftgelehrtem“ Niveau erkennen lassen. Der Aufsatz Das Wissen und Nicht-Wissen um die Zeit als Verhaltensregel: Eine textpragmatische Analyse der Endzeitrede in Markus 13 (274-291) von 2017 bietet einen methodisch kontrollierten Durchgang durch die mk. Apokalypse. Indem B. den Text sicheren Schrittes und mit ruhiger Hand auf seine linguistischen Merkmale und Strukturen untersucht, wird der Ertrag einer streng formalen (und konsequent textsynchronen) Analyse gerade anhand eines so dramatischen Stoffs wie der mk. Endzeitrede deutlich: Der linguistisch „disziplinierte“ Umgang mit dem Text übt einen heilsamen Zwang aus, den Text selbst unter Hintanstellung eigener Vorannahmen zu Wort kommen zu lassen. Der Beitrag scheint mir auch zu Lehrzwecken als eine linguistische Musterexegese gut verwendbar, nicht zuletzt auch darin, dass B. sich jeder applikativen „Auswertung“ enthält. Was zu diesen Bedingungen zu sagen ist, sagt tatsächlich der Text selbst, und es ist seine eigene Sache, die er preisgibt, und aus der sich für ein besseres Verständnis des MkEv helle Funken schlagen lassen. Teil 3 (On Markan Theology) enthält vier Beiträge. In Grundzüge markinischer Gottessohn-Christologie (295-314) verweist B. auf Arbeiten zum MkEv, die im Blick auf die mk. Christologie „nur ein diffuses Nebeneinander von verschiedenen Traditionen feststellen“ (298), d. h. die christologischen Aussagen bzw. Titel zwar traditionsgeschichtlich aufschlüsseln, diese aber nicht zu einer einheitlichen christologischen Konzeption verbinden. So originell wie plausibel ist Buchreport 135 hier der Hinweis auf Mk 13,21-23: Angesichts der „Erwartung des Evangelisten, dass die Gemeinde von falschen Christussen heimgesucht wird“ (295), sollte die Annahme, dass das MkEv hiergegen eine eigene, kohärente Christologie gesetzt habe, nicht vorschnell aufgegeben werden. B.s eigene Lösung setzt einen starken eschatologischen Akzent: Nicht bei der Auferweckung (so einst Wrede), sondern in Erwartung der Wiederkunft laufen die christologischen Fäden Gottessohn - Christus - Menschensohn zusammen. Schlüsselstelle ist Mk 14,61f. Hier werden „beide, der Gesalbte und der Sohn des Hochgelobten, mit dem zum Gericht kommenden Menschensohn identifiziert“ (309). Mit Identity and Rules of Conduct in Mark: Following the Suffering, Expecting the Coming Son of Man (315-340) von 2006 gibt B. eine weitere Probe auf die Leistungsfähigkeit linguistischer Methoden, die gerade in der exegetischen Rollenbegrenzung - „[c]onfining ourselves to a reading of the text“ (319) - und der strikten Konzentration auf die textuelle Konstruktion der „implied audience“, also „not past or present audiences“ (315 Anm. 1) höchst relevante Entdeckungen zeitigen. Herausgegriffen sei aus den Ergebnissen des Beitrages die bemerkenswerte Sparsamkeit, mit der das MkEv die Gegenwart der Gläubigen konstruiert: Gläubige Existenz lebt in der Erinnerung an den Irdischen und der Erwartung des Kommenden, d. h. aber in einer Zeit der Abwesenheit Jesu. Altvertrautes klingt hier mit einem Mal völlig anders: Jesus sagt eben nicht johanneisch „glaubt an mich“ - denn er ist nicht mehr da, als das MkEv gelesen wird -, sondern „glaubt an das Evangelium“ (Mk 1,15; vgl. 320). Ebenso kann man sich in der Zeit des MkEv nicht mehr „Jesu schämen“ (Mk 8,35) - denn „er ist nicht hier“ (Mk 16,6) - wohl aber „seiner Worte“ (vgl. 328). Im Vergleich etwa mit der reziproken Immanenz des JohEv („Ihr in mir und ich in euch“), dem mt. „Mitsein“ Jesu bis ans Ende der Zeit oder dem pln. „In Christus sein“ könnte der besondere Wert der mk. Konzeption darin bestehen, dass sie jedenfalls nicht Gefahr läuft, zu viel zu versprechen. Den Beitrag Narrating the Death of Jesus in Mark: Utterances of the Main Character, Jesus (341-357) aus dem Jahr 2014 lasse ich beiseite und beschränke mich bei dem thematisch affinen Beitrag „Wie geschrieben ist“ und das Leiden des Christus: Die theologische Leistung des Markus (358-373) von 2019 - es handelt sich um B.s Abschiedsvorlesung - auf eine Anfrage: Wird es Mk vollumfänglich gerecht, wenn B. formuliert: „Markus de-politisiert Erwartungen, die mit der Christus-Bezeichnung verbunden werden konnten“ (366)? Gewiss ist ein leidender und sterbender davidischer Messias jüdisch bis dahin ungeläufig. Aber was bedeutet es, dass Mk zu Joseph v. Arimathäa, der sich den Leichnam Jesu von Pilatus erbittet, notiert, dass „er auch auf das Reich Gottes wartete“ (15,42)? M. E. legt diese Nebenfigur eine andere Spur: Es geht nicht um einen de-politisierten Christus, sondern um die Einzeichnung eines leidenden und sterben- 136 Buchreport den Messias (in Solidarität mit einem leidenden und sterbenden Jerusalem? ) in den Horizont einer unerledigten jüdischen Reich-Gottes-Erwartung, die für Mk auch nach Jesu Tod und Auferweckung an politischer Brisanz nichts eingebüßt hat, denn mit dem verheißenen sichtbaren Anbruch des Gottesreiches bei der Erscheinung des Menschensohnes in den Wolken würde nach antiker apokalyptisch-jüdischer Mehrheitsmeinung auch das römische Reich (als letztes der Weltreiche) sein verdientes Ende finden. Der erste Beitrag von Teil 4 („BeforeMark? “) lenkt mit Das Problem des Übergangs von mündlicher zu schriftlicher Überlieferung (377-392) von 1986 in das Jahr von B.s Habilitationsvortrag zurück. B. ist hier erkennbar daran gelegen, einerseits die Gründe, die den Optimismus der klassischen Formgeschichte im Blick auf redaktionell angeblich weitgehend unangetastete mündliche Tradition erschütterten, gründlich zu würdigen, andererseits aber auch nicht alle Katzen grau sein zu lassen. Es sei ja fallweise damit zu rechnen, „dass kein Gegensatz zwischen der schriftstellerischen Absicht des Markus und der vorangegangenen mündlichen Tradition bestanden hat“ (390). In solchen Fällen hätte „der zweite Evangelist doch eine Kerze brennen lassen, deren Licht auf die urchristliche Dunkelheit scheint“ (391). Der Beitrag Μνημονεύειν - Das „Sich-Erinnern“ in der urchristlichen Überlieferung: Die Betanienepisode (Mk 14,3-9/ Joh 12,1-8) als Beispiel (393-403) von 1992 gehört in die Frühzeit der Anwendung erinnerungspsychologischer Theorien auf das Problem der vorsynoptischen Tradition als Alternative zu literarischen Überlieferungsmodellen, wo diese eine Präzision fordern, die die Texte nicht hergeben. Die seinerzeit ausgesprochene Einschätzung, dass „die Modalitäten des Erinnerns seitens der Evangelienforschung größere Aufmerksamkeit [verdienen] als bislang zu beobachten ist“ (402), darf sich durch eine inzwischen lebhafte Rezeption des Erinnerungsparadigmas in der ntl. Exegese bestätigt wissen. Ebenfalls in das Jahr 1992 datiert der Beitrag Vormarkinische Logientradition: Parallelen in der urchristlichen Briefliteratur (404-432). Während als ausgemacht gilt, dass „die sprachlichen Kriterien für die Erhebung vormarkinischer Tradition aus dem vorliegenden Markustext fehlen“ (405), erscheint die Lage bei Logien mit Parallelen in den Paulusbriefen und in der späteren urchristlichen Briefliteratur aussichtsreicher. Doch nach der so materialreichen wie eingehenden vergleichenden Untersuchung solcher Logien fällt das Resümee zurückhaltend aus: „Ist die Frage nach dem Wortlaut mündlich tradierter vormarkinischer Tradition überhaupt angemessen? Meiner Meinung nach ist sie ein unsachgemäßer Überrest der alten Literarkritik.“ Gleichwohl: „Die Frage nach den inhaltlichen Motiven, der Form und dem Zweck vormarkinischer Logien ist zu stellen. Sie lässt sich eher auf der Ebene der Tiefenstruktur von Texten beantworten.“ Somit gilt, „dass die Frage nach vormarkinischer Tradition Buchreport 137 zwar umzuformulieren, aber nicht aufzugeben ist. Ihre Beantwortung bleibt notwendig für einen Einblick sowohl in die Kompositionsarbeit des Evangelisten als auch in die Überlieferung der vorsynoptischen Tradition. Dabei kann es aber nur um das Nachzeichnen von Umrissen gehen.“ (428). In Die Vorschriften des Mose im Markusevangelium: Erwägungen zur Komposition von Mk 7,9-13; 10,2-9 und 12,18-27 (433-455) von 2006 geht es mit expliziten Zitaten aus „Mose“ um ein unverfängliches Feld vormk. Tradition, denn bei gekennzeichneten AT-Zitaten verweist ja nun einmal der Mk-Text selbst zweifelsfrei auf vorausliegende Tradition. Methodologisch interessant ist das Zusammenspiel der „Analyse der Argumentationsstrategie“ und der Frage nach dem „Werden der Perikope“ (446). Es scheint sich so zu verhalten, dass jeweils die Problemstellung und die als jesuanisch tradierte Lösung dem Evangelisten vorgegeben waren, Auswahl und Arrangement der Schriftzitate aber von ihm stammen. Unwillkürlich erinnert das an das Verfahren antiker Historiographen beim Abfassen von Reden, die sie ihren Protagonisten in den Mund legten: Verlangt wurde, dass sie wussten, was wer in welcher Situation sagen würde, formulieren durften sie aber selbst und mit eigenen Worten. Zu vernehmlichem Widerspruch nötigt mich B.s Auffassung, dass in der Argumentation des mk. Jesus zur Ehescheidung (Mk 10,1-12) „das von Mose Geschriebene grundsätzlich abgewertet“ werde (444) und dass „Gottes Schöpferwille und die Tora auseinander[treten]“ (445). Auch die gegen die pharisäische Position aufgebotenen Genesisstellen stehen doch in der Tora und Mose erweist sich als derart kluger Gesetzgeber, dass er sogar solche Gesetze erlassen konnte, die ein Unrecht allein dadurch offenbar machen, dass man sie in Anspruch nimmt. Oder so: Die Mosetora taugt eben auch zur Einhegung menschlicher Schäbigkeit. Jedenfalls: Jesus widerlegt mit Mose die Pharisäer, das ist der Punkt! In The Minor Prophets in Mark’s Gospel (456-467) von 2009 nimmt B. die Kleinen Propheten in Augenschein, die notorisch im Schatten mk. Jesajarezeption stehen, unterschieden nach Zitaten (457-495) und Anspielungen (460-465). Ergebnis ist, dass das Zwölfprophetenbuch bei Mk tatsächlich eine Nebenrolle spielt, an den wenigen einschlägigen Stellen aber jeweils Wichtiges beisteuert. Der Beitrag Das Evangelium nach Markus: Verschlüsselte Performanz? (468- 497) ist zuerst in 2019 erschienen. Einer eigenen Erwähnung wert ist die eingangs auf nur zwei Seiten souverän und mit leichten Strichen hingeworfene Skizze zur Mk-Forschung des 20. Jh. solche Wissenschaftsprosa, die das eigene, über viele Jahre hinweg erworbene Wissen in einfachen Sätzen mitteilt (mit anderen teilt, zum großen Nutzen v. a. für die weniger Kundigen), ist vorbildlich, zu jeder Zeit eine Notwendigkeit und leider zu keiner Zeit eine Selbstverständlichkeit. Thematisch geht es mit dem Begriff der Performanz um ein in der ntl. Exegese neuartigen Ansatz, der den unanschaulichen Begriff der Mündlichkeit 138 Buchreport buchstäblich mit Leben füllt und zugleich zwischen mündlichen und schriftlichen Überlieferungsprozessen eine neue Brücke schlägt. Die These lautet, „dass es eine dem Evangelium nach Markus vorausgehende Praxis der performance der Jesustradition gab und dass der Evangelist daran teilgenommen hat“ (474), dass mithin „der Autor des ältesten Evangeliums aus dem Kreis solcher Performer kam und die wiederholten Aufführungen der Überlieferung, die er gut kannte und an der er mitwirkte, nachträglich in einem literarischen Werk verschriftlichte“ (474 f.). Die Grundidee ist sehr einfach: „Bekannte markinische Kompositionstechniken“ werden „auf die Frage hin (untersucht), ob sie als Spuren der dem Evangelium vorausgehenden performances zu bewerten sind“, dass sich also literarische Gliederungsmerkmale ihrer Erstverwendung bei der Strukturierung einer mündlichen performance verdanken, etwa die Chrien, deren dialogische „Rollenverteilung schon der mündlichen performance“ entstammen könnte (476). B. will hier gar nichts beweisen, wohl aber dazu einladen, die alte Forschungsfrage der vormk. Tradition unter einem neuen Blickwinkel ganz neu zu bedenken. Der Band ist durch Register gut erschlossen. Hilfreich ist, dass anstelle einer Gesamtbibliographie die in jedem Aufsatz genannte Literatur jeweils am Ende verzeichnet ist. So liefert jeder Beitrag zum gestellten Thema gleich eine Spezialbibliographie mit. Stefan Alkier, Thomas Paulsen Die Evangelien nach Markus und Matthäus Neu übersetzt und mit Überlegungen zur Sprache des Neuen Testaments, zur Gattung der Evangelien und zur intertextuellen Schreibweise sowie mit einem Glossar frankfurter neues testament 2 Stefan Alkier | Thomas Paulsen Die Evangelien nach Markus und Matthäus Neu übersetzt | Die neuartige Übersetzung der Evangelien nach Markus und Matthäus von Stefan Alkier und Thomas Paulsen führt die Fachkompetenzen eines Theologen und eines Klassischen Philologen zusammen. Sie wird in einer Lese- und einer Studienfassung vorgelegt, welche die ästhetische und theologische Sprachkraft dieser beiden neutestamentlichen Bücher auf ungewohnte Weise lesbar macht. „Den Satzbau im Griechischen nachahmend, übersetzt das Frankfurter Neue Testament jedes Wort im Evangelium nach Markus wortgenau. Diese Übersetzung erleichtert sowohl den Rückweg zum Urtext als auch eine Überprüfung der eigenen Interpretation. Eine höchst willkommene Hilfe für Anfänger und Fortgeschrittene! “ - Prof. Dr. Cilliers Breytenbach „Die konsequente Orientierung an der Ursprungssprache und die Übersetzung verbum pro verbo, die philologisch äußerst genau die Besonderheiten der griechischen Sprache - ihren Partikelgebrauch, ihre charakteristischen Partizipialkonstruktionen, ihre Besonderheiten in der Wortstellung - im Deutschen ausstellt, bietet einen zuweilen befremdlich klingenden, jedoch umso eindrücklicher wirkenden Text der „Frohbotschaft“. In ihrer radikalen Wörtlichkeit ist die Übersetzung ein Glückfall: Sie lädt ein innezuhalten, um die Texte in ihrem neuen alten Gewand ohne Glättungen und künstlichen rhetorischen Schmuck wirken zu lassen.“ -Prof. Dr. Manuel Baumbach Stefan Alkier ist Professor für Neues Testament und Geschichte der Alten Kirche am Fachbereich Evangelische Theologie der Johann Wolfgang Goethe-Universität zu Frankfurt am Main. Thomas Paulsen ist Inhaber des Lehrstuhls für Klassische Philologie mit dem Schwerpunkt Gräzistik an der Johann Wolfgang Goethe-Universität zu Frankfurt am Main. This new translation of the gospels of Mark and Matthew is the fijirst German translation that is consistently oriented towards 1st century a. D., Koine-Greek and translation theory without regard to ecclesiastical and religious translation habits. The Gospels are presented here by the cooperation of a theologian and a classical scholar in a very precise translation, which will affford a lot of new insights with a deep impact on Biblical Theology. 2021. ca. 200 Seiten, Festeinband € 56,00 | Abo* 49,90 ISBN 978-3-506-70435-1 = Frankfurter Neues Testament, Band 2 Erscheint Mai/ 2021 Fachgebiet: Warengruppe : 1546 / / Theologie - Bibelausgaben Erfahren Sie mehr über das Frankfurter Neue Testament unter: https: / / www.schoeningh.de/ view/ serial/ FNT Übrigens: Bei YouTube fijinden Sie die Lesung zur Apokalypse des Johannes: www.schoeningh.de Herausgegeben von Susanne Luther Christian Strecker Manuel Vogel in Verbindung mit Stefan Alkier Kristina Dronsch Ute E. Eisen Jan Heilmann Werner Kahl Matthias Klinghardt David Moffitt Tobias Nicklas Hanna Roose Günter Röhser Michael Sommer Angela Standhartinger Anschrift der Redaktion Prof. Dr. Manuel Vogel Friedrich-Schiller-Universität Theologische Fakultät Fürstengraben 6 07743 Jena Manuskripte Zuschriften, Beiträge und Rezensionsexemplare werden an die Adresse der Redaktion erbeten. Eine Verpflichtung zur Besprechung unverlangt eingesandter Bücher besteht nicht. ZNT Heft 47 · 24. Jahrgang · 2021 Impressum Bezugsbedingungen Die ZNT erscheint halbjährlich (April und Oktober) Einzelheft: € 32,zzgl. Versandkosten Abonnement jährlich (print): € 52,- Abonnement jährlich (print & online): € 65,- Abonnement (e-only): € 55,- Bestellungen nimmt Ihre Buchhandlung oder der Verlag entgegen: Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 D-72015 Tübingen Telefon: +49 (0)7071 97 97 0 Fax +49 (0)7071 97 97 11 eMail: info@narr.de Internet: www.narr.de Anzeigen Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. 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Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ 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Sie legt dar, dass das marcionitische Evangelium das älteste Evangelium ist, das von allen kanonischen Evangelien benutzt und bearbeitet wurde. Die Folge dieser sehr genau begründeten These ist ein neues Bild von der Entstehung der Evangelien. Es unterscheidet sich grundlegend von allen anderen Modellen (z.B. der Zwei-Quellentheorie) - mit weitreichenden Konsequenzen für viele wichtige Bereiche der neutestamentlichen Wissenschaft. Die erste Auflage hatte eine intensive Diskussion ausgelöst. Diese ist in der überarbeiteten und erweiterten Neuauflage berücksichtigt worden und hat zu vielen verbesserten Rekonstruktionsentscheidungen geführt. Ein ausführliches Nachwort setzt sich kritisch mit Einwänden und der neueren Forschung auseinander. BUCHTIPP Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de