ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
61
2023
2651
Dronsch Strecker VogelHeft 51 · 26. Jahrgang · 2023 ZNT Zeitschrift für Neues Testament Das Neue Testament in Universität, Kirche, Schule und Gesellschaft Jan Heilmann, Susanne Luther, Michael Sommer (Hrsg.) 51 DIESSEITS UND JENSEITS DES KANONS Herausgegeben von Jan Heilmann Susanne Luther Michael Sommer in Verbindung mit Stefan Alkier Kristina Dronsch Ute E. Eisen Werner Kahl Matthias Klinghardt David Moffitt Tobias Nicklas Heidrun Mader Hanna Roose Angela Standhartinger Christian Strecker Manuel Vogel Anschrift der Redaktion Prof. Dr. Susanne Luther Georg-August-Universität Theologische Fakultät Platz der Göttinger Sieben 2 37073 Göttingen Manuskripte Zuschriften, Beiträge und Rezensionsexemplare werden an die Adresse der Redaktion erbeten. Eine Verpflichtung zur Besprechung unverlangt eingesandter Bücher besteht nicht. ZNT Heft 51 · 26. Jahrgang · 2023 Impressum Bezugsbedingungen Die ZNT erscheint halbjährlich (April und Oktober) Einzelheft: € 38,zzgl. Versandkosten Abonnement jährlich (print): € 55,- Abonnement jährlich (print & online): € 69,- Abonnement (e-only): € 58,- Bestellungen nimmt Ihre Buchhandlung oder der Verlag entgegen: Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 D-72015 Tübingen Telefon: +49(0) 70 71 97 97 0 Fax +49(0) 70 71 97 97 11 eMail: info@narr.de Internet: www.narr.de Anzeigen Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Telefon: +49(0) 70 71 97 97 10 © 2023 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG ISBN 978-3-381-10531-1 ISSN 1435-2249 Die in der Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieser Zeitschrift darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Fotokopie, Mikrofilm oder andere Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsanlagen, verwendbare Sprache übertragen werden. Inhalt Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 NT Aktuell Tobias Nicklas Neutestamentlicher Kanon und christliche Apokryphen. Trends, Themen und Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Zum Thema Stefan Alkier Die Vielfalt der Stimmen und ihre intertextuelle Verknüpfung als Leitthema Neutestamentlicher Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Kelsie G. Rodenbiker und Garrick V. Allen Die Euthaliana und die Katholischen Briefe. Trends, Themen und Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Janet E. Spittler Apokryphe Apostelerzählungen und ihre Funktion in der Geschichte des Christentums. Von den Rändern ins Zentrum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Kontroverse Tobias Nicklas Die Datierung des muratorischen Fragments. Einleitung zur Kontroverse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Clare K. Rothschild / Jeremy C. Thompson Honig gemischt mit Galle. Neue Fragen zu Form, Datierung und problematischen Passagen im Muratorischen Fragment . . . . . . . . . . . . . 81 Joseph Verheyden Das Muratorische Fragment. Eine Stimme von der anderen Seite . . . . 93 Hermeneutik Stephanie Hallinger Im Raum zwischen „ kanonisch “ und „ parabiblisch “ . Caravaggios Auferweckung des Lazarus (1609) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Buchreport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 2 Inhalt Editorial Liebe Leserin, lieber Leser, Das Neue Testament ist bekanntlich weder ein Buch, noch einfach eine Bibliothek. Die Kanonfrage betrifft den Umfang der Schriften des Neuen Testemants sowie die Reihenfolge und Gliederung in Teilsammlungen. Mit dem Kanon aber verbinden ich zugleich eine Vielzahl von spannenden Fragen und Problemen: Die Schriften des Kanons werden von den verschiedenen christlichen Konfessionen auf unterschiedliche Weise als „ inspiriert “ , also mit dem Wort Gottes in Verbindung stehend, oder es gar (re-)präsentierend verstanden. Damit bilden sie eine entscheidende Basis für theologisches Argumentieren: Was aber bedeutet die Erkenntnis, dass dem Kanon eine Geschichte zukommt, für diesen Gedanken? Und welche Folgerungen ergeben sich aus der Erkenntnis, dass sich im Kanon Stimmen finden, die wir heute nicht mehr als akzeptabel nachvollziehen können? Welche Bedeutung kommt der Erkenntnis zu, dass nicht nur der Kanon eine Geschichte besitzt, sondern auch die Adaption der kanonisch gewordenen Bücher sich im Lauf der Geschichte änderte? Um diese und vergleichbare, grundlegende Fragen beantworten zu können, müssen wir uns intensiv mit Themen der Kanongeschichte wie auch der Kanonhermeneutik auseinandersetzen. Und der Kanon steht natürlich auch über die christlichen Konfessionen hinaus jedem interessierten Leser und jeder interessierten Leserin offen; durch Fragen der Kanongeschichte und des Kanonaufbaus ergeben sich dadurch je unterschiedliche Rezeptionsmöglichkeiten. Die Beiträge des folgenden Bandes tun dies auf verschiedene Weise; sie nehmen Impulse aus der neuesten Forschung zu Apokryphen auf und zeigen, dass die Grenzen zwischen kanonischen und außerkanonischen Texten wie Traditionen fließender sind als üblicherweise angenommen. Sie diskutieren den Wert apokrypher Quellen für die Kanongeschichte und zeigen, dass die Geschichte des neutestamentlichen Kanons, den man nur als Teil eines gesamtbiblischen Kanons verstehen kann, nicht mit der Entstehung des Kanons beendet ist. Sie beschäftigen sich mit dem Unterschied zwischen dem Kanon und konkreten Bibeln, die viel mehr umfassen als die Texte des Kanons allein. Erkennbar wird dabei nicht nur, dass jede konkrete Bibel bereits Teil der Rezeptionsgeschichte der Idee von „ Kanon “ und „ Bibel “ ist, sondern auch, wie sehr unterschiedliche Teile des Kanons im Verlauf der Geschichte unterschiedlich gewichtet wurden: Stehen die Texte des Kanons also alle auf gleicher Ebene? Oder sind Differenzen erkennbar? Und sie überlegen, was es bedeutet, wenn Texte des Kanons in anderen Medien - von Riten bis hin zu Bildern - vermittelt werden. Die Zusammenstellung der Beiträge versteht sich nur als ein Anfang, der Impulse zum Weiterdenken liefern möchte. Beim Lesen und Diskutieren der Beiträge, die von Tobias Nicklas zusammengestellt wurden, wünschen wir Freude und Inspiration. Tobias Nicklas Susanne Luther Jan Heilmann Michael Sommer 4 Editorial NT Aktuell Neutestamentlicher Kanon und christliche Apokryphen Trends, Themen und Thesen Tobias Nicklas Es gehört zu den Grundlagen durch die Aufklärung geprägter christlicher Theologien, dass der Kanon der christlichen Bibel und speziell der des NT einerseits eine entscheidende Basis für theologisches Arbeiten bildet, 1 andererseits aber auch nicht einfach „ vom Himmel gefallen “ ist. Der ntl. Kanon verdankt sich einem komplexen Prozess, in dem viele verschiedene Faktoren eine Rolle spielten. Die Bedeutung fast aller dieser Faktoren ist bis heute umstritten. Damit aber sind bei weitem nicht alle Probleme angesprochen, die mit dem Kanon des NT in Zusammenhang stehen. Wie etwa verändert sich theologisches Denken, wenn es sich auf eine fixe Sammlung kanonisierter Schriften bezieht? Inwiefern muss von einer Geschichte des Kanons auch dann gesprochen werden, wo dieser bereits abgeschlossen ist? Neben den kanonischen Schriften entstanden von frühester Zeit an Texte und Traditionen, die ohne ihren Bezug zu kanonischen Schriften kaum verstanden werden können. Auch sie, z. B. so genannte christliche Apokryphen, müssen in den Blick genommen werden, wo man Geschichte, Bedeutung und Funktion des neutestamentlichen Kanons besser als bisher verstehen möchte. Ich werde im Folgenden einige grundlegende Thesen formulieren, die zeigen, welche Diskussionen momentan geführt werden, und diese an konkreten 1 Wichtige Überlegungen zur Bedeutung der Schrift für evangelische, römisch-katholische und orthodoxe Theologien finden sich in dem Band von Stefan Alkier, Christos Karakolis und Tobias Nicklas, Sola Scriptura Ökumenisch (Biblische Argumente in öffentlichen Debatten 1), Paderborn 2021. Beispielen illustrieren. Ich beginne mit Gedanken zur Entstehung des ntl. Kanons, werde diese aber knapp halten, weil hierzu viele Informationen auch leicht in neueren Handbüchern einzusehen sind. Ausführlicher werde ich Gedanken referieren, die sich mit der Geschichte des bereits abgeschlossenen Kanons (auch im Verhältnis zu apokrypher Literatur und parabiblischen Traditionen) und, häufig damit eng zusammenhängend, mit Fragen der Kanonhermeneutik ergeben. 1. Veränderungen in der Quellenlage und/ oder der Einschätzung von Quellen Da bekanntlich aus der Antike keine einzige, für die Gesamtkirche verbindliche Entscheidung über den Umfang des ntl. Kanons überliefert ist, ja bis weit ins Mittelalter hinein eine solche nie existierte, 2 ist es im Hinblick auf die Frage nach der Entstehung des ntl. Kanons nötig, sehr unterschiedliche Quellen heranzuziehen. Obwohl sich die Quellenlage in den vergangenen Jahrzehnten kaum grundsätzlich geändert hat, hat sich deren Einschätzung wenigstens teilweise verschoben. Zudem kamen Quellen in den Blick, die in ihrer Bedeutung bisher nicht erkannt oder vernachlässigt waren. 3 Einen hilfreichen Überblick über Quellen, die üblicherweise für das Verständnis der Entstehung des Kanons herangezogen werden, bietet die Haupteinleitung zum ersten Band der „ Antiken christlichen Apokryphen “ von Christoph Markschies. 4 Dort finden sich ausführliche Zitate altkirchlicher Autoren z. T. zur Diskussion um den Status einzelner Schriften, Listen kanonischer und nichtkanonischer, apokrypher Schriften, Dokumente aus regionalen Synoden u. a. Dabei ist es wichtig zu wissen, dass wir es hier in den meisten Fällen mit Stimmen in einem breiteren Diskurs zu tun haben, Teilen eines größeren Mosaiks, von dem das Meiste verloren ist: Selbst die Stimme bedeutender Bischöfe, in der Frühzeit z. B. Irenäus von Lyon (gest. ca. 200 n. Chr.), im vierten Jahrhundert Athanasius von Alexandrien (gest. 373 n. Chr.), muss nicht für die Gesamtsituation in ihrer Zeit oder auch nur ihres Einflussbereichs stehen. In manchen Fällen kann die Tatsache, dass ein 2 Für die Römisch-Katholische Kirche ändert sich dies mit dem Konzil von Trient (1545 - 1563). 3 Der gegebene Rahmen erlaubt es leider nicht, hier eine ausführliche Diskussion über die Rolle Marcions für die Entstehung des NT zu führen. 4 Christoph Markschies, Haupteinleitung, in: ders./ Jens Schröter (Hg.), Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung 1: Evangelien und Verwandtes, Tübingen 2012, 1 - 180, hier 114 - 180 (mit weiterführender Sekundärliteratur). Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0001 6 Tobias Nicklas Mitglied kirchlicher Hierarchien ein Thema besonders betont, gar umgekehrt bedeuten, dass dies in der konkreten Situation umstritten war. Wir müssen davon ausgehen, dass die „ offizielle “ Position von Vertretern der so genannten „ Mehrheitskirche “ von vielen Gläubigen gerade nicht akzeptiert wurde oder wird. Doch auch die Einschätzung einzelner bekannter Zeugnisse zur Entstehung des Kanons hat sich in den vergangenen Jahren z. T. deutlich verändert. Ein besonders spannendes Beispiel ist das in der „ Kontroverse “ des vorliegenden Bands diskutierte Muratorische Fragment. Haben wir es bei diesem in lateinischer Sprache überlieferten, fragmentarischen Text mit einem Dokument zu tun, das uns Einblick in das Kanonverständnis der Kirche von Rom gegen Ende des zweiten Jahrhunderts gibt? 5 Oder sollte diese Schrift (auch zeitlich) näher an die Kanonlisten des vierten Jahrhunderts gerückt werden? Oder handelt es sich hier um einen Text, der eher den in manchen neutestamentlichen Handschriften zu findenden Prologen zu Evangelien oder paulinischen Briefen verwandt ist und dem es daher eher um Fragen geht, die verwandt sind mit dem, was wir heute in einer Einleitung in das Neue Testament verhandeln? Der Text bleibt in jedem Fall relevant für die Entstehung des Kanons, seine Bedeutung aber verändert sich, je nachdem, wie wir ihn konkret einordnen. Daneben sind in den vergangenen Jahren weitere Gruppen von Quellen stärker als bisher in den Blick gekommen: Bisher wenig genutzt wurden die in deutlich nachkonstantinischer Zeit zusammengestellten Bücherlisten aus christlichen Bibliotheken (v. a. Ägyptens), die zeigen, welche Bücher selbst in monastischen Bibliotheken der sehr späten Antike vorhanden und welche nicht greifbar waren. 6 Dabei ergibt sich nicht nur, dass es keineswegs selbstverständlich war, dass eine monastische Siedlung (wohl aber auch eine Stadtgemeinde) über eine Vollbibel verfügte. Offenbar waren auch nicht alle Einzelbücher der Bibel (AT und NT) überall greifbar. Dies sagt zwar wohl kaum etwas über den kanonischen Status einzelner Schriften aus. Für unser Verständnis der Kanongeschichte aber ist es trotzdem relevant. Markschies schreibt: 5 Anhaltspunkt ist die Erwähnung von Pius I., Bischof von Rom von ca. 140/ 42 bis zu seinem Tode ca. 155 n. Chr. 6 Aufmerksam auf diese Quellen macht Christoph Markschies, Kaiserzeitliche christliche Theologie und ihre Institutionen. Prolegomena zu einer Geschichte der christlichen Theologie, Tübingen 2007, 298 - 331, der von „ neunzehn (bzw. dreiundzwanzig) solcher Listen “ (ibid., 317; siehe die Übersicht auf S. 318 f.) spricht. Wichtig hierzu zudem Jan Heilmann, „ Ein kleines Evangelium “ und „ ein kleiner Apostolos “ auf einem koptischen Ostrakon (O. Vind. Copt. 148) als kleinformatige kanonische Texte? , in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 212 (2019), 89 - 92. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0001 Neutestamentlicher Kanon und christliche Apokryphen 7 Vermutlich behalf man sich in einer ganzen Reihe von Kirchen lediglich mit Lektionaren; diese Bücher lagen wahrscheinlich an den gottesdienstlichen Orten ihrer Nutzung und tauchen so in den Inventaren praktisch kaum auf. 7 Wichtiger als das Genannte sind jedoch Veränderungen, die mit Paradigmenwechseln in der Erforschung des frühen Christentums zusammenhängen. 1. Neben die Zeugnisse v. a. altkirchlicher Autoren rückt in einer Weise, die noch vor wenigen Jahrzehnten kaum denkbar gewesen wäre, das Zeugnis der konkreten Überlieferung neutestamentlicher Texte in konkreten Handschriften in den Blick. Als einer der ersten hat David Trobisch auf Muster der Überlieferung neutestamentlicher Schriften aufmerksam gemacht, die es nahelegen, dass sich die Entstehung des Neuen Testaments zumindest auch einem bewussten Redaktionsprozess verdankt, innerhalb dessen die Einzelschriften des späteren Neuen Testaments in festen Teilsammlungen zu einem Gesamtwerk mit auch wichtigen inhaltlichen Querverweisen zusammengefügt wurden. Dies sei, will man Trobisch folgen, schon sehr früh - bereits im zweiten Jahrhundert - geschehen. 8 Selbst wenn man Trobisch nicht in vollem Umfang folgen will, 9 so ist der Hinweis auf die Bedeutung der materialen Überlieferung der Schriften des NT für das Verständnis der Kanongeschichte von solcher Bedeutung, dass nicht mehr hinter diesen Befund zurückgegangen werden kann. Ein Beispiel: Papyrus 72, das älteste erhaltene Manuskript des 1. - 2. Petrusbriefes sowie des Judasbriefs, ist Teil eines wohl auf das 4. Jahrhundert zurückgehenden, in mehreren Schritten entstandenen Codex der Sammlung Bodmer. 10 In diesem Codex, der ganz unterschiedliche, auch apokryphe Schriften zusammenstellt, sind 1 - 2 Petr sowie Jud zwar von der gleichen Hand 7 Markschies, Kaiserzeitliche christliche Theologie (s. Anm. 14), 320. 8 Besonders wichtig David Trobisch, Die Endredaktion des Neuen Testaments. Eine Untersuchung zur Entstehung der christlichen Bibel (NTOA 31), Fribourg/ Göttingen 1996. Zur neueren Diskussion um das Thema besonders wichtig Jan Heilmann, Die These einer editio princeps des Neuen Testaments im Spiegel der Forschungsdiskussion der letzten zwei Jahrzehnte, in: ders./ Matthias Klinghardt (Hg.), Der Text des Neuen Testaments im 2. Jahrhundert (TANZ 61), Tübingen 2018, 21 - 56. 9 Siehe z. B. Tobias Nicklas, Neutestamentliche Kanongeschichte als Geschichte eines Buches? , in: Israel Muñoz Gallarte/ Jesús Peláez (Hg.), In Mari Via Tua. Philological Studies in Honour of Professor Antonio Piñero (Éstudios de Filologia Neotestamentaria 11), Cordoba 2016, 575 - 595 und Wolfgang Grünstäudl, Geschätzt und bezweifelt. Der zweite Petrusbrief im kanongeschichtlichen Paradigmenstreit, in: Heilmann/ Klinghardt (Hg.), Das Neue Testament (s. Anm. 22), 57 - 88. 10 Zum Folgenden vgl. ausführlicher Tobias Nicklas, Der „ lebendige Text “ des Neuen Testaments. Der Judasbrief auf P 72 (P.Bodmer VII), in: ASEs 22 (2005) 203 - 222 sowie Tobias Nicklas/ Tommy Wasserman, Theologische Linien im Codex Bodmer Miscellani? in: Thomas J. Kraus/ Tobias Nicklas (Hg.), New Testament Manuscripts. Their Texts and their World (TENT 2), Leiden/ Boston 2006, 161 - 188. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0001 8 Tobias Nicklas niedergeschrieben, werden aber unterschiedlich behandelt. Bedeutet dies, dass der Schreiber dieser Texte zwar 1 - 2 Petr als kanonisch anerkannte, den Judasbrief aber nicht? Oder wies er 1 - 2 Petr einfach höhere Autorität oder Dignität zu als dem Judasbrief, ohne dass ihn die Frage der kanonischen Geltung dieser Texte interessiert hätte? Gleichzeitig bietet er die drei Schriften nicht als Teil eines Kanonteils „ Katholischer Briefe “ , sondern in einer lockeren Sammlung christlicher Literatur. Ich bleibe bewusst bei Fragen, ohne sofort Antworten liefern zu wollen, die diese Zeugnisse allein nicht zu tragen vermögen. 2. Mindestens genauso wichtig aber ist ein anderer Paradigmenwechsel, der zwar nur indirekt mit unserer Art und Weise, Kanongeschichte zu schreiben, zusammenhängt, gleichzeitig aber enorm wirksam ist: Wenn wir Geschichte schreiben, so liegen den aufgrund der vorliegenden Quellen erarbeiteten Narrativen bewusst oder unbewusst Modelle dessen voraus, was wir beschreiben wollen. Wenn wir das antike Christentum als eine weitgehend uniforme Bewegung verstehen, die sich mehr oder minder direkt auf einen eindeutigen Auftrag Christi zurückführt, wenn wir dabei uns in allererster Linie für eine sich als allein rechtgläubig definierende Großkirche interessieren und dabei vor allem die Stimmen der Kirchenleitungen im Blick haben, dann wird unser Bild der Kanongeschichte ganz anders aussehen als in dem Moment, in dem wir die Vielfalt dessen, was uns an Quellen aus der alten Kirche erhalten ist, und die Dynamik dessen, was wir aus ihnen erkennen können, als entscheidend ansehen. 11 Im ersten der beiden Modelle werden wir kaum darauf achten, ob die Stimmen der großen Theologen der Antike wirklich auch dem entsprechen, was „ normale “ Gläubige dachten, glaubten und wie sie lebten. Selbst wenn wir über diese Menschen nur eine begrenzte Zahl von expliziten Quellen zur Verfügung haben, wird im zweiten Modell alleine schon das Bewusstsein dafür, dass es diese „ normalen “ Gläubigen nicht nur gab, sondern diese die alles überwiegende Mehrheit darstellten, unsere Darstellungen von Kirchen- und Kanongeschichte tiefgreifend ändern. Im ersten Modell werden Stimmen, die für großkirchliche Perspektiven stehen, dominieren, während andere als (z. T. häretische) Seitenströme ausgeblendet werden. Im zweiten Modell müssen diese ernst genommen werden. Die Folge ist dann natürlich ein komplexeres Bild von Geschichte, welches sich dessen bewusst ist, dass wir als Historiker: innen immer nur mit Fragmenten arbeiten. 11 Eine sehr hilfreiche Übersicht über verschiedene Modelle, das antike Christentum in seiner Entwicklung zu beschreiben, bietet David Brakke, The Gnostics. Myth, Ritual, and Diversity in Early Christianity, Cambridge, Mass./ London 2010, 1 - 18. Für mein eigenes Modell siehe Tobias Nicklas, Parting of the Ways? Probleme eines Konzepts, in: Stefan Alkier/ Hartmut Leppin (Hg.), Juden - Heiden - Christen? Religiöse Inklusion und Exklusion in Kleinasien bis Decius (WUNT I/ 400), Tübingen 2018, 21 - 41, hier 37 f. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0001 Neutestamentlicher Kanon und christliche Apokryphen 9 Nur einige Beispiele dafür, wie sich das Bild verändert, wenn wir nach dem zweiten Modell vorgehen: Das „ unbekannte Evangelium “ auf Papyrus Egerton 2 ist sicherlich eines der ältesten Zeugnisse von Überresten eines Evangelientexts, der nicht Teil des neutestamentlichen Kanons geworden ist. 12 Über seine ursprüngliche Verbreitung und seinen Einfluss auf andere Schriften oder frühchristliche Theologie können wir nur wenig sagen. Wir wissen auch nicht, ob diese Schrift im Blick auf eine frühchristliche Gruppierung, eine Gemeinde oder einen Gemeindeverbund konzipiert wurde. Vielleicht handelt es sich nur um einen Zufallsfund von höchst eingeschränkter Bedeutung: Und doch erzählt dieser Text auf mehreren Ebenen Interessantes im Hinblick auf unsere Fragestellung. So scheint er in einigen Teilen literarisch abhängig vom Johannesevangelium zu sein; wahrscheinlich kann er auch als literarische „ Neuinszenierung “ 13 von Material aus den synoptischen Evangelien betrachtet werden. Dies lässt sich einerseits als Zeugnis dafür deuten, dass zumindest die bei Irenäus von Lyon explizit bezeugte Sammlung der vier kanonischen Evangelien offenbar im Kontext der Entstehung des „ unbekannten Evangeliums “ schon vorhanden und einflussreich gewesen sein mag. Andererseits aber zeigt sich auch, dass es im Entstehungskontext des „ unbekannten Evangeliums “ noch möglich gewesen sein muss, neben (oder gar gegen) diese Evangelien ein weiteres zu stellen, das zumindest von begrenzter Bedeutung gewesen sein muss. 14 Aus der Perspektive von Modell 1 ist dies eine kaum erwähnenswerte Randerscheinung. Wo wir Modell 2 zugrunde legen, erweist sich, dass Vergleichbares auch an anderen Texten erkennbar ist, wir es also mit einem offenbar breiteren Phänomen zu tun haben. 15 Wenn wir unseren Forschungen konsequent Modell 2 zugrunde legen, ergibt sich folgende These: Selbst wenn wir davon ausgehen, dass der Kanon in bestimmten „ großkirchlichen “ Kreisen als abgeschlossen galt (und in Aufbau 12 Allgemein zu dieser Schrift vgl. Tobias Nicklas, The ‚ Unknown Gospel ‘ on Papyrus Egerton 2 (+ Papyrus Cologne 225), in: Thomas J. Kraus/ Michael J. Kruger/ Tobias Nicklas, Gospel Fragments (Oxford Early Christian Gospel Texts), Oxford 2009, 9 - 120, sowie Lorne R. Zelyck, The Egerton Gospel (Egerton Papyrus 2 + Papyrus Köln VI 255). Introduction, Critical Edition, and Commentary (TENT 13), Leiden/ Boston 2019. 13 Zu diesem Begriff vgl. Tobias Nicklas, Zwischen Redaktion und „ Neuinszenierung “ : Vom Umgang erzählender Evangelien des 2. Jahrhunderts mit ihren Vorlagen, in: Jens Schröter/ Tobias Nicklas/ Joseph Verheyden (Hg.), Gospels and Gospel Traditions in the Second Century: Experiments in Reception (BZNW 235), Berlin/ Boston 2019, 311 - 330, hier 313. 14 Siehe auch Tobias Nicklas, Christian Apocrypha and the Development of the Christian Canon, in: Early Christianity 5 (2014) 220 - 240, hier 229 - 231. 15 Hier ist z. B. an das Petrusevangelium zu denken: Hierzu vgl. v. a. Tobias Nicklas, Second- Century Gospels as ‚ Re-Enactments ‘ of Earlier Writings. Examples from the Gospel of Peter, in: ders., Studien zum Petrusevangelium (WUNT I/ 453), Tübingen 2020, 125 - 139. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0001 10 Tobias Nicklas und Umfang klar definiert war), heißt dies noch nicht, dass dies überall - in allen christlichen Zirkeln, ja selbst in jeder Region auf die gleiche Weise - der Fall gewesen sein muss. 2. Die notwendige Differenzierung zwischen entscheidenden Begriffen Bei der Bearbeitung und Beurteilung der Quellen zur Kanongeschichte ist es entscheidend, zwischen dem kanonischen Status einer Schrift, ihrer Autorität in verschiedenen Kontexten, ihrer Überlieferung, ihrer Verwendung und ihrer Funktion zu differenzieren. Vom kanonischen Status einer Schrift (für einen bestimmten Autor) können wir nur dort mit Sicherheit ausgehen, wo explizit davon gesprochen wird. Dies geht so weit, dass selbst da, wo ein konkreterAutor einen Text als „ Schrift “ bezeichnet, wir nicht ganz sicher sein können, was er damit konkret meint. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel bietet Irenäus von Lyon, Adversus haereses 4,20,2: Treffend hat das die Schrift ausgedrückt, in der es heißt: „ An erster Stelle glaube, dass er (nur) einen einzigen Gott gibt, der das All erschaffen und ausgestattet und alles aus dem Nichtsein ins Dasein gerufen hat, der alles umfasst, selbst aber von niemandem umfasst wird. 16 Das so eingeleitete Zitat wiederum geht auf den bereits erwähnten Hirten des Hermas (Mand. 1,1) zurück. Schon Eusebius von Caesarea, Historia ecclesiastica 5,8,7, der diese Passage überliefert, ist offenbar davon ausgegangen, dass Irenäus deswegen den Hirten als kanonische Schrift „ anerkannt “ hat. Dies ist, wollen wir der Einschätzung von Norbert Brox folgen, jedoch keineswegs der Fall. Seine Durchsicht vergleichbarer Einleitungen von Zitaten bei Irenäus zeigt, dass mit der hier verwendeten Einleitung bei Irenäus in keinem Fall die Schrift verbunden [ist], sondern immer der Autor … Der einzige Fall, in dem kal ō s/ bene und graph ē / scriptura in einer einleitenden Formel miteinander gebraucht sind, ist der problematische Text IV 20,2, um den es hier geht. 17 Dem ist eine zweite, wichtige Beobachtung an die Seite zu stellen: Die eben zitierte Passage ist nur ein Teil einer Reihe von Zitaten; es folgt ein Abschnitt aus Mal 2,10, einer aus Eph 4,6 und einer aus Mt 11,27. Jedes dieser drei Zitate ist anders eingeleitet als das Hermaszitat. Irenäus spricht vom „ Propheten Maleachi “ , vom „ Apostel “ und schließlich vom „ Herrn “ als den jeweils hinter diesen 16 Übersetzung Irenäus von Lyon, Adversus Haereses. Gegen die Häresien IV, übersetzt und eingeleitet von Norbert Brox (FC 8/ 4), Freiburg u. a. 1997, 157. 17 Norbert Brox, Der Hirt des Hermas (KAV 7), Göttingen 1991, 58 f. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0001 Neutestamentlicher Kanon und christliche Apokryphen 11 Zitaten stehenden Autoritäten. Die Passage aus dem Hirten des Hermas wird somit anders behandelt als die drei darauf folgenden. 18 Dies ist nur ein Beispiel dafür, wie überaus vorsichtig zu argumentieren ist, wenn es um an angeblich kanonischen Status eines Texts geht. Die wichtigste unter den oben genannten Differenzierungen wiederum erscheint mir die zwischen dem kanonischen Status einer Schrift und ihrer Autorität. Ich verwende den (alles andere als unproblematischen) Begriff „ Autorität “ hier in einem weiten Sinne: Autorität kommt Personen, aber auch Instanzen und Institutionen [zu], die sich auf einem bestimmten Gebiet - im vorliegenden Falle also im Bereich des christlichen Glaubens und der damit verbundenen Lebensführung - Ansehen erworben haben und somit maßgeblichen Einfluss besitzen. 19 Bereits die bisher angesprochenen Beispiele zeigen auf unterschiedliche Weise: Die Autorität eines Texts oder einer Tradition hängt nicht einfach von ihrem kanonischen Status ab, sondern mindestens genauso von ihrer Funktion in konkreten Kontexten. Solche Kontexte lassen sich sehr unterschiedlich beschreiben: Ein Fragment wie Papyrus Oxyrhynchus XI 1384 (5./ 6. Jh.), auf dem sich eine Kombination von Rezepten gegen verschiedene Krankheiten und zwei kurzen apokryphen Erzählungen findet, kann auch nicht einmal im Entferntesten mit kanonischem Status rechnen. In konkreten Lebenssituationen jedoch, in denen sich spätantike Christen Heilung von Krankheiten oder Verwundungen erhofften, mag das Zueinander von Rezepten und Erzählungen über Jesu oder Gottes Macht, z. B. Augenkrankheiten zu heilen, erfolgreich Autorität beansprucht haben. 20 Die Autorität parabiblischer Schriften kann auch in Bezug zu Problemen lokaler oder regionaler Kirchen stehen. Es war offenbar die Autorität parabiblischer Texte und damit verbundener Traditionen um Barnabas - wie die Akten des Barnabas oder das spätere Barnabas-Encomium - die eine entscheidende Rolle für die Unabhängigkeit der Kirche Zyperns vom Patriarchat von Antiochien spielten. 21 Interessant dabei ist vor allem, wie frei die 18 Zur genauen Argumentation Brox, Hirt des Hermas (s. Anm. 39), 59. 19 Diese Definition geht auf den viel zu verstorbenen Thomas Karmann, zurück, der diese in einem leider m. W. bisher unpublizierten Aufsatz erarbeitete. 20 Zu diesem Fragment vgl. Roberta Mazza, P.Oxy. XI, 1384, Medicina, rituali di guarigione cristianesimi nell ’ Egitto tardoantico, in: ASEs 24 (2007) 437 - 462. 21 Hierzu Tobias Nicklas, Barnabas Remembered. Apokryphe Barnabastexte und die Kirche Zyperns, in: Lena Seehausen u. a. (Hg.), Religion als Imagination. Phänomene des Menschseins in den Horizonten theologischer Lebensdeutung. Festschrift für Marco Frenschkowski, Leipzig 2020, 167 - 188. Das Barnabas-Encomium des Alexander Monachus ist inzwischen (mit guter Einleitung) leicht greifbar in Alexander Monachus, Laudatio Barnabae. Lobrede auf Barnabas, hg. von Bernd Kollmann/ Werner Deuse (FC 46), Turnhout 2007; wichtiges Quellenmaterial auch bei Bernd Kollmann/ Burkhard Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0001 12 Tobias Nicklas Barnabastexte auch noch im 5. Jahrhundert und später mit Traditionen aus der kanonischen Apostelgeschichte umgehen können, um ihre Perspektive auf einen innerkirchlichen Konflikt durchsetzen zu können. 22 Gleichzeitig hat ein Text wie die syrische Doktrin des Addai, eine wohl auf das 5. oder 6. Jh. n. Chr. zu datierende Apostelgeschichte, die Gründungserzählung der bedeutsamen Kirche von Edessa (des heutigen Urfa), nie den Anspruch gestellt, Teil eines neutestamentlichen Kanons zu werden. Die Autorität dieser apokryphen Schrift aber war so groß, dass sie in den Anweisungen des Apostels vor seinem Tode den Kanon von Schriften in der Kirche Edessas definierte: Besonders spannend daran ist, dass hier offenbar den Schriften des AT ein höheres Gewicht zugeschrieben wurde als denen des NT und dass hier nicht eine Sammlung der vier Evangelien als kanonisch galt, sondern das Diatessaron Tatians. 23 Natürlich war diese Autorität nicht universal anerkannt, sondern bezog sich nur auf den Einflussbereich von Edessa für eine bestimmte Zeit. Wichtig ist zudem: Die Autorität parabiblischer Texte und Traditionen steht in vielen Fällen in keinem direkten Verhältnis zur Differenzierung zwischen so genannter „ Orthodoxie “ (oder Proto-Orthodoxie) und Häresie. Stattdessen erweist sie sich nicht selten als vollkommen unabhängig von dieser Differenzierung. Mit anderen Worten: Es sind nicht immer und überall so genannte „ Häretiker “ , die sich in ihren Argumenten auf nicht-kanonisches Material bezogen: Die oben erwähnte Kirche Zyperns verblieb natürlich im Rahmen dessen, was man in ihrer Zeit als „ Orthodoxie “ verstehen würde. Autorität, die parabiblischen Traditionen in bestimmten Kontexten zukommt, ist auch keineswegs auf marginalisierte Gruppen alleine beschränkt. Außerkanonische Texte konnten schließlich nicht nur hohen Anspruch auf Autorität zeigen oder auch als Autorität eingesetzt werden; verwandt damit ist die Beobachtung, dass wenigstens einige von ihnen tatsächlich auch sehr einflussreich waren. Dies gilt zum Beispiel für eine Reihe von apokalyptischen Schriften: Für die Entwicklung spätantiker und mittelalterlicher Vorstellungen von Paradies und (vor allem) Hölle war sicherlich die Apokalypse des Paulus lange Zeit im Westen einfluss- Schröder, Der Evangelist Markus. Historische Konturen - Altkirchliche Legenden - Hagiographische Zeugnisse (SBS 257), Stuttgart 2023, 90 - 101 sowie 159 - 167. 22 Dies zeigt sich sehr schön an den Itineraren, die mit Barnabas in Beziehung gesetzt werden. Hierzu Tobias Nicklas, The Travels of Barnabas. From the Acts of the Apostles to Late Antique Hagiographic Literature, in: Susanne Luther/ P. Bärry Hartog/ Claire E. Wilde (Hg.), Jewish, Christian and Muslim Travel Experiences. 3 rd century BCE - 8 th century CE ( Judaism, Christianity, and Islam - Tension, Transmission, Transformation), Berlin/ Boston 2023, im Druck. 23 Ausführlicher Alain Desreumaux, Das Neue Testament in der Doctrina Addaï, in: Jean- Michel Roessli/ Tobias Nicklas (Hg.), Christian Apocrypha. Receptions of the New Testament in Ancient Christian Apocrypha (NTP 26), Göttingen 2014, 233 - 248. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0001 Neutestamentlicher Kanon und christliche Apokryphen 13 reicher als die neutestamentliche Johannesapokalypse; im byzantinischen und byzantinisch beeinflussten Osten mag Vergleichbares für die heute nur noch wenig bekannte, aber reich überlieferte Apokalypse der Maria gelten. 24 Keiner der beiden Texte war jemals als Teil des neutestamentlichen Kanons anerkannt, beide aber scheinen Bedürfnissen entsprochen zu haben, die durch Texte des neutestamentlichen Kanons nicht befriedigt werden konnten. Doch auch die umgekehrte Perspektive lässt sich illustrieren: Auch innerhalb des NT gibt es eher marginale Schriften und Textpassagen. Dies gilt nicht nur für wenig verwendete Schriften wie den Judasbrief oder den Zweite Petrusbrief, die beide unbestritten als Teil des neutestamentlichen Kanons verstanden werden, die jedoch kaum als Autorität (gar in bedeutsamen Diskursen) herangezogen werden, sondern auch für Passagen aus den Evangelien, wie etwa Jesu Anweisung „ Lass die Toten ihre Toten begraben! “ (Mt 8,22 par. Lk 9,60). 25 Viele weitere Beispiele ließen sich finden. 3. Eine weitere Differenzierung: Kanon, Kanonbewusstsein und das Vorliegen von (Voll-)Bibeln Sehr nahe liegen mit diesen Überlegungen aber auch weitere Folgerungen: Die Tatsache, dass in „ offiziellen “ großkirchlichen Kreisen der neutestamentliche Kanon bereits mehr oder minder allgemein als geschlossen anerkannt wurde, bedeutet noch nicht, dass dies überall in gleicher Weise gegolten haben mag. Damit meine ich nicht nur, dass wir von regionalen Differenzierungen (und wohl auch Differenzierungen zwischen Stadt und Land) ausgehen müssen: 26 Während die Johannesapokalypse im Westen offenbar recht weitgehend anerkannt war, gilt dies nicht für große Teile des kirchlichen Ostens; 27 und in einer Teilkirche wie der armenischen konnte noch lange Zeit wenigstens in 24 Zur Visio Pauli vgl. v. a. Lenka Jirou š kova, Die Visio Pauli. Wege und Wandlungen einer orientalischen Apokryphe im lateinischen Mittelalter, unter Einschluß der alttschechischen und deutschsprachigen Textzeugen (MLST 34), Leiden/ Boston 2006; zurApokalypse der Maria z. B. Stephen J. Shoemaker, The Apocalypse of the Virgin, in: Tony Burke/ Brent Landau (Hg.), New Testament Apocrypha. More Noncanonical Scriptures 1, Grand Rapids 2016, 492 - 509. 25 Hierzu vgl. Tobias Nicklas, „ Let the Dead Bury their Own Dead ” (Matt 8: 22 par. Luke 9: 60). A Commandment without Impact for Christian Ethos? , in: Ruben Zimmermann/ Stephan Joubert (Hg.), Biblical Ethics and Application: Purview, Validity, and Relevance of Biblical Texts in Ethical Discourse (WUNT I/ 384), Tübingen 2017, 75 - 90. 26 Darauf verweist bereits die Geschichte des neutestamentlichen Kanons von Bruce M. Metzger, The Canon of the New Testament. Its Origin, Development, and Significance, Oxford 2 1997), 113 - 239. 27 Zur Geschichte der Anerkennung der Johannesapokalypse in den neutestamentlichen Kanon u. a. Karrer, Johannesoffenbarung (s. Anm. 25), 108 - 135. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0001 14 Tobias Nicklas einigen Handschriften der 3. Korintherbrief als kanonische Schrift behandelt werden. 28 Zu denken ist hier u. a. daran, dass sicherlich nicht allen Christ: innen in gleicher Weise ein Bewusstsein vom Bestehen, dem Umfang und der Bedeutung dieses Kanons zukam. Dies wiederum liegt sicherlich an einer weiteren wichtigen Differenzierung - der Differenzierung zwischen dem Vorliegen einer Vollbibel in materialer Form und der Idee eines abgeschlossenen Kanons. Selbst da, wo der Kanon (wenigstens theoretisch und von einigen) als abgeschlossen verstanden wird, bedeutet(e) es keineswegs, dass überall Vollbibeln in gleicher Weise zugänglich waren. 29 Dies gilt natürlich zunächst einmal für einzelne Christ: innen, von denen bis in unsere Zeit hinein viele nicht in der Weise lesen können oder die Gelegenheit haben zu lesen, wie sich dies Akademiker: innen aus Mitteleuropa „ leisten “ können zu tun. Dies liegt bis weit ins Mittelalter hinein einfach daran, dass die Produktion eines so komplexen Buchs wie einer Vollbibel so aufwändig, aber auch teuer war, dass selbst viele Gemeinden sich offenbar solche Vollbibeln nicht oder nur mit einiger Mühe leisten konnten. Selbst wo solche Bibeln aber vorhanden waren, waren sie nicht immer und nicht immer in gleicher Weise zugänglich. Dies ist nur einer der Gründe dafür, dass es sinnvoll ist, zwischen der Bibel (oder auch nur dem Neuen Testament) als einer materialen Größe (also dem konkreten, zuallermeist in Form eines Codex gebundenen Buches) und als einer virtuellen Größe zu unterscheiden. 30 Diese zweite Ebene, auf die besonders Andreas Merkt verwiesen hat, 31 beschreibt eine Art von mentaler Struktur im sozialen, womöglich auch „ kulturellen Gedächtnis “ 32 vieler Christ: innen, die individuell höchst 28 Zu Besonderheiten der Kanongeschichte in Armenien siehe Vahan S. Hovhanessian, New Testament Apocrypha and the Armenian Version of the Bible, in: ders., The Canon of the Bible and the Apocrypha in the Churches of the East (Bible in the Christian Orthodox Tradition 2), New York u. a. 2012, 63 - 88 (mit ausführlichen Informationen auch zum 3 Kor in Armenien). 29 Aufschlussreich hierzu die Überlegungen zum Auftrag Konstantins, Vollbibeln für Konstantinopel zu produzieren, bei T. C. Skeat, The Codex Sinaiticus, the Codex Vaticanus and Constantine [1999], in: The Collected Writings of T. C. Skeat, introduced and edited by J. Keith Elliott (NT.S 113), Leiden/ Boston 2004, 193 - 237, hier 215 - 234. 30 Wie sehr der Begriff „ Bibel “ an sich in den vergangenen Jahren auf verschiedenen Ebenen neu problematisiert wurde, zeigen die unterschiedlichen Beiträge des Bands von Karin. Finsterbusch/ Armin Lange (Hg.), What is Bible? (CBET 67), Leuven 2012. 31 Vgl. Andreas Merkt (mit Tobias Nicklas und Joseph Verheyden), Das Novum Testamentum Patristicum (NTP). Ein Projekt zur Erforschung von Rezeption und Auslegung des Neuen Testaments in frühchristlicher und spätantiker Zeit, in: Early Christianity 6 (2015) 573 - 595, hier 579. 32 Die Verwendung dieses Begriffs ist natürlich inspiriert von Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 3 2000. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0001 Neutestamentlicher Kanon und christliche Apokryphen 15 unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Biblische Textpassagen, besonders Erzählungen, Motive, Figuren, Themen u. a. können mehr oder minder präzise erinnert werden, ohne dass sie dabei auswendig gelernt werden müssten. Dabei ist es nicht immer nötig, zu wissen, aus welchem Evangelium oder welchem Brief welcher Satz oder welche Passage in welcher konkreten Formulierung stammt. Die Elemente, die Teil einer solchen virtuellen Bibel sind, werden über verschiedene Medien vermittelt. Das Lesen des Buchs Bibel bildet nur einen Aspekt des Ganzen; die Feier von Ritualen, in denen biblische Texte, Motive, Figuren und Themen begegnen, spielen dabei mindestens genauso eine Rolle wie Elemente materialer Kultur, Bilder und Bildzyklen, durch Architektur erschaffene Räume, Musik und heute auch Medien wie Filme. Entscheidend zum Verständnis dieser Vorstellung einer „ virtuellen “ Bibel ist, dass jedes der genannten Medien zwar auf unterschiedliche Weise wirkt, dass diese aber nicht einfach nebeneinanderstehen, sondern sich gegenseitig intermedial beeinflussen. Der geschriebene Text muss dabei nicht immer der erste oder entscheidende Bezugspunkt sein - und diese Formen der Rezeption führen dabei nicht einfach einlinig z. B. vom Text zu Ritus, Musik und/ oder Bild. 33 Wo geschriebene Texte wichtig sind - so wie das bereits in der Antike v. a. bei gelehrten Exegeten der Fall war - , zeigen sich wiederkehrende Muster von Assoziationen zu bestimmten biblischen Themen. Gleichzeitig verschwimmen die Grenzen zwischen dem, was als biblisch, und dem, was als parabiblisch wahrgenommen wird. Themen, Motive und Figuren aus biblischen Texten und parabiblischen Traditionen können so nebeneinander und miteinander verbunden zum Ausgangspunkt von Argumentationsstrukturen, Erzähl- und Bildwelten, aber auch liturgischer und freier „ Inszenierungen “ werden, die zwar mit der Bibel verbunden und von ihr inspiriert, jedoch nicht einfach in einer schriftlich niedergelegten Bibel zu finden sind. 4. Christliche Apokryphen und parabiblische Traditionen 34 Im bisherigen Verlauf des Beitrags habe ich die Begriffe „ apokryph “ , „ außerkanonisch “ und „ parabiblisch “ weitgehend austauschbar verwendet, dabei aber zwischen Texten und Traditionen differenziert. Gerade weil der Begriff „ apokryph “ aufgrund der Geschichte seiner Verwendung seit der alten Kirche belastet von Vorurteilen ist, 35 ist es nötig, mit ihm in möglichst reflektierter 33 Man könnte in diesem Zusammenhang deswegen von Entangled Traditions (Stephanie Hallinger, mündliche Kommunikation) sprechen. 34 Wichtige Aspekte des Folgenden auch in Nicklas, Beyond Canon Project (s. Anm. 41). 35 Beispiele bei Markschies, Haupteinleitung (s. Anm. 9), 18 - 22. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0001 16 Tobias Nicklas Weise umzugehen. Zwar ist es sicherlich kein Problem, neutestamentliche (oder christliche) Apokryphen zunächst einmal als Evangelien, Apostelerzählungen, Apostelbriefe und Apokalypsen sowie all diesen Gattungen verwandte Schriften anzusehen, die nicht Teil des neutestamentlichen Kanons geworden sind. Damit aber ist die Vielfalt und wenigstens teilweise auch die Eigenständigkeit dessen, was wir als Apokryphen bezeichnen können, noch nicht voll erfasst. Die von Christoph Markschies formulierte Definition christlicher Apokryphen geht deswegen noch einen Schritt weiter. Markschies schreibt: „ Apokryphen “ sind jüdische und christliche Texte, die die Form kanonisch gewordener biblischer Schriften aufweisen oder Geschichten über Figuren kanonisch gewordener biblischer Schriften erzählen oder Worte solcher Figuren überliefern oder von einer biblischen Figur verfaßt sein wollen. Sie sind nicht kanonisch geworden, sollten dies aber teilweise auch gar nicht. Teilweise waren sie auch ein genuiner Ausdruck mehrheitskirchlichen religiösen Lebens und haben oft Theologie wie bildende Kunst tief beeinflußt. 36 Ich selbst habe den Versuch unternommen, einen bewusst aus heutiger literaturwissenschaftlicher Perspektive formulierten „ Apokryphen “ -Begriff zu umschreiben, der möglichst offen bleiben soll. 37 Dabei betone ich die enge hypertextuelle Beziehung apokrypher Texte zu neutestamentlichen (bzw. biblischen) Schriften und, damit verbunden, in ihnen begegnenden Figuren, Themen und Motiven. 38 Welche der beiden Definitionen man auch immer zugrunde legt: die literarische Beziehung zwischen christlichen Apokryphen und biblischen, v. a. neutestamentlichen Schriften wird als so bedeutsam angesehen, dass apokryphe Schriften als Texte verstanden werden können, die an der biblischen Denk- und Erzählwelt partizipieren. Wichtig für beide Definitionen ist, dass sie einen Apokryphen-Begriff einzuführen suchen, der so weit wie möglich von Vorurteilen absieht, die gerne mit diesen Schriften verbunden werden. Das griechische Wort apokryphos bedeutet zunächst einmal „ verborgen “ oder „ geheim “ . 39 Von groß- oder mehrheitskirchlichen Autoren, die sich selbst als „ orthodox “ , d. h. „ rechtgläubig “ definierten, wurde es verwendet, um Schriften abzuqualifizieren, die von Autoren verfasst wurden, die als „ häretisch “ , also nicht rechtgläubig, angesehen wurden. Mit der Bezeichnung einer Schrift als „ apokryph “ geht in diesem Sprachgebrauch 36 Markschies, Haupteinleitung (s. Anm. 9), 114. 37 Zum Folgenden ausführlicher Tobias Nicklas, Semiotik - Intertextualität - Apokryphität. Eine Annäherung an den Begriff „ christlicher Apokryphen “ , in: Apocrypha 17 (2006) 55 - 78. 38 Zu Hyperund, damit verbunden, Hypotextualität vgl. Gérard Genette, Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt a. M. 1993, 14 f. 39 Zum Folgenden vgl. auch Markschies, Haupteinleitung (s. Anm. 9), 18 - 21. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0001 Neutestamentlicher Kanon und christliche Apokryphen 17 zudem sehr häufig ihre Einschätzung als „ Fälschung “ einher. Umgekehrt aber gibt es auch Schriften, die sich selbst als „ apokryph “ im Sinne von „ geheim “ bezeichnen und die damit den Anspruch stellen, besonderes, nur einer Elite zugängliches Wissen zu vermitteln. Zu diesen Texten gehört z. B. das Thomasevangelium, in dessen Incipit wir lesen: Dies sind die verborgenen (= apokryphen! ) Worte, die Jesus der Lebendige sagte, und Didymos Judas Thomas schrieb sie auf. Solche Schriften verbanden mit der Selbstbezeichnung als „ apokryph “ offenbar einen besonderen Anspruch; Teil eines allgemein verbindlichen, für alle zugänglichen Kanons wollten Texte, die solches elitäres Wissen zu vermitteln suchten, kaum werden. 40 Beides zeigt: So sehr es aus rein pragmatischen Gründen sinnvoll sein mag, den Begriff „ Apokryphen “ beizubehalten, so sehr bleibt er problematisch. Die Vorurteile, die weiter an ihm haften, behindern die notwendige neutrale Auseinandersetzung mit diesen Texten; und zudem galten viele Schriften, die wir mit den oben genannten Definitionen als „ apokryph “ einordnen, in der Antike gar nicht als „ apokryph “ in einem der beiden beschriebenen Sinne. 41 Eine Alternative zu den Begriffen „ apokryph “ und „ Apokryphen “ , die zunehmend verwendet wird, bieten die Begriffe „ parabiblisch “ und „ Parabiblica “ , die sehr schön das in beiden Definitionen zum Ausdruck gebrachte literarische Verhältnis zu den Texten der Bibel „ einfangen “ . Bereits die Rede von der Bibel, die nicht nur als materiale, sondern auch als mentale oder virtuelle Größe existiert, bietet den Anstoß, auch im Zusammenhang mit der Rede von Parabiblica den häufig zu engen Blick auf Texte alleine zu öffnen und, wie oben bereits vereinzelt geschehen, von parabiblischen Traditionen zu sprechen: In vielen Fällen zeigt sich, dass die Funktion parabiblischer Texte erst dann verstehbar wird, wo sie als Teil eines komplexeren Zueinanders von Textzeugnissen und anderen Medien (von Liturgie und „ Performance “ bis hin zu Aspekten materieller Kultur wie Bildern, geographischen wie architekto- 40 Weiterführend hierzu (mit weiteren Beispielen) Tobias Nicklas, „ Apokryph gewordene “ Schriften? Gedanken zum Apokryphenbegriff bei großkirchlichen Autoren und in einigen „ gnostischen “ Texten, in: Jacob A. van den Berg u. a. (Hg.), In Search of Truth. Augustine, Manichaeism, and Gnosticism. Studies for Johannes van Oort at Sixty (NHMS 74), Leiden/ Boston 2011, 547 - 565. 41 Viele von ihnen wären in der Antike einer dritten Kategorie von Texten zugeordnet worden, Schriften, die durchaus (wenigstens in bestimmten Kontexten) gelesen und verwendet werden konnten, die aber nicht dem Kanon zugerechnet wurden. Hierzu besonders François Bovon, Beyond the Canonical and the Apocryphal Books, the Presence of a Third Category. The Books Useful for the Soul, in: ders., The Emergence of Christianity. Collected Studies III (WUNT I/ 319), Tübingen 2013, 147 - 160. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0001 18 Tobias Nicklas nischen Strukturen, ja „ Dingen “ ) verstanden wird. 42 Die Verwendung von Texten im Kontext von Riten oder gar ihre Inszenierung in verschiedensten Formen von Performance an bestimmten Orten und zu festgesetzten Zeiten, das Zueinander von Bildern (und Bildkompositionen) zu daraus entstehenden Räumen, die Deutung von Dingen durch Texte, Riten oder Bilder lassen in vielen Fällen überhaupt erst beschreiben, welche Bedeutung parabiblischen Literaturen einst zugekommen ist und ihnen zum Teil noch zukommt. Wo dies erkannt wird, ist es sinnvoll, von parabiblischen Traditionen zu sprechen, die in ihrem Vollsinn erst dann erfasst sind, wo die verschiedenen Medien, die an ihnen partizipieren, in angemessener Form miteinander in Bezug gesetzt werden. Dabei ist zu beachten, dass der Dimension „ Text “ keineswegs immer und überall der Vorrang gegeben werden muss. Traditionen um das so genannte „ Quellwunder des Petrus “ sind zunächst einmal ikonographisch (weit) früher bezeugt als schriftlich erwähnt. 43 Das in orthodoxer Ikonographie regelmäßig begegnende Motiv einer Waschung des neugeborenen Jesus durch (mindestens) eine Hebamme taucht in keinem apokryphen Kindheitsevangelium in schriftlicher Form auf. Wo mehrere Medien eine Tradition bestimmen, ist damit nicht einfach der Text einseitig sinnspendend; stattdessen erzeugt erst das gegenseitige Zueinander der durch die Medien vermittelten Zeichen für die Stiftung von Sinn. Mit anderen Worten: Wo sie ernst genommen wird, wirkt „ Inter “ - Medialität in mehrere Richtungen gleichzeitig! 44 Dann aber kann eine noch einmal weiterführende Definition formuliert werden: Parabiblische Traditionen sind durch das Zueinander verschiedener Medien (Texte, Dinge, Bilder, Riten etc.) bestimmte Konstellationen, die an der imaginierten Welt der Bibel teilhaben, jedoch nicht vollkommen in ihr aufgehen, sondern diese in neue Kontexte hinein aktualisieren, ja präsentieren. Diese Konstellationen sind keineswegs stabil, sondern entstehen erst durch die in ihrer Rezeption gebildeten mentalen Räume, d. h. in der Vorstellungskraft derer, die sie in Verbindung miteinander setzen. 42 Aspekte des Folgenden finden sich auch in dem Beitrag Tobias Nicklas, Von neutestamentlichen Apokryphen und parabiblischen Traditionen, in: Claudio Zamagni (Hg.), Apocrypha, Tradizioni segrete, eccesso di senso, Rom 2024 (Manuskript eingereicht). 43 Die motivischen Verbindungen zu den Quellwundern des Mose sind (ebenfalls auch auf ikonographischer Ebene) deutlich. Vgl. Jutta Dresken-Weiland, Bild, Grab und Wort. Untersuchungen zu Jenseitsvorstellungen von Christen des 3. und 4. Jahrhunderts, Regensburg 2010, 119 - 135. Das Motiv wird erst in sehr späten Apostelerzählungen in Verbindung mit Rom aufgenommen, dem Martyrium des Petrus nach Pseudo-Linus) sowie der Passio der Hl. Processus und Martinianus. 44 Ich verdanke diesen Gedanken Stefan Alkier (mündliche Kommunikation). Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0001 Neutestamentlicher Kanon und christliche Apokryphen 19 5. Der Kommunikationsraum zwischen biblischem Kanon und parabiblischen Traditionen Vor dem Hintergrund solcher Überlegungen ist es möglich, das Verhältnis zwischen biblischen Texten und parabiblischen Traditionen neu zu bestimmen. Sobald wir uns von der Vorstellung lösen, dass die Bibel alleine als ein fest gebundenes Buch zu denken ist, müssen wir auch über das Bild der Grenze zwischen Bibel und parabiblischen Traditionen neu nachdenken. Angemessener erscheint stattdessen die Vorstellung eines durch verschiedenste Formen der Kommunikation erzeugten Raums - oder besser: einer Unzahl solcher Raumkonstellationen, innerhalb derer sich Traditionen bewegen können, die weder eindeutig kanonisch noch eindeutig außerkanonisch sind. Diese Raumkonstellationen sind mehrdimensional. Sie ändern sich fortdauernd in hoch dynamischer Weise: 1. Dass die „ Grenze “ zwischen konkret biblischen und nicht-biblischen Texten durchlässiger sind, als wir üblicherweise vermuten, zeigt sich bereits da, wo wir uns auf Geschriebenes beziehen. Auch da, wo der Kanon klar abgesteckt und definiert ist, gleicht keine Handschrift der Bibel, aber auch keine moderne Bibelausgabe der anderen. „ Parabiblische Elemente “ können auf verschiedenen Ebenen eindringen - denken wir nur an Texte wie die normalerweise als Joh 7,53 - 8,11 eingeordnete Erzählung von der Ehebrecherin oder den langen Markusschluss (Mk 16,9 - 20). 45 Die Entscheidung, ob solche Texte als Teil des Neuen Testaments zu verstehen sind oder nicht, ist keineswegs trivial. 2. Sobald biblische Erzählungen, Motive, Figuren oder Themen in Medien jenseits verschrifteter Texte übertragen werden, stellt sich eine grundsätzliche Frage: Kann die Repräsentation eines biblischen Texts (oder einer Kombination biblischer Texte) in Liturgie, Drama, Ikonographie oder in der Kombination textueller und ikonographischer Elemente beanspruchen, dem in den Erzählungen, die wir in kanonischen Texten finden, Gebotenen voll zu entsprechen? Oder bietet bereits die Vermittlung in einem anderen Medium an sich Elemente, die in einen Kommunikationsraum jenseits des Kanons führen? Ich gehe davon aus, dass Letzteres der Fall ist. Damit aber zeigt sich erneut, wie wenig sinnvoll das Bild einer scharfen Trennlinie zwischen Kanonischem und Außerkanonischem ist. Dies wiederum führt dazu, dass auch der bereits entstandene und abgeschlossene biblische Kanon auch in geographischen wie historischen Kontexten jenseits seiner Entstehung (oder gar jenseits der Entstehung seiner Einzeltexte) lebendig bleibt. Mit anderen Worten: Auch dem bereits abge- 45 Interessantes Beispiele auch bei Thomas J. Kraus, Thecla and the Acts of Thecla. Searching for Traces in the Manuscript Tradition, in: Nicklas/ Spittler/ Bremmer (Hg.), The Apostles Peter, Paul, John, Thomas and Philip (s. Anm. 74), 118 - 150. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0001 20 Tobias Nicklas schlossenen Kanon kommt eine Geschichte zu, die zu schreiben ohne die Arbeit an Kommunikationsräumen wie dem eben Beschriebenen - und damit ohne die Arbeit an außerkanonischen Traditionen - unmöglich ist. 46 6. Gedanken zur Geschichte des bereits abgeschlossenen Kanons Dass dem Kanon auch nach seinem Abschluss eine Geschichte zukommt, dass entscheidende Aspekte dessen, was man als „ kanonischen Prozess “ bezeichnet hat, 47 auch nach dem Abschluss des Kanons weitergehen müssen, hat Gründe. Zwar repräsentieren die Schriften des Kanons eine Vielzahl von Stimmen. 48 Diese Stimmen wiederum sind aufgrund ihrer Pluralität und Polysemie, aber auch aufgrund der Vielfalt von Situationen, in die sie hineinsprechen, bleibend der Interpretation aufgegeben. Trotzdem bieten die Texte des biblischen Kanons nicht in jedem der sich durch die Geschichte immer verändernden, in verschiedenen geographischen Räumen (von lokaler bis weltweiter Ebene) unterschiedlich zu beschreibenden Denk- und Diskursräume Antworten auf jede neue Frage, die sich in den Gemeinschaften ergibt, für die der Kanon relevant ist. Wo derartige Fragen in Bezug auf biblische Text-, Motiv- und Denkwelten beantwortet werden wollen, erzeugen sie Strukturen der Kommunikation, die gleichzeitig in Räume jenseits des Kanons hineinreichen und mit diesem eng verbunden bleiben. Ein großer Teil der Traditionen, die wir heute als parabiblisch bezeichnen, steht in Bezug zu solchen Kommunikationsräumen. Damit haben wir wichtige Voraussetzungen, um zu der These zurückzukommen, dass auch dem bereits bestehenden Kanon eine Geschichte zukommt: 1. Zur Rekonstruktion dieser Geschichte sind zunächst Prozesse der Gewichtung, Deutung und Einordnung von einzelnen Texten der Schriften zu beschreiben: In der Spätantike und im Mittelalter wurde das Matthäusevangelium 46 Grundsätzliche Überlegungen auch in Tobias Nicklas, Kanon und Geschichte. Eine Thesenreihe, in: Sacra Scripta 15 (2017) 90 - 114 sowie ders., The Interaction of Canon and History, in: Ihab Saloul/ Jan Willem van Henten (Hg.), Martyrdom. Canonization, Contestation and Afterlives, Amsterdam 2020, 33 - 54. 47 Meist wird der Abschluss des Kanons als Einschnitt angesehen, der dem „ kanonischen Prozess “ ein Ende setzt. Siehe z. B. James A. Sanders, The Issue of Closure in the Canonical Process, in: ders./ Lee M. McDonald (Hg.), The Canon Debate, Peabody 2002, 252 - 263. Dies ist m. E. nur zum Teil zutreffend. 48 Der Gedanke der Vielstimmigkeit biblischer Texte ist inspiriert durch Michail Bachtin und seine Beobachtungen zur Dialogizität moderner Literatur, er ist aber auch in besonderem Maße passend für den komplexen „ Text “ Bibel, der eben nicht alleine im Bild einer „ Bibliothek “ von Schriften aufgeht. Einführend hierzu z. B. Matthias Aumüller, Michail Bachtin, in: Matías Martinez/ Michael Scheffel (Hg.), Klassiker der modernen Literaturtheorie. Von Sigmund Freud bis Judith Butler, München 2010, 105 - 126. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0001 Neutestamentlicher Kanon und christliche Apokryphen 21 zu dem Evangelium, das am meisten und intensivsten rezipiert wird. Lange Zeit stand das MkEv in seinem Schatten. Wenigstens ansatzweise haben sich die Gewichte heute verschoben: Wo Mk als der älteste erhaltene Entwurf einer Jesus-Christus-Erzählung wahrgenommen wird, rückt die Leistung seines Autors mehr in den Vordergrund als je zuvor. Das Matthäusevangelium dagegen ist dann in der Gefahr, mehr als bisher als literarisch abhängig in seinem Verhältnis zum Markusevangelium wahrgenommen zu werden. Auch die wachsende Sensibilität gegenüber dem antijüdischen Potenzial manch neutestamentlicher Schriften führte dazu, bestimmte Aussagen des (gleichzeitig so jüdischen! ) Matthäusevangeliums in deutlich distanzierterer Weise zu lesen als noch Jahrhunderte zuvor. Mt bleibt unumstritten kanonisch - und doch verändert sich sein Gewicht. Ähnliches lässt sich am Beispiel der Johannesapokalypse skizzieren: Wird sie, als Abschluss des kanonischen Neuen Testaments, als eine Art Fortsetzung der Kirchengeschichte gelesen, die vom jetzigen Leid in den abschließenden Triumph der Anhänger Christi im himmlischen Jerusalem führt? Dies ist sicherlich eine klassische Weise, den Text zu verstehen, die sicherlich ein Grund dafür war, sie an das Ende des biblischen Kanons zu setzen. Oder soll sie, wie heute häufig geschehen, als Krisenliteratur gedeutet werden, deren Stimme auch politisch Relevantes gegen Systeme von Unterdrückung und Diktatur zu sagen hat? 49 Oder sind Aussagen von ihr (z. B. zu Frauen) als aggressiv oder Gewalt verherrlichend geradezu aus dem Kanon zu entfernen (oder zumindest so weit wie möglich aufzufangen und zu relativieren)? 2. Damit aber ist ein grundsätzliches Problem angesprochen, das sich eng mit der Frage nach der Geschichte des bereits bestehenden Kanons verbinden lässt: in den kanonisch gewordenen Schriften befinden sich zahlreiche Aussagen, die wir heute aus sehr unterschiedlichen Gründen als höchst problematisch wahrnehmen. Die Frage wie wir damit heute umgehen sollen, lässt sich nicht beantworten, ohne die Frage zu berühren, was es denn bedeutet, dass solch inakzeptable Texte kanonisch sind. Sie lässt sich auf unterschiedliche Weisen lösen. All diese Lösungsversuche berühren auch den Gedanken, dass auch dem bestehenden Kanon noch eine Geschichte zukommen muss. Die auch hermeneutisch einfachste Möglichkeit ist es, das Gefahrenpotenzial von Textpassagen aus dem Kanon nicht den Texten selbst zuweisen, sondern einer Geschichte bewusster oder unbewusster Fehlinterpretationen dieser Texte. 50 Die Bibel 49 Hierzu ausführlicher Tobias Nicklas, The Apocalypse in the Framework of the Canon, in: Richard B. Hays/ Stefan Alkier (Hg.), Revelation and the Politics of Apocalyptic Interpretation, Waco, TX 2012, 143 - 153. 50 Dies ist ein Ansatz des engagierten Bands Hieke/ Huber, Bibel falsch verstanden (s. Anm. 85). Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0001 22 Tobias Nicklas müsse nur „ richtig verstanden “ werden, dann könnten die entscheidenden Probleme beseitigt werden. Dies mag in manchen Fällen tatsächlich funktionieren, in anderen dagegen nicht. Ich halte z. B. die Tatsache, dass man im Neuen Testament vergeblich nach Aussagen sucht, die sich eindeutig gegen Sklaverei wenden, zwar für historisch erklärbar, aber trotzdem für so problematisch, dass wir sie nicht einfach wegdiskutieren können. 51 Die Lösung solcher Probleme kann womöglich darin bestehen, diese Stimmen (mit Hilfe guter theologischerArgumentation) so weit wie möglich zum Schweigen zu bringen. 52 3. Eine dritte Ebene ergibt sich durch die veränderten Kontexte, innerhalb derer die Schriften des Kanons überliefert werden, und die auf ihre Deutung Einfluss nehmen. Die Schriften des Kanons haben in den vergangenen Jahrhunderten in auch kulturell höchst verschiedene Welten hineingewirkt; aus ihnen und um sie entstanden imaginierte Welten, die in verschiedenen Kontexten sehr unterschiedliche Formen annehmen können. Die Bibel wurde in höchst verschiedenen Kulturen dieser Welt gelesen und imaginiert, sehr unterschiedlich etwa in Teilen West- und Osteuropas, aber auch in Ländern wie China, Brasilien, Indien, Kamerun oder Papua-Neuguinea. Sie wird in verschiedensten Lebenskontexten, privat und zum Studium, in Schulen und Kindergärten, in der Erwachsenenbildung, der Liturgie oder in Bibelkreisen gelesen - und erzeugt dabei in ihrer Fülle unbeschreibbare imaginierte Welten, von denen wenigstens ansatzweise die verschiedensten Medien zeugen, in denen sich diese niederschlagen. 53 Diese imaginierten Welten aber sind nicht einfach nur Teil der Rezeptionsgeschichte, die von der Bibel bzw. dem Neuen Testament wegführt - sie beeinflussen umgekehrt wieder die vielen unterschiedlichen Lektüren des Neuen Testaments. So öffnen sich die Schriften des Kanons hin auf immer wieder neue Welten - und so tragen sich umgekehrt diese Welten in die Lektüre dieser Schriften ein. Prozessen der Öffnung stehen gleichzeitig jedoch immer auch Prozesse des Schließens gegenüber: Die Zahl der Schriften des neutestamentlichen Kanons ist seit der Spätantike zwar mehr oder minder abgeschlossen. Wie diese aber zu lesen sind und was sie bedeuten, wird seither diskutiert. Bereits in der Antike gibt es eine Vielzahl neuer Abgrenzungen: Im Bezug auf das Alte Testament wird das - alles andere als banale - Problem diskutiert, wie denn z. B. 51 Ich folge hier (in Bezug auf 1 Petr) Michael Sommer, Freiheit und Intellekt. Der 1. Petrusbrief und römisch-hellenistische Gelehrtendiskurse über Sklaverei, in: Early Christianity 12 (2021) 1 - 21, hier 21. 52 Vgl. auch Tobias Nicklas, Denk- und Kommunikationsräume jenseits und diesseits des Kanons, in: Marilou M. S. Ibita u. a. (Hg), Kindness, Courage, and Integrity in Biblical Texts and the Politics of Biblical Interpretation. Festschrift Reimund Bieringer (BETL 333), Leuven u. a. 2023, 263 - 278. 53 Dies berührt sich bewusst mit dem, was ich oben über parabiblische Traditionen schreibe. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0001 Neutestamentlicher Kanon und christliche Apokryphen 23 die kultischen Vorschriften der Tora zu deuten sind, die der Praxis vieler Christusanhänger: innen widersprachen. Ein (höchst problematisches) Beispiel dafür, wie das geschehen sollte, bietet etwa der Barnabasbrief des frühen zweiten Jahrhunderts, eine Schrift, die ein wörtliches Verständnis vieler Vorschriften der Tora als rundweg falsch ablehnt. In intellektuellen Kreisen entwickelte sich (mit ersten Anfängen bereits im 2. Jahrhundert) im Dialog mit der Tradition der Auslegung bedeutender philosophischer Werke die Kommentierung frühchristlicher Schriften, bis heute eine der ehrenvollsten und wichtigsten Tätigkeiten wissenschaftlicher Exegese. Zumindest den Kommentaren, die der historisch-kritischen Tradition verpflichtet sind, geht es darum, eine der ursprünglichen Bedeutung des neutestamentlichen Texts so nahe wie möglich kommende Auslegung zu bieten. Dieser Prozess des Abschließens der Texte wiederum ist ohne begleitende Prozesse der Öffnung kaum denkbar: Schließlich bildeten Kommentare nie das Ende der Diskussion, sondern gaben überhaupt erst Anlass zu neuen Überlegungen. Neuere Zugänge zum Bibeltext betonen wiederum dessen Polyphonie gegen seine Verengung auf eine, angeblich ursprüngliche Bedeutung. 7. Statt eines Fazits: Zurück zum Ausgangspunkt Der Beitrag zielt darauf ab, dass so selbstverständlich erscheinende Begriffe wie „ Bibel “ , „ biblische Texte und Traditionen “ , „ Kanon “ , „ Kanongeschichte “ und „ Autorität biblischer Schriften “ nun weniger klar zu fassen sind als vorher. Denn nur wenn wir über diese Begriffe und ihre Bedeutung nachdenken, können wir einige Grundfragen christlicher Theologie besser erfassen als bisher: Was bedeutet es, kanonische Schriften zum Referenzpunkt theologischen Denkens zu machen? Wie können wir die Rede von der Inspiration biblischer Schriften mit den Beobachtungen zur fortschreitenden Geschichte des Kanons in Einklang bringen? Und wie können wir von inspirierten Schriften sprechen, wenn diese sich in der Geschichte auch als höchst gefährlich erweisen konnten und sie Passagen beinhalten, die z. B. aus ethischen Gründen nicht akzeptabel erscheinen? Wie verhält sich die Verantwortung von Ausleger: innen des NT gegenüber dem Text, welcher in einem Bezug zu Gottes Wort steht, zu der Verantwortung gegenüber den Adressat: innen von Interpretationen der Bibel, Menschen also, die an und in diesen Texten Orientierung finden wollen? Wo kann eine Ethik der Auslegung biblischer Schriften ihren Ausgangspunkt nehmen, wenn die Schriften der Bibel polysem und vieldeutig, ja in Teilen gefährlich sind? Was bedeutet es von der Bibel zu sprechen, wo klar wird, dass diese nicht nur als materiales Objekt, sondern auch (und in vielen Kontexten zuallererst) als virtuelle, mentale Größe zu begreifen ist? Immer wieder zu Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0001 24 Tobias Nicklas Punkten wie diesen zurückzukommen hat, wie ich denke, mit dem Wesen christlicher Theologie zu tun. © Stephanie Hallinger Tobias Nicklas ist Professor für Exegese und Hermeneutik des Neuen Testaments und Direktor des Centres for Advanced Studies „ Beyond Canon “ an der Universität Regensburg. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit christlichen Apokryphen, Fragen der Kanongeschichte und Hermeneutik, apokalyptischer Literatur und Apostel-Erinnerungen. Er ist Autor von mehr als 250 wissenschaftlichen Publikationen. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0001 Neutestamentlicher Kanon und christliche Apokryphen 25 Zum Thema Die Vielfalt der Stimmen und ihre intertextuelle Verknüpfung als Leitthema Neutestamentlicher Wissenschaft Stefan Alkier 1. Die kritische und Gemeinschaft bildende Funktion von sola scriptura Eines der erstaunlichsten Missverständnisse der Theologiegeschichte hat das reformatorische Konzept der Schrifthermeneutik erfahren. Schon bald wurde der Slogan sola scriptura von Freund und Feind so aufgefasst, als solle man ausschließlich die Bibel lesen und nichts anderes und als gäbe es göttliche Kommunikation mit den menschlichen Geschöpfen Gottes - auch Offenbarung genannt - nur in der Lektüre der Bibel zu erleben und nirgendwo sonst. Dass es sich aber bei dem sola, bezogen auf die Schrift, nicht um einen unkritischen, dogmatistischen Biblizismus handelt, sondern um ein kritisches epistemologisches Programm, gilt es heute neu zu entdecken. 1 In keiner Weise schränkt es nämlich den Lesestoff eines Christenmenschen ein. 2 Es redet auch niemandem aus, dass Gott und sein auferweckter und erhöhter Sohn sich durch ihren Heiligen Geist etwa im Gebet und der Feier des Abendmahls mitteilen. Christos 1 Vgl. dazu Stefan Alkier, Sola Scriptura als epistemologisches, hermeneutisches, methodologisches und theologisches Konzept der Schriftauslegung. 20 Thesen und ihre Erläuterung, in: ders. (Hg.), unter Mitarbeit von Dominic Blauth und Max Botner, Sola Scriptura 1517 - 2017. Rekonstruktionen - Kritiken - Transformationen - Performanzen (Colloquia Historica et Theologica 7), Tübingen 2019, 429 - 477. 2 So die These mit Blick auf den Kanon insgesamt von George Aichele, The Control of Biblical Meaning. Canon as Semiotic Mechanism, Harrisburg, Pennsylvania 2001. Obwohl die Grundthese Aicheles nicht überzeugt, handelt es sich um ein sehr lesenswertes Buch schon allein wegen der kritischen Fragen, die er stellt. Es ist aber insgesamt kaum nachvollziehbar, wie wenig poststrukturalistische Ansätze mit dem Paradigma der Intertextualität mit Blick auf die Kanonfrage anzufangen wissen, öffnet dieses Konzept doch gerade ein unsachgemäß enges Kanonverständnis. Vgl. dazu Stefan Alkier, Intertextuality, in: Ian Boxall/ Bradley C. Gregory (Hg.), The New Cambridge Companion to Biblical Interpretation, Cambridge 2023, 110 - 128. Karakolis hat aus griechisch-orthodoxer Perspektive darauf hingewiesen, dass diese göttliche Selbstbekundung auch in Liturgie, Kunst, Musik 3 und - ich füge hinzu - auch in der Natur erlebt werden kann. Dass göttliche Offenbarung in der Wahrnehmung der Schönheit und Erhabenheit der Schöpfung geschehen kann und soll, bezeugen etwa Schöpfungspsalmen und nicht zuletzt Paulus in Röm 1,19 f. oder Barnabas und Paulus gegenüber dem Priester des Zeus in Apg 14,17: Ihr Männer, was macht ihr da? Auch wir sind Gleiches wie ihr erleidende Menschen und verkünden euch Frohes, um euch weg von diesen nichtigen hinzuwenden zu einem lebendigen Gott, der gemacht hat den Himmel und die Erde und das Meer und alles in ihnen, der in den vorübergegangenen Generationen alle Völkerschaften auf ihren eigenen Wegen gehen ließ. Und doch hat er als Gutes Bewirkender sich nicht unbezeugt gelassen und euch vom Himmel her Regengüsse und fruchtbringende Zeiten gegeben, eure Herzen anfüllend mit Nahrung und Frohsinn (Apg 14,15 - 17, Frankfurter Neues Testament 4). 4 Die kritische epistemologische Funktion des sola mit Blick auf die Schrift besteht darin, alle als Offenbarung Gottes erlebten Ereignisse an der Schrift zu überprüfen, damit nicht alles und jede beliebige Stimme als Offenbarung Gottes deklariert werden kann, weil damit das individuelle Erleben zum Richter über Gottes Offenbarung erhoben würde. Erst die kritische Rückbindung an die Schrift ermöglicht die demütige Rückfrage, ob ich denn wirklich Gott oder eben nur meinen eigenen Geist oder vielleicht sogar einen Ungeist erfahren habe. Darüber, dass der vorkritischen Erlebnisqualität nicht das kritische Urteil über die Offenbarungsqualität des Erlebnisses überlassen wird, wird eine kritische Gemeinschaft der auf Gott Vertrauenden möglich, die im Idealfall Kirche werden kann, andernfalls aber bestenfalls bloß eine Ansammlung religiöser Individualisten wäre. Das Schriftprinzip als normative epistemologische Grundlage zielt gerade darauf: Die die Schrift Lesenden oder Hörenden sollen kritisch eingebunden werden in den qualitativen Dialog ihrer Stimmen über Gott und die Welt, der den christlichen Kanon zu einer Schule eines qualitativen Pluralismus werden lässt. 3 Christos Karakolis, Die Gleichzeitigkeit von Lesern und Gelesenem. Wie das Lesebuch zum Lebensbuch wird - Wie die Bibel präsent werden kann, in: Stefan Alkier/ Christos Karakolis/ Tobias Nicklas, Sola Scriptura ökumenisch (Biblische Argumente in öffentlichen Debatten 1), Paderborn 2021, 131 - 145, insbes. 137 - 143. 4 Stefan Alkier/ Thomas Paulsen, Das Lukasevangelium und die Taten derAbgesandten neu übersetzt (Frankfurter Neues Testament 4), Paderborn 2023. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0002 28 Stefan Alkier 2. Die Entdeckung der Unhintergehbarkeit der Interpretation Die Schrift kann ihre kritische Funktion nur als interpretierte Schrift erfüllen. Die wohl wichtigste Entdeckung der reformatorischen Revolte besteht in der umstürzenden Erkenntnis, dass alle interpretieren müssen, weil die Buchstaben der Schrift ihre Bedeutung nicht an sich tragen. Schrift versteht sich nicht von selbst. Die Schriftzeichen erzeugen im Lesenden nicht automatisch einen adäquaten Sinn. Sola scriptura wendet sich gegen solche Phantasien einer quasi magischen Schriftauffassung, die die Rezipierenden als bloß passive Gefäße selbstwirksamer Zeichen zu imaginieren zwingt. Schon bloßes Lesen oder Hören, erst recht aber kritische Auslegung erfordert die aktive Mitarbeit der Interpretierenden. Keine Institution, keine Tradition und keine Lehrautorität können schon aufgrund ihrer jeweiligen perspektivischen Beschränktheit unfehlbare Wahrheitsgaranten einer bestimmten Auslegung werden, da sie alle selbst Interpreten der Schriftzeichen sind. Erst diese Erkenntnis führt zur theologischen Notwendigkeit der Bibelübersetzung in die jeweiligen Landessprachen, denn da niemand und nichts die Wahrheit einer Interpretation garantieren und die Interpretation eines anderen ebenfalls nur durch Interpretation der vorgegebenen Interpretation angeeignet werden kann, ist es notwendig, dass Jede und Jeder in die Lage versetzt wird, selbst interpretieren zu können, auch diejenigen, die keine Griechisch- oder Hebräischkenntnisse erworben haben. Das Wort Gottes hängt nicht an einer menschlichen Sprache, sondern kann sich durch alle menschlichen Sprachen ausdrücken. Der didaktische Impuls der Reformatoren ist nicht nur und nicht einmal in erster Linie ihrer Sympathie für den Humanismus zu verdanken, sondern erwächst vor allem aus der Schrifthermeneutik, die es theologisch notwendig werden lässt, alle zu befähigen, fleißige, kluge und demütige Leserinnen und Leser der Schrift zu werden, die sich in den Dialog ihrer Stimmen einlesen und sich so daran beteiligen. 3. Sola scriptura als philologische und intertextuelle Methodik der Schriftauslegung Um die eigene Stimme von den Stimmen der Schrift unterscheiden zu können, also um Ausleger bzw. Auslegerin und Auslegungsgegenstand nicht vorkritisch zu identifizieren, bedarf es intersubjektiv plausibler und nachvollziehbarer Wege der Auslegung, also einer Methodik. In seiner Verteidigungsschrift Assertio omnium articulorum 5 skizziert Luther zwei unverzichtbare und aufeinander 5 Assertio omnium articulorum Martini Lutheri per bullam Leonis X. novissimam damnatorum WA 7; 91 - 151 (1521). Empfehlenswert ist die zweisprachige Ausgabe: Martin Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0002 Vielfalt der Stimmen und ihre intertextuelle Verknüpfung als Leitthema 29 folgende und interagierende Methodenschritte als Bedingung jeder sachgemäßen Bibelauslegung für alle, die guten Willens sind, sich nicht mit institutioneller oder subjektiver Willkür über den Auslegungsgegenstand zu stellen und damit die Schrift nur sagen zu lassen, was man selbst für wahr, gut und richtig hält: 1. Intratextuelle philologische Textanalyse. 2. Intertextuelle Dialogizität. Die philologische Analyse soll nach den Regeln von Grammatik und Rhetorik die gegebenen Schriftzeichen in ihrem intratextuellen Zusammenhang analysieren und interpretieren. Die intertextuelle Interpretation soll solche Passagen eines Textes einem besseren Verständnis zuführen, die allein aus dem Einzeltext schwer oder gar nicht verstehbar sind. Letzteres meint Luther, wenn er davon schreibt, dass sich die Schrift selbst auslege. 6 Im Kern geht es dabei um ein intertextuelles Auslegungsverfahren, aber auch schon bei Luther um die Dialogizität der Schrift mit Blick auf sich widersprechende Schriftaussagen. In einem differenzierenden Beitrag weist Ulrich H. J. Körtner 7 darauf hin, dass trotz der differenztheoretischen Ansätze in Luthers Konzept der Schriftauslegung in seiner Auslegungspraxis das Anliegen der Harmonisierung der Schrift überwiegt. Nur so ist auch die Verve zu erklären, mit der Luther schon in seinen zahlreichen Vorreden und Erläuterungen im Septembertestament 8 ein mono- Luther, Assertio omnium articulorum Martini Lutheri per bullam Leonis X. novissimam damnatorum/ Wahrheitsbekräftigung aller Artikel Martin Luthers, die von der jüngsten Bulle Leos. X verdammt worden sind (1520), in: Luther, lateinisch-deutsche Studienausgabe 1. Der Mensch vor Gott, Wilfried Härle (Hg.), Leipzig 2006, 71 - 217. 6 Luther, Assertio omnium articulorum, in: Luther, lateinisch-deutsche Studienausgabe 1 (s. Anm. 5), 79 - 81, Übersetzung von Sibylle Rolf: „ Man muss nämlich hier mit der Schrift als Richter ein Urteil fällen, was [aber] nicht geschehen kann, wenn wir nicht der Schrift in allen Dingen, die den Vätern beigelegt werden, den ersten Rang einräumen. Das heißt, dass sie durch sich selbst ganz gewiss ist, ganz leicht zugänglich, ganz verständlich, ihr eigener Ausleger, alles von allen prüfend, richtend und erleuchtend “ (ut sit ipsa per sese certissima, facillima, apertissima, sui ipsius interpres, omnium omnia probans, iudicans et illuminans). Ich schlage dagegen vor, die Superlative certissima, facillima, apertissima nicht mit „ ganz “ wiederzugeben, sondern ihre superlativische Bedeutung auch in der Übersetzung beizubehalten, denn die Einleitung mit „ das heißt “ (hoc est) zeigt doch das folgende als Erläuterung der im vorherigen stehenden Vorordnung der Schrift als Primärliteratur vor die Sekundärliteratur. Demnach ist die Schrift „ durch sich selbst am gewissesten, am leichtesten zugänglich, am klarsten “ und zwar als Alternative zu einer Auslegungspraxis, die erst die Sekundärliteratur und dann von dem Vorverständnis und den Setzungen der Sekundärliteratur ausgehend die Schrift interpretiert. 7 Ulrich H. J. Körtner, Harmonisierung oder Diversifizierung in Luthers Evangelienauslegung? , in: Alkier (Hg), Sola Scriptura 1517 - 2017 (s. Anm. 1), 119 - 137. 8 Vgl. Stefan Alkier, Luthers Bibel. Das Septembertestament als Bannbulle der Johannesapokalypse, in: Stefan Alkier/ Thomas Paulsen (Hg.), unter Mitarbeit von Simon Dittmann, Apocalypse Now? Studien zur Intertextualität und Intermedialität der Johannesapokalypse von Dante bis Darksiders (Kleine Schriften des Fachbereichs Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main 13), Leipzig 2022, 69 - 92. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0002 30 Stefan Alkier logisches Schriftverständnis im Zeichen seiner eigenen Rechtfertigungstheologie einfordert. Für Luther ist das rechte Verständnis der Schrift sein eigenes Verständnis der Schrift. Biblische Bücher wie die Johannesapokalypse, die nicht in sein Konzept passen, werden herabgewürdigt oder gar dekanonisiert. Interpreten, die Luther widersprechen, werden entweder als Dummköpfe dargestellt oder gar dämonisiert. Ihre aufrichtige Wahrheitssuche wird ihnen abgesprochen. Deshalb reicht es nicht, wenn man Luther traditionalistisch kopieren würde. Der reformatorische Ansatz der Schrifthermeneutik ist wegweisend; das gilt nicht gleichermaßen für ihre Auslegungspraxis. Ein unter den Wissensbedingungen gegenwärtiger Wisssenschaftsproduktion reformuliertes Konzept von sola scriptura wird daher unvoreingenommener und entschiedener als die Reformatoren die hermeneutischen Implikationen dieses Ansatzes zu bedenken haben und konsequent von der Polyphonie der biblischen Bücher ausgehen, die gemeinsam den vielstimmigen und keineswegs abgeschlossenen kanonischen Chor bilden. Dass aber die Ausgangsthese, die Schrift normativ als epistemologische Grundlage christlicher Theologie zu denken, weiterhin trägt und auch die beiden methodischen Grundsatzentscheidungen des Primats der intratextuellen Philologie und der intertextuellen Lektüreanweisung ein solides Fundament wissenschaftlicher Bibelauslegung heute bilden, soll kurz begründet werden. 4. Der Kanon als Polyphonie zu unterscheidender Stimmen Die biblischen Bücher wurden nicht als biblische Bücher geschrieben. Sie entstanden als Einzeltexte in konkreten Kommunikationssituationen, an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten. Der Kanon versetzt sie lange nach ihrer Entstehung in eine neue Kommunikationssituation, die sie erst zu Stimmen der Heiligen Schrift werden lässt und ihnen damit vorrangige Autorität als theologische Wissensquelle christlicher individueller Nachfolge und kollektiver Identitätsbildungsprozesse zuschreibt. Ihre Aufgabe im Kanon können diese Stimmen aber nur erfüllen, wenn sie als verschiedene Stimmen wahrgenommen werden. Die biblischen Bücher bilden keinen Monolog. Sie sprechen nicht mit einer Stimme und gerade das macht den Kanon theologisch so lebendig, unbeherrschbar und inspirierend. Gemeinsam bilden sie in ihrer Verschiedenheit und zuweilen auch in ihren Widersprüchen den Kanon als dialogisches Grunddokument christlicher Theologie. 9 9 Vgl. Eckart Reinmuth, Positionen im Konflikt. Neutestamentliche Antagonismen in neuer Perspektive, in: Stefan Alkier (Hg.), unter Mitarbeit von Dominic Blauth, Antagonismen in neutestamentlichen Schriften. Studien zur Neuformulierung der „ Gegnerfrage “ jen- Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0002 Vielfalt der Stimmen und ihre intertextuelle Verknüpfung als Leitthema 31 Um die jeweilige Stimme überhaupt als individuelle Stimme wahrnehmen zu können, ist es daher methodologisch unabdingbar, jeden Einzeltext intratextuell zu analysieren. Der Philologie kommt daher die Funktion einer Basismethode zu. Das Matthäusevangelium etwa sagt etwas anderes als die anderen biblischen Bücher und das gilt für jedes einzelne biblische Buch. Daran ändert auch nichts die grundlegende Übereinstimmung mit der biblischen guten Nachricht von der Güte und Gerechtigkeit des Gottes Israels als Schöpfer und Bewahrer von allem und der prinzipiellen Übereinstimmung der neutestamentlichen Schriften in der Verkündigung der Auferweckung des gekreuzigten Jesus Christus durch eben diesen Gott Israels. Der methodisch sicherste Ausgangspunkt der Interpretation biblischer Bücher bleibt die Philologie, die sich ganz auf die gegebenen Schriftzeichen einlässt, ohne weitgehende Vorannahmen wie etwa eine diachrone Hypothese über die Produktionsverhältnisse der Evangelien untereinander vorauszusetzen. Die Textkritik als editionsphilologische Verständigung über den Wortlaut des Textes und die Hebraistik, Aramaistik und Gräzistik bilden das Herzstück der intersubjektiven Einzeltextwahrnehmung. Interpretationen ohne philologisch-kritische Gründlichkeit öffnen der Willkür der Auslegung Tür und Tor. Die Philologie steckt das Spielfeld ab für alle weiteren Interpretationsverfahren, indem sie dem Wortlaut, dem Klang, den Verknüpfungsverfahren, der Vernetzung der verwendeten Schriftzeichen biblischer Stimmen alle Aufmerksamkeit schenkt und so den jeweiligen Text als strukturiertes Zeichengewebe vor sachfremden Zugriffen so weit wie möglich schützt und damit seine Stimme als seine eigene Stimme überhaupt erst wahrnehmbar werden lässt. Weitere synchrone Auslegungsverfahren wie z. B. Rhetorik, Erzähltextanalyse und dann auch diachrone Versuche der Rekonstruktion der Produktionsverhältnisse der jeweiligen Schrift, wie sie die Einleitungswissenschaft zu ermitteln sucht, können das Profil der Einzelstimme weiter schärfen. Erst nach der intratextuellen Analyse können und müssen die Einzelstimmen in ein Gespräch gebracht werden und in diesem intertextuellen Sinn legt sich die Schrift selbst aus. Dabei geht es nicht um die hermeneutisch abwegige Frage nach dem Alten Testament im Neuen Testament. Dieses Konzept ist aufzugeben, denn es setzt anachronistisch nicht nur zwei dogmatisch fixierte Blöcke voraus, die es zur Zeit der Entstehung der Einzelstimmen doch gar nicht gab, sondern führt auf den kanonisch unsachgemäßen Weg einer diachronen Einbahnstraße. 10 seits des Historismus (Beyond Historicism - New Testament Studies Today 1), Paderborn 2021, 45 - 70. 10 Einen der wenigen Versuche, hermeneutisch reflektiert auch die andere Richtung einzuschlagen, bietet Tobias Nicklas, Isaiah ’ s Story about Christ? Trying to Understand Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0002 32 Stefan Alkier Genau das verhindert aber die intertextuelle Schreibweise neutestamentlicher Schriften, die als der eigentliche Sachgrund für den christlichen Kanon wertgeschätzt werden sollte. Der Kanon ist eben keine theologisch oder sogar bloß politisch motivierte Idee des dritten oder gar erst vierten Jahrhunderts n. Chr., sondern führt fort, was in der Schreib- und Argumentationsweise der Evangelisten, Briefeschreiber und des prophetischen Enthüllungstheologen Johannes angelegt ist: Schriften Israels sind auf sehr vielfältige Art und Weise in die neutestamentlichen Texte eingeschrieben, ohne die sie nicht das wären, was sie nun sind. Ihre intertextuelle Qualität ist kein nachträgliches Phänomen, sondern gehört zu ihrer genuinen generativen DNA. Das damit ermöglichte und sachlich begründete Gespräch zwischen allen biblischen Büchern kann deshalb nicht als Einbahnstraße begriffen werden. Das Buch Ezechiel kommentiert eben nicht nur die Johannesapokalypse, sondern die Johannesapokalypse auch das Buch Ezechiel. Das Gespräch kann durchaus auch zu einem Streitgespräch werden, wenn man sich die verschiedenen Auslegungen Abrahams im Römer- und Galaterbrief anschaut und sie mit dem Bezug des Jakobusbriefes darauf konfrontiert. Oder wenn man dem niemals zweifelnden Abraham in Röm 4 den lachenden Zweifler Abraham in Gen 17,17 gegenüberstellt. Oder wenn Ezechiel und Johannesapokalypse daraufhin gelesen werden, ob das Neue Jerusalem eigentlich einen Tempel braucht. Intertextuelle kanonische Schriftauslegung führt gerade nicht zu einer monologischen Harmoniesauce, sondern zur verschärften Wahrnehmung der Unterschiede und mitunter auch des enormen Konfliktpotentials der Stimmen biblischer Bücher und nötigt zu einer differenzierenden Wahrnehmung ihrer Konfliktmodalitäten. Worüber streiten biblische Schriften, wo und inwiefern ergänzen sie sich? Wo finden wir feindliche Antagonismen, wo gegnerische Agonismen, wo perspektivische Verschiedenheiten? 11 Die exegetische Aufgabe des intertextuellen Zusammenlesens der biblischen Bücher besteht darin, sie als dialogische Stimmen zu lesen, die nicht alle dasselbe sagen und doch erst zusammengelesen biblisch fundierte christliche Theologieentwürfe ermöglichen. Dazu ist es notwendig, die Stimmen nicht nur Nebeneinander aufzureihen, sondern auch nach ihrem Miteinander zu fragen. Dabei kann es nicht mehr um die Suche nach einer „ Mitte der Schrift “ gehen, die doch stets nur die dogmatische Position der Ausleger widergespiegelt hat. Vielmehr müssen Makropropositionen gebildet werden, die sagbar werden Early Christian Perspectives on Isa 7: 14, in: Predag Dragutinovic u. a. (Hg.), Christ of the Sacred Stories (WUNT II/ 453), Tübingen 2017, 283 - 296. 11 Vgl. dazu Alkier (Hg.), Antagonismen in neutestamentlichen Schriften (s. Anm. 9). Vgl. dazu die differenzierte Rezension von Günther Röhser, ThLZ 9 (2022), 801 - 804. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0002 Vielfalt der Stimmen und ihre intertextuelle Verknüpfung als Leitthema 33 lassen, wovon denn die Bibel als Ganze gelesen überhaupt handelt und welche grundsätzlichen Überlegungen und Perspektiven sie in die Erschließung unserer Welt einbringt. Wenn diese Aufgabe nicht mehr als Aufgabe der Bibelwissenschaften gesehen wird, dann haben sie sich aus dem theologischen Fächerzusammenhang selbst herauskatapultiert. Die Aufgabe der Exegetin bzw. des Exegeten würde damit sachfremd verkürzt. Sie wären dann etwa Matthäus- oder Jesajaspezialisten, aber keine Bibelwissenschaftler mehr und noch nicht einmal Neutestamentlerinnen und Neutestamentler, bzw. Alttestamentlerinnen oder Alttestamentler, wird mit dieser Berufsbezeichnung doch ein auslegungsgegenständlicher Zusammenhang behauptet, der über den Einzeltext hinausreicht. Sie verhielten sich wie Juristen, die einen Zusammenhang des Grundgesetzes bestritten oder zumindest ignorierten und nur jeden Einzelparagraphen danach befragen wollten, was er wohl einst in der Produktionsphase des Grundgesetzes in der Intention seiner Verfasserinnen und Verfasser geheißen haben könnte. 5. Beyond Canon : Die Öffnung des Kanons in intermedialen Rezeptionsprozessen Der christliche Kanon war zu keinem Zeitpunkt seiner Geschichte eine geschlossene Gesellschaft. Die Bibel gibt es nicht als vom Himmel gefallenes Buch, an dem sich jede seiner Ausgaben und Übersetzungen orientieren könnte. Der Singular „ die Bibel “ kann nur auf das Konzept bezogen werden, ausgewählte Schriften des ersten und wohl auch noch anfänglichen zweiten Jahrhunderts als Zeugen des Neuen Bundes mit ausgewählten Schriften Israels als Zeugen des Alten, keineswegs aber ungültig gewordenen Bundes als ein zweiteiliges Buch zu konzipieren, das die Lektüreanweisung vorschreibt, diese und nur diese Bücher zusammen gelesen als maßgebliche Quelle des Wortes Gottes zu begreifen. Keines der überregionalen großen Konzile des vierten und fünften Jahrhunderts hat über die Ausgestaltung dieses Konzepts diskutiert und den Umfang des „ Büchleins “ festgelegt. Erst das 2. Trullanum im Jahr 692 befasste sich als Ergänzung zum 5. und 6. Ökumenischen Konzil ausdrücklich mit Kanonfragen. Es beschloss die Akzeptanz 85 (! ) verschiedener Kanonlisten, die in Umfang, Anordnung und Sprache nicht übereinstimmen. Im Jahr 787 wurde diese lokal bedingte Diversität des Kanons auf dem 7. Ökumenischen Konzil bestätigt. 12 Man lege etwa die ältesten erhaltenen Bibelausgaben, den 12 Allein die lateinische römisch-katholische Kirche wich von dieser weisen Offenheit für die Pluralität des Kanons ab. Seit dem 7. Jh. erlangte die Vulgata als Bibel der lateinischen Kirche ein Alleinstellungsmerkmal. Doch erst auf dem Konzil von Florenz (1439 - 1443) Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0002 34 Stefan Alkier Codex Alexandrinus, den Codex Sinaiticus und den Codex Vaticanus neben Vulgata und Lutherbibel, um die große Variabilität „ der “ Bibel sichtbar werden zu lassen. Nicht weniger wichtig als die so unterschiedlichen Bibelausgaben in der christlichen Ökumene sind die unüberschaubaren Fortschreibungsprozesse biblischer Bücher, die eben nicht nur die Kommentarliteratur hervorgebracht haben, sondern neue Texte, Lieder, Bilder, Statuen, Gebrauchsgegenstände, Gebäude usw. Diese Produkte „ beyond canon “ legen Zeugnis davon ab, dass die Polyphonie der kanonischen Stimmen nicht als geschlossener Dialog gewirkt, sondern unzählige neue Stimmen hervorgebracht hat, die sich intermedial am biblischen Dialog beteiligt und diesen auch immer wieder neu ausgerichtet haben. Das maßgeblich von Tobias Nicklas entwickelte und geleitete Regensburger DFG-Projekt „ Beyond Canon “ 13 zeigt gerade das: Die Polyphonie des innerbiblischen Dialogs verschließt sich nicht vor neuen Stimmen, die von diesem Dialog inspiriert werden und sich mit eigenen Stimmen daran beteiligen wollen. Sobald aber nicht nur deskriptiv beschrieben werden soll, wie sie das gemacht haben - schon das ist eine rezeptionsgeschichtliche Herkulesaufgabe - , sondern auch normativ bewertet wird, ob diese Stimmen denn der theologischen Qualität der Schrift gerecht werden und deshalb auch für die Gestaltung christlichen Lebens heute und in Zukunft wieder lesenswert sind, bedarf es der normativen Vorrangstellung des Kanons, den das Konzept sola scriptura theologisch sachgemäß einfordert. „ Beyond canon “ gibt es nicht ohne gültigen Kanon. Gerade eine Intermedialitätstheorie des Kanons könnte zeigen, dass die Normativität des Kanons nicht verwechselt werden darf mit einer separierenden Abschottung seiner Stimmen. Vielmehr werden Stimmen „ beyond canon “ in den Dialog der kanonischen Stimmen einbezogen und durch ihre Interaktion wurde die Duldung verschiedener Kanonumfänge verboten und ausschließlich die Vulgata, allerdings ohne den Laodicenerbrief, dogmatisch als Normtext bestimmt. Dieser Sachverhalt ändert aber nichts an der empirischen Triftigkeit der Aussage, dass die Bibel weltweit nach wie vor in vielfältigen Versionen gelesen wird. Vgl. Stefan Alkier, Der christliche Kanon als Quelle der Offenbarung. Theologiegeschichtliche Anmerkungen zu einem aktuellen Thema, in: Athina Lexutt/ Wolfgang Matz (Hg.), Relationen. Studien zum Übergang vom Spätmittelalter zur Reformation, FS Karl-Heinz zur Mühlen (AHST 1), Münster 2000, 115 - 138; Siegfried Meurer (Hg.), Die Apokryphenfrage im ökumenischen Horizont (Die Bibel in der Welt 22), Stuttgart 1989; Wolfhart Pannenberg/ Theodor Schneider, Verbindliches Zeugnis I. Kanon - Schrift - Tradition (Dialog der Kirchen 7), Freiburg i. Br., Göttingen 1992. 13 Vgl. dazu Tobias Nicklas, „ Beyond Canon “ . Eine kurze Erläuterung des Projekts, in: Early Christianity 12 (2021), 3 - 13. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0002 Vielfalt der Stimmen und ihre intertextuelle Verknüpfung als Leitthema 35 ergeben sich auch neue Wahrnehmungsmöglichkeiten der kanonischen Stimmen. Wer etwa aufmerksam den Apokalypsezyklus von Keith Hering betrachtet hat, wird auch die kanonische Stimme der Johannesapokalypse anders wahrnehmen als zuvor. Es gilt, sie in ein intermediales Gespräch zu bringen und man kann durchaus überrascht werden, wo sie Unterschiedliches einbringen und wo sie sich aber auch ihrer Gesellschafts- und Wirtschaftskritik kongenial verstärken. 14 Die Dialogizität der kanonischen Stimmen öffnet den Kanon und lädt dazu ein, sich an ihrem Gespräch über Gott und die Welt auch heute mit unseren Fragen, Problemen, Erfahrungen, Ängsten, Ärgernissen, Hoffnungen und Wünschen zu beteiligen. So wird aus dem Lesebuch ein Lebensbuch. 15 6. Fazit: Warum es eine Wissenschaft vom Neuen Testament im Konzert der theologischen Fächer geben kann und geben muss Die Zeitschrift, in der dieser Artikel publiziert wird, heißt „ Zeitschrift für Neues Testament “ . Das Fach, in dem vorwiegend neutestamentliche Schriften an theologischen Fakultäten und Instituten thematisiert, erforscht, ausgelegt werden, heißt „ Neues Testament “ . Gemeinsam mit dem Fach „ Altes Testament “ trägt es der theologischen Bedeutung der Bibel für die theologische Reflexion als Ganze Rechnung. Das ist nicht selbstverständlich. Diese Fächerbildung ist gemessen am Alter theologischer Fakultäten relativ neu. 16 Dass biblische Theologie und christliche Dogmatik selbstständige, aber in der enzyklopädischen Fachlogik evangelischer wie auch römisch-katholischer Theologie aufeinander bezogene Teilfächer sind, und dies auch für die anderen theologischen Teilfächer, also für die Kirchen-und Theologiegeschichte, die Praktische Theologie und die Religionspädagogik gelten sollte, ist längst nicht mehr gelebte Wissenschaftspraxis. Die Diskurse der Teilfächer haben sich zum Schaden der Theologie und auch zum Schaden der einzelnen Teilfächer verselbständigt. 14 Vgl. Luca Ganz, Post-Moderne Apokalypse. William S. Burroughs und Keith Haring im Dialog mit der Johannesoffenbarung, in: Alkier/ Paulsen (Hg.), Apocalypse Now? (s. Anm. 8), 93 - 111. 15 Vgl. Karakolis, Die Gleichzeitigkeit von Lesern und Gelesenem (s. Anm. 3); Albrecht Beutel, Erfahrene Bibel. Verständnis und Gebrauch des verbum dei scriptum bei Luther, in: ders., Protestantische Konkretionen. Studien zur Kirchengeschichte, Tübingen 1998, 66 - 103, insbes. 66 f. 16 Vgl. die programmatische Rede von Johann Philipp Gabler, De justo discrimine theologiae biblicae et dogmaticae, regundisque recte utriusque finibus, oratio, Altdorf 1787. Vgl. dazu Otto Merk, Biblische Theologie in ihrer Anfangszeit. Ihre methodischen Probleme bei Johann Philipp Gabler und Georg Lorenz Bauer und deren Nachwirkungen, Marburg 1972. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0002 36 Stefan Alkier In dieser unkommunikativen theologischen Situation sollten sich alle theologischen Teilfächer darüber Gedanken machen, was sie eigentlich konstituiert, was ihr Gegenstand ist und welchen Beitrag sie zum Ganzen evangelischer bzw. römisch-katholischer bzw. orthodoxer Theologie denn leisten soll. In unserem Buch „ Sola Scriptura ökumenisch “ haben der griechisch-orthodoxe Neutestamentler Christos Karakolis, der römisch-katholische Neutestamentler Tobias Nicklas und ich, ein evangelischer Neutestamentler, das in ökumenischer Zusammenarbeit und Unterschiedenheit versucht. Gemeinsam haben wir uns bemüht, die Leitgedanken im Zeichen von sola scriptura als ökumenische Grundlage zu formulieren. Das gelingt aber nur, wenn der Zusammenhang des christlichen Kanons und nicht seine Einzelschriften die normative Gesprächsgrundlage bilden. Das Fach „ Neues Testament “ setzt wie auch das Fach „ Altes Testament “ als solches die Anerkennung des christlichen Kanons als Zusammenhang stiftende Leitidee seines Auslegungsgegenstandes voraus. Altes und Neues Testament als zwei theologische Teilfächer zu konzipieren, die sich die Arbeit der biblischen Exegese aufteilen, macht pragmatisch Sinn, darf aber nicht zu einer solchen Entfremdung der beiden bibelwissenschaftlichen Teilfächer führen, wie es in den letzten 50 Jahren zunehmend geschehen ist. Sie sollten gerade als biblische Teilfächer wieder viel enger zusammenarbeiten. Kanonische Intertextualitätsforschung bildete dafür einen herausragenden methodischen Rahmen. Für beide bibelwissenschaftlichen Teilfächer gibt es keine andere wissenschaftssystematisch tragfähige Begründung als die normative Setzung der Bibel als Grundlage christlich-theologischer Reflexion mit dem Ziel, individuelle und institutionelle christliche Praxis zu gestalten. Die Kanonbildung lässt sich historisch erforschen, aber die normative Geltung des Kanons heute lässt sich nicht historisch begründen, sondern theologisch mittels einer theologischen Schrifthermeneutik. Vergleichbar mit der Geltung des Grundgesetzes für das Jurastudium in Deutschland ist die Geltung des Kanons für christliche Theologien conditio sine qua non. Dass der Kanon aber nicht auf eine monologische Dogmatik, auf eine „ Lehre “ verkürzt wird, die die Vielfalt und auch die Widersprüchlichkeit und Konflikthaftigkeit seiner Stimmen ignoriert, ist genuine Aufgabe beider Bibelwissenschaften. Sie müssen die Einzelstimmen profilieren mittels philologischer, text-und literaturwissenschaftlicher und historisch-enzyklopädischer Forschung. Zur genuinen Aufgabe neutestamentlicher wie alttestamentlicher Wissenschaft gehört aber gleichermaßen die Erforschung der durch Textbeziehungen erzeugten Sinnpotentiale, die ein einzelner Text für sich gelesen nicht generieren kann. Die Schrift legt sich selber aus, indem der Kanon als intertextuelle Lektüreanweisung Sinn dezentralisiert und in der Interaktion der Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0002 Vielfalt der Stimmen und ihre intertextuelle Verknüpfung als Leitthema 37 Texte, in ihrem Zwischen-Raum neue Sinnpotentiale erzeugt. Die Unausschöpflichkeit dieser intertextuellen Sinnpotentiale verhindert jeglichen dogmatistischen Zugriff auf die Bibel, der doch nur immer wieder die Lebendigkeit und Komplexität der Polyphonie der biblischen Stimmen in einen drögen Monolog hineinzwingt. Die Schrift legt sich selber aus durch ihren Dialog ihrer vielfältigen und kontroversen Stimmen, der offen ist für den Dialog mit Stimmen „ beyond canon “ . Sie hält so das theologische Denken unentwegt in Atem. © Stefanie Alkier-Karweick Stefan Alkier ist seit 2001 Professor für Neues Testament und Geschichte der Alten Kirche am Fachbereich Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt/ Main. Er gibt den neutestamentlichen Teil des bibelwissenschaftlichen Internetlexikons www.wibilex.de heraus. Zusammen mit dem Gräzisten Thomas Paulsen fertigt er eine philologisch-kritische Übersetzung aller neutestamentlichen Texte an; die Bände 1 - 4 des „ Frankfurter Neuen Testaments “ sind bereits erschienen. In der von ihm begründeten Buchreihe „ Biblische Argumente in öffentlichen Debatten “ hat er zuletzt zwei Bände zum Thema „ Zuversichtsargumente - Biblische Perspektiven in Krisen und Ängsten unserer Zeit “ herausgegeben. Sein semiotisch-kritischer Ansatz vereint kritische philologische und historische Forschung mit Fragen der Gegenwartsrelevanz biblischer Texte. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0002 38 Stefan Alkier Die Euthaliana und die Katholischen Briefe 1 Trends, Themen und Thesen Kelsie G. Rodenbiker und Garrick V. Allen Jedes Mal, wenn wir eine Bibel in einer modernen Sprache in die Hand nehmen, sehen wir viel mehr als nur den schlichten Text. Unsere Begegnungen mit der Bibel sind geprägt von den vielen Elementen, die Herausgeber und Verleger zwischen den beiden Buchdeckeln platziert haben, darunter Dinge wie Vorworte, Register, Querverweise, Seitenzahlen, Inhaltsverzeichnisse, rechtliche Hinweise sowie Kapitel- und Versunterteilungen, Absatzoptionen, Untertitel, Hinweise auf Textvarianten und erläuternde Anmerkungen, um nur einige zu nennen. Die Bücher, die wir lesen, sei es die Bibel oder sei es andere Literatur, sei es ein gedrucktes Buch oder ein digitaler Text auf dem Bildschirm, werden von solchen „ Paratexten “ geprägt - im wahrsten Sinne des Wortes also den Dingen, die „ um den Text herum “ erscheinen und Einfluss auf unsere Interpretationen nehmen. 2 Paratexte in modernen Bibeln ändern sich regelmäßig; sie sind so gestaltet, dass sie sich an bestimmten Weisen, sich mit dem Text auseinanderzusetzen, orientieren oder ein spezielles Publikum - heute sicherlich mehr und mehr ein Nischenpublikum - ansprechen. Paratexte sind allgegenwärtig, aber unsichtbar. Wie eine Schwelle oder ein Tor ermöglichen sie Zugang zu den und Verständnis der Texte, die sie umrahmen. All dies verdankt sich nicht einfach der Erfindung moderner Verlage oder Herausgeber von Bibelausgaben. Stattdessen geht fast alles, was wir in, bei und 1 Research for this publication received support from the Titles of the New Testament: A New Approach to Manuscripts and the History of Interpretation (TiNT) project, funded by the European Research Council (ERC) under the European Union ’ s Horizon 2020 research and innovation programme (grant agreement No. 847428). 2 Allgemein zu Paratexten vgl. Gérard Genette, Paratexts. Threshold of Interpretation, übersetzt von Jane E. Lewin/ Richard Macksey, Cambridge 1997. Zu Paratexten in biblischen Handschriften vgl. Garrick V. Allen, Manuscripts of the Book of Revelation. New Philology, Paratexts, Reception, Oxford 2020, 46 - 52. um moderne Bibeln finden, bereits auf antike oder mittelalterliche Vorläufer zurück. Aufgrund seines Einflusses und seiner weiten Verbreitung entwickelte sich im Zusammenhang mit dem Neuen Testament eine reiche paratextuelle Tradition, die einige hochentwickelte Systeme für bestimmte Werke umfasst: Den Eusebianischen Apparat von Querverweisen für die vier kanonischen Evangelien, den Kommentar des Andreas von Caesarea und die damit verbundene Tradition der Untergliederung für die Johannesapokalypse und den Euthalianischen Apparat für die Apostelgeschichte, das Corpus Paulinum und die Katholischen Briefe. 3 Von diesen Systemen ist das Euthalianische Material das am wenigsten verstandene und doch das in den Manuskripten am weitesten verbreitete. Laut der Untersuchung von Louis Charles Willard erscheinen Teile dieses Systems in 99 % aller ihm vorliegenden Handschriften der Katholischen Briefe. 4 Das Euthalianische Material ist weit verbreitet; es findet sich in Hunderten griechischer Handschriften und mehreren Versionen des Neuen Testaments, darunter syrischen, georgischen, gotischen, armenischen und lateinischen Versionen. 5 Nach einer Zeit intensiven Interesses an diesem Material (etwa zwischen den Jahren 1885 und 1920) 6 wurde der Euthalianischen Tradition und ihren Eigenschaften, die wir Euthaliana nennen, nur sehr wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Die neutestamentliche Forschung ist den Euthaliana weitgehend aus dem Weg gegangen, da über Zeit und Kontext ihrer Produktion nicht viel gesagt werden kann, sie in den Manuskripten weitgehend 3 Vgl. z. B. Matthew Crawford, The Eusebian Canon Tables: Ordering Textual Knowledge in Late Antiquity, Oxford 2019. Zum Euthalianischen Material siehe die bedeutenden Arbeiten von Nils Alstrup Dahl, The „ Euthalian Apparatus “ and the Affiliated „ Argumenta “ , in: David Hellholm/ Vermund Blomkvist/ Tord Fornberg (Hg.), Studies in Ephesians (WUNT I/ 131), Tübingen, 2000, 231 - 275; Louis Charles Willard, A Critical Study of the Euthalian Apparatus (ANTF 41), Berlin 2009, und Vemund Blomkvist, Euthalian Traditions. Text, Translation and Commentary (TU 170), Berlin 2012. 4 Willard, Critical Study (s. Anm. 2), 158 - 169. Dahl, Euthalian Apparatus (s. Anm. 2), 253 wiederholt diesen Punkt: Von den 316 untersuchte Exemplaren der Katholischen Briefe haben 313 die zu diesem System gehörigen hypotheses. 5 Vgl. den Überblick bei Willard, Critical Study (s. Anm. 2), 95 - 108; Günther Zuntz, The Ancestry of the Harklean New Testament, London, 1945 sowie Neville Birdsall, The Euthalian Material and its Georgian Versions, in: ders. (Hg.), Collected Papers in Greek and Georgian Textual Criticism (Texts and Studies 3), Piscataway 2013, 215 - 242. 6 Der Impuls für das Interesse an diesem System ging von der Edition von Codex Coislinianus (bekannt auch als Codex H oder GA 015) durch Henri Omont, Notice sur un très ancient manuscript grec en onciales des Épîtres de saint Paul, Paris 1889, aus. Vgl. hierzu auch die Anmerkungen bei Garrick V. Allen, Early Textual Scholarship on Acts. Observations from the Euthalian Quotation Lists, in: Religions 13 (2022), art. 435, https: / / doi.org/ 10.3390/ rel13050435. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0003 40 Kelsie G. Rodenbiker und Garrick V. Allen anonym überliefert und sie gleichzeitig technisch anspruchsvoll sind. 7 Hinzu kommt, dass seit 1698 keine Ausgabe dieses Materials mehr publiziert wurde. 8 Das Ziel dieses Beitrags ist, das Euthalianische Material vorzustellen und zu untersuchen, welche Konzepte und Vorstellungen von Kanon und Kanonizität ihm zugrunde liegen. Dabei wird sich zeigen, dass das Zeugnis der Euthaliana in spannender Weise als ambivalent gesehen werden kann. Wir untersuchen dies am Beispiel der Katholischen Briefe. Dies hat z. T. auch damit zu tun, dass die Bedeutung gerade dieser Sammlung in der Euthalianischen Tradition bisher praktisch nie wissenschaftlich untersucht wurde; fast alle bisherigen Studien zur Euthalianischen Tradition beschäftigten sich alleine mit Paulus. Dagegen sind die Katholischen Briefe, wenn es um Fragen des Kanons geht, eine in vieler Hinsicht problematische Teilsammlung. 9 Zunächst jedoch müssen wir überhaupt erst verstehen, worum es sich bei der Euthalianischen Tradition überhaupt handelt. Dies ist gar nicht einfach zu erklären. In seinem programmatischen Artikel, in dem er die Euthalianischen Elemente für die paulinischen Briefe untersucht, verwendete Nils A. Dahl 45 Seiten dafür, ihre Beziehungen zu anderen Teilen des Systems, ihre diachrone Entwicklung und ihr Verhältnis zu anderen Aspekten der Untersuchung der Textgeschichte der paulinischen Briefe darzustellen. 10 Dahls Untersuchung 7 Es gibt viele Gründe für die Vernachlässigung der Euthaliana: Wissenschaftler, die sich für diese Periode interessieren, kamen nicht zu einem Konsens über die Frage, wer diese Traditionen kompiliert hatte (die meisten Manuskripte sind anonym, mit diesen Eigenschaften aber wird eine Vielzahl von Namen assoziiert), über die Zeit, in der diese Arbeit fertiggestellt wurde, wie auch den Ort der Produktion. Ohne klare Herkunftsdaten aber ist es überaus schwierig, das komplexe Material zu kontextualisieren. Zur Forschungsgeschichte vgl. Blomkvist, Euthalian Traditions (s. Anm. 2), 8 - 33, sowie Günther Zuntz, Euthalius = Euzoius? In: VigChr 7 (1953), 16 - 22; Theodor Zahn, Neues und Altes über den Isagogiker Euthalius, in: NKZ 15 (1904), 375 - 390; J. Armitage Robinson, Euthaliana. Studies of Euthalius, Codex H of the Pauline Epistles, and the Armenian Version, Cambridge 1895, und F. C. Conybeare, The Date of Euthalius, ZNW 5 (1904), 39 - 52. 8 Lorenzo Alessandro Zacagni, Collectanea monumentorum veterum ecclesiæ græcæ, ac latinæ, quæ hactenus in Vaticana Bibliotheca delituerunt, Rome 1698. Diese Edition wurde später von vielen anderen reproduziert, darunter Gallandi (1774), Migne (PG 85, 1864) und von Soden (1902). Sie ist die Grundlage der englischen Übersetzung einiger ihrer Teile bei Blomkvist, Euthalian Traditions (s. Anm. 2). 9 Dies hat v. a. mit Fragen nach ihrer Autorschaft zu tun. Vgl. Eusebius, Historia ecclesiastica 2,23,25.3,3,1 - 4.3,24,17 - 18.3,25,1 - 7; Hieronymus, De viris illustribus 1,2,4,9. Zur Rolle der Katholischen Briefe in der Entstehung des neutestamentlichen Kanons vgl. Wolfgang Grünstaudl, Was lange währt … : Die Katholischen Briefe und die Formung des neutestamentlichen Kanons, in: Early Chistianity 7 (2016), 71 - 94, sowie (mit anderem Schwerpunkt) David R. Nienhuis, Not by Paul Alone. The Formation of the Catholic Epistle Collection and the Christian Canon, Waco, 2007. 10 Dahl, Euthalian Apparatus (s. Anm. 2), 231 - 275. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0003 Die Euthaliana und die Katholischen Briefe 41 wiederum stellte nur einen allerersten Anfang dar, um die Komplexität des Systems in den vielen hundert heute bekannten griechischen Handschriften zu erfassen; beruht sie doch noch in erster Linie auf der Edition Zacagnis aus dem Jahre 1698. Im Wesentlichen handelt es sich beim Euthalianischen Apparat um ein zusammenhängendes Set von Paratexten, die wahlweise in verschiedenen Konfigurationen in den Handschriften auftauchen. Jedes der drei Teile des Systems - die Apostelgeschichte, die paulinischen Briefe und die Katholischen Briefe - besteht aus sechs Hauptelementen: 1. Einem Prolog für die Teilsammlung 2. Einer kurzen Liste von Zitaten für jede Einzelschrift 3. Einer langen Liste von Zitaten für jede Einzelschrift 4. Einer Liste von „ Lesungen “ , die den Text jedes Werks in „ Lesungen “ , „ Kapitel “ und „ Zeilen “ einteilt, darunter die Stellen, an denen die Zitate aus den Listen in den „ Lesungen “ auftauchen 5. Einer Liste von Kapiteln und Titeln für die Untereinheiten jedes Werks 6. Einer Liste von Vorworten (Hypothesen) für jedes Werk. 11 Wie wir unten sehen werden, sind die ersten fünf Elemente dieser Liste miteinander zusammenhängend und selbstreferentiell. Die Hypothesen dagegen wurden dem System wahrscheinlich später hinzugefügt, aber sie sind, zusammen mit den Listen von Kapiteln, die Elemente, die sich am häufigsten in den Handschriften finden. 12 Neben diesen umfangreicheren Teilen finden sich auch andere Elemente, die häufig Informationen aus diesen Listen und Vorworten an andere Orte verschieben; es handelt sich z. B. um biographische Texte zu Paulus, Listen der paulinischen Briefe in verschiedenen Konfigurationen, Subskriptionen zu den Briefen und mehr. Die gewöhnlichsten Elemente für die Katholischen Briefe sind Kapitellisten und Hypothesen, aber auch andere Elemente tauchen in den Handschriften auf, die mit dieser Teilsammlung verbunden sind, u. a. die Reise des Apostels Paulus nach Rom (plous paulou apostolou epi rh ō m ē n), der Text auf dem Athener Altar, auf den Paulus in Apg 17,23 verweist (epigramma tou en ath ē nais b ō mou), und ein Kolophon, das die Produktion der Euthaliana mit der textkritischen Arbeit des Pamphilos in der Bibliothek von Caesarea verbindet. Diese späteren Elemente aber sind im Vergleich zu den Kernelementen der Tradition selten. 11 Für einen weiteren Überblick vgl. Blomkvist, Euthalian Traditions (s. Anm. 2), 8 - 10. 12 Vgl. Dahl, Euthalian Apparatus (s. Anm. 2), 253 und Willard, Critical Study (s. Anm. 2), 158 - 169. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0003 42 Kelsie G. Rodenbiker und Garrick V. Allen Der Prolog zu den Katholischen Briefen ist der kürzeste der drei Prologe; anders als die Prologe zur Apostelgeschichte und den paulinischen Briefen, bietet er keinen eigentlichen Kommentar zum Inhalt der Briefe. Stattdessen beginnt er mit einer ausführlichen Aussage, die (sicherlich in rhetorischer Weise) das Misstrauen gegenüber den Fähigkeiten des (anonymen) Autors zum Ausdruck bringen soll. Der Verfasser schreibt: „ Für einen kleinen Mann ist die Übernahme einer kleinen Aufgabe nicht ungefährlich. Und ich, der kleinste von allen, bin, da ich versuchte, etwas jenseits meiner Kraft zu tun, den Gefahren sicherlich nicht entronnen. “ Dieses „ riskante “ Unternehmen jedoch wurde, wie wir erfahren, auf Wunsch eines gewissen Athanasios durchgeführt. Der Prolog wendet sich also an diesen Gönner und bittet um Vergebung und Gebet: „ Deshalb empfange, empfange von mir mit Vergnügen das Werk, das ich in eurem Auftrag ausgeführt habe, und - als Gegenleistung für unseren Gehorsam - betet für uns bis zum Ende. “ Nur die letzten zwanzig Worte des Prologs haben überhaupt irgendetwas mit den Katholischen Briefen selbst zu tun. Der Verfasser bemerkt: „ Ich werde die Katholischen Briefe in (ihrer) Ordnung und in Versen lesen und dabei gleichzeitig eine bescheidende (metri ō s) Darstellung von dieser Lektüre ihrer Kapitel und Zitate (wörtlich: ‚ göttlicher Testimonien ‘ ) bieten. “ 13 Anders als beim Prolog zum Corpus Paulinum wird nichts über den Kontext der Produktion der Briefe, ihren Inhalt oder die Logik ihrer Zusammenstellung erwähnt. Wir hören über die Unzulänglichkeiten, die der Autor des Euthalianischen Materials an sich selbst wahrnimmt, seinen Zugang zu den Katholischen Briefen; vor allem werden Kapitelliste und Zitatenliste(n) mit der gleichen Person, die diesen Text verfasste, in Verbindung gebracht. Wir lernen aber weder etwas über die einzelnen Katholischen Briefe noch die Sammlung als Ganze. Die Tatsache, dass die Prologe normalerweise den Titel „ Prolog zu den Katholischen Briefen “ tragen (prologos t ō n kahtolik ō n epistol ō n) legt nahe, dass diese Schriften als Einheit zirkulierten, eine Einheit, die in gewisser Weise auf gleicher Ebene wie die Sammlung der paulinischen Briefe zu verstehen ist. Die Diskontinuität in der direkten Auseinandersetzung mit dem Inhalt der Briefe, der Identität ihrer Autoren, ihrer Rezipienten und ihrem Kontext, die sich besonders im Vergleich mit dem paulinischen Material zeigt, lässt jedoch auf einen gewissen Grad von Ambivalenz gegenüber dieser Sammlung schließen. Das nächste wichtige Euthalianische Element im Zusammenhang mit den Katholischen Briefen ist die kurze Liste von Zitaten. 14 Wie schon erwähnt, stellt 13 Vgl. Blomkvist, Euthalian Traditions (s. Anm. 2), 111 - 112 for text and English translation. 14 Wir werden in diesem Kontext nicht die lange Liste von Zitaten diskutieren, da diese mit einigen strukturellen Unterschieden die gleiche Information wie die kurze Liste liefert. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0003 Die Euthaliana und die Katholischen Briefe 43 dieses die Zahl der Zitate oder „ göttlichen Testimonien “ für jede Schrift zusammen und ordnet diese Elemente einer Liste zitierter Texte zu. Folgt man dieser Liste, gibt es unter den sieben Briefen 24 Zitate. 15 Die kurze Liste für den 1. Petrusbrief, die Schrift unter den Katholischen Briefen mit den meisten Zitaten, sieht zum Beispiel folgendermaßen aus: Im Ersten Petrusbrief gibt es vierzehn Zitate: Exodus 1. 7 Leviticus 1. 1 Psalter 3. 3, 5, 11 Sprichwörter 2. 13, 14 Der Prophet Hosea 2. 8, 9 Der Prophet Jesaja 5. 2, 4, 6, 10, 12 Die Liste bietet also, arrangiert anhand der Ordnung des Alten Testaments in der Septuaginta, einen abstrakten Überblick über die Auseinandersetzung des 1. Petrusbriefes mit jüdischen Schrifttraditionen. Wir erfahren die Zahl der Zitate im 1. Petrusbrief, die sechs alttestamentlichen Schriften, die zitiert sind, dazu, wie oft sie zitiert sind, und die Reihenfolge der Anordnung dieser Bezüge. Jesaja zum Beispiel ist fünf Mal zitiert; es handelt sich dabei wiederum um das zweite, vierte, sechste, zehnte und zwölfte Zitat im gesamten 1. Petrusbrief. Daran ist wichtig: Hinter dieser Liste steht eine bestimmte Idee von Kanon. Die Reihenfolge der zitierten Schriften folgt der typischen Anordnung des Alten Testaments in der griechischen Tradition, sie legt ein gewisses Bewusstsein von dieser kanonischen Tradition nahe. Auch die Tatsache, dass die Zitate „ göttliche Testimonien “ genannt werden, macht deutlich, dass eine Art von Verbindung zwischen den Zitaten und ihren Herkunftstexten besteht. Andere Teile der Liste wiederum kreieren Probleme für kanonisches Denken. Die Liste für den Judasbrief zum Beispiel beinhaltet nur zwei Passagen: Im Judasbrief gibt es zwei Zitate: Apokryphon des Henoch 1. 2 Apokryphon des Mose 1. 1 Die Liste für den Judasbrief spiegelt also wider, dass dieser Text über den Kanon hinaus Bezüge zu apokryphen Traditionen über Diskussionen um den Leichnam des Mose (V. 9) aufweist und direkt aus dem henochischen Buch der Wächter Anstatt die nummerierten Zitate einer Kanonliste folgend zu arrangieren, bietet die lange Liste Informationen zu allen Zitaten in der Reihenfolge, in der sie im Werk auftauchen. Dabei fügt sie den gesamten zitierten Text an. Im Verhältnis zur Kanonfrage ergeben sich aus der langen Liste die gleichen Fragen wie aus der kurzen. 15 Der 2. und der 3. Johannesbrief haben in dieser Liste keine Zitate. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0003 44 Kelsie G. Rodenbiker und Garrick V. Allen zitiert (1 Hen 1,9 in V. 14 - 15). 16 Gleichzeitig unterlässt die Liste jeden Hinweis auf klar kanonische Texte aus der Tora, z. B. die Rebellion des Korah (Num 16 in V. 14) oder zur Erzählung von Sodom und Gomorra (Gen 19,4 - 25 in V. 7), auf die derText des Briefes jedoch klar anspielt. Wie also ist es möglich, dass genau dieseTexte, die hier für den Judasbrief aufgelistet sind, als „ göttliche Testimonien “ bezeichnet werden können? Sie sind sicherlich nicht kanonisch, die Liste bezeichnet sie sogar explizit als Apokryphen. Es scheint also, als könnten selbst apokryphe Traditionen als Zeugen einer heiligen Tradition beschrieben werden; offenbar war es auch nicht problematisch, anzuerkennen, dass Schriften des Neuen Testaments sich mit außerkanonischen Traditionen beschäftigen. Die Zitatenliste also erkennt die literarische Realität des Judasbriefes an; der Kompilator der Liste weiß also um Details von Literatur auch jenseits einer engen kanonischen Konzeption des Neuen Testaments und beschäftigt sich damit. Ein anderes Element der Euthalianischen Tradition mit Folgen für Fragen im Zusammenhang mit dem Kanon ist die Liste der Lesungen, die oft den Titel anakephalai ō sis t ō n anagn ō se ō n oder „ Zusammenfassung der Lesungen “ trägt. Diese Liste beinhaltet Informationen für jeden der Katholischen Briefe von Jakobus bis Judas. Dabei wird jede dieser Schriften in drei Gliederungen unterschiedlicher Länge eingeteilt: Lesungen (anag ō n ō seis), Kapitel (kephalia) und Zeilen (stichoi). Der Ort der Zitate, die in den kurzen und langen Listen von Zitaten angeführt sind, wird auch in den Lesungen, in denen sie auftauchen, wieder angeführt. Der Abschnitt zum Jakobusbrief etwa sieht folgendermaßen aus: Jakobusbrief. Lesung 1: 4 Kapitel, 1, 2, 3, 4; 3 Zitate 1, 2, 3; 112 Zeilen. Lesung 2: 2 Kapitel, 5, 6; 1 Zitat 4; 121 Zeilen. Mit anderen Worten: Der Jakobusbrief hat zwei Lesungen, sechs Kapitel, vier Zitate und 233 Zeilen. Die erste Lesung beinhaltet vier Kapitel, drei Zitate und 112 Zeilen, die zweite zwei Kapitel, ein Zitat und 121 Zeilen. Diese Information setzt eine numerische Abstraktion des Texts des Jakobusbriefes voraus; dieser wird verstanden als eine Einheit, die teilbar, messbar und zugleich in vielen Details stabil ist. Obwohl nicht vollkommen klar ist, worauf sich all diese Unterteilungen beziehen - es ist z. B. unklar, inwiefern die „ Lesungen “ sich auf liturgische Einheiten oder Systeme beziehen - , ist die Liste der Lesungen 16 Vgl. Jeremy Hultin, Jude ’ s Citation of 1 Enoch. From Tertullian to Jacob of Edessa, in: James H. Charlesworth/ Lee M. McDonald (Hg.), Jewish and Christian Scriptures. The Function of „ Canonical “ and „ Non-Canonical “ Religious Texts ( Jewish and Christian Texts in Contexts and Related Studies 7) Edinburgh 2010, 113 - 128 und Nicholas J. Moore, Is Enoch Also Among the Prophets? The Impact of Jude ’ s Citation of 1 Enoch on the Reception of Both Texts in the Early Church, JTS 64.2 (2013), 498 - 515. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0003 Die Euthaliana und die Katholischen Briefe 45 natürlich auch für Fragen in Bezug auf den Kanon relevant. 17 Die Tatsache, dass diese Liste Informationen für jeden der Katholischen Briefe in der kanonischen Ordnung dieser Teilsammlung enthält und diese in diesem Teil des Systems sehr ähnlich wie die paulinischen Briefe behandelt werden, lässt auf eine zumindest stillschweigende Anerkennung schließen, dass diese Schriften zusammen in einer gewissen Ordnung an der Seite der Apostelgeschichte und des Paulus zu stehen kommen. Diese Idee ist verstärkt durch eine zusammenfassende Notiz am Ende der Liste, die die Gesamtzahl an Unterteilungen des Corpus berechnet: „ Insgesamt haben die Katholischen Briefe zehn Lesungen, 31 Kapitel, 24 Zitate und 11 Zeilen. “ 18 Die Liste der Lesungen behandelt die Katholischen Briefe also klar als Sammlung - und zwar sehr ähnlich wie dies hier bei den paulinischen Briefen geschieht. Die beiden verbleibenden wichtigen Aspekte des Systems - die Kapitelliste und die Hypothesen für jeden Brief - sind ebenfalls aufschlussreich in Bezug auf die Frage nach dem kanonischen Status der Katholischen Briefe. Jeder Schrift in diesem Corpus, auch der Apostelgeschichte und den paulinischen Briefen, sind diese Elemente, die normalerweise vor jeder einzelnen Schrift platziert sind, zugeordnet. Die Zahl der Kapitel in jeder Liste korrespondiert mit der Zahl der Kapitel, die in der Liste der Lesungen aufgeführt ist, die Titel aber, die jedem Kapitel gegeben werden, befassen sich ausschließlich mit dem Inhalt jedes einzelnen Briefs, wie er durch den Kompilator des Euthalianischen Apparats konstruiert wird. Die Kapitellisten bilden knappe Zusammenfassungen der einzelnen Schriften, ohne Interesse an der umfangreicheren Sammlung zu zeigen. Die drei Kapitel und die eine Unterteilung für den 3. Johannesbrief z. B. lauten folgendermaßen: 1. Gebet um Vollkommenheit und Danksagung für das Zeugnis der Brüder für die Gastfreundschaft um Christi willen, einschließlich a. Zur Bosheit des Diotrephes und seines Hasses gegen die Brüder 2. Zu Demetrius, über den er das beste Zeugnis bietet 3. Zu seiner bevorstehenden Ankunft bei ihnen zu ihrem Nutzen Die Tatsache, dass für jede Schrift, selbst für die kürzeste, eine Kapitelliste inbegriffen ist, lässt auf die Ernsthaftigkeit ihrer Behandlung als kanonische 17 Die Bezeichnung als Liste liturgischer Lesungen ist wohl irreführend, da diese Einteilungen nicht vollständig mit bekannten liturgischen Systemen in der griechischen Apostolos Tradition übereinstimmen. Vgl. Samuel Gibson, The Apostolos. The Acts and Epistles in Byzantine Liturgical Manuscripts (Texts and Studies 18), Piscataway 2018. 18 Die Zahl der Zeilen ist hier fehlerhaft, wie bereits Zacagni in seiner Edition bemerkt (S. 479). Bei den meisten Zeugen dieser Liste fehlt die zusammenfassende Darstellung, und diejenigen, die sie überliefern (wie GA 181 [53r]) sind hier schwer zu lesen. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0003 46 Kelsie G. Rodenbiker und Garrick V. Allen Schriften schließen. Gleichzeitig lässt der Inhalt der Listen keine internen Beziehungen zwischen den Katholischen Briefen erkennen. Der gleiche Befund zeigt sich für die Hypothesen. Jeder Brief hat ein Vorwort, das den Autor identifiziert, die Herkunft des Texts erklärt und seinen Inhalt zusammenfasst. Die Hypothesis zu 1 Johannes z. B. identifiziert den Autor als Johannes, „ den Verfasser des Evangeliums “ , der diesen Brief sandte, um „ die zu ermahnen, die bereits an den Herrn Glaubende waren. “ Danach folgt eine ausführliche Zusammenfassung des Briefs, die in den Satz mündet: „ Am Ende des Briefs ermahnt er sie erneut und sagt, dass der Sohn Gottes himmlisches Leben und wahrer Gott ist, dass wir ihm dienen und uns vor den Götzen in Acht nehmen sollen. “ Insgesamt also besteht das Euthalianische Material für die Katholischen Briefe aus einem inneren System von Elementen, die literarische Unterabschnitte systematisieren (Liste der Lesungen), intertextuelle Bezüge identifizieren (Zitatenlisten), Inhalte zusammenfassen (Hypothesen und Kapitelliste) und schließlich Informationen über die Person bieten, die dies erstellt hat (Prolog). Einige dieser Elemente sind miteinander verbunden und setzen die Konstruktion der Katholischen Briefe als definierte Teilsammlung im Neuen Testament, sowie als Reihe von Schriften in einer bestimmten Anordnung voraus. Die Euthaliana bestärken und untergraben zur gleichen Zeit die Vorstellung eines festen Kanons. Die Euthaliana, die Katholischen Briefe und der neutestamentliche Kanon Abgesehen von ihrer Zusammenstellung der Katholischen Briefe in der Handschriftentradition bieten die Euthaliana die erste systematische Repräsentation der Katholischen Briefe als einer Teilsammlung innerhalb des Neuen Testaments. Das früheste Cluster Katholischer Briefe findet sich in Papyrus 72, den Teilen des Bodmer Mischkodex. Dieses lässt sich ins 3. oder 4. Jahrhundert unserer Zeitrechnung datieren; überliefert sind die Texte des Judasbriefs und der beiden Petrusbriefe (P. Bodmer VII und VIII). Doch selbst diese Handschrift kann nicht als eine Art Vorläufer einer „ protokanonischen “ Teilsammlung gesehen werden, die zeigt, dass die Katholischen Briefe schon früh mit dem Kanon in Verbindung gebracht wurden. Stattdessen gehen die Texte auf verschiedene Einheiten der Herstellung des zusammengesetzten Codex zurück; dabei wurden 1 und 2 Petrus später als der Judasbrief hinzugefügt 19 und an das Ende des Codex 19 Zu den Unterschieden in der Behandlung des Judasbriefes in dieser Sammlung gegenüber 1 - 2 Petr vgl. auch Tobias Nicklas, Der „ lebendige Text “ des Neuen Testaments. Der Judasbrief auf P 72 (P. Bodmer VII), in: ASEs 22 (2005) 203 - 222. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0003 Die Euthaliana und die Katholischen Briefe 47 gebunden. 20 Eine Sammung von sieben Katholischen Briefen ist erst in den Codices Sinaiticus und Vaticanus erkennbar, Vollbibeln des 4. Jahrhunderts, die Schriften des Alten und Neuen Testaments in griechischen Majuskeln enthalten. Die Euthaliana wiederum bieten die ältesten Hinweise der Verbindung aller sieben Katholischen Briefe durch die Herausgeber von Bibeln, ein wichtiger Faktor für ihre weitere Rezeption als kanonische Teilsammlung. Innerhalb der Euthalianischen Tradition werden die Katholischen Briefe in einer Weise behandelt, die sowohl das Gefühl kanonischer Stabilität unterstützt, als auch gleichzeitig, wie bereits gesagt, eine Vorstellung von der Endgültigkeit des neutestamentlichen Kanons eher untergräbt. Wie wir bereits gesehen haben, können die gleichen Elemente der Euthalianischen Tradition sowohl die Vorstellung eines fixierten Kanons unterstützen und in Frage stellen. Ein Element, das den Status der Katholischen Briefe als Sammlung unterstützt, ist die innerhalb der Euthaliana hergestellte Verbindung zur Apostelgeschichte. Die Tatsache, dass Apostelgeschichte und Katholische Briefe beide Eingang in die Euthalianische Tradition fanden, spiegelt die enge Verbindung dieser Schriften als Geschichte der Apostel und Sammlung ihrer Werke. Viele griechische Handschriften bieten die Katholischen Briefe nach der Apostelgeschichte und kreieren damit einen Zusammenhang, der seinen Schwerpunkt auf Material über die früheste christliche Gemeinschaft nach dem Leben Jesu setzt, wie es in den Evangelien berichtet wird. Für jeden Katholischen Brief, selbst für 3 Joh, den kürzesten von ihnen, sind Kapitellisten angegeben. Dies lässt darauf schließen, dass jeder Brief einem vorgegebenen Standard folgend herausgegeben wurde; dies wiederum vermittelt das Gefühl, dass jede der Schriften, unabhängig von ihrer Länge oder scheinbaren Bedeutung, redaktionell gleichbehandelt wurde. Die Euthalianischen Hypothesen, die für jeden Brief geboten werden, betonen die authentische Verfasserschaft der Briefe durch Jakobus, Petrus, Johannes und Judas. Während der 1. Johannesbrief z. B. im Haupttext anonym ist und 2 - 3 Joh nur vage eine Verfasserfigur, die sich als „ der Alte “ bezeichnet, erkennen lässt, schreibt die Euthalianische Hypothese den Text explizit „ Johannes selbst, dem Verfasser des Evangeliums “ , zu, betont damit die Authentizität des Briefs und 20 Zur Konstruktion des Bodmer Mischcodex vgl. Brent Nongbri, The Construction of P. Bodmer VIII and the Bodmer „ Composite “ or „ Miscellaneous “ Codex, in: NovT 58 (2016), 394 - 410; ders., Recent Progress in Understanding the Construction of the Bodmer „ Miscellaneous “ or „ Composite “ Codex, in: Adam. 21 (2015), 171; sowie Tommy Wasserman, Papyrus 72 and the Bodmer Miscellaneous Codex, in: NTS 51 (2005), 137 - 154 sowie Tobias Nicklas/ Tommy Wasserman, Theologische Linien im Codex Bodmer Miscellani? in: Thomas J. Kraus/ Tobias Nicklas (Hg.), New Testament Manuscripts. Their Texts and their World (TENT 2), Leiden/ Boston 2006, 161 - 188. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0003 48 Kelsie G. Rodenbiker und Garrick V. Allen bietet damit eine weitere Verbindung zwischen zwei Teilsammlungen, in diesem Fall den Evangelien und den Katholischen Briefen. Doch es gibt auch Verbindungen zwischen den Katholischen Briefen und dem Corpus Paulinum. Wie die Briefe des Paulus wird die Sammlung der Katholischen Briefe durch einen einzelnen Euthalianischen Prolog eingeleitet. Dies lässt darauf schließen, dass diese sieben Briefe, die Jakobus, Petrus, Johannes und Judas zugeschrieben werden, zumindest bei den Euthalianischen Herausgebern als neutestamentliche Teilsammlung verstanden wurden. Anders als die ausführliche Auseinandersetzung mit den paulinischen Briefen in deren Prolog lässt, wie wir gesehen haben, der Prolog zu den Katholischen Briefen jedoch beinahe nichts über den Inhalt der Briefe erkennen. Stattdessen konzentriert er sich nahezu vollständig auf Aspekte des editorischen Prozesses. Unter den dabei begegnenden Bemerkungen allerdings finden sich auch Vergleiche mit einer Seereise, wie sie auch im paulinischen Prolog verwendet werden. Damit kreieren sie ein Gefühl von Einheit zwischen den beiden Teilsammlungen innerhalb der Euthaliana, offenbaren aber auch eine Bevorzugung des Paulus. Wie Vemund Blomkvist bemerkt, sind die Katholischen Briefe innerhalb der Euthaliana zudem nicht explizit als „ apostolische “ Briefe gekennzeichnet. Dieser Titel ist stattdessen für „ den Apostel “ schlechthin reserviert: Paulus. In seiner Kommentierung zum letzten Kapitel des 2. Petrusbriefes geht der Euthalianische Herausgeber gar so weit, zu sagen, dass Petrus seine Leser dazu anweist, „ die Schriften des Apostels zu lieben (agapan) und nicht auf die zu achten, die sie verleumden (tois diaballousin), weil diese jede göttliche Schrift verleumdeten. “ 21 Diese Anweisung korrespondiert zwar mit dem Text von 2 Petr 3,15 - 16, der Euthalianische Autor hat den Text des 2 Petr hier jedoch deutlich zu einem pro-paulinischen Statement umgeformt, während 2 Petr vor Menschen warnt, die die Schriften des Paulus verdrehen, wie sie es auch mit anderen Schriften tun. 22 Es ist also in den Euthaliana deutlich spürbar, dass das Corpus Paulinum höher geachtet wird als die Katholischen Briefe, deren Status offenbar als geringer eingestuft wird. Auch die Zitatenlisten sind ambivalent: Sie unterstützen den Status der Katholischen Briefe im neutestamentlichen Kanon und stellen ihn gleichzeitig in Frage. Die kurze Liste der „ göttlichen Testimonien “ folgt, wie wir gesehen haben, der Reihenfolge, wie sie sich in der griechischen Übersetzung des Alten Testaments findet, und orientiert sich nicht an ihrem Auftauchen im Neuen 21 Blomkvist, Euthalian Traditions (s. Anm. 2), 182 - 183. 22 Weiterführend zu dieser Passage wie auch zum Verhältnis zwischen 2 Petr und dem Corpus Paulinum Tobias Nicklas, „ Der geliebte Bruder “ . Zur Paulusrezeption im 2. Petrusbrief, in: Wolfgang Grünstäudl/ Uta Poplutz/ Tobias Nicklas (Hg.), Der zweite Petrusbrief und das Neue Testament (WUNT I/ 397), Tübingen 2018, 133 - 150. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0003 Die Euthaliana und die Katholischen Briefe 49 Testament; bereits dies schafft eine Verbindung zwischen dem Text des Neuen Testaments und seinen jüdischen Quellen. Viele der Zitate, auf die der Euthalianische Apparat verweist, beinhalten einleitende Rede- oder Zitationsformeln; so kommt es, dass die beiden einzigen „ göttlichen Testimonien “ , die für den Judasbrief aufgelistet werden, apokryph sind: Das „ Apokryphon des Henoch “ und das „ Apokryphon des Mose “ . Jud 9 zitiert den Erzengel Michael, der dem Teufel sagt: „ Der Herr weise dich in die Schranken, “ während Jud 14 - 15 eine Prophezeiung aus dem 1. Henochbuch zitiert. Gleichzeitig werden starke Anspielungen auf alttestamentliche Schriften und Figuren ignoriert ( Jud 5; vgl. Num 13 - 14; Deut 1,19 - 36; Jud 6; vgl. 1 Petr 3,19 - 20; 2 Petr 2,4; Gen 6,1 - 4; 1 Hen 10; Kain: Jud 11a; vgl. Joh 3,12; Gen 4; Bileam: Jud 11b, vgl. Num 22 - 24), and Korah ( Jud 11c, cf. Num 16). Die vielen, v. a. in Jud 11 eng aufeinander folgenden Bezüge machen den Judasbrief zu einem Text, der geradezu gesättigt ist mit Figuren und Erzählungen der Schrift. Aber selbst starke Anspielungen auf Schlüsselfiguren der Schrift sind in der Euthalianischen Liste von Zitaten nicht enthalten, während dort gleichzeitig apokryphe Quellen, die noch dazu als solche bezeichnet werden, erwähnt sind. Ähnliches gilt für die Stelle im 1. Petrusbrief, an der wir lesen, wie Sara „ Abraham gehorchte und ihn ihren Herrn nannte “ , obwohl diese sogar Gesprochenes beinhaltet (vgl. 1 Petr 3,5 - 6; vgl. Gen 18,12). Der Euthalianische Autor zeigt keine Scheu, die durchlässige Kanonizität der Zeugnisse im Judasbrief darzustellen, während überall sonst die apostolische Autorität und Kohärenz des Texts mit anderer neutestamentlicher Literatur von größter Bedeutung ist. Der liminale Status der Katholischen Briefe, der sich in der Euthalianischen Tradition erweist, spiegelt sich auch in ihrer Rezeption im 3. und 4. Jahrhundert, als der Prozess zu bestimmen, welche Bücher das Neue Testametn konstituieren sollten, sich mehr und mehr entfaltete. Unter den kirchlichen Zeugnissen des 4. Jahrhunderts zeigt sich eine gewisse Unsicherheit im Zusammenhang mit der apostolischen Verfasserschaft der meisten Katholischen Briefe genauso wie auch eine Anerkennung ihrer Nützlichkeit und selbst ihrer Verbindung als Sammlung. Im frühen 4. Jahrhundert ist Eusebius von Caesarea der erste Autor, der auf eine mögliche Sammlung Katholischer Briefe verweist, welche aus sieben Briefen besteht. Gleichzeitig aber bietet er eine Liste der Schriften des Neuen Testaments, die alleine 1 Petr und 1 Joh mit Sicherheit enthält, während er die fünf übrigen Katholischen Briefe auf die Liste der umstrittenen Bücher verweist (antilegomena; vgl. Historia ecclesiastica 2,23,25 und 3,25,2 - 3). Zu den bestrittenen Schriften, die indes gleichwohl bei den meisten in Ansehen stehen, werden gerechnet der so genannte Jakobusbrief, der Brief des Judas, der zweite Brief des Petrus und der sogenannte zweite und dritte Johannesbrief, welche entweder Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0003 50 Kelsie G. Rodenbiker und Garrick V. Allen dem Evangelisten oder einem anderen Johannes zugeschrieben sind (Eusebius, Historia ecclesiastica 3,25,3, vgl. auch 3,24,17 - 18). 23 Auch an anderen Orten stellt Eusebius die Frage der Verfasserschaft zur Debatte und stellt dabei die apostolische Verfasserschaft von Jakobus- und Judasbrief (Historia ecclesiastica 2,23,25) sowie von 2 Petr und anderer petrinischer Literatur in Frage (Historia ecclesiastica 3,3,1 - 4). Obwohl andere Autoren des 4. Jahrhunderts die Authentizität keines der Katholischen Briefe in Frage stellen - unter ihnen Athanasius von Alexandrien, der alle sieben Briefe in seine Liste „ kanonisierter “ Bücher des Neuen Testaments aufnimmt (kanonizomena, vgl. Epistula festalis 39,18) - bleibt die Frage der Verfasserschaft dieser Texte auch noch Jahrzehnte nach Eusebius offen. In seinen Leben berühmter Männer (De viris illustribus) verweist Hieronymus auf Basis des im Vergleich zum 1. Petrusbrief deutlich unterschiedlichen Stils auf die fragwürdige Verfasserschaft des 2. Petrusbriefes. Zudem schreibt er, dass einige glauben, der Jakobusbrief sei von einer anderen Person im Namen des Apostels verfasst worden, und dass man sagt, 2 und 3 Joh seien das Werk eines anderen Johannes, nämlich des Presbyters Johannes, zu dessen Erinnerung in Ephesus ein Denkmal errichtet sei - obwohl einige glauben, die beiden Denkmäler in Ephesus, erinnerten beide an den Evangelisten Johannes (De viris illustribus 1,2,9). Obwohl Hieronymus die Verfasserschaft des Judasbriefes nicht in Frage stellt, notiert er doch, dass sein Zitat des „ apokryphen Henochbuchs “ dazu führte, dass viele ihn ablehnten (De viris illustribus 4, vgl. aber Tertullian, De cultu feminarum 3, wo Tertullian sich für die Authentizität der „ Prophezeiung des Henoch “ ausspricht). Die Debatte über die Verfasserschaft der Katholischen Briefe setzte sich durch das gesamte vierte Jahrhundert fort; die Frage nach der Zahl legitimer apostolischer Briefe blieb deswegen ein Problem. Die Euthalianische Tradition, die ja womöglich auf die gleiche Zeit wie viele dieser Diskussionen zurückging, lenkt die Aufmerksamkeit in gleicher Weise auf die Verwendung von Henoch-Literatur im Judasbrief, die die Anerkennung dieser Schrift als Teil des Neuen Testaments schwierig machte. Gleichzeitig betont sie, dass es der Evangelist Johannes war, der alle drei johanneischen Briefe verfasste - und sichert damit deren autoritativen Status. Selbst wenn einige Elemente der Euthalianischen Tradition die Verbindung zwischen Altem und Neuem Testament betonen und auf Verfasserfiguren verweisen, die auch in anderen Teilsammlungen des Neuen Testaments begegnen, machen andere Eigenschaften aufmerksam auf verschiedene Schrifttraditionen in den neutestamentlichen Briefen - wie den Apokryphen des Henoch und des Mose. Die 23 Übersetzung adaptiert nach Eusebius von Caesarea, Kirchengeschichte, hg. von H. Kraft, München 6 2012, 175. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0003 Die Euthaliana und die Katholischen Briefe 51 Euthaliana zeigen somit eine Spannung zwischen einer sich entwickelnden Idee des Kanons und einem flexibleren Sinn für literarische Zusammenhänge. 24 Fazit Die Euthaliana repräsentieren die erste systematische redaktionelle Behandlung der Katholischen Briefe als eines Teilcorpus des Neuen Testaments; gleichzeitig bezeugen sich auch eine gewisse Vernachlässigung und einen gegenüber den paulinischen Schriften sekundären Status dieser Sammlung. Obwohl die Euthalianischen Elemente in verschiedenen Handschriften variabel überliefert sind, bezeugt diese Tradition doch Wege der Gestaltung der Sammlung der Katholischen Briefe, die sowohl deren Autorität und Kanonizität bestärken als sie auch in Frage stellen. Die Katholischen Briefe werden als Sammlung behandelt, sie werden durch einen Prolog eingeleitet und jeder einzelne Brief erhält Hypothesen und Kapitelüberschriften. Dies ist zunächst einmal vergleichbar mit der Art und Weise, in der das Corpus Paulinum in den Euthaliana behandelt wird, der Prolog der Katholischen Briefe aber verweist nicht auf deren Inhalt oder die Struktur dieser Sammlung, sondern auf die Leistung ihres Herausgebers. Obwohl die Hypothesen die Authentizität der Briefe betonen ( „ Jakobus selbst schreibt …“ ) identifizieren sie keinen der Verfasser explizit als Apostel - dieser Titel wird alleine für Paulus verwendet. Die Hypothese zum Ersten Johannesbrief notiert dazu, dass dieser Johannes der „ Verfasser des Evangeliums “ sei; sie kreiert damit eine Verbindung zwischen der Teilsammlung der Katholischen Briefe und den Evangelien. Trotz der hergebrachten Behandlung der Katholischen Briefe als Kollektiv in den Euthaliana offenbart deren deutlich substantiellere Auseinandersetzung mit dem Corpus Paulinum (sowie die Verwendung des Aposteltitels alleine für Paulus), dass das paulinische Material gegenüber den Katholischen Briefen deutlich bevorzugt wird. Die lange wie die kurze Liste von Zitaten bezeugen einen Sinn für die Zusammengehörigkeit von Schriften des Alten und des Neuen Testaments; sie betonen eine Art kanonischer Intertextualität, verweisen aber auch auf die Unmöglichkeit, das Innerkanonische vollkommen von allen Einflüssen von außen abzugrenzen. Dies zeigt sich an der Aufnahme von „ göttlichen Testimonien “ , die auf andere Texte zurückgehen als die, die heute als Altes und Neues Testament kanonisch geworden sind. Die Euthalianische Tradition bezeugt eine 24 Auch dies ist ein Aspekt der Offenheit des biblischen Kanons auf außerbiblische Traditionen hin, wie er ausführlich auch im einleitenden Beitrag von Tobias Nicklas hervorgehoben wird. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0003 52 Kelsie G. Rodenbiker und Garrick V. Allen gewisse Durchlässigkeit des Kanons zu außerkanonischem Material, wie sie sich in der Sammlung der Katholischen Briefe zeigt. In ihrem Versuch, die Katholischen Briefe in eine breitere Sammlung zusammen mit Apostelgeschichte und paulinischen Briefen zu inkorporieren, kann die Euthalianische Tradition zudem als Stimme in den komplexen antiken Diskursen zu Authentizität und Relevanz der Katholischen Briefe in verschiedenen christlichen Gemeinschaften verstanden werden. Kelsie Rodenbiker studierte Neues Testament und Frühes Christentum an der Universität Durham (UK) und ist derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Glasgow tätig. Ihre Arbeit konzentriert sich auf die Überschneidung von Kanonizität und Textautorität, Pseudepigraphie und attributive Praktiken sowie Handschriften und ihre paratextuellen Merkmale. Garrick V. Allen studierte biblische Literatur und Koine- Griechisch an der Northwest University sowie Schrift und Theologie an der University of St. Andrews. Er ist Professor of Divinity and Biblical Criticism an der Universität Glasgow und leitet derzeit mehrere Projekte zur Erforschung frühchristlicher Manuskripttraditionen und Kulturen. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0003 Die Euthaliana und die Katholischen Briefe 53 Apokryphe Apostelerzählungen und ihre Funktion in der Geschichte des Christentums Von den Rändern ins Zentrum Janet E. Spittler Verallgemeinerungen sind immer riskant, aber wollte man zusammenfassen, was die meisten Studierenden oder selbst Wissenschaftler zum frühen Christentum über apokryphe Apostelakten wissen, so würde das wohl in etwa folgendermaßen aussehen: Die apokryphen Apostelakten sind eine Gruppe frühchristlicher Erzählungen, die von der Großkirche unterdrückt wurden, weil sie „ häretische “ Ansichten vertreten. Es handelt sich um Texte, die schließlich mehr oder minder verloren gingen. Erst Wissenschaftler: innen unserer Zeit, die verlorene und vergessene Formen des Christentums ans Licht brachten, haben sie wiederentdeckt und rekonstruiert. Dies ist sicherlich nicht vollkommen falsch. Ein großer Teil der wissenschaftlichen Arbeit an apokryphen Apostelakten im 19. und 20. Jahrhundert bestand darin, ihre „ Originaltexte “ zu rekonstruieren; und diese rekonstruierten Schriften bieten tatsächlich Einblicke in das Denken christlicher Gruppierungen des 2. und 3. Jahrhunderts. Der Blick, den sie erlauben, ist zudem anders - weiter - als der Blick, den kanonische und patristische Quellen alleine zulassen. Trotzdem verdeckt die Vorstellung, es handele sich um „ verlorene Schriften “ , die wiederentdeckt wurden, oder auch die Idee von „ neu offenbarten geheimen Schriften “ - ich spiele hier etwas unfair auf die Titel zweier ausgezeichneter Bücher hervorragender Wissenschaftler an 1 - den wahren Charakter der meisten apokryphen Apostelakten. Diese Werke - die alten Paulusakten, Johannesakten, Petrusakten, Andreasakten und Thomasakten sind sicherlich 1 Ich denke hier an Bart Ehrman, Lost Scriptures. Books that Did Not Make It into the New Testament, Oxford 2005 sowie Tony Burke, Secret Scriptures Revealed. A New Introduction to the Christian Apocrypha, Grand Rapids 2013. Noch einmal: Der Inhalt dieser Bücher ist ausgezeichnet, auch wenn die Titel ein Missverständnis über die in ihnen behandelten Werke bestärken. am bekanntesten, es gibt aber viele mehr 2 - waren überaus langlebig. Sie wurden in alle wichtigen Sprachen des antiken Mittelmeerraums (vom Griechischen bis zum Arabischen) übersetzt oder bereits in ihnen verfasst. Jahrhunderte später wiederum wurden sie in die Sprachen Europas (vom Altkirchenslawischen bis zum Isländischen) übersetzt oder neu komponiert. Man redigierte ihre Erzählungen für die verschiedensten Zwecke und Kontexte, sei es liturgisch oder auch säkular, sei es für neue literarische Gattungen und Medien (inclusive bildende Künste). Zu all dem passen Begriffe wie „ verloren “ , „ geheim “ oder „ vergessen “ kaum. Sicher sind die frühesten Formen der apokryphen Akten, d. h. die fünf genannten griechischen Schriften aus dem 2. und 3. Jahrhundert, nicht in ihren originalen Fassungen überliefert; was wir aber haben, ist viel mehr. Der folgende Beitrag bietet eine Fallstudie, die zeigt, auf welche Weisen apostolische Figuren - hier der Apostel Johannes - in christlicher Literatur ab dem 2. Jahrhundert, dann über die byzantinische Epoche und das westliche Mittelalter sowie darüber hinaus erinnert wurden. Zwar veränderte sich die apokryphe Tradition um den Apostel Johannes über die Jahrhunderte in Form, Sprache und Inhalt, gleichzeitig aber zeigt sie eine bemerkenswerte Konsistenz und Dauer. Während einige Elemente der Tradition uns tatsächlich Einsicht in Vorstellungs- und Glaubenswelten wie auch Praktiken bieten, die man innerhalb des Christentums als „ randständig “ , um nicht zu sagen „ häretisch “ bezeichnen würde, trifft es eher zu, dass die verschiedenen Permutationen dieser und anderer apokrypher Traditionen uns Einsicht in Vorstellungs- und Glaubenswelten wie auch Praktiken einer langen Reihe von „ Christentümern “ bieten, in denen und auf die hin die Tradition (und die literarischen Werke, in denen sie sich niedergeschlagen hat) adaptiert, gelesen und wertgeschätzt wurde. Viele von ihnen waren vollkommen rechtgläubig. 1. Die Johannesakten: Der bleibende Erfolg einer verbotenen Schrift Ein besonders reiches Corpus von Texten bezeugt das bleibende christliche Interesse an Johannes, dem Sohn des Zebedäus, der von früher Zeit an als der „ geliebte Jünger “ des Johannesevangeliums wie auch der Autor dieser Schrift verstanden wurde. Eine Vielzahl apokrypher Texte beschreibt sein Wirken in Kleinasien und/ oder Rom wie auch seinen beinahe natürlichen Tod in Ephesus. 2 Für eine neue Einleitung in diese Schriften vgl. u. a. Tobias Nicklas, Second Century Apocryphal Acts, in: Michael Bird/ Scott Harrower (Hg.), Second Century Christianity. A Sourcebook, Waco, Tx. 2023/ 24 (im Druck). Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0004 56 Janet E. Spittler Unter heutigen Leser: innen sind sicherlich die alten Johannesakten die bekannteste dieser Schriften; ihr griechischer Text wurde am Ende des 19. Jahrhunderts von Maximilian Bonnet und in jüngerer Zeit von Eric Junod und Jean-Daniel Kaestli ediert. 3 Inzwischen existiert eine Vielzahl von Übersetzungen in moderne Sprachen. Der Text, der normalerweise in die zweite Hälfte des 2. Jahrhunderts datiert wird, ist eigentlich in seiner frühen Form - also der Form, die auf das 2. Jahrhundert zurückgeht - in keinem einzigen Textzeugen vollständig überliefert. Stattdessen hat man ihn aus zwei Quellen rekonstruiert: 1. Einer kleinen Gruppe von Handschriften der sogenannten Akten des Johannes durch Prochorus, einer Schrift wohl des 5. Jahrhunderts, auf die ich später noch zurückkommen werde, in die hinein umfangreichere Ausschnitte der älteren Akten des Johannes interpoliert wurden, und 2. Episoden aus den älteren Johannesakten, die unabhängig zirkulierten, darunter v. a. die so genannte „ Metastasis “ , d. h. die Erzählung vom Tode des Johannes. Der Anfang der alten Johannesakten ist heute verloren, die erste erhaltene Episode, d. h. diejenige, die aufgrund der Logik der Textabfolge die erste zu sein scheint, präsentiert Johannes auf dem Weg von Milet nach Ephesus, d. h. bereits mitten in seinen missionarischen Aktivitäten. Das überlieferte Material besteht aus fünf umfangreichen Einheiten: 1. Ein Bericht über die Ankunft des Johannes in Ephesus, die Auferweckung von Kleopatra und Lykomedes sowie die Zeichnung eines Porträts des Johannes (Kap. 18 - 36 in modernen Ausgaben), 2. eine Erzählung über die Zerstörung des Artemistempels von Ephesus durch Johannes und die Konversion eines Vatermörders (Kap. 37 - 55 der heutigen Ausgaben), 3. Eine Erzählung über den Aufenthalt des Johannes in einer Herberge voller Wanzen und eine lange Episode um die Christin Drusiana, die Frau des Christen Andronicus, sowie den verruchten Callimachus, der sie sexuell bedrängt (Kap. 58 - 86), 4. Ein Evangelienrückblick, in dem Johannes seinem Publikum von seinen Erlebnissen mit dem irdischen Jesus erzählt (Kap. 87 - 105 in modernen Ausgaben), und 5. Die Metastasis, d. h. die Erzählung vom Tod des Johannes (Kap. 106 - 116 in modernen Ausgaben). Es ist keineswegs sicher, dass all diese Teile wirklich zu den frühen Johannesakten gehörten, was und wie viel fehlt und wie weit das heute Erhaltene der Textform des 2. Jahrhunderts entspricht. Selbst oberflächlichen Leser: innen wird deutlich, dass weiterhin Uneinigkeit über die genaue Anordnung des überlieferten Materials besteht: Immerhin beginnt der Text mit Kapitel 18 - Kapitel 1 - 17 fehlen komplett - und die Kapitel 87 - 105 werden zwischen die Kapitel 36 und 37 3 Maximilian Bonnet, Acta Apstolorum Apocrypha 2.1 Darmstadt 2 1959; Eric Junod/ Jean- Daniel Kaestli, Acta Iohannis (CCSA 1 - 2), Turnhout 1983. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0004 Apokryphe Apostelerzählungen und ihre Funktion in der Geschichte des Christentums 57 gesetzt. Genauso fällt auf, dass ganz offenbar Material fehlt, z. B. die Erzählung über die Konversion von Drusiana und Andronicus, die Hauptfiguren der Kapitel 63 - 86, genauso wie ein Bericht darüber, wie Kleinasien dem Johannes als Missionsgebiet zugeteilt wurde und wie er dorthin reiste. Die Frage, wie nahe die überlieferten Texte der frühesten Form der Schrift kommen, ist schwerer zu beantworten. So wird etwa intensiv darüber diskutiert, inwiefern die Kapitel 87 - 105 Zeichen von Anpassung und/ oder Interpolationen aufweisen - und besonders, ob einige Passagen (z. B. der Hymnus Christi in den Kap. 94 - 96) sich späteren „ gnostischen “ Hinzufügungen verdankt. 4 So können wir im Grunde nicht wissen, wie nahe die frühen Johannesakten, die uns in den modernen Editionen geboten werden, dem Text kommen, der von seinem Verfasser des 2. Jahrhunderts geschrieben wurde. Dies aber ist kein ungewöhnlicher Fall: Alle Editionen antiker Schriften verdanken sich in Teilen Formen solchen (sehr gelehrten) Ratens. Man könnte nun fragen: Warum überhaupt suchen Wissenschaftler nach Material, das zu dieser frühen Schrift gehört haben könnte? Woher wissen wir überhaupt, dass es solche alten Johannesakten überhaupt gegeben hat? Wir wissen davon, weil eine Vielzahl frühchristlicher Autoren dieses Werk mit Namen erwähnt; andere wiederum beziehen sich auf Inhalte, die im rekonstruierten Text zu finden sind. Diese Bezugnahmen sind zum Teil zustimmend und zum Teil ablehnend. Wie zu erwarten, verdammen viele „ orthodoxe “ Autoren wie Eusebius von Caesarea, Epiphanius von Salamis, Philaster von Brescia, Innozenz I. und Turribius von Astorga die Schrift, 5 während eher „ nicht-orthodoxe “ Christen sie zustimmend zitieren oder auf sie anspielen. Ich denke hier z. B. an die Hinweise auf Figuren und Episoden aus den alten Johannesakten im Manichäischen Psalmbuch (3. Jh.) und die offensichtliche Verwendung der Schrift bei den Priszillianisten, d. h. den Anhängern des Priszillian von Avila. 6 Die Rezeption der alten Johannesakten aber stellt sich deutlich komplexer dar: Clemens von Alexandrien scheint auf die Schrift ohne 4 Zur Frage einer möglichen „ gnostischen Interpolation “ in den Kapiteln 87 - 105 vgl. Junod/ Kaestli, Acta Iohannis (s. Anm. 3), 2: 581 - 675; wichtig auch Pieter J. Lalleman, The Acts of John. A Two-Stage Initiation into Johannine Gnosticism (Studies on Early Christian Apocrypha 4), Leuven 1998, 25 - 68. 5 Zur Bezeugung und Verwendung der alten Johannesakten vgl. Eric Junod/ Jean-Daniel Kaestli, L ’ histoire des actes apocryphes des apôtres du IIIe au IXe siècle. Le cas des Actes de Jean, Genève/ Lausanne/ Neuchâtel 1982; Überblicke auch bei Knut Schäferdiek, The Acts of John, in: Wilhelm Schneemelcher (Hg.), New Testament Apocrypha, übersetzt von R. McL. Wilson (Louisville 1992, 2: 152 - 156 sowie Tobias Nicklas, Second Century Apocryphal Acts (s. Anm. 2). 6 Vgl. Junod/ Kaestli, L ’ histoire (s. Anm. 5), 50 - 102. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0004 58 Janet E. Spittler jegliches Anzeichen von Kritik anzuspielen, 7 und Augustinus, der üblicherweise apokryphe Werke und die Christen, die sie verwenden und wertschätzen, sehr herabwürdigend behandelt, kritisiert die Verwendung des apokryphen Jesushymnus aus Kapitel 95 der Johannesakten durch die Priszillianisten nicht dahingehend, dass dieser häretisch sei, sondern mit dem Argument, dass sein Inhalt bereits in kanonischen Schriften enthalten sei. 8 Wir müssen bis ins 8. Jahrhundert gehen, um einen weiteren Hinweis auf die alten Johannesakten zu finden: Eine Episode, in der Johannes einen Jünger dafür kritisiert, dass er ein Bild des Apostels in Auftrag gegeben hat (Kap. 26 - 29) wurde in das Ikonoklastische Konzil des Jahres 754 als Beispiel dafür aufgenommen, dass ein Apostel die Verwendung von Bildern ablehnte; im zweiten Konzil von Nizäa des Jahres 787 wiederum wurde die Schrift rundweg verboten; dabei wurden zwei Passagen, konkret die Episode mit dem Porträt sowie ein Auszug aus den Kapiteln 93 - 98, explizit in den Konzilsakten zitiert, um den häretischen Charakter der Schrift zu verdeutlichen. 9 Damit haben wir einen Überblick über die Geschichte einer griechischen Schrift des 2. Jahrhunderts, die im 3. und 4. Jahrhundert in recht weitem Umlauf war und von einigen Splittergruppen des frühen Christentums (z. B. Manichäern und Priszillianisten) angenommen wurde, während viele, wenn auch nicht alle „ orthodoxen “ Autoren sie ablehnten. Die Schrift gerät mit dem 5. Jahrhundert weitgehend aus dem Blick und taucht im Ikonoklastenstreit des 8. Jahrhunderts wieder auf, nur um im zweiten Konzil von Nizäa umso strenger verurteilt zu werden. Obwohl dies alles zutrifft, ist es jedoch noch keineswegs die ganze Geschichte der apokryphen Traditionen um Johannes, von denen viele bei den frühen Johannesakten ihren Ausgang nehmen. Bevor ich aber einen Blick auf einige Schlüsseltexte der weiteren Tradition biete, möchte ich daran erinnern, dass, obwohl das überlieferte Material ziemlich umfangreich ist, es sich dabei nur um einen kleinen Ausschnitt dessen handelt, was offenbar wirklich im Umlauf war. Dies zeigt sich z. B. an der Entdeckung zweier Episoden, die fast sicher zu den frühen Johannesakten gehörten und die sich in sehr fragmentarischer Form in einem griechischen Unzialcodex des 4. Jahrhunderts aus Oxyrhynchus (P.Oxy. 850) sowie einem irischen Codex des 7 In seinen Adumbrationes zu 1 Joh 1,1 spricht Clemens von Alexandria von Traditionen, die davon berichten, dass die Hand des Apostels Johannes keinen Widerstand spürte, als sie den Körper Jesu berührte. Zwar wird diskutiert, ob Clemens einen vollständigen Text der alten Johannesakten kannte, ist klar, dass er sich hier auf seine Erzählung bezieht, die in Kapitel 93 der Johannesakten erzählt wird. 8 Augustinus, Epistula 237. 9 Zur Rolle der Johannesakten im Ikonoklastenstreit vgl. Stephen Gero, Byzantine Iconoclasm during the Reign of Constantine V (CSCO 384), Leuven 1977. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0004 Apokryphe Apostelerzählungen und ihre Funktion in der Geschichte des Christentums 59 15. Jahrhunderts, dem so genannten Liber Flavus, finden. 10 Bis jetzt konnte keine Spur der Überlieferungsgeschichte dieser Episode identifiziert werden, sie ist alleine in diesen beiden Handschriften erhalten. Trotzdem wurde sie überliefert, und deshalb können wir das Netz aus Abschriften, Übersetzungen und Adaptionen (sowie die Schreiber, Übersetzer, und Herausgeber), durch die diese beiden Codices über ein Jahrtausend von Ägypten bis Irland aus dem Griechischen ins Irische miteinander verbunden sind, nur erahnen. 2. Die Metastasis Während, wie wir gesehen haben, die Haupterzählung der frühen Johannesakten die Antike nur in unvollständiger Form überlebte, kann nicht das Gleiche für den Schlussabschnitt der Schrift, die den Tod des Apostels beschreibt, gesagt werden. Man nennt diesen Abschnitt die „ Metastasis “ (gr. metastasis, „ Abreise “ ) und nicht „ Martyrium “ , weil Johannes, anders als andere Apostel, keinen gewaltsamen Tod stirbt. Stattdessen berichtet der Schlussabschnitt der alten Johannesakten (in den Kapiteln 106 - 115 der heutigen Editionen des griechischen Texts), dass Johannes bis zu einem hohen Alter in Ephesus gelebt habe. Als die Zeit seines Todes näher rückt, bittet er seine Jünger darum, ein Grab für ihn zu schaufeln, in dem er, nachdem er noch eine Abschiedsrede gehalten hat, sich niederlegt und den Geist aufgibt. Anders als die Haupterzählung der Johannesakten ist die Metastasis gut und vielfältig überliefert: Sie findet sich in mehr als 20 griechischen Handschriften, sowie in Übersetzungen ins Lateinische, Syrische, Koptische, Armenische, Georgische, Arabische, Äthiopische und Altkirchenslawische. Der unterschiedliche Charakter dieser Handschriftentradition bedeutet, dass es sehr schwierig ist, mit ihr zu arbeiten - gleichzeitig aber auch überaus lohnend. Die griechischen Handschriften der Metastasis - die älteste davon geht auf das 10. Jahrhundert zurück - unterscheiden sich voneinander in einer Weise, die es unmöglich macht, zu entscheiden, welche von ihnen die älteste oder die dem Original am nächsten kommende Fassung der Schrift repräsentiert; das Beste, was Herausgeber damit tun konnten, war, diese unterschiedlichen Textzeugen drei verschiedenen Rezensionen zuzuordnen. 11 Aber auch die Übersetzungen - viele von ihnen wurden offenbar recht früh angefertigt - können mit den griechischen Texten verglichen werden. Die syrische Über- 10 Vgl. Martin McNamara, The Apocrypha in the Irish Church, Dublin 1975; eine Übersetzung des irischen Texts findet sich bei Máire Herbert/ Martin McNamara, Irish Biblical Apocrypha, Edinburgh 1989, 89 - 94. 11 Vgl. Junod/ Kaestli, Acta Iohannis (s. Anm. 3), 1: 293 - 343; 2: 564 - 580. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0004 60 Janet E. Spittler setzung etwa, die womöglich bereits in der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts angefertigt wurde, ist besonders wertvoll. Sie mag eine Form des Texts überliefern, die näher am Original ist als das, was wir in den bekannten griechischen Handschriften finden. Auch die armenische Überlieferung ist sehr hilfreich: sie wurde wohl nicht nur sehr früh - wohl im 5. Jahrhundert - angefertigt; interessant ist auch, dass die armenische Metastasis in biblischen Handschriften überliefert wurde. Dies wiederum heißt, dass der Text im Prozess der Überlieferung weniger wahrscheinlich abgeändert wurde. So erlaubten die syrische und die armenische Übersetzung (neben der koptischen und georgischen) den Herausgebern eine recht sichere Rekonstruktion einer Form der frühen griechischen Metastasis. Was aber lernen wir aus dieser komplexen Handschriftenüberlieferung darüber, wie und warum dieser Teil der alten Johannesakten bewahrt wurde? Eine Menge! Zunächst einmal zeigt sich, dass einzelne Abschnitte einer Schrift vom Ganzen abgetrennt werden und dann unabhängig in Umlauf gebracht werden konnten. Dieses Phänomen zeigt sich sehr häufig bei Erzählungen um den Tod eines Apostels. Diese Passagen wurden oft aus ihren längeren narrativen Kontexten herausgelöst und dann, als unabhängige Schrift mit eigenem Titel in den entstehenden hagiographischen Sammlungen, so genannten Menologien, aufgenommen, die Lesematerial für die Feier des Festtages eines Heiligen, der normalerweise am Todestag des Heiligen begangen wurde, zusammenstellten. 12 Um ein konkretes Beispiel zu bieten: Wir finden die Kapitel 106 - 115 der Johannesakten in einer griechischen Handschrift des 11. Jahrhunderts, die heute in der Vatikanischen Bibliothek (Vat. gr. 866, 32r - 33v) aufbewahrt wird. Sie werden hier als ein unabhängiges Werk mit dem Titel Letzte Ruhe des Johannes des Theologen präsentiert (gr. Anapausis I ō annou tou theologou) und unter 117 anderen Erzählungen über das Leben und Sterben von Heiligen platziert. Die Variabilität der Titel in diesen Handschriften wiederum kann bis zu einem gewissen Grade erklären, warum es möglich war, auch weiterhin Schriften (oder Teile von ihnen) zu kopieren und in Umlauf zu halten, die explizit verurteilt worden waren, so wie es ja mit den alten Johannesakten geschehen war. Die Auseinandersetzung des Zweiten Konzils von Nizäa mit den Johannesakten schließt damit, dass das Konzil einig darin sei: „ Niemand darf Abschriften davon anfertigen! Und wir setzen nicht nur dies fest, sondern auch, dass es verdient 12 Zur Entwicklung hagiographischer Sammlungen, besonders der vor-metaphrastischen Sammlungen, in denen die Metastasis häufig überliefert wurde, vgl. Christian Høgel, Symeon Metaphrastes. Rewriting and Canonization, Copenhagen 2002. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0004 Apokryphe Apostelerzählungen und ihre Funktion in der Geschichte des Christentums 61 hat, in die Flammen geworfen zu werden. “ 13 Das Exemplar der Schrift jedoch, die dem Konzil offenbar vorlag und die wir heute, wie aus den langen Zitaten aus ihr eindeutig klar ist, als Johannesakten bezeichnen würden, trug den Titel Reisen der Apostel. 14 Selbst wenn wir uns einen organisierten und konzertierten Versuch, Abschriften dieses „ häretischen “ Werks zu finden und sie zu verbrennen (an sich ein eher unwahrscheinliches Szenario), vorstellen wollen, legt es sich durchaus nahe, dass ein möglicher Bücherverbrenner eine Handschrift der Metastasis (oder Anapausis) Johannes des Theologen übersah. Mit der weiteren Entwicklung hagiographischer Literatur im 8. Jahrhundert und später wurden Episoden aus apokrypher Literatur tief in der Tradition verankert. Nahezu alle hagiographischen Erzählungen zum Tod des Johannes verdanken sich mehr oder minder direkt der Metastasis; und das hoch einflussreiche Leben des Johannes des Symeon Metaphrastes (900 - 987 n. Chr.) beinhaltet einen Bericht über die Abfassung des vierten Evangeliums auf einem Berg der Insel Patmos mit Hilfe des Schreibers Prochorus (eine apokryphe Episode, die erstmals in den Akten des Johannes durch Prochorus auftaucht, siehe 3 unten). 15 Obwohl die Akten des Johannes also tatsächlich nicht in ihrer ursprünglichen Form vorliegen und obwohl ihre Verurteilung nicht deutlicher hätte ausfalle können, kann man doch mit Recht sagen, dass ihre letzte Episode seit circa 1800 Jahren durchgehend im Umlauf geblieben ist. 3. Niederschrift, Adaption und Übersetzung des apokryphen Johannes Die obige kurze Zusammenfassung über das Nachleben der alten Johannesakten beschreibt, dass sich die Schrift in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts zu verlieren scheint. Wir haben bereits gesehen, dass diese Aussage für den Schlussteil des Texts, die Metastasis, nicht zutrifft; gleichzeitig finden wir zwischen dem Ende des 5. Jahrhunderts und dem späten 8. Jahrhundert (im Ikonoklastischen Konzil und im Zweiten Konzil von Nizäa) keine kirchlichen Autoren mehr, die gegen die Johannesakten polemisieren - weder solche, die 13 The Acts of the Second Council of Nicaea (787), übersetzt und eingeleitet von Richard Price, Liverpool 2018, 402. 14 Und in der Tat mag dieser Text wirklich in etwa so etwas gewesen sein wie das, was Photius im 9. Jh. gelesen haben mag. In seiner Bibliotheca 114 beschreibt Photius eine Schrift “ Reisen der Apostel ” (t ō n apostol ō n periodoi), die die Taten (Akten: praxeis) des Petrus, Johannes, Andreas, Thomas und Paulus umfasste. Edition: René Henry, Photius. Bibliothèque, Paris 1959. 15 Soweit ich weiß, bleibt die einzige Edition des Werks von Symeon Metaphrastes Jacques- Paul Migne, Commentarius in divum apostolum Joannem evangelistam ac theologum (PG 116), Paris 1864, 684 - 705. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0004 62 Janet E. Spittler dabei den Titel anführen, noch solche, die auf Passagen verweisen, die wir aus den Johannesakten kennen. Das aber heißt nicht, dass im späten 5. und im 6. Jahrhundert ein Mangel an apokryphen Schriften über Johannes geherrscht hätte; im Gegenteil: In diese Periode fällt die Abfassung mehrerer neuer Erzählungen über die Taten des Johannes. Eine von diesen, die bereits erwähnten Akten des Johannes durch Prochorus, greifen klar auf die alten Johannesakten als Quelle zurück. Diese umfangreiche griechische Schrift, abgefasst wohl am Ende des 5. Jahrhunderts, womöglich in Antiochien, 16 setzt mit einer Szene ein, in der alle Apostel in Gethsemane versammelt sind. Dort werfen sie Lose, um zu bestimmen, wer in welcher Region zu missionieren hat. 17 Der Erzähler berichtet, dass Johannes das Los für die Provinz Asia zieht und er selbst - wohl identisch mit dem in Apg 6,5 erwähnten Prochorus - das Los zieht, Johannes dabei zu begleiten (Akten des Johannes durch Prochorus 1 - 5). Die folgende Erzählung kann in drei Teile gegliedert werden: 1. Die Erzählung über die Taten des Johannes in Ephesus, die in sein Exil auf der Insel Patmos mündet, 2. Die Erzählung über die Taten des Johannes auf der Insel Patmos, die mit dem Bericht über die Abfassung des vierten Evangeliums auf dieser Insel und seine Rückkehr nach Ephesus endet, sowie 3. der Tod des Johannes in Ephesus. Der mittlere Teil macht den Großteil der Erzählung aus, etwa 70 % des Ganzen. Diese Episoden sind weitgehend neu: Keine frühere Schrift erzählt irgendetwas über die Taten des Johannes im Exil auf der Insel. Der Schlussteil wiederum ist parallel mit der Erzählung aus den alten Johannesakten, wenn auch in deutlich verkürzter Form; der Verfasser der Akten des Johannes durch Prochorus hatte vor sich also zumindest die Metastasis, die, wie wir eben gesehen haben, unabhängig zirkulierte. Der erste Teil jedoch macht deutlich, dass der Autor mehr von den alten Johannesakten gelesen hatte. Wie die alten Akten berichten die Akten des Johannes durch Prochorus von der Zerstörung des Tempels der Artemis von Ephesus durch den Apostel. Diese Episode ist in deutlich unterschiedlicher Weise (und deutlich erweiterter Form) erzählt, sie bietet aber genug wörtliche Parallelen, um eine literarische Abhängigkeit von der Episode aus den alten Johannesakten sicherzustellen. 18 Noch einmal: Es ist unmöglich festzustellen, ob der Autor der Akten des Johannes durch Prochorus die gesamten alten Johannesakten vor sich hatte. 16 Junod/ Kaestli, Acta Iohannis (s. Anm. 3), 2: 718 - 749; Janet E. Spittler, The Acts of John by Prochorus. A Translation and Introduction, in: Tony Burke (Hg.), New Testament Apocyrpha. More Noncanonical Scriptures, Grand Rapids 2023, 262 - 361. 17 Vergleichbare Szenen finden sich in vielen apokryphen Apostelakten. 18 Vgl. Janet E. Spittler, The Acts of John by Prochorus in Patmos Ms. 188. A Test-Case Illustrating the Composition and Development of Later Apocryphal Acts, in: Tobias Nicklas/ Janet E. Spittler/ Jan N. Bremmer (Hg.), The Apostles Peter, Paul, John, Thomas, Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0004 Apokryphe Apostelerzählungen und ihre Funktion in der Geschichte des Christentums 63 Wie auch die Metastasis, könnte auch die Episode von der Zerstörung des Artemistempels unabhängig im Umlauf gewesen sein. 19 Trotzdem: In jedem Fall können wir sicher davon ausgehen, dass dieser Autor des späten 5. Jahrhunderts mehrere Teile der früheren Schrift gelesen und umgearbeitet hat. Zwei weitere griechische Erzählungen aus etwa der gleichen Zeit, die Akten des Johannes in Rom und die Akten des Timotheus, bieten, wie der Mittelteil der Akten des Johannes durch Prochorus, komplett neues Material über Johannes. Wie der moderne Titel andeutet, erzählen die Akten des Johannes in Rom, die in zwei Rezensionen überliefert sind, die Abenteuer des Apostels in der Hauptstadt: Johannes wird gefangen genommen - jede der beiden Rezensionen führt andere Gründe dafür an - und wird nach Rom zur Gerichtsverhandlung vor dem Kaiser verbracht (je nach Rezension vor Domitian oder Hadrian). Ein kurzer Austausch zwischen dem Apostel und dem Kaiser zur angemessenen Haltung eines Christen gegenüber einem menschlichen König führt dazu, dass der Apostel einen Gifttrank zu sich nehmen muss - und zwar nicht eigentlich als Todesurteil, sondern als eine Art von Test der Glaubwürdigkeit des Johannes und der Macht seines Gottes. In beiden Rezensionen des Textes überlebt der Apostel das Gift ohne irgendwelche Probleme für seine Gesundheit, am Ende der Erzählung jedoch wird er trotzdem zum Exil auf Patmos verurteilt. Bei den Akten des Timotheus handelt es sich - trotz ihres Titels - um ein Werk, in dem es mindestens genauso um Johannes geht wie um Timotheus. Die Erzählung spielt in Ephesus; während ihre zweite Hälfte das Martyrium des Timotheus beschreibt, erzählt die erste von einem Ereignis, das vor der Ankunft des Timotheus in der Stadt geschehen sei: Die Abfassung des vierten Evangeliums durch Johannes und - sehr interessant - seine Tätigkeit als Herausgeber der drei synoptischen Evangelien. 20 and Philip with Their Companions in Late Antiquity (Studies on Early Christian Apocrypha 17) Leuven 2021, 192 - 214. 19 Vgl. Junod/ Kaestli, Acta Iohannis (s. Anm. 3), 2: 718 - 736; vgl. Spittler, Patmos Ms. 188 (s. Anm. 18), 208, n. 27. 20 Diese faszinierende Schrift hat erst im vergangenen Jahrzehnt wieder neue Aufmerksamkeit erfahren. Vgl. Claudio Zamagni, Passion (ou Actes) de Timothée. Études des traditions anciennes et édition de la forme BHG 1487, in: Rémi Gounelle/ Albert Frey (Hg.), Poussières de christianisme et de judaïsme antiques. Études réunies en l ’ honneur de Jean-Daniel Kaestli et Éric Junod, Prahins 2007, 341 - 375; Cavan Concannon, In the Great City of the Ephesians. Contestations overApostolic Memory and Ecclesial Power in the Acts of Timothy, in: JECS 24 (2016), 419 - 446; Meira Kensky, Ephesus, Loca Sancta. The Acts of Timothy and Religious Travel in Late Antiquity, in: Janet E. Spittler (Hg.), The Narrative Self in Early Christianity. Essays in Honor of Judith Perkins (Writings from the Greco-Roman World Supplements 15), Atlanta 2019, 91 - 119; Tobias Nicklas, Christian Apocrypha as Heterotopias in Ancient Christian Discourse. The Acts of Timothy, in: Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0004 64 Janet E. Spittler Keines dieser Werke kann mit Sicherheit datiert werden. Die Betonung einer christlichen Haltung gegenüber einem menschlichen König in den Akten des Johannes in Rom spricht für eine Entstehung des Texts in postkonstantinischer Zeit; dies alles erscheint am besten in einer Zeit denkbar, in der das Christentum ein neues Verhältnis gegenüber Herrschern auszuhandeln suchte. Zudem dürfte der Verfasser des Werks die Kirchengeschichte des Eusebius von Caesarea gekannt und als Quelle verwendet haben. Ein terminus ante quem lässt sich durch die wahrscheinliche Verwendung dieser Schrift durch Ephraim von Antiochien, der in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts schrieb, bestimmen. Damit können wir die Schrift mit einiger Wahrscheinlichkeit zwischen dem Ende des 4. und der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts datieren. Die Datierung der Akten des Timotheus bereitet ähnliche Schwierigkeiten; hier scheinen aber aus verschiedenen Gründen 21 die Jahrzehnte nach dem Konzil von Chalcedon (451 n. Chr.) einen gut denkbaren Rahmen für die Entstehung des Texts zu bilden. So entstanden also ungefähr zur gleichen Zeit die Akten des Johannes durch Prochorus, die Akten des Johannes in Rom und die Akten des Timotheus; zudem zeigt sich ein ähnliches Interesse an Johannes in zwei lateinischen Schriften, der Passio Iohannis des Pseudo-Melito 22 und den Virtutes Iohannis, 23 die beide von der Missionstätigkeit des Johannes und seinem Tode erzählen. Diese beiden Werke sind unabhängig voneinander, aber beide Autoren verwenden die gleiche, heute verlorene lateinische Erzählung als Grundlage ihrer eigenen Werke. 24 Beide Schriften (und genauso, die ihnen zugrundeliegende gemeinsame Quelle) beinhalten Episoden aus den alten Johannesakten, darunter die umfangreiche Erzählung über die Auferweckung der Drusiana, die in der Passio Iohannis allerdings in verkürzter Weise erzählt wird, die Zerstörung des Artemistempels von Ephesus und die Metastastis. Beide überschneiden sich auch in einem interessanten Punkt mit den Akten des Johannes in Rom: Sie bieten eine Szene, in der Johannes auf wunderbare Weise einen Gifttrank PIBA 41/ 42 (2018/ 2019), 60 - 74; Jan N. Bremmer, Timothy, John and Ephesus in the Acts of Timothy, in: Nicklas/ Spittler/ Bremmer (Hg.), The Apostles (s. Anm. 18), 215 - 239. 21 Vgl. Bremmer, Timothy (s. Anm. 20), 217 - 222. 22 Die Passio Iohannis ist in zwei Editionen zugänglich: F. M. Florentinus, Vetustius occidentalis ecclesiae Martyrologium, Lucca 1668, 130 - 137 (Neudruck in J. A. Fabricius, Codex apocryphus Novi Testamenti, Bd. 3, Hamburg 1719, 604 - 623); G. Heine, Bibliotheca anecdotorum, Bd. 1, Leipzig 1848, 109 - 117 (Neudruck PG 5, 1239 - 1250). 23 Eine neue Edition der lateinischen Virtutes Iohannis wird geboten durch Junod/ Kaestli, Acta Iohannis (s. Anm. 3), 2: 795 - 834. 24 Zum literarischen Verhältnis zwischen beiden Werken vgl. Junod/ Kaestli, Acta Iohannis, 764 - 792 sowie Jean-Daniel Kaestli, „ Le rapport entre les deux vies latines de l ’ apôtre Jean, “ Apocrypha 3,1 (1992): 111 - 123. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0004 Apokryphe Apostelerzählungen und ihre Funktion in der Geschichte des Christentums 65 überlebt; aber statt vor dem Kaiser in Rom findet diese Episode in Ephesus vor Aristodimus, dem Priester der Artemis, statt. Und wieder ist es unmöglich, diese Schriften genauer zu datieren; es ist aber klar, dass die Passio Iohannis und die Virtutes Johannis zwischen der Mitte des 5. und dem Ende des 6. Jahrhunderts abgefasst wurden. Ihre gemeinsame Quelle muss natürlich älter sein. Wenn wir nun annehmen, dass diese lateinische Quelle - so überzeugend Junod und Kaestli - selbst die Übersetzung eines griechischen Werks war, das verschiedene im Umlauf befindliche Traditionen um Johannes kompilierte, dann haben wir ein weiteres Werk, das in diese Zeit hineingehört, vielleicht sogar ins 4. Jahrhundert. 25 In dem Moment also, in dem die alten Johannesakten zu verschwinden scheinen, zeigt sich also nicht ein fehlendes Interesse an apokryphen Traditionen um den Lieblingsjünger und Evangelisten, sondern eine Blüte neuer apokrypher Erzählungen über ihn. Diese neuen Erzählungen bewahren und adaptieren nicht nur Episoden aus den alten Johannesakten wie die Metastasis, die Zerstörung des Artemistempels von Ephesus und die Erzählung über Drusiana und andere Quellen, sondern bieten auch neue Episoden, die einen mehr und mehr geschäftigen Zeitstrahl im Leben des Apostels ausfüllen. Was aber führte zurAbfassung dieser neuen Werke in und um das 5. Jahrhundert? Im weitesten Sinne können wir darauf schließen, dass das Interesse an den Taten, aber auch dem Sterben der Apostel, also Informationen, die wir normalerweise nicht in den kanonischen Schriften finden, in dieser Zeit eher wuchs als abnahm. Einige Schriften, wie etwa die Virtutes Iohannis (und vielleicht mehr sogar die verlorene griechische Schrift, die als ihre entscheidende Quelle diente) bezeugen einen kompilatorischen Impuls, d. h. einen Impuls dazu, verschiedene Traditionen über das Leben des Johannes aus unterschiedlichen Quellen zu sammeln und zusammenzustellen, um sie in einer chronologischen Erzählung zusammenzufügen. Wir finden also in den Virtutes Iohannis verschiedene Traditionen, die wir ansonsten nur aus kurzen Erwähnungen in patristischen Quellen kennen (z. B. den Bericht des Tertullian, dass Johannes in Rom in Öl gekocht wurde, oder den Bericht des Clemens über Johannes und den Räuber), zusammengefügt mit schon seit langer Zeit existierenden Erzählungen aus den alten Johannesakten sowie wohl auch anderen Quellen, um ein zusammenhängendes Ganzes zu schaffen. Andere Schriften stehen für eine andere Form der Kompilation; offenbar geht es ihnen nicht darum, alles, was über eine bestimmte Figur bekannt war, zusammenzustellen, sondern darum, eine Zusammenfassung von Informationen über eine große Zahl an Figuren zu bieten. Texte dieser Art sind etwa die so genannten Apostellisten, die in Form von 25 Vgl. Junod/ Kaestli, Acta Iohannis, 2: 790. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0004 66 Janet E. Spittler Listen grundlegende biographische Informationen (inclusive Herkunft, andere Namen, Missionsgebiet und Umstände des Martyriums oder Todes) über die zwölf Apostel und die siebzig Jünger, die in Lk 10,1 erwähnt werden, zusammenstellen. 26 Diese Apostellisten scheinen erstmals am Ende des 4. Jahrhunderts (in griechischer und/ oder syrischer Sprache) entstanden zu sein; doch jahrhundertelang wurden neue Versionen produziert; es gibt sie in allen Sprachen des Christentums des Mittelmeerraums. Wie man aufgrund des Mangels an Informationen im kanonischen Neuen Testament erwarten kann, spielten apokryphe Texte und Traditionen eine wichtige Rolle bei der Zusammenstellung dieser Listen. Der Informationsfluss aber mag auch in die andere Richtung gegangen sein: Es ist möglich, dass Autoren Daten aus diesen Listen aufnahmen und diese zur Grundlage neuer Erzählungen machten. Dies könnte z. B. bei den Akten des Johannes durch Prochorus der Fall gewesen sein. Wie oben angegeben beinhaltet dieses Werk einen Bericht über die Abfassung des vierten Evangeliums durch Johannes während seines Exils auf der Insel Patmos. Aufmerksame Leser: innen mögen sich über diesen Ort wundern, ist Patmos doch - zumindest in heutigen Augen - bekanntlich der Ort, an dem die Offenbarung des Johannes und nicht das Johannesevangelium verfasst wurde. Die Offenbarung selbst behauptet, dass Patmos der Ort sei, an dem die erste Vision des Texts stattgefunden habe (Apk 1,9), und auch eine Vielzahl antiker christlicher Autoren hält Patmos für den Ort, an dem die Apokalypse abgefasst wurde. Dagegen gehen viele frühchristliche Autoren - unter ihnen auch die bereits erwähnten Akten des Timotheus - davon aus, dass das Evangelium in Ephesus entstand. 27 Die ältesten Apostellisten dagegen führen Patmos als den Ort an, an dem Johannes sein Evangelium verfasst hat. Die als “ Anonymus 1 ” bezeichnete Liste überliefert: „ Johannes (predigte) in der Asia; nachdem er um des Gotteswortes willen nach Patmos ins Exil geschickt worden war, schrieb er sein Evangelium. “ 28 Zumindest ein Wissenschaftler hat vorgeschlagen, dass diese überaus knappe Notiz den Verfasser der Akten des Johannes durch Prochorus dazu bewegt habe, seinen Stilus in die Hand zu nehmen und eine vollständige Erzählung von den Taten des Johannes auf dieser 26 Zu Apostellisten vgl. François Dolbeau, Prophètes, apôtres et disciples dans les traditions chrétiennes d ’ Occident. Vies brèves et listes en latin, SHG 92, Brüssel 2012 sowie Christophe Guignard, Greek Lists of the Apostles. New Findings and Open Questions, ZAC 20 n. 3 (2016), 469 - 95. 27 Vgl. z. B. Irenaeus, Adversus haereses 3,1,1 (zitiert bei Eusebius von Caesarea, Historia eccleasiasticae 5,8,4). 28 Vgl. Dolbeau, Prophètes, apôtres et disciples (s. Anm. 26), 184; Christophe Guignard, La tradition grecque de la liste d ’ apôtres ‚ anonyme I ‘ (BHG 153c), avec un appendice sur la liste BHG 152n*, in: Apocrypha 26 (2015), 171 - 209, hier 188. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0004 Apokryphe Apostelerzählungen und ihre Funktion in der Geschichte des Christentums 67 Insel zu verfassen, die ihren Höhepunkt in der Abfassung des Evangeliums finden. 29 Was auch immer zur Entstehung dieser Erzählung geführt haben mag: Sie war überaus einflussreich, ja sie übte einen bemerkenswerten Einfluss auf die kanonische Bibel selbst aus. 4. Die Aufnahme apokrypher Johannestraditionen in biblischen Handschriften In der Spätantike entwickelten sich zudem „ Vorworte “ oder „ Prologe “ von Evangelien. Diese bieten Informationen über das Leben des Evangelisten sowie über Ort und Umstände der Abfassung des Texts. Solche Prologe werden häufig als biblische „ Paratexte “ bezeichnet, da sie sich zusammen mit kanonischen Schriften in biblischen Handschriften finden. 30 Die meisten Vorworte zu Evangelien sind kurz - nicht viel länger als die Abschnitte über die Evangelisten in den eben genannten Apostellisten. Einige allerdings sind recht umfangreich und enthalten Traditionen, die zum großen Teil aus apokryphen Schriften übernommen sind. Die Denkschrift über den Heiligen Johannes den Theologen z. B. bietet eine ausführliche Beschreibung der Abfassung des vierten Evangeliums durch Johannes; diese ist wiederum klar abhängig von den Akten des Johannes durch Prochorus. Die Denkschrift beginnt mit einem kurzen Bericht darüber, wie Johannes die Götterbilder in der Asia umstürzen ließ und dort das „ Wort aussäte “ ; es folgt eine ebenso kurze Notiz über seine Verbannung nach Patmos, danach die Abschrift eines Briefs, den angeblich Dionysios Areopagita an Johannes in Patmos geschickt habe, um ihm seine Befreiung und Rückkehr nach Asien anzukündigen. Es folgt ein kurzer Bericht, dass, als Trajan Kaiser geworden war, Johannes freigelassen wurde, aber die Bewohner von Patmos ihn nicht gehen lassen wollten. Danach finden wir die folgende Passage: Obwohl er das Verlangen fühlt aufzubrechen, bitten ihn die Bewohner von Patmos nicht zu gehen. Und da sie ihn nicht überreden können, bitten sie ihn stattdessen, seine Schriften behalten zu dürfen. Und er, nachdem er zugestimmt hat, befiehlt er sich 29 Vgl. Spittler, The Acts of John by Prochorus (s. Anm. 16). 30 Das Studium biblischer Paratexte ist ein wachsendes Feld. Vgl. z. B. Patrick Andrist, Toward a Definition of Paratexts and Paratextuality. The Case of Ancient Greek Manuscripts, in: Liv Ingeborg Lied/ Marilena Maniaci (Hg.), Bible as Notepad. Tracing Annotations and Annotation Practices in Late Antique and Medieval Biblical Manuscripts, Berlin 2018, 130 - 149 sowie Garrick V. Allen/ Anthony P. Royle, Paratexts Seeking Understanding. Manuscripts and Aesthetic Cognitivism, in: Religions 11/ 10 (2020), 1 - 25. Vgl. zudem den Beitrag von Garrick V. Allen und Kelsie Rodenbiker im vorliegenden Band. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0004 68 Janet E. Spittler selbst zu fasten - und das Gleiche jedem anderen wie auch die Absonderung von allem Bösen. Danach nimmt er Prochorus mit sich und erreicht den Bergrücken, damit der erstere [also Johannes] auslege, was von Gott kommt, und der zweite [also Prochorus], was vom ersten komme. 31 Es folgt eine Erzählung über die Abfassung des Evangeliums, die deutlich von der gleichen Episode in den Akten des Johannes durch Prochorus beeinflusst ist. In den Abschnitten 2 und 3 habe ich betont, dass die so genannten „ apokryphen “ Schriften über Johannes und die Traditionen, die in ihnen aufscheinen, in keiner Weise „ verborgen “ waren. Im Gegenteil: Während die alten Johannesakten tatsächlich verurteilt wurden und ein Großteil ihres Inhalts beinahe verloren gegangen wäre, blieb eine große Bandbreite apokrypher Traditionen über Johannes, von denen viele ihren Ursprung in den alten Johannesakten fanden, im Umlauf und weit bekannt. Die genannten Vorworte zum vierten Evangelium aber zwingen uns zu einem noch überraschenderen Schluss: Da diese Prologe dem Evangelium in biblischen Handschriften vorangestellt sind, wurden die apokryphen Traditionen im wahrsten Sinne des Wortes in den Kanon - oder zumindest in die Bibel - aufgenommen. Ein Beispiel dafür zeigt sich in der Handschrift 727 (13. Jh.) in der Goodspeed Manuscript Collection der Universität Chicago (auf fol. 192v - 193v): Abb. 1: Ms 727 - 401 Fol. 192v(c), Chicago, Goodspeed Manuscript Collection, Hanna Holborn Gray Special Collections Research Center, University of Chicago Library, 13. Jh. n. Chr. Und mehr noch: Eine der häufigsten bildlichen Darstellungen des Johannes zeigt den Evangelisten bei der Abfassung seines Evangeliums in der Weise, wie dies in den Akten des Johannes durch Prochorus beschrieben ist, d. h. mit dem Apostel, wie er auf einem felsigen Berg auf der Insel Patmos steht und, häufig von Blitzen umgeben, dem dabeisitzenden Prochorus das Evangelium diktiert. 31 Zitat aus der Edition und Übersetzung von Yuko Taniguchi, François Bovon, and Athanasios Antonopoulos, The Memorial of Saint John the Theologian (BHG 919fb), in: François Bovon/ Ann Graham Brock/ Christopher Matthews (Hg.), The Apocryphal Acts of the Apostles, Cambridge 1999, 333 - 353. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0004 Apokryphe Apostelerzählungen und ihre Funktion in der Geschichte des Christentums 69 Dieses Bild des Johannes ist überaus häufig und begegnet selbst in biblischen Handschriften ohne Vorwort zum Evangelium. Viele biblische Handschriften beinhalten also zwar keinen Text der apokryphen Episode, aber, vermittelt durch ein anderes Medium, die Tradition. 32 Abb. 2: Grec 71 Fol. 149v, Paris, Département des manuscrits, Bibliothèque nationale de France, 12. Jh. n. Chr. 5. Drusiana in Kunst, Literatur und in biblischen Handschriften Wie oben erwähnt spielt Drusiana, eine reiche Frau, die zum Christentum konvertierte, eine wichtige Rolle in einem umfangreichen Abschnitt der alten Johannesakten (Kap. 63 - 86). Dieses Material ist in einer Handvoll von Handschriften der Akten des Johannes durch Prochorus in einer langen Episode als Interpolation überliefert. Erzählt wird die zweite Hälfte der Geschichte Drusianas. Als die Episode beginnt, ist Drusiana bereits eine Christin und führt mit ihrem 32 Zur Definition parabiblischer Traditionen siehe den Beitrag von Tobias Nicklas im vorliegenden Band. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0004 70 Janet E. Spittler Mann Andronicus, der ebenfalls ein Christ ist, eine keusche Ehe. Von den sexuellen Annäherungsversuchen eines gewissen Callimachus wird sie bis zur Verzweiflung geplagt; sie ist so sehr davon belastet, das Objekt der sündigen Begierden des Callimachus zu sein, dass sie schließlich stirbt. Callimachus aber, rasend vor Leidenschaft, lässt sich nicht einmal von ihrem Tod aufhalten. Zusammen mit einem Sklaven plant er, Zugang zum Grab zu erhalten. Nur die wunderbare Erscheinung einer riesigen Schlange, die ihn zu Tode erschreckt, kann ihn aufhalten, sich an ihrer Leiche zu vergreifen. Als Johannes herausfindet, was geschehen ist, erweckt er Drusiana und Callimachus wieder zum Leben, was dazu führt, dass auch Letzterer den Christusglauben annimmt. Wir wissen, dass dies nur die zweite Hälfte der Drusiana-Erzählung ist, weil der Text auf Drusianas Konversion und den dabei entstehenden Konflikt mit ihrem zu diesem Zeitpunkt noch nicht christlichen Ehemann Andronicus verweist. Nichts davon aber ist im überlieferten Material erhalten; stattdessen begegnen wir in einer anderen erhaltenen Szene der alten Johannesakten dem noch nicht christlichen Andronicus als Schurken (Kap. 31) Daraus folgt, dass es in den alten Johannesakten eine Erzählung gegeben haben muss, die von Drusianas Bekehrung handelte, vom Konflikt mit Andronicus und auch dessen Konversion. Diese Erzählung aber ist heute verloren. Trotzdem ist es möglich, einen groben Umriss der gesamten Drusiana-Erzählung aus dem vorliegenden Material zusammenzustückeln. In der griechischen Tradition verschwindet die Drusiana-Erzählung weitgehend mit den alten Johannesakten; sie spielt keine Rolle in der Metastasis und sie wird weder in den griechischen hagiographischen Werken z. B. des Niketas von Paphlagonien oder des Symeon Metaphrastes noch in den Vorworten zu den Evangelien erwähnt. Dafür taucht Drusiana wieder in der lateinischen Tradition auf: In Abschnitt IV der bereits erwähnten Virtutes Iohannis aus dem 5. oder 6. Jahrhundert wird die gesamte zweite Hälfte der Drusiana-Erzählung, also der Episode aus Kap. 63 - 86 der alten Johannesakten, präsentiert. Dabei wird sie in den Rahmen einer neuen zeitlichen Abfolge der Ereignisse eingepasst. Sie folgt jetzt unmittelbar auf die Rückkehr des Johannes aus dem Exil in Patmos und vor seiner Auseinandersetzung mit dem Philosophen Kraton - keine dieser Episoden begegnet in den erhaltenen Teilen der alten Johannesakten. Die Drusiana- Erzählung selbst jedoch ist im Grunde eine lateinische Übersetzung, die dem Griechischen recht genau folgt. 33 Die Unterschiede zwischen den Virtutes Iohannis IV und den Kapiteln 63 - 86 der Johannesakten liegen in erster Linie bei den Reden, die, wie zu erwarten, den Großteil des theologischen Inhalts der 33 Das Lateinische folgt dem Griechischen hier so präzise, dass die lateinische Übersetzung sich als hilfreich für die Rekonstruktion der originalen griechischen Textform erweist. Vgl. Junod/ Kaestli, Acta Iohannis (s. Anm. 3), 2: 790 - 792. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0004 Apokryphe Apostelerzählungen und ihre Funktion in der Geschichte des Christentums 71 Schrift vermitteln. Die Virtutes Iohannis bieten damit wertvolle Einsichten, inwiefern theologische Ansichten sich zum Zeitpunkt ihrer Abfassung gegenüber denen zur Zeit der alten Johannesakten verändert haben. Dies zeigt sich einfach daran, was der spätere Text sagt, was er von den alten Johannesakten auslässt und wo er sie abändert. Natürlich müssen wir dabei methodische Vorsicht walten lassen, wissen wir doch nicht, wie genau die Vorlage des Autors/ Redaktors/ Übersetzers der Virtutes ausgesehen haben mag, als er sein Werk ausführte. 34 Drusiana begegnet auch in der bereits erwähnten Passio Iohannis; hier jedoch ist ihre Erzählung deutlich verändert und abgekürzt. Wie in den Virtutes Iohannis ist die Drusiana-Erzählung hier direkt nach der Erzählung von der Rückkehr des Johannes aus dem Exil in Patmos nach Ephesus eingeordnet; hier aber enden schon die Gemeinsamkeiten. Die Erzählung ist dramatisch gekürzt und ihr Inhalt deutlich redigiert. Bei der Rückkehr des Johannes ist Drusiana soeben verstorben und die Gemeinde von Ephesus trauert um sie. Weder von Callimachus noch von Andronicus ist hier die Rede. Drusiana stirbt auch hier aus Trauer, ihr Tod wird aber in keiner Weise mehr mit irgendeiner Form sexueller Belästigung in Zusammenhang gebracht. Stattdessen berichtet der Text kurz, dass Drusiana wegen der Abwesenheit des Johannes im Exil trauert und schließlich stirbt: „ Drusiana, die ihm immer gefolgt war und die von der Sehnsucht nach seiner Ankunft erschöpft war, wurde (auf einer Bahre) hinausgetragen. “ (Drusiana, quae semper sequuta eum fuerat, et adventus eius desiderio fuerat fatigata, efferebatur). 35 Dies wiederum bekümmert die Gemeinde: Sie tragen ihren Leichnam genau in dem Moment zum Begräbnis, als Johannes wieder zurückkehrt - und beklagen, dass sie seine Ankunft so knapp verpasst hat. Sie erzählen, wie sie immer wieder gesagt habe „ Ich würde gerne den Apostel des Herrn mit meinen eigenen Augen sehen, bevor ich sterbe “ (videam Apostolum Domini oculis meis antequam moriar), und bedauern, dass „ du gekommen bist, und sie dich nicht sehen konnte “ (tu venisti, et te videre non 34 Interessanterweise wurde die Erzählung vom Tode der Drusiana und ihrerAuferweckung im 10. Jahrhundert durch die Stiftsdame und Dramatikerin Roswitha von Gandersheim selbst als Bühnenstück inszeniert. Roswitha, die eine weite Palette von Genres bediente, verfasste eine Reihe von Dramen, in denen sie, wie sie in ihrem eigenen Vorwort schreibt, anstrebt, die Keuschheit christlicher Jungfrauen zu verherrlichen. Unter diesen Werken ist ein Bühnenspiel mit dem Titel Resuscitatio Drusianae, das sich eng an die Erzählung anlehnt, die wir in den alten Johannesakten und den Virtutes Iohannis haben. Für eine interessante Studie zu Roswithas Werk vgl. Barbara K. Gold, Hrotswitha Writes Herself. Clamor Validus Gandeshemensis, in: Barbara K. Gold/ Paul Allen Miller/ Charles Platter (Hg.), Sex and Gender in Medieval and Renaissance Texts. The Latin Tradition, Albany 1997, 41 - 70. 35 Ich zitiere hier aus dem Text von Fabricius, Codex Apocryphus (s. Anm. 22), 607. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0004 72 Janet E. Spittler potuit). Johannes erweckt sie natürlich sofort von den Toten. Diese Episode wiederum wird in nahezu der gleichen Weise durch Jakobus de Voragine in der Legenda Aurea wiederholt. Abb. 3: Giotto di Bondone, Die Auferweckung der Drusiana, 1320. Diese Fassung der Drusiana-Erzählung, derzufolge sie direkt vor der Rückkehr des Johannes nach Ephesus stirbt und von ihm auferweckt wird, ist diejenige, die im Westen auch am prominentesten von Künstlern thematisiert wurde. Die entscheidende Szene mit Johannes und Drusiana, die, umgeben von einer Menge von Christen, von der Bahre auferweckt wird, wird häufig vor dem Hintergrund einer Stadtmauer dargestellt; sie war besonders in Italien populär, wo sie von Malern wie Giotto (in der Peruzzi Kapelle), Filippino Lippi (in der Strozzi Kapelle), Donatello, Giovanni di Paolo, und anderen gemalt wurde. Die Drusiana-Erzählung wird im Mittelalter z. B. durch Aldhelm (ca. 639 - 709/ 710 n. Chr.), der in seinem lateinischen Prosawerk De virginitate wahrscheinlich sowohl von den Virtutes Iohannis und der Passio abhängig ist, 36 sowie durch 36 Vgl. die englische Übersetzung von Michael Lapidge/ Michael Herren, Aldhelm, The Prose Works, Ipswich/ Cambridge 1979, 59 - 135, hier 80. Bei der ungenannten „ Matrone “ , die „ das endgültige Schicksal zu einer doppelten Todesurne “ verurteilte, handelt es sich klar um Drusiana. In einer Fußnote zu dieser Passage (S. 194 n. 11), wundern sich Lapidge und Herren, warum die Urne als „ doppelt “ (gemina) bezeichnet ist; ich denke, dass Aldhelm sich hier auf die mehrfachen Tode und Auferweckungen Drusianas bezieht, die in den alten Johannesakten und den Virtutes Iohannis beschrieben sind. Zur Verwendung der Virtutes Iohannis durch Aldhelm vgl. Aideen M. O ’ Leary, Apostolic Passiones in Early Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0004 Apokryphe Apostelerzählungen und ihre Funktion in der Geschichte des Christentums 73 Ælfric (955 - 1020) aufgenommen und weiter überliefert. Das altenglische Werk des Letzteren zum Leben des Johannes, der Assumptio Sancti Iohannis Apostoli, scheint vor allem auf der Passio zu beruhen. 37 Eine weitere Adaption dieser Episode findet sich im anglo-normannischen Leben des Johannes, in dem wir eine neue Entwicklung erkennen: Hier ist die Taufe der Drusiana der Grund für die Verhaftung des Johannes in Ephesus. 38 Ähnlich wie die Episode, die die Abfassung des Evangeliums auf Patmos mit Prochorus, der dem Diktat des Apostels folgt, beschreibt, tritt die Szene von der Auferweckung Drusianas mit Hilfe von Bildern in die kanonische, biblische Tradition ein: Eine Vielzahl von „ Bilderbüchern “ zur Offenbarung des Johannes aus dem England des 13. Jahrhunderts stellen Szenen aus dem Leben des Johannes dar; dabei interessieren sie sich besonders für die Drusiana-Erzählung. In den Handschriften Bodleian Anglo-Saxon England, in: Kathryn Powell/ Donald Scragg (Hg.), Apocryphal Texts and Traditions in Anglo-Saxon England, Cambridge 2003, 103 - 19, hier 111. 37 Zu Ælfrics Verwendung der Passio Iohannis vgl. Brandon Hawk, Preaching Apocrypha in Anglo-Saxon England, Toronto/ Buffalo/ London 2018. 38 Vgl. Ian Short, The Translation of the Life of St John and the Apocalypse, und The Life of St John the Evangelist from Paris, BNF fr. 19525, in: The Trinity Apocalypse (CD-ROM), hg. David McKitterick (London: The British Library, 2005), 16 und 88. Abb. 4: MS. Auct. D.4.17 Fol. 1r, Oxford, Bodleian Library, 13. Jh. n. Chr. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0004 74 Janet E. Spittler Library Auct. D.4.17 und Pierpont Morgan Library M.524 zum Beispiel ist die Offenbarung mit Hilfe einer Reihe von Illustrationen dargestellt, die eingebettet sind in eine breitere Erzählung über das Wirken des Johannes; dabei dient die Drusiana-Erzählung als so etwas wie die „ Buchstützen “ für die Vision des Johannes: Die Taufe der Drusiana gehört zu den ersten Ereignissen, die im Leben des Johannes dargestellt werden; sie wird als der unmittelbare Grund für seine Festnahme, Verurteilung und Verbannung nach Patmos präsentiert; darauf folgt die illustrierte Version der Johannesoffenbarung; es schließen sich weitere Bilder vom Leben des Johannes an, die mit Illustrationen seiner Rückkehr nach Ephesus und der Auferweckung Drusianas einsetzen. Erneut also findet hier eine apokryphe Passage, die einst abgefasst und im Umlauf war als zentrale Episode der alten Johannesakten, ihren Weg in biblische Handschriften; in diesem Fall ist sie zusammen mit der kanonischen Johannesapokalypse überliefert. 6. Fazit Die obige Darstellung der durchgehenden Überlieferung und der großen Popularität apokrypher Traditionen um den Apostel Johannes könnte noch einmal deutlich ausgeweitet werden, würden wir einen genauen Blick auch in Abb. 5: MS. Auct. D.4.17 Fol. 22v, Oxford, Bodleian Library, 13. Jh. n. Chr. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0004 Apokryphe Apostelerzählungen und ihre Funktion in der Geschichte des Christentums 75 die koptische, die armenische oder die altkirchenslawische Tradition u. a. werfen. Doch schon jetzt ist klar: Diese apokryphe Apostelerzählung war weder verloren, noch geheim, noch verborgen. Im Gegenteil: Sie spielte eine bedeutende Rolle in der Geschichte christlicher Literatur. Es mag so aussehen, dass die Tatsache, dass eine Schrift wie die alten Johannesakten immer wieder neu redigiert und z. T. dramatisch verändert wurde, ein Hindernis ist, welches man durch die mühevolle Rekonstruktion der frühesten erreichbaren Textform überwinden muss. Es ist sicher richtig, dass die überaus komplexen Texttraditionen und Überlieferungslinien dieser Schrift ihr Studium überaus schwierig machen. Ich würde allerdings sagen, dass die komplexen Nachleben - oder „ Leben “ - solcher Texte in vielfältigen Fassungen, Übersetzungen und Transformationen ein spannendes, kein störendes Charakteristikum sind. Der Wechsel ist es, der uns Einblick gibt in die Interessen, Belange und Praktiken jeder aufeinander folgenden Generation oder Gemeinschaft von Christ: innen, die den Text genug wertschätzte, um ihn erneut zu vervielfältigen und - vielleicht in veränderter Form - weiterzugeben. Dies aber steht in deutlichem Kontrast zu derjenigen frühchristlichen Literatur, die durch ihre Aufnahme in den Kanon mehr oder minder erstarrte. Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Ms 727 - 401 Fol. 192v(c), Chicago, Goodspeed Manuscript Collection, Hanna Holborn Gray Special Collections Research Center, University of Chicago Library, 13. Jahrhundert n. Chr. https: / / goodspeed.lib.uchicago.edu/ ms/ index.php? start=400&doc=0727&view=thumbs&obj =001 (letzer Zugriff am 10.07.2023). Abb. 2: Grec 71 Fol. 149v, Paris, Département des manuscrits, Bibliothèque nationale de France, 12. Jahrhundert n. Chr. https: / / gallica.bnf.fr/ ark: / 12148/ btv1b10025551d? rk=21459; 2 (letzer Zugriff am 10.07.2023). Abb. 3: Giotto di Bondone, Die Auferweckung der Drusiana, 1320. https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: Giotto_di_Bondone_-_Scenes_ from_the_Life_of_St_John_the_Evangelist_-_2._Raising_of_Drusiana_-_WGA09296.jpg (letzer Zugriff am 10.07.2023). Abb. 4: MS. Auct. D.4.17 Fol. 1r, Oxford, Bodleian Library, 13. Jahrhundert n. Chr. https: / / digital.bodleian.ox.ac.uk/ ; creative Commons licence CC-BY-NC 4.0 (letzer Zugriff am 10.07.2023). Abb. 5: MS. Auct. D.4.17 Fol. 22v, Oxford, Bodleian Library, 13. Jahrhundert n. Chr. https: / / digital.bodleian.ox.ac.uk/ ; creative Commons licence CC-BY-NC 4.0 (letzer Zugriff am 10.07.2023). Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0004 76 Janet E. Spittler Janet Spittler studierte Neues Testament und Frühchristliche Literatur an der University of Chicago. Sie ist Associate Professor für Religious Studies an der University of Virginia. Der Schwerpunkt ihrer Forschung und Veröffentlichungen liegt auf der apokryphen christlichen Literatur. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0004 Apokryphe Apostelerzählungen und ihre Funktion in der Geschichte des Christentums 77 Kontroverse Die Datierung des muratorischen Fragments Einleitung zur Kontroverse Tobias Nicklas Unsere Re-Konstruktionen der Kanongeschichte haben viel damit zu tun, wie wir bestimmte Quellen einordnen und bewerten. Zu den am meisten umstrittenen Zeugnissen gehört das so genannte „ Muratorische Fragment “ , das immer wieder auch als „ Canon Muratori “ bezeichnet wird. Wenn wir es früh datieren und gleichzeitig in die Nähe der ansonsten erst aus dem 4. Jahrhundert bekannten Kanonlisten rücken, dann können wir schon im 2. Jahrhundert wenigstens für die Stadt Rom Konturen eines entstehenden neutestamentlichen Kanons zeichnen. Eine solche historische wie auch formale Einordnung des Texts ist aber keineswegs unumstritten, wie uns die folgende Kontroverse zeigt. Honig gemischt mit Galle Neue Fragen zu Form, Datierung und problematischen Passagen im Muratorischen Fragment Clare K. Rothschild und Jeremy C. Thompson 1. Einleitung Das Muratorische Fragment (MF) ist ein Schlüsseldokument für die Entstehung des neutestamentlichen Kanons und hat - wegen seiner anonymen Abfassung, seiner umstrittenen Datierung, seines unübersichtlichen Inhalts u. a. - wie ein Blitzableiter die Aufmerksamkeit von Bibelwissenschaftler: innen auf sich gezogen. 1 Aufgrund der Erwähnung seines Namens (in Z. 76) zusammen mit der Wendung nuperrime temporibus nostris ( „ ganz vor Kurzem in unseren Tagen “ , MF 74) wurde es traditionell in das Pontifikat von Pius I. (ca. 140 - 160 n. Chr.) eingeordnet, obwohl einiges für eine Entstehung im 4. Jahrhundert spricht. 2 Ein anonymer Kommentar des 19. Jahrhunderts charakterisierte den Text als „ einen Stern, der in der Dunkelheit aufgeht “ ; Clare Rothschild dagegen betont in ihrer neuen Monographie die Einzigartigkeit des Fragments und fragt, wie sich eine Datierung ins 2. Jahrhundert mit mehrfachen Deutungsproblemen verbinden lässt. Inzwischen erstellten die Autoren des vorliegenden Beitrags eine neue Studie, in der sie einen bisher unbekannten fünften Textzeugen des so genannten Benediktinischen Prologs (BP) vorstellten, eines Texts, der 24 Zeilen gemeinsam mit dem MF hat. Bis zu dieser Entdeckung war der BP nur durch vier Handschriften des 11. und 12. Jahrhunderts, die in der Benediktinerabtei von 1 Stellen im Muratorischen Fragment werden angegeben mit dieserAbkürzung sowie einer folgenden Zeilenangabe. So auch Clare K. Rothschild, The Muratorian Fragment. Text, Translation, Commentary (STAC 132), Tübingen 2022, 33 f. 2 Vgl. Rothschild, Muratorian Fragment (s. Anm. 1), 284 - 299; zu diesem Ausdruck im Besonderen ibid., 299, 300 - 302, 321; zur Übersetzungsmöglichkeit „ Umstände “ ( “ circumstances, ” ) d. h., Rome: ibid., 299; cf. MF 80. Zur Datierung ins 4. Jh. siehe v. a. Albert C. Sundberg, Jr., Canon Muratori. A Fourth-Century List, in: HTR 66 (1973), 1 - 41, dem Geoffrey Mark Hahneman, The Muratorian Fragment and the Development of the Canon, Oxford 1992 folgt. Montecassino aufbewahrt werden, bekannt. 3 Der vorliegende kurze Beitrag möchte einige der Fortschritte zusammenzufassen, die sich aus den beiden genannten Untersuchungen ergeben; dabei sollen beispielhaft entscheidende Probleme tiefer untersucht werden. Auf 85 Zeilen bietet das Muratorische Fragment eine Reihe von Büchern der Schrift, welche mehr oder minder seit ihrer Publikation durch Ludovico Muratori (1672 - 1750) als Vorläufer der Kanonlisten gedeutet wurde, einer Form von Texten, die ansonsten erst im frühen 4. Jahrhundert belegt ist. 4 Wegen des Verlusts des vorhergegangenen Folios einschließlich seines ursprünglichen Anfangs, setzt das MF in der Mitte eines Satzes mit dem Abschluss einer Aussage ein, die vermutlich den Evangelisten Markus qualifiziert. Auf Zeile 2 wird explizit das Lukasevangelium genannt - und so geht es mit anderen kanonischen und außerkanonischen Büchern weiter: Johannesevangelium, Apostelgeschichte, paulinische Briefe an Gemeinden (1 - 2 Kor, Eph, Phil, Kol, Gal, 1 - 2 Thess, Röm), paulinische Briefe an Einzelpersonen (Phlm, Tit, 1 - 2 Tim), der Brief an die Laodizener und der an die Alexandriner (beide als unecht bezeichnet), der Judasbrief, zwei [! ] Johannesbriefe, die Weisheit Salomos, die Johannesapokalypse, die Apokalypse des Petrus, der Hirt des Hermas und schließlich vom Kanon ausgeschlossene häretische Schriften. Während der Text im 19. Jahrhundert als scheinbar unerschütterlicher Beweis für die frühe Stabilisierung der Bücher des Neuen Testaments galt, erwies sich die Interpretation des Fragments mehr und mehr als höchst problematisch; seine Bedeutung ist heute stark umstritten. Die Publikation des BP im Jahre 1897, des ersten unbestreitbaren äußeren Zeugen des MF, stellte dem MF eine vollständige Kollation der vier bekannten Zeugen dieses Texts gegenüber. 5 Besonders Neutestamentler interessierten sich wegen seiner wörtlichen Überschneidung mit 24 Zeilen des MF für diesen Text. Vier Einheiten - I, III, IV, und V - bieten Parallelen zum MF; II und VI jedoch nicht. 3 Clare K. Rothschild/ Jeremy C. Thompson, The Benedictine Prologue. A Contribution to the Early History of the Latin Prologues to the Pauline Epistles (im Druck). Die Handschriftensiglen und Signaturen sind die Folgenden: C Montecassino, Archivio dell ’ Abbazia, 349, S. 88b - 90a; C 1 Montecassino, Archivio dell ’ Abbazia, 552, S. 56; C 2 Montecassino, Archivio dell ’ Abbazia, 235, S. 3; C 3 Montecassino, Archivio dell ’ Abbazia, 535, S. 287 - 288; V Rome, Biblioteca Apostolica Vaticana, Vat. lat. 36, fol. 442r - v. Die erste Kollation aller vier Codices aus Montecassino erschien in Miscellanea Cassinese 1.2, Cassino, 1897, 1 - 5. Vgl. auch Maurus Inguanez (Hg.), Codicum casinensium manuscriptorum catalogus cura e studio monachorum S. Benedicti archicoenobii Montis Casini, 3 Bde., Rome 1915 - 1941, 2.2: 191 - 194. 4 L. A. Muratori, Antiquitates Italicae Medii Aevi, Milan 1740, 3: 853 - 856. 5 Gottfried Kühn, Das Muratorische Fragment, Zürich 1892, Neudruck in Miscellanea Cassinese (s. Anm. 3), 2: 1 - 5. Der Text des BP ist nachgedruckt auch in Rothschild, Muratorian Fragment (s. Anm. 1), 353 - 355 ( „ Appendix C “ ). Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0006 82 Clare K. Rothschild / Jeremy C. Thompson I BP 1 - 9 = MF 42 - 50 primum omnium Corinthiis … scribat ordine tali II BP 9 - 28 ohne Par. nam cum Romanis ita agit … persecutiones prom [p]tissime patiantur. III BP 28 - 32 = MF 63 - 68 fertur etiam ad Laodicenses … misceri non congruit IV BP 33 - 37 = MF 81 - 85 Arsinoi autem seu Valentini … Asiano Cataphrygum constitutorem V BP 37 - 40 = MF 54 - 57 verum Corinthiis et Thessalonicensibus … diffusa esse dinoscitur VI BP 40 - 47 ohne Par. Triplex igitur Hebraeorum esse … hoc est, de tribu Beniamin Bereits auf den ersten Blick zeigt sich, dass der BP die Ordnung des MF, wie es im Codex Ambr. I 101 sup. überliefert ist, nicht übernimmt; stattdessen scheint er Passagen aus dem MF als bewegliche Elemente, die er für eine neue Argumentation zusammenstellt, heranzuziehen. 2. Die Gattung des Fragments: Das Fragment im Kontext biblischer Prologe Obwohl viele das MF als Kanonliste betrachten, berücksichtigt diese Einordnung einige der Hauptmerkmale des Texts nicht. So sehr der Text sich für kanonische Bücher interessiert, so sehr bietet er auch doxographische Informationen über die Verfasser dieser Bücher - ein Element, das üblicherweise in solchen Listen fehlt. 6 Dazu bietet das MF Elemente biographischer Erzählung zusammen mit Themen altkirchlicher Polemik wie Einheit, Allgegenwärtigkeit und Katholizität und umfasst eine breite Vielfalt von „ angenommenen “ und „ nicht angenommenen “ Büchern. Dabei geht es so weit, auch häretische Werke anzuführen, ein für Kanonlisten untypisches Element. 7 Und schließlich, will man seine traditionelle Einordnung im Pontifikat von Pius I. übernehmen, macht die Tatsache, dass solche Kanonlisten ihre Blüte in der Mitte des 4. Jahrhunderts erlebten, diesen Text im 2. Jahrhundert zu einer Anomalie. 8 6 Für eine breitere Auseinandersetzung dazu vgl. Rothschild, Muratorian Fragment (s. Anm. 1), v. a. 5 - 7, 22 f. 7 Für einen allgemeinen Überblick in die Geschichte des neutestamentlichen Kanons vgl. Bruce Metzger, The Canon of the New Testament. Its Origin, Development, and Significance, Oxford 1987. 8 Edmon L. Gallagher allerdings vertritt die Ansicht, dass auch Origenes eine Kanonliste abgefasst habe. Vgl. hierzu ders., Origen via Rufinus on the New Testament Canon, in: NTS 62 (2016), 461 - 476. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0006 Honig gemischt mit Galle 83 Das MF macht den Eindruck, aus einer Reihe kurzer, unzusammenhängender Aussagen zu bestehen, als sei es eine Kompilation ansonsten verlorener Quellen. 9 Diesen Effekt teilt es mit anderen biblischen Prologen (z. B. S 651/ 659 Prologe zu den paulinischen Briefen), in denen sich manchmal auch seine Rede davon, dass eine Schrift „ angenommen “ ist (non habetur, S 651), spiegelt. 10 Neuere Untersuchungen zum BP machen deutlich, dass dieser nicht so sehr ein Zeuge ist, der das MF als kohärente Tradition bestätigt, sondern ein eigenständiger Prolog, der Material aus anderen Prologen aufgreift und dabei auch das MF als Quelle nutzt. Wie auch immer die Gattung des MF zu bestimmen ist, der Verfasser des BP verwendet es, um einen eigenen Prolog zu den paulinischen Briefen zu schreiben; er selbst mag das MF als einen solchen Prolog angesehen haben. In jedem Falle hielt er die Einzelelemente des MF für geeignet, um sie mit anderen Prologen zu verbinden und zu verflechten. In der Zeit nach etwa 390 n. Chr., als die meisten maßgeblichen paulinischen Prologe entstehen, antworten sie in prägnanter Weise auf Probleme ihrer Zeit. 11 Als komprimiertes Mittel zur Auseinandersetzung mit Kontroversen arbeiten sie weniger mit Argumenten als mit Behauptungen. Der Prolog Primum quaeritur (S 670) z. B. erläutert nicht, dass Markion den Römerbrief an einer anderen Stelle als üblich in seinen Kanon einordnete, sondern stellt fest, dass „ einige “ den Römerbrief an erster Stelle (des Corpus Paulinum) ablehnten. Der Hebräerbrief erfährt eine vergleichbare Behandlung. Die Verfasser von Prologen setzen sich häufig mit dem Fehlen eines Titels dieser Schrift und ihrer Beredsamkeit im Vergleich mit den paulinischen Briefen auseinander (z. B. S 670). Zusätzlich also zur besseren formalen Übereinstimmung mag also auch die Art und Weise, wie sich Prologe als Reaktion auf Konflikte zeigen, einen besseren methodologischen Ausgangspunkt bieten, um das MF angemessen zu kontextualisieren und einige seiner Themen wie kanonische Einheit, problematische Passagen wie den Ausschluss der Briefe an die Laodizener und an die Alexandriner als Fälschung (MF 64 - 65) oder die ungewöhnliche Positionierung des Römerbriefs an siebter Stelle in der Sammlung der paulinischen Briefe (MF 53 - 54) deuten zu können. Tatsächlich mag die große Besonderheit des MF, die so weit geht, dass man den Text als Einzel- oder Spezialfall, als Idiosynkrasie deuten könnte, helfen, um 9 Brooke Foss Westcott, A General Survey of History of the Canon of the New Testament during the First Four Centuries, London 7 1896, 223. 10 Der Buchstabe „ S “ bei S 651 und S 659 bezieht sich jeweils auf das Standardregister lateinischer Prologe zu biblischen Paratexten und Kommentaren, vorgelegt von Friedrich Stegmüller, Repertorium biblicum medii aevi, 11 Bde., Madrid 1940 - 1980, hier Bd. 1, http: / / www.repbib.uni-trier.de (letzter Zugriff am 03.06.2023). 11 Timothy W. Dooley, Marcionite Influences in the Primum Quaeritur Preface to Vulgate Paul, in: StPatr XCIX (2018), 139 - 156. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0006 84 Clare K. Rothschild / Jeremy C. Thompson zu verstehen, warum es, auf ein einziges Manuskript beschränkt, eine nur so begrenzte Verbreitung erfuhr. Anders als viele Prologe, die, wie wir gesehen haben, eher verallgemeinernd Gegnerpositionen ansprechen, erwähnt das MF Markion namentlich in Verbindung mit den Briefen an die Laodizener und die Alexandriner und spricht von ihm zusammen mit anderen ein zweites Mal im Katalog der Häresien (MF 81 - 85). Beide Passagen werden im BP übernommen. Wäre es möglich, dass gerade diese Art, spezifisch auf Gegner einzugehen, ein Grund für die geringe Verbreitung beider Texte ist? Insofern Prologe, die in den Quellen häufig ohne Zuweisung an Verfasser begegnen und die von Anfang an anonym kursiert sein mögen - als Einleitungen zu biblischen Büchern dienten, waren sie nicht der Ort, um konkrete Namen zu nennen. Warum sollte man Alarm schlagen, wenn gewöhnliche Christinnen und Christen mit den umstrittenen Schulhäuptern und ihren Lehrern keineswegs vertraut waren? 12 Kommentare bildeten einen angemessenen Ort, um Häretiker und ihre Häresien zu diskutieren, denn diese Werke wurden von ausgebildeten Theologen studiert (und kopiert). War die Aktivierung der Gattung der Prologe durch Markion und Pelagius, den angeblichen Verfassern einiger der am weitesten verbreiteten Prologe, eine Strategie, um anonym eine weite Verbreitung ihrer Botschaft zu ermöglichen? Die so genannten Markionitischen Prologe - die Zuweisung ist umstritten - waren die ersten, die Hintergründe zu den Empfängern der paulinischen Briefe, dem Ort ihrer Adressaten, zum Aufenthaltsort des Paulus sowie Anlass und Grund ihrer Abfassung boten. Ihre massive Überlieferung durch die Prologtradition zeigt, wie sehr selbst die Zuschreibung zu unorthodoxen Autoren, die nicht spezifiziert wurde, ausgeblendet oder vergessen werden konnte. Eine vollständige Geschichte der Prologe des Pelagius oder pelagianischer Theologen dürfte Ähnliches ergeben. Von weiterem Interesse für das Verständnis der Gattung des MF sind die Zeichen dafür, dass der Omnis Textus-Paragraph des BP (S 651 § 3) abhängig von 12 Gregor von Nyssa erwähnt allerdings in seiner Schrift De deitate filii et spiritus sancti oratorio (PG 46: 557), dass auch gewöhnliche Christen Interesse an Häresien zeigten: „ Überall in der Stadt ist alles mit solchen Diskussionen beschäftigt: die Gassen, die Marktplätze, die breiten Alleen und Straßen der Stadt, die Kleiderhändler, die Geldwechsel, die, die uns Lebensmittel verkaufen. Wenn du nach Kleingeld zum Wechseln fragst, wird jemand mit dir über den Gezeugten und Ungezeugten philosophieren. Wenn du nach dem Preis für Brot fragst, kommt als Antwort: ‚ Der Vater ist größer und der Sohn ist ihm untergeordnet. ‘ Wenn du fragst: ‚ Ist das Bad vorbereitet ‘ , wird jemand antworten: ‚ Der Sohn wurde aus Nicht-Sein geschaffen. ‘“ (Übers. T. Nicklas) Am Ende des 4. Jahrhunderts hatten die Häupter häretischer Schulen sozusagen ihren historischen Hintergrund verloren; stattdessen wurden sie in Polemiken häufig einfach ganz ahistorisch als Chiffren für Gegner verwendet. Das Wort „ Markion “ konnte in dieser Zeit einfach „ Feind “ bedeuten. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0006 Honig gemischt mit Galle 85 einem Modell spirituellen Fortschritts ist. 13 Beide Texte verbinden eine spezifische Anordnung des Corpus Paulinum mit einem Modell spirituellen Aufstiegs; sie unterweisen Glaubende darin, mit Hilfe der Lektüre der Briefe in einer festgelegten Ordnung Aufstieg im Glauben zu erlangen: Am Anfang stehen die elementaren Texte (Röm - Kor - Gal), sie sind gefolgt von den Schriften mittleren Niveaus (Eph - Phil - Kol) bis hin zu den Schriften für die am meisten Fortgeschrittenen (Thess - Hebr). 14 Dieses Modell mag auch Z. 42 - 46 des MF zugrunde liegen, Zeilen, die Kor - Gal - Röm als eigenständige Gruppe abtrennen. Der Omnis textus wiederum bietet eine Version dieses Fortschrittsmodells, in der Röm-Kor-Gal eine erste Stufe der Einführung umfassen. Der BP fügt das Drei- Briefe-Modell des MF an das längere 10-Briefe-Modell des Omnis textus, eine Gegenüberstellung, die für die Vereinbarkeit der beiden Modelle sprechen könnte - des kürzeren mit drei Briefen und des längeren mit zehn Briefen. Das MF bietet nur die drei-Briefe-Version, der hier eine Liste von nacheinander sieben Briefen an die Gemeinden (incl. Hebr) folgt. Es ist unmöglich zu sagen, ob das MF hier bewusst Ballast abwirft oder einfach das ausführlichere katechetische Modell nicht kennt. Prologe selbst sind wiederum abhängig von Quellen unterschiedlicher Art. Das Werk De viris illustribus (ca. 393) des Hieronymus, bestehend aus 135 Miniaturbiographien, wurde sehr gerne für Prologmaterial herangezogen (§ 5, besonders „ Paulus “ ; Beispiele von Prologen: S 662, S 663). Hieronymus widmete diese Schrift einem gewissen Flavius Lucius Dexter, dem ersten Kammerherrn Theodosius I. (347 - 395) und Prätorianerpräfekten seines Sohns Honorius (384 - 423), über den Hieronymus sagt, er habe ihn gedrängt, eine den Listen nichtchristlicher Schriftsteller vergleichbare Liste kirchlicher Autoren zusammenzustellen. Vielleicht auf der Grundlage solcher paganer Vorbilder behandelt Hieronymus die Einzelpersonen chronologisch: Petrus, Jakobus, Matthäus, Judas, Paulus, Barnabas, Lukas, Markus, Johannes, Hermas; dabei bietet er nach kurzen Aussagen über ihren jeweiligen Werdegang Hinweise zu ihren Schriften. Wenn der Verfasser des MF auf einen ähnlichen Auftrag reagierte, könnte es sein, dass der Text, dessen Anfang heute, wie schon erwähnt, nicht erhalten ist, mit Petrus, Jakobus und Matthäus einsetzte. Dies wiederum könnte das spätere Fehlen von 1 - 2 Petrus und dem Jakobusbrief erklären. 13 Ein solches Modell findet sich z. B. in der Epitome der paulinischen Briefe im Euthalianischen Apparat. Vgl. Vemund Blomkvist, Euthalian Traditions. Text, Translation and Commentary, (TU 170), Berlin 2012, 206 f. Für einer weitergehende Untersuchung solcher Quellen und Parallelen vgl. Rothschild/ Thompson, The Benedictine Prologue (s. Anm. 3). Zum Euthalianischen Apparat vgl. zudem den Beitrag von Garrick Allen und Kelsie Rodenbiker im vorliegenden Band. 14 Blomkvist, Euthalian Traditions (s. Anm. 13), 208. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0006 86 Clare K. Rothschild / Jeremy C. Thompson Alternativ dazu ist natürlich auch möglich, dass das MF den biographischen Ansatz des Hieronymus angepasst hat und die Verfasser gemäß kanonischer Ordnung referiert. Das weitgehende, allerdings nicht ausschließliche Interesse des MF an Verfassern 15 und nicht Texten bietet einen weiteren Unterschied zu Kanonlisten. Wir bemerken, dass einige Schriften, die im MF offenbar von den anderen abgesondert werden (der Judasbrief und die beiden Johannesbriefe, MF 68 - 69), in ihren Texten keinen Autor angeben. Zusätzlich zu dem Kontrast zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen zeigt das MF ein deutliches Interesse an den Themen von Einheit und Harmonie. Dieses Thema begegnet (1) im Zusammenhang mit der Anerkennung der unterschiedlichen „ Ursprünge “ oder „ Anfänge “ der vier Evangelien, bei der gleichzeitig der eine Geist, der an diesem Ursprung steht, betont wird (MF 16 - 20); dazu spricht das MF (2) von der alles beherrschenden Glaubensregel (MF 20 - 31), stellt (3) einen Zusammenhang zwischen den paulinischen Briefen und den Briefen des Johannes an die sieben Gemeinden (MF 48 - 49; vgl. auch MF 57 - 59) und (4) womöglich auch zwischen diesen beiden Gruppen zur Weisheit her, wenn man sieben Weisheitsbücher voraussetzt. 16 Das Leitmotiv e pluribus unum klingt auch im Zusammenhang mit der Apostelgeschichte an, die beschrieben wird als „ Taten aller Apostel “ unter einem Titel (MF 34). Wenn die Komposition des Fragments eine chiastische Struktur nahelegt, mag auch dies auf ein Interesse an Harmonie hinweisen: Den vier Evangelisten stehen „ balanciert “ vier Häretiker gegenüber und den drei großen Briefen (Kor, Gal, Röm) drei Apokalypsen ( Johannes, Petrus, Hermas). 17 Eine gnomische Äußerung fasst dieses Thema mit Hilfe der Metapher von der „ Galle, die Honig verdirbt “ , zusammen. Selbst die Hervorhebung Roms als „ Bischofssitz “ (MF 75) und des Römerbriefs (MF 44, 53 - 54; betont an der siebten Stelle) suggeriert Einheit und Einigkeit durch politische, wenn nicht kirchliche Zentralität. Ein grundlegendes Anliegen des 4. Jahrhunderts, das durch frühchristliche Texte - und nicht nur das Corpus Paulinum - zum Ausdruck gebracht wird, bestand in der Notwendigkeit, aus einer Sammlung ad hoc verfasster autoritativer Materialien, also den Schriften, die wir heute als Teil des Neuen Testaments lesen, eine einzige, noch dazu kohärente Quelle kirchlicher Lehre zu konstruieren. So wurde z. B. eine heftige Debatte über den begrenzten Wert des Philemonbriefs als möglicher Quelle für diese Lehre geführt, da dieser kaum Ansatz für 15 Vgl. z. B. Lukas und Apostelgeschichte, Johannes, Paulus wie Johannes (incl. der Apokalypse), Fälscher, Freunde Salomos (MF 70), Petrus (und seine Apokalypse) und Hermas, inclusive biographischer Legenden (lucubratio [ Johannes], MF 10 - 16; Hermas, MF 73 - 80). 16 Rothschild, Muratorian Fragment (s. Anm. 1), 277. 17 Rothschild, Muratorian Fragment (s. Anm. 1), 43. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0006 Honig gemischt mit Galle 87 allgemeinere Lehraussagen bot. 18 Die Betonung der Einheit durch den Autor des MF könnte sein Interesse an der Beilegung solcher Streitigkeiten spiegeln. 3. Ausgeschlossene Texte: Einheit oder Identität? Dutzende wissenschaftlicher Argumente e silentio einladend, behandelt das MF den Hebräerbrief, den Jakobusbrief, 1 - 2 Petrus und einen Johannesbrief nicht. Wenn diese Auslassung sich einfach einem Schreiberfehler verdankt, darf das MF nicht als Zeichen einer gesamtwestlichen Zurückweisung des Hebräerbriefs ausgewertet werden. 19 Wenn das Fehlen dieser Schriften aber bewusst erfolgte, muss entweder eine einzelne Erklärung für die gesamte Gruppe gefunden werden oder einzelne Erklärungen für jede oder je mehrere dieser Schriften. Wenn wir eine Erklärung für die gesamte Gruppe suchen, könnte die Auslassung dieser fünf Schriften das Ziel des Fragmentisten spiegeln, nur allgemein anerkannte Texte oder nur Texte, die als sicher im Griechischen verfasst galten, zu präsentieren - beides Aspekte, die die Themen von Einheit und Authentizität zum Ausdruck bringen. Wenn andererseits für jeden dieser Briefe eine eigene Erklärung ermittelt werden muss, dann könnte das Fehlen des Hebräerbriefs implizieren, dass diese Schrift nicht als Teil des Kanons angenommen war. Allerdings könnte das Fehlen des Hebräerbriefs auch einfach im Zusammenhang mit dem Thema „ Einheit “ stehen: Als ein achter Brief 20 zerstörte der Hebräer die „ vollständige “ Siebenerreihe - eine Interpretation, die sich zumindest bis zu Hieronymus (Epistula 53,9) zurückführen lässt. Eine andere Möglichkeit besteht darin, dass der Verfasser des Fragments die Anonymität des Autors von Texten ablehnte. In diesem Falle wird der Hebräerbrief umgangen, weil er nicht für eine Gemeinde steht, an die Paulus „ namentlich “ schrieb (nominatim; MF 49; cf. MF 5.15). Sollte dies der Fall sein, dann würde sich auch erklären, warum das MF nur von zwei Johannesbriefen spricht: Gemeint wären dann 2 - 3 Joh, da der Autor des 1. Johannesbriefs wie der des Hebräerbriefs keinen Namen nennt oder anderweitig identifiziert wird. 21 Wollte man eine damit verwandte namensbasierte Logik anwenden, dann könnte sich das Fehlen 18 Henry B. Swete, Theodori Episcopi Mopsuesteni in Epistolas B. Pauli Comentarii, 2 Bde., Cambridge 1882, 2: 258 - 267; Rowan A. Greer (Übers. und Hg.), Commentary on the Minor Pauline Epistles by Theodore of Mopsuestia (WGRW 26), Atlanta 2010, 772 - 785. 19 Man hat angenommen, dass diese Ansicht durch Gaius von Rom unterstützt wurde, der den Hebräerbrief als Teil einer offensichtlichen Verbreitung gefälschter paulinischer Briefe ablehnte (siehe Eusebius, Historia ecclesiastica 6,20,2). 20 Vgl. z. B. Epistolae Pauli ad Romanos causa haec est (S 651), Paulus apostolus ad septem scribit ecclesias (S 660), Paulus apostolus scripsit ad septem ecclesias nouem epistulas (S 663). 21 Mit der Zitierung des Letzteren (MF 29 - 31) scheint das MF vorauszusetzen, dass Johannes den 1. Johannesbrief verfasste. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0006 88 Clare K. Rothschild / Jeremy C. Thompson des Jakobusbriefes sowie der beiden Petrusbriefe mit ihrer „ Katholizität “ erklären: So wie Hebräerbrief und 1 Johannes wegen ihrer Anonymität ausgeschlossen werden, so auch jene, weil in ihnen kein Adressat bzw. keine Adressatengemeinde explizit genannt wird. 22 4. Hermas und Häresie Auf den ersten Blick führt die Behandlung des Hirten des Hermas in Z. 73 - 80 des MF dieses in die Zeit des Pontifikats von Bischof Pius I. von Rom in der Mitte des 2. Jahrhunderts. Die Argumentation erfolgt in der Form der so genannten Bruderschaftslegende, einer falschen Darstellung über die Abfassung des Hirten. Die Verwendung der ersten Person Plural (nuperrime temporibus nostris, MF 74) zusammen mit der besonderen Stellung der Passage kurz vor der überlieferten Zusammenfassung (MF 85) führte dazu, dass die meisten Interpreten davon ausgingen, dass der Fragmentist die Absicht hatte, sein Werk diachron im Verhältnis zum Hirten zu verorten. Die Komplexität dieser Tradition allerdings - sie ist ohne Parallele vor dem 4. Jahrhundert, einschließlich der Unwahrscheinlichkeit, dass der griechische Autor des Hirten einen Bruder mit lateinischem Namen Pastor und der gebildete, aber demütige Hermas einen Bruder hatte, der Bischof von Rom war, sowie der Hürde, dass der Hirte zu Beginn und nicht in der Mitte des 2. Jahrhunderts abgefasst wurde - macht es unmöglich, die Funktion dieser Tradition, geschweige denn ihre Übernahme durch das MF, klar zu beurteilen. Würde man fragen, ob ein späteres Datum z. B. im 4. Jahrhundert zu dieser Passage passen würde, dann legte sich die bisher unerforschte Möglichkeit nahe, dass das Wort tempus in der Phrase temporibus nostris auf „ Umstände “ und nicht „ Zeiten “ verweist und einfach die Stadt Rom bezeichnet. Eine solche Interpretation passt zur synchronen Lektüre aller anderen Aussagen in der ersten Person im MF (MF 47.72.82). 23 5. Lehre und Polemik: Kontexte Die Tatsache, dass der Anfang des Fragments fehlt, wie auch die verschiedenen Ebenen seiner Anonymität machen sichere Schlussfolgerungen unmöglich; wenn aber die Informationen, die hier gegeben werden, ein Urteil erlauben, so scheint der Autor des MF einiges mit einer Gruppe christlicher Theologen 22 Der Jakobusbrief wendet sich an die „ zwölf Stämme in der Diaspora “ , der 1 Petr an „ die Erwählten, die als Fremde in der Diaspora von Pontus, Galatien, Kappadokien, der Asia und Bithynien leben, 2 Petr schreibt an „ die, die in der Gerechtkeit unseres Gottes den gleichen kostbaren Glauben erlangt haben wie wir “ . 23 Rothschild, Muratorian Fragment (s. Anm. 1), 300 - 302. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0006 Honig gemischt mit Galle 89 gemeinsam zu haben, die zwischen dem späten 4. und dem frühen 5. Jahrhundert in Rom und Aquileia tätig waren. Wenn wir die Parallelen zwischen dem MF und dem Prolog des Chromatius von Aquileia zum Tractatus in Matthaeum, auf die erstmals Lemarié verwiesen hat und die dann ausführlicher von Kaestli ausgearbeitet wurden, zugrunde legen und weiterdenken, könnten wir uns einen ansonsten unbestätigten Prolog zum Matthäusevangelium vorstellen, der gleichzeitig als Prolog zu allen vier Evangelien und/ oder zum Kanon fungierte. 24 Zudem übten die Kommentare des ansonsten anonymen Ambrosiaster zu den paulinischen Briefen mehr oder minder genau in dem Moment in den 380 Jahren, in denen sie niedergeschrieben wurden, einen erkennbaren Einfluss auf Prologe und andere Literatur aus. 25 Das MF selbst bietet spannende Parallelen zu Autoren aus Norditalien und hier besonders aus Aquileia sowie eine Reihe linguistischer und thematischer Gemeinsamkeiten mit Ambrosiaster. Alle sieben kleineren Schriften in Codex Ambr. I 101 sup. mit Ausnahme des MF und eines Glaubensbekenntnisses (Athanasius) sind Ambrosius oder Ambrosiaster zugeschrieben. Einige dieser kleineren Schriften (bes. fols. 10r - 12r [Das Muratorische Fragment] und 71v - 73v) könnten mögliche Einfügungen auf leeren Seiten spiegeln; sie verleihen den Eindruck einer Sammlung innerhalb der Sammlung und bestärken die Orientierung des Fragments an Ambrosius/ Ambrosiaster. Alessandra Pollastri hat jüngst die These vertreten, dass Ambrosiaster alle fünf Fragmente im Muratorischen Codex verfasst habe (Orate ne fiat fuga vestra hieme vel sabbato, De adventu Domini Christi, De die et hora nemo scit, De tribus mensuris, De Petro apostolo). 26 Was sie nicht erwähnt, ist das MF. Bedeutende Stränge innerhalb der lateinischen Tradition situieren auch den verwandten BP im indirekten Einflussbereich des Ambrosiaster und im direkten Einflussbereich des Pelagianismus im frühen 5. Jahrhundert. BP VI, eine Passage, die die möglichen Ursprünge der hebräischen Sprache diskutiert, bietet eine enge Parallele zu Ambrosiasters Auseinandersetzung mit diesem Thema (Comm. Phil. 3,7,3). Die Analyse dieses Texts durch die Autoren des vorliegenden Beitrags legt die Schlussfolgerung nahe, diese Schrift als eigenständigen paulinischen Prolog anzuerkennen; sie führt zudem auch zu ihrer Frühdatierung an den Anfang des 5. Jahrhunderts vielleicht im Kontext der Verbreitung paulinischer Prologe von Ambrosiaster bis zu frühen pelagia- 24 Rothschild, Muratorian Fragment (s. Anm. 1), 219 - 230. 25 Theodore S. de Bruyn/ Stephen A. Cooper/ David G. Hunter (Hg.), Ambrosiaster ’ s Commentary on the Pauline Epistles. Romans (WGRW 41), Atlanta 2017, xxvi - xxvii. 26 Vgl. Anm. 4. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0006 90 Clare K. Rothschild / Jeremy C. Thompson nischen Kreisen. 27 Wenn sich diese Datierung begründen ließe, würde sie einen terminus ante quem für beinahe ein Drittel des MF liefern. 6. Fazit und Ausblick auf zukünftige Forschung Keine einzelne Monographie kann die vielfältigen Rätsel lösen, die uns der so schwer fassbare, erstmals durch den namengebenden Entdecker des Fragments, L. A. Muratori, edierte Text aufgibt. Zumindest drei Bereiche zukünftiger Forschung können identifiziert werden: (1) Clare Rothschild vertritt die These, dass dieser Text von einer Vorlage mit zahlreichen abgekürzten Wortformen, bei der der Abschreiber Mühe hatte, sie zu erweitern, kopiert wurde. An welche Art von Vorlage können wir hier denken? An eine Bibel oder einen liturgischen Text? Und damit verbunden: Was ist das MF aus der Sicht des BP, wenn dieser vier Ausschnitte aus dem MF mit einem Prolog (oder Ausschnitten eines Prologs) wie S 651 zusammenlegt? 28 Gibt es andere Beispiele für das Zusammenflechten von S 651 mit einem Prolog des Typs MF oder Material, das nicht Prologen entstammt? (2) Die Übereinstimmungen zwischen MF, BP und anderen antiken Prologen sind klar. Zwar wurde das MF nun dem BP gegenübergestellt, aber sollten beide Texte nicht in das breitere Spektrum antiker paulinischer, biblischer und selbst paganer Einleitungsliteratur eingeordnet werden? (3) Zukünftige Arbeiten zu den Quaestiones des Ambrosiaster hängen von kritischen Editionen ab, die alle Rezensionen der verschiedenen Abhandlungen in den verschiedenen Bearbeitungen Ambrosiaster bieten. In seiner kritischen Ausgabe der Quaestiones merkt Souter an, dass er sich nicht die Mühe gemacht habe, in seiner Edition einzubeziehen, was er für frühere Rezensionen der verschiedenen Quaestiones (die Teil einer Ausgabe aus 151 Fragen waren) hielt, wenn diese Fragen (in bearbeiteten Fassungen) in der Ausgabe der 127 Quaestiones wiederauftauchten. 29 Die Sache stellt sich jedoch, wie Marie-Pierre Bussières hervorhebt, nicht so einfach dar, wie Souter sich dies vorstellte. In einem Beitrag des Jahres 1954 kritisierte Giuseppe Carlo Martini scharf die Annahme Souters, dass es sich bei allen in der 127-Fragen-Ausgabe enthaltenen Abhandlungen einfach um Nachfolgeversionen der 151-Fragen-Ausgabe han- 27 Rothschild/ Thompson, The Benedictine Prologue (s. Anm. 3). 28 Zum Aufbau des BP siehe oben. BP Paragraph II ist identisch mit S 651 § 3,1 (Omnis textus uel numerus). Zur Verortung dieses Prologs in der weiteren Prologliteratur vgl. Kapitel 7 Rothschild/ Thompson, The Benedictine Prologue (s. Anm. 3). 29 Vgl. Alexander Souter (Hg.), Quaestiones veteris et novi testamenti CXXVII, by pseudo- Augustine [Ambrosiaster] (CSEL 50), Wien 1908, x - xiii. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0006 Honig gemischt mit Galle 91 delt. 30 Bussières bereitet momentan eine vollständige neue Edition in der Reihe CCSL vor, in der er auch die komplizierte Überlieferungsgeschichte der Quaestiones anspricht. Zusammen mit anderer Arbeit am Werk des Ambrosiaster wird diese Edition zusätzliches Vergleichsmaterial für eine neue Einschätzung seines Verhältnisses zum MF bieten. Clare K. Rothschild ist Professor of Scripture Studies an der Lewis University (USA) und außerordentliche Professorin am Fachbereich Altertumswissenschaften der Stellenbosch University (Südafrika). Sie hat einen MTS-Abschluss von der Harvard Divinity School und einen Doktortitel von der University of Chicago. Ihre Forschungsschwerpunkte sind das lukanische Doppelwerk, das Muratorische Fragment und die Apostolischen Väter. Clare verbrachte ein Jahr als Humboldt- Stipendiatin in München und arbeitete an ihrem Buch Hebrews as Pseudepigraphon. Ihr derzeitiger Forschungsschwerpunkt ist der Barnabasbrief, zu dem sie einen Kommentar für die Reihe Hermeneia vorbereitet. Sie ist Chefredakteurin von Early Christianity und der SBL-Reihe Writings of the Graeco-Roman World. www.clarekrothschild.com Jeremy Thompson promovierte 2014 an der University of Chicago in mittelalterlicher Geschichte und veröffentlichte eine kritische Ausgabe (Brepols, 2019) frühmittelalterlicher Texte über den theologischen Konflikt um die Prädestination. Er untersucht die Geistesgeschichte des Mittelalters in ihrer Kontinuität mit klassischen und patristischen Traditionen und interessiert sich für die neutestamentlichen Prologe in biblischen Codices, den Einfluss von Arithmetik und Musik auf die Theologie und die exegetische Symbolik des Themas Melancholie. 30 Marie Pierre Bussières, L ’ influence du synode tenu à Rome en 382 sur l ’ exégèse de l ’ Ambrosiaster, in: SacEr 45 (2006), 107 - 124, hier: 108 f., der hier Caelestinus Martini, De ordinatione duarum Collectionum quibus Ambrosiastri ‘ Quæstiones ’ traduntur, in: Antonianum 22 (1947), 23 - 48, hier 25 zitiert. Vgl. auch Caelestinus Martini., Le recensioni delle Quaestiones Veteris et Novi Testamenti dell ’ Ambrosiaster, in: Richerche di storia religiosa (1954), 40 - 62; Marie-Pierre Bussières, L ’ esprit de Dieu et l ’ Esprit Saint dans les questions sur l ’ Ancien et le Nouveau Testament de l ’ Ambrosiaster, in: REAugP 56 (2010), 25 - 44, hier 42 n. 62 sowie Theodore S. de Bruyn, Ambrosiaster ’ s Revisions of His Commentary on Romans and Roman Synodal Statements about the Holy Spirit, in: REAugP 56 (2010), 45 - 68, hier 47 n. 9. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0006 92 Clare K. Rothschild / Jeremy C. Thompson Das Muratorische Fragment Eine Stimme von der anderen Seite 1 Joseph Verheyden Der „ Kanon Muratori “ - oder in weniger prägnanter Formulierung, das „ Muratorische Fragment “ (MF) - hat Gelehrte beschäftigt, seit es wiederentdeckt und im Jahre 1740 durch L. A. Muratori als Teil eines umfangreichen Werks zur Kultur und Geschichte des mittelalterlichen Italiens erstmals publiziert wurde. Wir wissen beinahe nichts über das Fragment. Der Verfasser bleibt unbekannt, seine Entstehungszeit und Abfassungsgeschichte, mögliche Quellen, Originalsprache, Gattung und Funktion werden weiter diskutiert. Es besteht also eine gewisse Ironie in der Tatsache, dass eine ganze Reihe von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen - mich eingeschlossen - sehr deutliche Meinungen zu einem oder gar einigen dieser Themen geäußert haben. Das ist natürlich nicht wirklich überraschend. Das Unbekannte erregt Aufmerksamkeit, es inspiriert die Gelehrten und erweckt eine Form von Mut darin, Positionen durchsetzen zu wollen, die nicht immer auf starken Argumenten beruhen. Es ist ein wenig, als würde man sagen: Nichts ist bekannt - und darum alles möglich. Dies ist eine verlockende Perspektive, aber gleichzeitig eine, gegen die wir einander in unseren Diskussionen immer wieder warnen sollten. Die produktivste und, man muss hinzufügen, auch kreativste und phantastievollste Wissenschaftlerin, die sich in den vergangenen Jahren mit dem MF beschäftigt hat, ist Clare Rothschild. Im Jahr 2018 publizierte sie einen provokativen Artikel in der Zeitschrift Novum Testamentum, der lange Zeit in Vorbereitung gewesen war - eine erste Version davon wurde bereits im Jahr 2008 auf der Tagung der Society of Biblical Literature präsentiert. Dieser Artikel 1 Dieser Beitrag versteht sich nicht nur als Kommentar zu dem Beitrag von Clare K. Rothschild und Jeremy C. Thompson im vorliegenden Heft, sondern auch zu Rothschilds Monographie The Muratorian Fragment. Text, Translation, Commentary (STAC 132), Tübingen 2022. erfuhr eine ausführliche Replik von Christopher Guignard. 2 Im vergangenen Jahr folgte eine höchst gelehrte Monographie zum Thema. 3 Ihr gemeinsam mit Jeremy C. Thompson verfasster Aufsatz in der vorliegenden Ausgabe der ZNT ist eine Art von Folgebeitrag zu einem Aspekt des Buches, der große Aufmerksamkeit erhielt - der Frage nach Parallelen oder Zitaten des MF in den so genannten Benediktinischen Prologen (BP) und was diese für die Gattungsdefinition des Fragments bedeuten. Er nimmt aber auch einige andere Aspekte auf, die in der Monographie angesprochen wurden - besonders wichtig darunter ist vielleicht die Frage der Datierung des Texts. Ich werde mich in erster Linie auf die Schlussfolgerungen und Konsequenzen konzentrieren, die Rothschild aus ihrer Diskussion bzgl. dieser beiden Punkte zieht, und danach ein paar Gedanken zu anderen Aspekten hinzufügen. 1. Die Datierung des Fragments Die beiden Hauptpositonen zur Datierung des Fragments sind wahrscheinlich wohlbekannt und werden noch einmal durch Rothschild & Thompson zusammengefasst. 4 Die klassische und, soweit mir bekannt, weiterhin meist verbreitete Ansicht besteht darin, dass der Text auf das 2. oder die Wende vom 2. zum 3. Jahrhundert zurückgeht. Die Position der Herausforderer spricht sich für eine Datierung irgendwann im 4. Jahrhundert aus. Das entscheidende Element in der Diskussion findet sich in der relativ langen und recht nuancierten Notiz über den Hirten des Hermas, die wie folgt lautet (Z. 73 - 80): … Hermas aber verfasste den Hirten vor ganz Kurzem zu unseren Zeiten in der Stadt Rom, während sein Bruder, Bischof Pius, auf dem Sitz der Kirche der Stadt Rom saß, und aus diesem Grunde sollte er zwar gelesen werden, aber er kann nicht vor dem Volk in der Kirche, weder unter den Propheten, deren Zahl abgeschlossen ist, noch unter den Aposteln, die auf einen (festen) Zeitraum begrenzt sind. 5 2 Clare K. Rothschild, The Muratorian Fragment as Roman Fake, in: NT 60 (2018), 55 - 82; Christophe Guignard, The Muratorian Fragment as Late Antique Fake? An Answer to C. K. Rothschild, in: RevSR 93 (2019), 73 - 90. 3 Rothschild, Muratorian Fragment (s. Anm. 1). 4 Für eine ausführlichere Diskussion der Datierungsfrage vgl. Rothschild, Muratorian Fragment (s. Anm. 1), 73 - 75, 295 - 299 sowie Joseph Verheyden, The Canon Muratori. A Matter of Dispute, in: Jean-Marie Auwers/ Henk Jan de Jonge (Hg.), The Biblical Canons (BEThL 163), Leuven 2003, 501 - 512. 5 … Pastorem vero nuperrime temporibus nostris in urbe Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0007 94 Joseph Verheyden Es gibt keinen Grund zu der Vermutung, dass diese Information zur Datierung des Hirten eine spätere Hinzufügung zum ursprünglichen Dokument darstellt. Die Wendung nuperrime temporibus nostris (Z. 74) in Kombination mit dem Hinweis auf Papst Pius, der im Jahr 155 verstarb, wurde häufig als klarer Hinweis darauf gesehen, dass der Autor des Fragments dieses in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts verfasst haben muss. In meiner Übersetzung wird das Wort nuperrime in Bezug auf den Verfasser interpretiert. Aus seiner Perspektive wurde das Werk vor nur kurzer Zeit verfasst. Was auch immer man über die Identifikation des Hermas denken mag, dies ist deutlich die Botschaft, die der Verfasser vermitteln will. Wir leben in der Zeit des Pius oder kurz danach. Sundberg, gefolgt von Hahneman, hat eine alternative Lesart vorgeschlagen. 6 Das Adverb nuperrime beziehe sich nicht auf den Verfasser des MF, sondern auf den Hirten. Es werde verwendet, um eine zeitliche Lücke zwischen der späten Entstehungszeit des Hirten und den Schriften, die bis dahin erwähnt wurden, zu kreieren. All die Letzteren gehören zum apostolischen Zeitalter, der Hirte dagegen gehört definitiv einer späteren Periode an. Der Verfasser mag tatsächlich intendiert haben, die Zeitlücke hervorzuheben, und dies würde tatsächlich gut zu der Information darüber passen, den Hirten nicht „ zu den Aposteln “ zu rechnen; dies aber schließt in keiner Weise eine Datierung in die zweite Hälfte des 2. Jahrhunderts aus. Um den letztgenannten Punkt zu verdeutlichen, zitiert Sundberg als enge Parallele zur Wendung im MF eine Passage, in der Irenäus über die Entstehungszeit der Offenbarung des Johannes spricht und schreibt, „ dass sie beinahe erst in unserer Generation geschaut wurde, am Ende der Regierung Domitians “ (Adversus haereses 5,30,3). 7 Sundberg weist darauf hin, dass Irenäus mit diesem Bezug einen zeitlichen Abstand von beinahe einem Jahrhundert abdeckt. Die Formulierung und, daraus folgend, auch die Situation ist im MF allerdings recht unterschiedlich. Irenäus verwendet kein Wort, das dem starken nuperrime vergleichbar wäre, sondern verwendet eine deutlich offenere Formulierung, die eine gewisse Flexibilität zulässt, vor allem beim Gebrauch von „ beinahe “ . Zudem scheint Irenäus in „ Generationen “ zu denken, während das MF auf einer individuelleren Basis spricht. Rothschild scheint von Roma Hermas conscripsit, sedente cathedra urbis Romae ecclesiae Pio episcopo fratre eius, et ideo legi eum quidem oportet, se publicare vero in ecclesia populo neque inter prophetas complete numero neque inter apostolos in fine temporum potest. 6 Vgl. Rothschild/ Thompson, Honig gemischt mit Galle, 2 Anm. 2. 7 neque enim ante multum temporis visum est, sed pene sub nostro saeculo, ad finem Domitiani imperii; Griechisch in Eusebius, Historia ecclesiastiae 5,8,6. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0007 Das Muratorische Fragment 95 Sundbergs alternativer Lesart beeinflusst zu sein, die von ihr vorgeschlagene Variante der Übersetzung jedoch hat nur wenig Gewicht. Nachdem sie zunächst die genannte Passage zu Recht mit den Worten „ vor ganz Kurzem zu unseren Zeiten “ übersetzt, schlägt sie später als Alternative vor, die Worte temporibus nostris als „ in unseren Umständen/ unserer Stadt “ wiederzugeben, was nicht nur schwer zu verstehen ist und nicht unbedingt vom 2. Jahrhundert wegverweist, sondern durch keinerlei Hinweis gestützt ist. 2. Die Gattung des MF Mein zweiter Kommentar geht auf die Gattung des Texts ein. Ausführliche Passagen des MF finden eine Parallele in den Benediktinischen Prologen, die Informationen zum Corpus Paulinum bieten. Der Name dieses Texts hat damit zu tun, dass die ihn enthaltenden Handschriften ursprünglich im von Benedikt von Nursia selbst begründeten Kloster von Monte Cassino aufbewahrt wurden. Wenn das MF in Bobbio abgefasst wurde, wie Rothschild und andere argumentierten, besteht eine mögliche Verbindung zwischen beiden, da auch Bobbio zu dieser Zeit zu einem bedeutenden Benediktinerkloster wurde. Dies könnte die Parallelen erklären, obwohl beide Klöster einander geographisch nicht allzu nahe waren. Rothschild bietet in ihrer Monographie eine ausführliche und sorgfältige Analyse des BP und kann im hier publizierten Aufsatz auf einen zusätzlichen Textzeugen verweisen. 8 Die vorliegenden Handschriften gegen auf das 11. und 12. Jahrhundert zurück. Die Hälfte des Texts des BP, genauer 24 von 47 Zeilen, 9 besteht aus Material, das wir auch im MF finden. Die Parallelen sind stark, der BP bietet ab und an eine leicht bessere Orthographie. Der BP allerdings folgt nicht der Ordnung des MF, wie die bei Rothschild und Thompson gebotene Tabelle zeigt. 10 Rothschild und Thompson differenzieren vier Abschnitte, der BP allerdings zeigt keine solche Gliederung. Er fährt nach dem ersten Block, mit dem der Text beginnt, auf der gleichen Zeile (Z. 9) fort und bietet die drei weiteren Abschnitte ohne jegliche Unterteilung auf den Z. 28 - 40. Der BP konzentriert sich erwartungsgemäß auf Informationen über Paulus, jedoch nicht ausschließlich, sondern enthält auch die Informationen zu den verschiedenen Häresien, die den letzten Teil des MF in seiner überlieferten Form ausmachen. 8 Rothschild, Muratorian Fragment (s. Anm. 1), 192 - 219. 9 Text und Übersetzung des BP in Rothschild, Muratorian Fragment (s. Anm. 1), 197 - 201; vgl. Auch die Reproduktion von Kuhns Edition des BP aus dem Jahre 1892 auf S. 353 - 355. 10 Vgl. Rothschild/ Thompson, Honig gemischt mit Galle, 4. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0007 96 Joseph Verheyden Rothschild und Thompson verwenden die Parallele, um Schlussfolgerungen zur Gattung des MF zu ziehen. Das Argument funktioniert folgendermaßen: BP wird üblicherweise als Prolog eingeschätzt; wahrscheinlich versteht auch der Autor des BP das MF als Teil der gleichen Gattung, da er dieses so ausführlich verwendet. Die Gattung solcher Prologe jedoch ist erst ab dem (späten) 4. Jahrhundert bekannt. Damit kann das MF nicht ins 2. oder 3. Jahrhundert datiert werden. Diese Argumentation ist in dreierlei Hinsicht problematisch: (1) Das Fehlen von Beweisen für die Existenz solcher Prologe zu einem früheren Zeitpunkt ist kein Beweis, dass es solche Prologe nicht gegeben haben kann. (2) Die Verwendung einer Quelle bedeutet nicht unbedingt, dass diese der gleichen Gattung angehört, sondern nur, dass sie Material beinhaltet, das für wertvoll oder brauchbar gehalten wird. (3) Wahrscheinlich am wichtigsten ist die Beobachtung, dass der BP ein „ kritischer “ Benutzer des MF ist; immerhin nimmt er wesentliche Änderungen vor und ersetzt Teile des MF durch anderes Material. Dies lässt wahrscheinlich darauf schließen, dass der BP nicht mit dem zufrieden war, was er im MF las. In einem Fall besteht die Änderung darin, dass eine inhaltlich eher dürftige Aussage (die eher vereinfachende und wenig informative Aufzählung der Paulusbriefe in Z. 50 - 55) durch eine inhaltlich substantiellere ersetzt wird, die eher im Einklang mit dem steht, was man in anderen Prologen findet. Dies könnte zu dem Schluss führen, dass das MF (zumindest in dem Teil über Paulus) ein eher schlechtes Beispiel für einen Prolog darstellt oder eben gar nicht als Prolog gedacht war, obwohl Rothschild und Thompson meinen, dass der BP es als solches verstand. Vielleicht aber handelt es sich auch um eine Art von Hybridform, in Teilen Kanonliste, in Teilen Prolog avant la lettre aus einer Zeit, die der Produktion solcher Prologe vorausging, also einer Zeit vor dem 4. Jahrhundert. Dem mag hinzugefügt werden, dass der BP das MF nicht einfach ignorierte, wie man dies von einem Autor erwarten würde, der einen Text seiner Zeit für unbefriedigend hält, sondern sich stattdessen bemühte, große Teile von ihm zu bewahren, als ob diesem Text bereits ein gewisser Status als „ älterer “ Versuch, einen solchen Prolog zu produzieren, zugekommen sei. 3. Beurteilung der BP Parallele Rothschild und Thompson definieren den BP als „ ersten unbestreitbaren äußeren Zeugen des MF “ , 11 entwickeln diesen Gedanken aber leider nicht weiter. Beide Texte mögen tatsächlich den Eindruck erwecken, sie seien 11 Rothschild/ Thompson, Honig gemischt mit Galle, 3. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0007 Das Muratorische Fragment 97 zusammengesetzte Werke, wie auch Rothschild und Thompson mit Hinweis aus Westcott zum MF sagen und für das BP (teilweise auf dieser Basis) annehmen. 12 Dies mag zutreffen, aber es hat auch Konsequenzen für die Beurteilung der Parallelmaterials. Letzteres kann auf zweierlei Weise erklärt werden. Entweder ist der BP direkt vom MF als einer seiner Quellen - zugegebenermaßen einer besonders wichtigen - abhängig, sortierte jedoch das vorliegende Material um (oder ersetzte es), wie es ihm am besten erschien, oder die beiden sind abhängig von einer gemeinsamen Quelle, deren Ordnung einer von ihnen (oder beide) abänderten. Dabei bieten sie für die Abschnitte, in denen die beiden nicht übereinstimmen, einen anderen Text (aus einer anderen Quelle oder von ihnen selbst erfunden). Da die Version des BP in einigen Fällen problematischer oder chaotischer wirkt als die des MF, könnte man geneigt sein zu schließen, dass die zweite Möglichkeit wahrscheinlicher ist. Da dies jedoch eine Reihe Unbekannter einführt - immerhin setzt dies eine unbekannte Quelle voraus, geht aber auch davon aus, dass diese Quelle bereinigt werde musste und dass zudem nur das MF in der Lage war, dies zu tun - mag die ökonomischere und vielleicht die doch praktikablere Option darin bestehen, den BP vom MF her zu verstehen und zu akzeptieren, dass die Fassung des BP nicht der glatteste Text ist. Ich gebe ein Beispiel aus der ersten Parallele im Eröffnungsabschnitt. Im Kontext gelesen ist die erste Parallele im MF sinnvoller: Dies muss noch kein Indiz dafür sein, dass Letzteres nicht den Originaltext repräsentiere und seine Quelle verbessert hätte. Stattdessen gibt es Gründe dafür zu denken, dass der BP eine recht gute Vorlage, nämlich das MF, zerlegt hat. Das erste Indiz hierfür ist sicherlich nicht das stärkste, aber es mag durchaus wichtig sein, um zu verstehen, wie der BP mit seiner Quelle umging. In BP fehlt die Eingangsnotiz zu den paulinischen Briefen in MF 39 - 41. Stattdessen beginnt der Text in medias res mit Informationen zu drei paulinischen Briefen. 13 Im MF dient die Notiz, die per se nicht wirklich sehr informativ ist, dazu, einen Übergang von dem, was vorher über die Apostelgeschichte und über das Fehlen jeden Hinweises zum Tod von Petrus und Paulus in der Letzteren gesagt wird, und den paulinischen Briefen herzustellen. Man könnte sagen, dass eine solche Übergangs- oder Einleitungsnotiz in einem Prolog, der sich alleine mit dem Corpus Paulinum beschäftigt, nicht nötig war - und so entschied das BP, diese auszulassen. Dies 12 Vgl. Rothschild/ Thompson, Honig gemischt mit Galle, 5 Anm. 9. 13 Der Text in Codex Monte Cassino 235 (C 2 ) bildet eine Ausnahme, bietet er doch eine recht lange Einleitung, die mit den Worten Incipit argumentum in epistolis Pauli beginnt und recht ausführlich erklärt, worum es im Römerbrief geht, sowie eine reine Liste, wie sie auch im MF zu finden ist. Vgl. Rothschild, Muratorian Fragment (s. Anm. 1), 201 f. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0007 98 Joseph Verheyden ist möglich, aber es bedeutet, dass der Passage in der Form, in der sie auf uns gekommen ist, eine angemessene Einleitung fehlt. Der zweite Fall ist beunruhigender: Man hat vorgeschlagen, in der kurzen Notiz zu den an Einzelpersonen gerichteten Briefen im Corpus Paulinum (MF 46 - 47) eine negative Partikel hinzuzufügen: de quibus singulis <non> necesse est a nobis disputari ( „ Was die Briefe an Einzelpersonen betrifft, brauchen wir <nicht> darüber nachzudenken “ ), da Paulus wie Johannes in der Offenbarung an sieben Gemeinden schrieb. In BP aber fehlt das non. Dessen Hinzufügung im MF führt zu einem Problem, denn der Verfasser wendet sich ja ein wenig später diesen Briefen an Einzelpersonen zu, listet sie in der Ordnung Philemon, Titus und 1 - 2 Timotheus auf und qualifiziert sie als „ aus Sympathie und Liebe “ verfasst (Z. 60 - 61, pro affectu et dilectione). Dabei unterscheidet er sie klar von denen, die an das Ganze einer Gemeinde gerichtet und vorgesehen waren, „ über die ganze Welt in der Kirche verbreitet zu werden “ (Z. 56 - 57, per omnem orbem terrae ecclesia diffusa esse), ja stuft sie ihnen gegenüber gar ein wenig herab. Der Text des MF ist vielleicht ein wenig sperrig, aber er ist konsistent. Der BP hingegen folgt dem MF in seiner Besorgnis um den Status der Briefe an Einzelpersonen, sagt, man solle sie diskutieren, vergisst in dem, was folgt, dann aber, auch nur einen dieser Briefe an Einzelpersonen zu erwähnen. Kein Zweifel, dieser Bruch liegt daran, dass der BP sich in seinen Kommentaren zu den Gemeindebriefen vom MF abgewandt hatte, er offenbart aber einen ziemlich schlampigen Autor. Dem kann ein dritter Fall hinzugefügt werden: Es ist leicht erkennbar, warum der BP die einfache Aufzählung der paulinischen Gemeindebriefe, von der nicht klar ist, ob sie eine chronologische oder nur eine numerische Ordnung spiegelt, ersetzte. Aber wenn dem ersten Hinweis des MFs auf drei Briefe, deren Inhalte kurz zusammengefasst werden, eine Liste folgt, in der die gleichen Briefe noch einmal vorkommen, sicherlich nicht das klügste Arrangement darstellt, gilt dies sicherlich umso mehr für den BP, der hier das MF (oder die gemeinsame Quelle) für die drei Briefe kopiert und dann direkt danach diese Information in nur leicht verändertem Wortlaut (oder eigentlich ganz anders für den Römerbrief, vgl. BP Z. 3 - 5 vs. 9 - 11) wiederholt. Dies erweckt den Eindruck, dass sich der BP in seinen Quellen verlor, er mit einer begann, sich dann einer anderen zuwandte, insgesamt aber mit nur wenig Interesse an Konsistenz oder Glätte. Zurück zum MF und der Hypothese einer gemeinsamen Quelle: Wenn der Verfasser des MF die Informationen zu den Gemeindebriefen in der gemeinsamen Quelle durch seine Liste ersetzt hätte, hätte er wirklich schlechte Arbeit geleistet. Es gibt wirklich keinen Grund, warum dies geschehen sein könnte, was auch immer man von den vielen Mängeln des Fragments hält, von denen einige mit der schlechten Überlieferung des Texts zu tun haben. Insgesamt also ist die Hypothese einer gemeinsamen Quelle wahrscheinlich zu verwerfen und wir Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0007 Das Muratorische Fragment 99 müssen uns der Tatsache stellen, dass beide Texte, das MF und der BP, Probleme in Stil und Anordnung ihrer Informationen aufwerfen. 14 Ich schließe diesen Abschnitt mit einem Kommentar zu der angeblichen gemeinsamen Struktur von MP und BP. Rothschild und Thompson machen aufmerksam auf die Abhängigkeit des BP von einem „ Modell spirituellen Aufstiegs “ , das sie auch den Z. 42 - 46 des MFs - dabei werden die Briefe an die Korinther, Galater und Römer herausgehoben - zugrunde legen und das sie für interessant zur Bestimmung der Gattung des Fragments halten. 15 Dieses Modell unterscheidet zwischen „ elementaren “ Texten, d. h. den genannten Briefen, allerdings mit dem Römerbrief an erster Stelle, intermediären Schriften (Eph-Phil-Kol) und Texten für Fortgeschrittene (Thessalonicher-Hebräer). Hinweise dafür finden sie in der Einleitung, die eine Besonderheit des oben erwähnten Codex Monte Cassino 235 (C 2 ) darstellt. 16 Dieser Text lautet: „ Jeder Text oder jede Gruppe von Briefen fördert die Vollkommenheit jedes Einzelnen. “ Er fährt dann fort mit der Liste der zehn Gemeindebriefe, die sich in allen Codices aus Monte Cassino findet, setzt dabei mit den drei „ elementaren “ Briefen ein und endet mit dem Hebräerbrief (Z. 9 - 28). Dieser Vorschlag hat zwei Probleme: Zunächst bietet der Text des Codex C 2 keine solche Einteilung in drei Gruppen, sondern liest die Gemeindebriefe in einer langen Zehnerliste. Der einzige Hinweis für das Vorliegen eines solchen Aufstiegsmodells in drei Schritten besteht in der vagen Wendung „ Gruppe von Briefen “ , die jedoch in der Liste, die folgt, in keiner Weise geklärt wird. Zweitens wissen wir keineswegs, ob Codex C 2 hier die ursprüngliche Fassung des BPs repräsentiert oder eine, die das Chaos in der Rezension beseitigte, die diese Einleitung nicht hat und bei der dieser Zehnerliste die drei Briefe, die im MF besonders herausgehoben sind, vorausging. Rothschild und Thompson bemerken, dass die drei Briefe in MF 42 - 46 an die längere Liste in dieser anderen Rezension hinzugefügt wurden, und unterstellen damit, dass C 2 die Originalfassung bietet. Sollte dies der Fall sein, haben wir damit ein anders Beispiel für die Schlampigkeit in dieser Rezension des BP - denn warum sollte man zuerst die drei Briefe in derAnordnung des MF hervorheben und sie dann in einer anderen Anordnung wiederholen? Folgten wir der Hypothese, dass es das gleiche Aufstiegsmodell zugrunde gelegt habe, dann müssen wir schließen, dass der Umgang des MF mit dem Modell noch katastrophaler ist - bis hin zu dem Punkt, dass der letzte Brief dieser Liste fehlt und die ersten drei nun in der langen Liste ohne Spur einer Reihenfolge „ untergetaucht “ sind. 14 In diesem Sinne ist man versucht, Rothschilds und Thompsons Rede von der „ großen Besonderheit des MF, die so weit geht, dass man den Text als Einzel- oder Spezialfall, als Idiosynkrasie deuten könnte “ , auch auf den BP zu beziehen, vgl. Rothschild/ Thompson, Honig gemischt mit Galle, 6. 15 Vgl. Rothschild/ Thompson, Honig gemischt mit Galle, 7. 16 Rothschild und Thompson bezeichnen es in etwas verwirrender Weise als S 659 § 3 (vgl. Rothschild/ Thompson, Honig gemischt mit Galle, 7). Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0007 100 Joseph Verheyden 4. Weitere Argumente für eine Datierung ins 4. Jahrhundert Neben den Argumenten, die sich aus der Notiz zum Hirten des Hermas und der Frage nach der Gattung des MF und den Parallelen zum BP ergeben, bieten Rothschild und Thompson eine Reihe anderer Indizien, die auf eine Datierung des MF im 4. Jahrhundert hinweisen. (1) Das MF fasst den Inhalt der Korrespondenz des Paulus mit den Korinthern mit den Worten scysme heresis interdicens zusammen. Das Lateinische scheint eine Cedille unter dem e des Wortes scysme zu haben, was einige Herausgeber des Texts dazu geführt hat, hier einen Genitiv zu lesen. Rothschild folgt diesem Vorschlag, ändert, dabei anderen folgend, das Wort heresis stillschweigend zu einem Plural und liest so schismae haereses interdicens (42, „ Häresien des Schismas verbietend “ ). BP liest stattdessen den Singular scisma heresis interdicens, versteht also das erste Wort als Nominativ und das zweite als Genitiv (1, „ ein Schisma der Häresie verbietend “ ). Rothschild baut darauf ein Argument für die Datierung des MF im 4. Jahrhundert, denn: It is not until the fourth century when heresy (i. e., “ sect ” ) is invoked as the cause of schism (i. e., “ separation ” ), and only much later than that schism comes to be defined as one of a number of punishable heresies. 17 Dies mag zutreffen, aber die Basis dafür, das MF in der Weise zu lesen, wie Rothschild dies tut, ist bestenfalls brüchig, denn das Wort scysmae könnte auch ein Plural sein (mit dem Wort heresis als Genitiv), den der BP dann treffender zu einer allgemeinen Aussage im Singular umwandelte ( „ das “ , nicht „ ein “ „ Schisma der Häresie “ ). (2) Rothschild und Thompson mögen damit Recht haben, dass antike Prologe, wenn sie Kontroversen ansprechen, „ weniger mit Argumenten als mit Behauptungen “ arbeiten; 18 dann aber fügen sie mit Hinweis auf die im MF (Z. 81 - 85) und im BP erwähnten Häresien (BP 33 - 37) hinzu, dass Prologe in der Regel nicht an dieser Art von Erwähnung bekannter Namen interessiert seien. 19 Ich bin nicht sicher, was ich davon halten soll, aber damit sind sowohl MF als auch BP eigentlich als Prologe diskreditiert. (3) Die Verfasser mögen damit Recht haben, dass die Prologe selbst von Quellen unterschiedlicher Art abhängig sind, 20 ich bin aber nicht sicher, ob De 17 Rothschild, Muratorian Fragment (s. Anm. 1), 264. 18 Vgl. Rothschild/ Thompson, Honig gemischt mit Galle, 6. 19 Sie „ waren … nicht der Ort, um konkrete Namen zu nennen. … Kommentare bildeten einen angemessenen Ort, um Häretiker und ihre Häresien zu diskutieren, denn diese Werke wurden von ausgebildeten Theologen studiert (und kopiert). “ - vgl. Rothschild/ Thompson, Honig gemischt mit Galle, 6 f. 20 Vgl. Rothschild/ Thompson, Honig gemischt mit Galle, 8. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0007 Das Muratorische Fragment 101 viris illustribus des Hieronymus die beste Möglichkeit ist, dies zu veranschaulichen. (4) Das MF zeigt deutlich ein Interesse daran, die Aspekte von Einheit und Einigkeit bei der Abfassung der Schriften des Neuen Testaments zu betonen. 21 Dies kann in der Form geschehen, dass die Rolle des Geists besonders betont wird (Z. 16 - 20), die Glaubensregel (Z. 20 - 31), die allgemeine Perspektive der Apostelgeschichte als einer Erzählung über die Apostel (Z. 34) und selbst über die Übereinstimmung zwischen den Sammlungen von sieben Briefen des Paulus und sieben Briefen des Johannes in der Apokalypse (Z. 48 - 49). Dem könnte man die unterstützende Haltung der Jünger hinzufügen, welche Johannes dazu drängen, sein Evangelium zu schreiben (Z. 10 - 16). Rothschild und Thompson kombinieren dies mit einem Kommentar zur allgemeinen Struktur des Fragments, die sie als chiastisch deuten. In ihr stehen den vier Evangelien am Ende „ balanciert “ vier Häresien gegenüber, während die drei Hauptbriefe des Paulus mit den drei Apokalypsen korrespondieren und die beiden Gruppen von sieben Briefen sieben Weisheitsbüchern entsprechen, „ wenn man sieben Weisheitsbücher voraussetzt “ . 22 Der letzte Zusatz allerdings weist bereits auf eine Schwäche in dieser „ Balance “ des Texts hin. Diese hätte durch ein eigenes kommentierendes Wort durch den Verfasser des Fragments gewonnen, damit die Struktur wirklich auch für die Lesenden funktioniert. Mein eigentlicher Punkt aber besteht darin, dass die letzten Zeilen dieses Abschnitts in Verbindung mit Anliegen des 4. Jahrhunderts um Einheit verbunden werden. Aus meiner Sicht drückt das Argument in Zusammenhang mit dem Brief an Philemon eher eine Sorge um die Verwendung des Corpus in der Lehre denn ein Interesse an Einheit aus. Vor allem aber glaube ich nicht, dass wir bis zum 4. Jahrhundert warten müssen, um Hinweise für beide Anliegen - man vergleiche den Umgang des Irenäus von Lyon mit den Evangelien! - zu finden. So scheint mir die Schlussfolgerung ein wenig zu einfach, dass die „ Betonung der Einheit durch den Autor des MF ein Interesse an der Beilegung solcher Streitigkeiten spiegeln “ könnte. 23 (5) Argumente e silentio sind immer problematisch. Deswegen ist es sicherlich am besten, nicht zu viel über das Fehlen bestimmter Titel im MF zu spekulieren. Der Hebräerbrief mag fehlen, weil er lange im Westen kritisch gesehen wurde, aber auch weil er nicht an eine konkrete Gemeinde gerichtet war - ein Argument, das auch das Fehlen des 1. Johannesbriefs erklären würde (wenn dies wirklich der Johannesbrief ist, der fehlt). Es wäre jedoch riskant, um das MF 21 Vgl. Rothschild/ Thompson, Honig gemischt mit Galle, 10. 22 Vgl. Rothschild/ Thompson, Honig gemischt mit Galle, 9. 23 Vgl. Rothschild/ Thompson, Honig gemischt mit Galle, 9. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0007 102 Joseph Verheyden näher in seine Epoche zu rücken, das Argument des Hieronymus zu verwenden, dass der Hebräerbrief ausgelassen wurde, weil er eine Liste von sieben Briefen „ zerstörte “ , wie Rothschild und Thompson vorzuschlagen scheinen. 24 Es ist eine Sache, einen Brief, der keine Adressaten erwähnt, aus einer Siebenerreihe von Briefen auszulassen, die alle ihre Adressaten ordnungsgemäß angeben. Es ist eine andere zu sagen, dass dies der Grund dafür war, dass dieser Brief überhaupt weggelassen wurde. Das MF differenzierte zwischen zwei Arten von Briefen, sein Autor hätte leicht eine dritte Gruppe kreieren können, wenn er dies gewünscht hätte. (6) Ich zögere, für die Datierung des Fragments ins 4. oder frühe 5. Jahrhundert zu viel auf dem Inhalt des Codex Ambrosianus I 101 sup. aufzubauen, der das Muratorische Fragment inmitten einer Zahl anderer Texte enthält. Dies ist selbst dann der Fall, wenn die anonymen kurzen Fragmente im Codex, wie Pollastri argumentiert hat, Ambrosiaster zugeschrieben werden können und es Gründe gibt, dass der BP „ im indirekten Einflussbereich des Ambrosiaster “ stand, wie Rothschild und Thompson hinzufügen. 25 Das MF war im Aquileia des frühen 5. Jahrhunderts bekannt, aber dies macht es noch nicht zu einem Text, der in dieser Zeit abgefasst wurde. Was den BP betrifft, so könnte die Tatsache, dass das MF als Quelle verwendet wird, eher auf ein Dokument verweisen, das bereits einen gewissen Status erreicht hatte. Vielleicht könnte man selbst so weit gehen zu spekulieren, dass das MF eine neue Entdeckung gewesen sei, die bei diesen Aufmerksamkeit und Begeisterung erregte. Ich würde diesen Gedanken aber nicht forcieren. (7) Ein eher eigenartiges Argument für die Spätdatierung des MF, das im Beitrag hier nicht diskutiert wird, aber doch in der Monographie begegnet, hat mit der Liste der Häretiker zu tun, die am Ende des Fragments steht (Z. 81 - 85). 26 Das Lateinische ist stark verstümmelt, aber man kann so viel schließen, dass es einen ansonsten unbekannten Arsinous erwähnt ( „ Arsinoi “ ), einen Valentinus und Miltiades, beides Namen, die nicht unbekannt sind, danach noch einmal Markion (nach der Notiz in Z. 65 „ die Häresie des Markion “ ), nun aber in Verbindung mit einem Psalmenbuch, das er in Auftrag gegeben habe, dann Basilides, „ den Asianer “ (vielleicht verwechselt mit dem gnostischen Basilides, der eher mit Alexandria in Verbindung gebracht wurde? ) und die „ Kataphrygier “ , die wahrscheinlich mit den Montanisten zu identifizieren sind. 24 Vgl. Rothschild/ Thompson, Honig gemischt mit Galle, 9. 25 Vgl. Rothschild/ Thompson, Honig gemischt mit Galle, 12. Eine ausführlichere Analyse des Inhalts des Manuskripts bietet Rothschild, Muratorian Fragment (s. Anm. 1), 81 - 141. Zu Ambrosiaster vgl. dies., Muratorian Fragment (s. Anm. 1), 323 - 341 (in einem Abschnitt mit dem Titel „ Hypothetical Historical Contexts “ ). 26 Rothschild, Muratorian Fragment (s. Anm. 1), 303 - 306. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0007 Das Muratorische Fragment 103 Der Abschnitt lautet folgendermaßen, Aber wir nehmen nichts von Arsinous, Valentinus oder Miltiades an in seiner Gesamtheit, der auch ein neues Psalmenbuch für Markion verfasste, zusammen mit Basilides, dem Asianer, dem Gründer der Kataphrygier 27 Die gleiche Passage begegnet auch im BP (Z. 33 - 37), allerdings mit einigen Unterschieden: [Die Schriften] des Arsinous oder Valentinus jedoch, oder des Mitiades, wir nehmen überhaupt nichts an. Diese, die ein neues Psalmenbuch für Markion verfassten, zusammen mit einem des Basilides [oder] dem Asianer, Gründer der Kataphrygier 28 Rothschild qualifiziert die Fassung des BP als die „ zuverlässigere “ . 29 Seine Handschriftentradition überliefert eine Variante cive ( „ Bürger “ ) anstelle von sive, was einige auch vorgeschlagen haben auf Z. 81 anstatt von seu einzuführen. Wie auch immer: der bemerkenswerteste Unterschied ist die Lesart Arsinofa (C 20 und C 30 lesen arsmofa, was nicht wirklich hilfreich ist). Rothschild unterbreitet den folgenden recht gewagten Vorschlag. Ausgehend von einer Notiz bei Hieronymus (De viris Illustribus 107) über ein Buch, das Photinus, der Bischof von Sirmium, für den Kaiser Valentinian I (365 - 375) verfasste, in dem der Autor die Inkarnation abstritt, schlägt sie vor, die erste Zeile als entweder ariani fotini civis valentiniano oder ariani fotini sub valentiniano ( „ [das Buch] des Arianers Fotinus, Bürger unter Valentinian “ ) zu rekonstruieren, was uns im späten 4. Jahrhundert landen lassen würde! Rothschild stützt diesen Vorschlag mit Informationen aus dem Liber Pontificalis, denen gemäß Mani unter Papst Miltiades (310/ 11 - 314) nach Rom gekommen sei, um vorzuschlagen, dass das Wort Marcioni in Z. 83 ein Fehler für Mani oder die Manichäer (das Verb im Plural) sei. 30 Wir wissen, dass die Manichäer eigene Psalmen hatten und die Information im Liber Pontificalis ist wahrscheinlich glaubwürdig; wir können 27 Arsinoi autem seu Valentine vel Miltiadis nihil in totum recipimus qui etiam novum Psalmorum librum Marcioni conscripserunt una cum Basilide Asiano Cataphrygum constitutorem 28 Arsinofa autem seu Valentini, vel Mitiadis, nihil in totum recipimus, qui etiam novum psalmorum librum Marcionis conscriptserunt, una cum Basilide (sive) Asyano catafrigum constitutorem 29 Rothschild, Muratorian Fragment (s. Anm. 1), 324. 30 Rothschild, Muratorian Fragment (s. Anm. 1), 325. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0007 104 Joseph Verheyden uns auch vorstellen, dass ein schlampiger Autor oder Abschreiber leicht Mani und die „ Marcioni “ verwechselt haben mag - immerhin waren die Letzteren im MF vorher (Z. 65) erwähnt worden. Der Fall Arsinofa aber liegt ziemlich anders - und dies gilt auch für Rothschilds Vorschlag. Im Grunde schwächt sie ihn selbst, indem sie einen anderen Vorschlag für die Anwesenheit des Namens Miltiades hinzufügt, indem sie das Wort una auf recipimus bezieht, was den Satz ergibt: „ Wir nehmen überhaupt nichts an von … dem unter Miltiades “ . Der Letztere wird dann als Donatus (verst. 355) identifiziert, der mit Miltiades aneinandergeraten war und dessen Nachfolger Parmenaianus (verst. 392) „ Bücher und neue Psalmen für Propagandazwecke “ in Auftrag gegeben hatte, was den Zorn des Augustinus auf sich zog. Dies ist dann sinnvoll, wenn das Wort Marcioni als „ an incorrect expansion of Parmeniani “ 31 gelesen wird. Ich muss zugeben, dass all dies für meinen Geschmack etwas zu spekulativ klingt. 5. Fazit Meine kritische Lektüre einer genialen Präsentation mindert nicht meinen Respekt und meine Bewunderung für den Eifer, mit dem Rothschild und Thompson gearbeitet haben, um Teile des Rätsels um das MF zu lösen. Ihr Artikel gibt einen ersten Eindruck von der Fülle von Detailanalysen, die wir in der Monographie finden, und lädt uns ein, auch die Letztere zu lesen. Trotz all ihres Aufwands haben sie mich als Leser, wie ich versucht habe zu zeigen, jedoch nicht überzeugen können. Die Hinweise auf eine Datierung im 4. Jahrhundert bleiben nicht überzeugend und die Probleme, die sich aus dieser Datierung ergeben, übertreffen den Nutzen, den zu finden man erwarten könnte. Um es anders zu sagen: Wenn das MF eine Anomalie darstellt, wenn man es ins 2. Jahrhundert datiert, dann ist es auch im 4. Jahrhundert eine solche, weil es mit keinem der Prologe, die zu dieser Zeit abgefasst wurden, konkurrieren kann. Der Unterschied zwischen den beiden Optionen ist, dass dem MF im späten 2. und frühen 3. Jahrhundert eine Art Pionierfunktion zukäme, während es im 4. Jahrhundert im Vergleich zu den Modellen, die dann vorhanden waren, eher wie ein Rückschritt aussieht. Letztendlich also ist das MF mehr als eine Kanonliste mit Büchern, die gelesen oder vermieden werden sollen; es ist ein erster Versuch zusammenzustellen, was später als „ Prolog “ verstanden werden würde. Die Welt hat es Pionieren nie leichtgemacht. 31 Rothschild, Muratorian Fragment (s. Anm. 1), 325. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0007 Das Muratorische Fragment 105 Joseph Verheyden studierte Philosophie, Orientalisches Christentum und Theologie an der Universität Leuven und ist derzeit Professor für Neues Testament an der Fakultät für Theologie und Religionswissenschaften sowie Direktor des Louvain Centre for Eastern and Oriental Christianity an derselben Universität. Er hat zahlreiche Publikationen zum synoptischen Problem, zur apokryphen Literatur und zur Rezeption des Neuen Testaments in der frühen Kirche vorgelegt. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0007 106 Joseph Verheyden Hermeneutik Im Raum zwischen „ kanonisch “ und „ parabiblisch “ Caravaggios Auferweckung des Lazarus (1609) Stephanie Hallinger Im einleitenden Beitrag zu diesem Heft hat Tobias Nicklas die Frage aufgeworfen, ob das Bild einer scharfen Trennlinie zwischen Kanon und parabiblischen Traditionen adäquat ist. Bereits die Darstellung eines kanonischen Texts in anderen Medien, z. B. durch Bilder, hat ganz grundsätzliche Verschiebungen in der Aussage zur Folge. Diese gehen so weit, dass die Frage, ob eine Darstellung dem kanonischen Text entsprechend ist oder nicht, kaum mehr adäquat beantwortet werden kann. Dieser theoretische Gedanke soll im folgenden Beitrag anhand von Caravaggios Darstellung der „ Auferweckung des Lazarus “ ( Joh 11,17 - 44) konkretisiert werden. Das Beispiel ist schon deswegen vielsagend, weil Caravaggios Bild sich auch als eine Antwort auf Versuche der Römisch- Katholischen Kirche verstehen lässt, die Themen christlicher Kunst zu kontrollieren und mehr als bisher am biblischen Kanon auszurichten: Es ist ein in jeder Hinsicht düsteres Bild, das Michelangelo Merisi, besser bekannt als Caravaggio (1571 ‒ 1610), zur Lazarus-Perikope des Johannesevangeliums für seinen Auftraggeber anfertigt: kein Zeichen der Freude, des Lebens oder der Hoffnung ist in derAuferweckungsszene zu finden, die der frühbarocke Maler wenige Monate vor seinem Tod im Alter von 39 Jahren malt und die schon alle Merkmale des ausgereiften, späten Stils trägt. Wie so oft in seinen späten Heiligen- und Martyriumsbildern gestattet Caravaggio sich eine gewisse künstlerische Freiheit gegenüber dem Vorlagentext. Die zur Zeit der sogenannten Gegenreformation kontrovers geführte Debatte um deren Zulässigkeit führt dazu, dass neuzeitliche Darstellungen religiöser Motive stets auch im Hinblick auf ihre Texttreue zu beleuchten sind. In Fall der Auferweckung des Lazarus lautet die Frage deshalb, wie sich Caravaggios Bilddarstellung zum johanneischen Text verhält, genauer: ob sie als Fortschreibung bzw. Neuinszenierung des Erzählten zu werten ist. Fügt sie Motive hinzu, lässt sie Zentrales weg? Zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst zu klären, ob der Maler beim Entwurf seiner Bildkomposition auf kursierendes ‚ Legendenwissen ‘ , feststehende ikonographische Formeln oder auch außerkanonische Texttraditionen zurückgriff und wie er diese in seine eigene Bildsprache übersetzte. 1. Die ikonographische Tradition zu Joh 11 Als älteste Belege der Lazarus-Bildformel verweist der Archäologe und Kunsthistoriker Norbert Zimmermann auf zwei römische Wandmalereien, einmal im ältesten Teil der Calixtus-Katakombe (Mitte 3. Jh.) und einer etwas späteren Version der Domitilla-Katakombe (Anfang 4. Jh.), beide mit relativ großer Texttreue. Christus steht jeweils vor einer Grabkammer, in der sich Lazarus befindet, und hält eine Art Zauberstab in der Hand. 1 Bereits in der frühchristlichen Kunst begegnen wir einem sehr stabilen Bildtypus mit nur wenigen Variationen, wie eine Vielzahl an Beispielen aus der Katakombenmalerei, von Elfenbeinreliefs und Mosaiken beweist: Abb. 1: Die Auferweckung des Lazarus, Rom, Katakombe an der Via Latina, Cubiculum O, linke Nische, in situ (Wandmalerei), 4. Jh. n. Chr. 1 Vgl. Norbert Zimmermann, Catacomb Painting and the Rise of Christian Iconography in Funerary Art, in: Robin M. Jensen/ Mark D. Elison (Hg.), The Routledge Handbook of Early Christian Art, New York 2018, 21 ‒ 38, 22. Die von Zimmermann verwendeten Bildzitate stammen aus Joseph Wilpert, Die Malereien der Katakomben Roms, Freiburg i.Br. 1903, 543 und 550. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0008 108 Stephanie Hallinger Abb. 2: sog. Brescia-Casket (Brescia-Lipsanotheca), Museo di Santa Giulia, San Salvatore, Brescia, Elfenbein, 4. Jh. n. Chr. Abb. 3: S. Apollinare Nuovo, Ravenna, Mosaik, 6. Jh. n. Chr. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0008 Im Raum zwischen „ kanonisch “ und „ parabiblisch “ 109 Sowohl in der Katakombenmalerei an der römischen Via Latina (Abb. 1) wie auch auf dem Elfenbein-Relief der aus Norditalien stammenden Brescia-Lipsanotheca (Abb. 2) aus dem 4. Jh. hält Jesus einen langen Stab in der Hand, mit dem er Lazarus berührt. Letzterer befindet sich in beiden Fällen noch in Leichentücher gehüllt in einerÄdikula statt gemäß Joh 11,38 ‒ 39 in bzw. vor einer Höhle; hier lehnt sich der Maler an ihm Bekanntes, genauer: die zeitgenössische Bestattungskultur an, statt dem Text zu folgen - Zimmermann spricht bei derartigen Motivübernahmen von der „ incorporation of traditional motifs in a Christian perspective “ 2 . In beiden Fällen steht er bereits aufrecht, anstatt noch im Bodengrab zu liegen. Die virga, der Zauberstab, ist Heribert Meurer zufolge „ der Stab, mit dem Hermes die Seelen der Verstorbenen aus dem Hades hervorrief “ , 3 und stellt zugleich eine Reminiszenz an das Quellwunder des Moses dar, dem sowohl in der Wandmalerei als auch auf frühchristlichen Sarkophagen die Auferweckung des Lazarus oftmals typologisch gegenübergestellt wird. Wo sich also noch keine eigene christliche Ikonographie entfalten konnte, greift man in der Bilddarstellung auf bekannte Formeln zurück, die gleichzeitig viel über das Verständnis der zugrundeliegenden Erzählung verraten: Christus tritt als „ Magier “ auf, die spätantiken Katakombenmaler und Elfenbeinschnitzer begreifen sein Wirken entweder als Emanation von Magie statt göttlicher Macht, oder es fehlen ihnen schlichtweg noch die notwendigen Formeln zur Übersetzung ins Bildmedium. Einen Schritt weiter sind hier bereits die Mosaiken von S. Apollinare Nuovo in Ravenna aus dem 6. Jh. (Abb. 3): zwar steht Jesus auch hier noch vor einer Ädikula statt vor einem Felsengrab, wie es der johanneische Text eigentlich verlangt, doch ist hier der Magierstab bereits durch einen Segensgestus ersetzt. Das Wunder scheint also bereits so weit ins „ kulturelle Gedächtnis “ eingegangen zu sein, dass es keiner ikonographischen Hilfskonstruktionen bedarf, um vom Betrachter erkannt und somit „ lesbar “ zu werden. Allen hier gezeigten Bildern indes ist die Form der Ädicula gemein, die jeweils mit ziegelgedecktem Dach, das Tympanonfeld stützende Säulen beiderseits des Eingangs und auf einer Basis ruhend gezeigt wird, zu der mehrere Stufen emporführen - Heribert Meurer zufolge eine gezielte Anlehnung an das seit dem 4. Jh. verehrte Lazarusgrab in Bethanien 4 , zu dem sich in seiner heutigen Form jedoch kein architektonisch augenfälliger Bezug mehr herstellen lässt. 2 Zimmermann, Catacomb Painting (s. Anm. 1), 23. 3 Heribert Meurer, Art. Lazarus von Bethanien, in: Lexikon der Christlichen Ikonographie, Bd 3, (1971) 33 f. 4 Vgl. Meurer, Lazarus (s. Anm. 3), 34. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0008 110 Stephanie Hallinger Abb. 4: Giotto di Bondone, Fresken in der Arenakapelle in Padua, 1304 - 1306. Über mehr als ein Jahrtausend hinweg blieb die so entstandene Bildformel stabil, ohne größeren Transformationen unterworfen zu sein. Noch Giotto di Bondone, der große Neuerer der Kunst am Vorabend der Renaissance, hielt in seiner Darstellung in der Arenakapelle zu Padua (Abb. 4) am spätantiken Darstellungsschema fest und tauschte lediglich die Ädicula gegen ein Felsengrab, wie es der neutestamentliche Text fordert. Die Leichenbinden, der Segensgestus, die Distanz zwischen Jesus und Auferwecktem jedoch - alle übrigen Bildelemente sind weiterhin erkennbar (wie im Übrigen auch noch die gesamte Renaissance hindurch). Erst im Frühbarock brach man mit der althergebrachten Tradition und ließ aus dem johanneischen Text etwas von Grund auf Neues entstehen. 2. Caravaggios „ Auferweckung des Lazarus “ : Eine Annäherung über Joh 11 Michelangelo Merisi wurde 1571 im 50 Kilometer westlich von Mailand gelegenen Caravaggio geboren und starb 1610 in Porto Ercole, einem kleinen Küstendorf in der südlichen Toskana. Mehrmals befand sich der frühbarocke Maler in existenzbedrohenden Situationen; während seiner Römischen Jahre nach 1591 sorgten sowohl seine Altarbilder als auch seine privaten Eskapaden regelmäßig für Aufruhr. Dieser gipfelte in einem Totschlag, der ihn 1606 zur Flucht nach Malta zwang. Dort gewährte ihm der Johanniterorden Asyl und nahm ihn als Ritter auf, doch auch dort wurde er wegen eines Deliktes gefangen gesetzt. Dank der Hilfe unbekannter Freunde konnte in einer Nacht-und-Nebel- Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0008 Im Raum zwischen „ kanonisch “ und „ parabiblisch “ 111 Aktion im Oktober 1608 nach Sizilien fliehen, wo seine letzte Schaffensperiode begann. Nahezu alle Bilder, die bis Juli 16010 entstanden, beschäftigen sich mit dem Themenkreis um Tod, Zeit und Ewigkeit. Abb. 5: Michelangelo Merisi detto il Caravaggio, Auferweckung des Lazarus, 1609, Museo Regionale in Messina, Öl auf Leinwand. Die mit 3,80 x 2,75 m monumentale, in Öl auf Leinwand gemalte Auferweckung des Lazarus (Abb. 5) befindet sich heute im Museo Regionale in Messina; ursprünglich hatte es der Messineser Kaufmann Battista de ’ Lazzari bei Caravaggio in Auftrag gegeben. Als der Stifter einige Monate zuvor das Bestattungsrecht in einer Chorkapelle der Kirche Santi Petro e Paolo de ’ Pisani erworben hatte, verpflichtete er sich vertraglich zur Ausstattung mittels eines Hochaltarbilds. Im ursprünglichen Vertrag ist von einer Madonnendarstellung mit Heiligen die Rede. Weil in jener Kirche jedoch seit 1591 der Ordine dei Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0008 112 Stephanie Hallinger Ministri degli Infermi untergebracht war, haben sich Stifter und Ordensobere höchstwahrscheinlich auf das von Caravaggio ausgeführte Thema verständigt, das den Stifternamen mit dem Tätigkeitsfeld der volkssprachlich „ Orden des guten Sterbens “ 5 genannten Padri Crociferi - die Pflege Kranker und Bedürftiger - in Einklang bringt. Um das bahnbrechend Neue an diesem Tafelbild zu erkennen, 6 nähern wir ihm uns zunächst über die Lazarus-Perikope des Johannesevangeliums. Die mehrmals erwähnten vier Tage im Grab scheinen „ primär der Mitteilung theologischer Sachverhalte zu dienen “ 7 , da die Reisedauer Jesu und des Boten von bzw. nach Bethanien nicht genannt werden. Dass Jesus zwei Tage wartet, bis er sich auf den Weg macht, sei wiederum ein klares Signal an die Rezipienten, dass der Erlöser die in ihn gesetzten Erwartungen eben nicht a priori erfülle, sondern „ daß Jesu Handeln seine gesetzte Zeit und Stunde hat (vgl. Joh 2,4; 7,6). “ 8 Hinter den vier Tagen, die Lazarus im Grab verbringe, stehe wiederum eine Tradition, die sich auch in rabbinischen Quellen findet. Dieser zufolge verweilt nach dem Tod die Seele noch drei Tage in der Umgebung des Körpers; in dieser Zeit sei eine Rückkehr in den Körper noch vorstellbar, anschließend werde sie von den Strafengeln mitgenommen, wie eine Reihe apokrypher Texte belegt; sobald aber am vierten Tag die Verwesung einsetze, müsse bei einer Rückkehr ins Leben von einem göttlichen Wunder ausgegangen werden, das menschliche Möglichkeiten schlicht übersteige. 9 Wie Frey darlegt, zeichnet sich die Lazarus-Perikope durch eine „ auffällige Doppelzeitlichkeit “ aus, die einerseits den lebendigen, wirkmächtigen Jesus vor Augen führt, andererseits eine proleptische Funktion „ als Zeichen und Prolepse jener kommenden Stunde “ erfülle. 10 Die fünfteilige szenische Strukturierung unterstreiche zusammen mit einer Reihe von literarischen Stilmitteln und Signalen die auktoriale Gestaltung, wobei retardierende Elemente zur Steige- 5 Vgl. Sybille Ebert-Schifferer, Caravaggio. Sehen - Staunen - Glauben. Der Maler und sein Werk, München 3 2019, 229. 6 Die oft genug herausgestellte Parallele zur „ Auferweckung des Lazarus “ des Cavaliere d ’ Arpino (Giuseppe Cesari) für den Palazzo Barberini (ca. 1591 - 1593, heute in der Galleria nazionale d ’ arte antica, Rom) bezieht sich auf rein formale Kriterien der Komposition, etwa die kreuzförmig ausgebreiteten Arme des Auferweckten, und wird daher an dieser Stelle nicht weiter thematisiert. 7 Jörg Frey, Die johanneische Eschatologie. Band 2: Das johanneische Zeitverständnis (WUNT I/ 110), Tübingen 1998, 197. 8 Frey, Eschatologie 2 (s. Anm. 7), 198. 9 Neben rabbinischen Zeugnissen begegnen ähnliche Vorstellungen u. a. in der Zephanja- Apokalypse, der Pistis Sophia, der syrischen Markus- und Makariusapokalypse und dem Testament Abrahams, vgl. Frey, Eschatologie 2 (s. Anm. 7), 199 f. 10 Vgl. Jörg Frey, Die johanneische Eschatologie, Band 3: Die eschatologische Verkündigung in den johanneischen Texten (WUNT I/ 117), Tübingen 2000, 416. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0008 Im Raum zwischen „ kanonisch “ und „ parabiblisch “ 113 rung der inneren Dramatik dienen, die Schlussszene vorausgehende Erzählelemente wiederaufnehme und dadurch die Klimax zusätzlich betone. Auf den Sinngehalt der Perikope im Hinblick auf das Kreuzesgeschehen wiederum deute bereits V. 4 zeichenhaft hin: Es gehe um das paradoxe Verhältnis von Tod und doxa, um den Zusammenhang zwischen dem Tod des Lazarus und der ‚ Verherrlichung ‘ des Sohnes wie auch umgekehrt zwischen derAuferweckung des Lazarus aus seinem Grab und dem Ganz des Sohnes ans Kreuz. 11 Für bildliche Darstellungen (und insbesondere die in der Malerei Caravaggios so zentrale Lichtregie) bedeutsam und ergiebig ist die Antithese von Tag und Nacht, Sichtbarem und Unsichtbarem, Offenbarem und Verborgenem. Der Text, rekurriert damit auf „ das Motiv des ‚ Tages ‘ als Zeit der öffentlichen Wirksamkeit Jesu, die mit dem Einbruch der ‚ Nacht ‘ (vgl. 13,30). ‚ in der niemand wirken kann ‘ (9,4), bzw. mit dem Beginn der ‚ Stunde Jesu ‘ (12,23; vgl. 2,4; 7,30; 8,20) zu Ende geht. “ 12 Für seine Bildkomposition macht Caravaggio das Begriffspaar auf ganz eigene Weise fruchtbar: Indem er das Geschehen von draußen ins Innere einer Grabkammer verlegt, kennzeichnet er die Auferweckung als (noch verhülltes, für die Anwesenden nicht als solches erkennbares) Vorzeichen dessen, was mit Passion und Kreuzestod Christi wenig später deutlich sichtbar werden soll - Frey formuliert es im Hinblick auf den Text so: „ Durch semantische Bezüge zur Passionsgeschichte und die von V. 8 über V. 12 bis V. 16 sich wandelnde Reaktion der Jünger wird sukzessive deutlich, daß Jesu Weg zu Lazarus ihn selbst in den Tod führen wird und daß allein in diesem Horizont das Wirken Jesu hinreichend verstanden werden kann. „ [Die Adressaten sollen] in ihm mehr erkennen als einen Wunderheiler oder Gesundbeter: den Sohn Gottes (V. 4), ja ‚ die Auferstehung und das Leben ‘ in Person, der in göttlicher Vollmacht die Toten auferweckt. “ 13 Hiervon abgesehen bietet die äußere Handlung der Perikope (auch im Horizont des Johannesevangeliums) vergleichsweise viele Anhaltspunkte für bildliche Darstellungen. Auf die Form des Grabes wurde bereits im Zusammenhang mit den spätantiken Bildbeispielen hingewiesen: Beide Gräber, das des Lazarus wie auch später das Jesu selbst in Joh 20,1, werden als mit einem Stein verschlossenes Höhlengrab beschrieben; Jesus befiehlt den Umstehenden, die Deckplatte wegzuheben (arate, V. 39a vs. ē rmenon, 20,1). Mehrmals wird explizit erwähnt, dass Jesus heftige Emotionen zeigt - in Form seines Ergrimmens auf 11 Frey, Eschatologie 3 (s. Anm. 10), 421. 12 Frey, Eschatologie 3 (s. Anm. 10), 427 f. 13 Frey, Eschatologie 3 (s. Anm. 10), 430. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0008 114 Stephanie Hallinger dem Weg nach Bethanien und durch sein Weinen im Vorfeld der eigentlichen Erweckung. Bei dieser ruft er Lazarus „ mit lauter Stimme (ph ō n ē megal ē ) und einem knappen Befehl (ohne Verbum! ): lazare, deuro ex ō , aus dem Grab und antizipiert so die ph ō n ē des Menschensohnes, die am Ende nach Joh 5,28 f. die Toten aus den Gräbern rufen soll. “ 14 Der Verstorbene tritt daraufhin als Wickelleiche aus dem Grab, an Händen und Füßen gebunden und mit Schweißtuch auf dem Gesicht. Caravaggios Tafelbild zeigt jenen Moment, in dem Jesus im Begriff ist, den bereits seit vier Tagen toten und, wie seine Schwester Marta vor Öffnung des Grabes fürchtet, bereits nach Verwesung riechenden Lazarus wiederzubeleben ( Joh 11,39): Mit zum Zeigegestus erhobenen rechtem Arm steht Jesus am linken Bildrand; seine linke Hand ist mit nach unten gerichtetem Zeigefinger unter dem dunkelgrünen Pallium im Halbdunkel erkennbar. Während das von links hinten einfallende Licht die Gesichter der Umstehenden wie auch den bereits von Leintüchern befreiten Körper des Lazarus durch kontrastreiche Schlaglichter erhellt, liegt das Haupt Christi ganz im Dunkel. Der Stoff seiner Tunika hingegen leuchtet geradezu in einem warmen, satten Rot, sodass es beinahe scheint, als strahle das Licht vom Arm Jesu aus. Hinter ihm dicht gedrängt steht eine Gruppe männlicher Zuschauer, ausnahmslos mit entsetztem, fassungslosem Gesichtsausdruck - jene Ioudaioi, die sich in Martas Haus aufhalten und ihr nach draußen folgen, im Glauben, sie wolle am Grab weinen ( Joh 11,31). Anders als im Evangelium beschrieben, spielt sich die Erweckungsszene nicht vor dem Grab ab, sondern darin (was auch die Art des Lichteinfalls erklärt); es handelt sich dabei auch nicht um „ eine Höhle, die mit einem Stein verschlossen war “ ( Joh 11,38), sondern um eine ähnliche Kulisse, wie sie bereits in einem früheren Bild Caravaggios begegnet: Die in weiten Teilen freie Bildfläche (deren Architektur an den Eingang der syrakusanischen Latomie, die Katakomben vor der Stadtmauer, erinnert 15 ) und die beiden zentral im Vordergrund positionierten Totengräber mit um den Rumpf gewickelten weißen Tüchern als einziger Kleidung rufen deutlich das mit 408 x 300 cm noch größer angelegte Begräbnis der hl. Lucia (Abb. 6) in Erinnerung, das erste der sizilianischen Werke Caravaggios, das er nach seiner Landung auf der Insel 1608 für die Kirche Santa Lucia al Sepolcro schuf. 14 Frey, Eschatologie 3 (s. Anm. 10), 442. 15 Vgl. Sebastian Schütze, Caravaggio. Das vollständige Werk, Köln 2017, 275. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0008 Im Raum zwischen „ kanonisch “ und „ parabiblisch “ 115 Abb. 6: Caravaggio, Begräbnis der hl. Lucia, 1608, Öl auf Leinwand, 408 x 300 cm, Syrakus, Basilica di Santa Lucia al Sepolcro (Leihgabe im Museo di Palazzo Bellomo). Hier wie dort prägt eine trostlose Atmosphäre das Bild, die in der Lazarus-Szene aber noch gesteigert ist durch die stärkere Präsenz des Todes in Form des bereits von Leintüchern befreiten, ausgemergelten, leichenstarr und mit vom Tod gezeichneten Hautkolorit scheinenden Körper, den der Totengräber diagonal im Bild hebt, und die menschlichen Gebeine darunter; Caravaggio setzt hier die Jesusworte aus 11,25 f. unmittelbar in seiner Bildformel um, indem er die Begriffstrias Auferstehung - Leben - tot (resurrectio - vita - mortuus) in direkten Bezug zueinander setzt, nämlich als aufsteigende Linie vom am Boden liegenden Schädel über den nach hinten gefallenen Kopf des Lazarus zu seiner über ihn gebeugten Schwester Marta, die ihn (aller Todeszeichen zum Trotz) zu Küssen im Begriff ist. Martas hellrote Palla mit der darunter getragenen grünlichen Tunika nimmt die Farben von Jesu Gewändern auf; die beiden bilden auf diese Weise einen Rahmen um die Personengruppe im Vordergrund - und auch der Blick Jesu ruht auf Marta, wenngleich er auf Lazarus deutet (mit dem Erweckungsgestus, der Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0008 116 Stephanie Hallinger bereits in der frühchristlichen Kunst begegnet). In der zweiten Reihe dahinter steht rechts über Marta die in sich versunken wirkende Maria mit dem Schultertuch, eine der von Caravaggio am häufigsten dargestellten biblischen Figuren. 16 Auch sonst zeigt die Komposition viel von Caravaggios reifem Stil Bekanntes: Die bis auf wenige gezielt gesetzte Farben und Akzente beinah monochromatische Farbgebung ist dafür ebenso typisch wie die dramatische Beleuchtung mit extremen Hell-Dunkel-Kontrasten, bei der sich nur wenige Partien vom dunklen Hintergrund abheben, und der Verzicht auf alles Periphere. Es entsteht eine starke Konzentration auf die wesentlichen narrativen Elemente, ohne jegliches unnötiges decorum, ohne Ablenkung von den handelnden Figuren und deren ausdrucksstarker, extrem individualisierter Physiognomie. Eine der Hauptfragen in Bezug auf das Bild Caravaggios lautet, ob Lazarus bereits lebendig ist oder seine Auferweckung noch bevorsteht. Er trägt alle Zeichen des Todes, lediglich die wie zur Abwehr erhobene rechte Hand, auf die der von außen dringende Lichtstrahl trifft, zeugt vom Erweckungswunder. Diese „ Transitions- “ bzw. „ Schwellenphase “ 17 zwischen Tod und Leben beschäftigte Kunsthistoriker von Herwarth Röttgen über Howard Hibbard (für den Lazarus ’ Armpositur Passion und Auferstehung in einem Wunder zusammenfasst 18 ) bis hin zu Svein Aage Christoffersen, der darin einen weiteren Beleg für Caravaggios Faszination an „ transitions and turning points “ 19 erkennt. Derlei Erklärungsversuche sind indes kaum nötig, wenn man den Blick auf den zugrunde liegenden Text richtet: V. 44 des Johannesevangeliums nennt 16 Auf dem Stuhl sitzend im 1595/ 96 entstandenen Gemälde der Galleria Doria Pamphili in Rom, zusammen mit Marta auf dem Doppelbildnis des Detroit Institute of Arts (1598/ 99) sowie auf der Grablegung Christi der Pinacoteca Vaticana (1602/ 03); alle drei Bilder entstanden während der römischen Jahre Caravaggios. Maria ist jeweils nach unterschiedlichen Modellen gemalt, wobei die letzten beiden Marien eine gewisse Ähnlichkeit mit derjenigen in der Auferweckung des Lazarus aufweisen, sodass sich von einem mehr oder minder konstanten Typus sprechen ließe. 17 Diese von Arnold van Gennep geprägten Begriffe für einen Liminalitätsstatus „ zwischen zwei Welten “ eignen sich ganz besonders, um den hier dargestellten Moment zu definieren. Siehe hierzu u. a. in aller Knappheit Arnold van Gennep, Räumliche Übergänge (1909), in: Stephan Günzel (Hg.), Texte zur Theorie des Raums, Stuttgart 2013, 37 - 40. 18 “ The unusual pose of Lazarus may be meant to foreshadow the crucifixion of the Christ who resurrects him, thereby encapsulating the Passion and the Resurrection in one miracle. ” - Howard Hibbard, Caravaggio (Icon Editions), Boulder/ Oxford 1985, 243. 19 Svein Aage Christoffersen, Ambiguity and the Fullness of Time. The Sacred and the Profane in Caravaggio ’ s Paintings, in: Mette B. Bruun/ Stephanie Glaser (Hg.), Negotiating heritage. Memories of the Middle Ages, Turnhout 2008, 287 ‒ 308, 305. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0008 Im Raum zwischen „ kanonisch “ und „ parabiblisch “ 117 Lazarus im Griechischen „ der Verstorbene “ (tethn ē k ō s, Partizip Perfekt 20 ) - es handelt sich also um jemanden, der nicht mehr am Leben teilnimmt. Jene Erwartung, die Jesus in Vers 11,24 f. gegenüber Marta weckt wird enttäuscht, der Auferstandene bleibt Verstorbener. Der Text verdeutlicht dies auch daran, dass er kein weiteres Interesse an Details oder dem Fortgang von Lazarus ’ Geschichte zeigt: in Joh 12,10 ist noch einmal die Rede davon, dass auch er wie Jesus getötet werden sollte, doch danach verliert sich seine Spur. Auch kommt es im unmittelbaren Textfortgang zu keiner weiteren Interaktion mit Jesus, etwa einer Umarmung, wie sie zwischen Freunden (zumal im Anschluss an ein derartiges Wunder) zu erwarten wäre - und genau diese Distanz zeigt auch die Komposition Caravaggios, welche Jesus in deutlichem Abstand von Lazarus erscheinen lässt - ein Merkmal dieser Szene, die nicht nur im johanneischen Text irritiert, sondern auch spätere Bearbeitungen des Stoffes prägt. 3. Die Auferweckungsszene in außerkanonischen Schriften Die Legenda aurea des Jacobus de Voragine (letztes Drittel des 13. Jh.s), die allein schon aufgrund der immensen handschriftlichen Überlieferung als nach der Bibel am häufigsten gelesenes Buch des Mittelalters gilt, 21 enthält zu Lazarus keine eigene Legende. Der dominikanische Verfasser erwähnt den von Jesus Auferweckten mehrmals 22 als Bruder der heiligen Marta und Maria Magdalena in deren Legenden; ein eigener, sehr kurzer Legendenabschnitt findet sich lediglich im Sondergut einzelner Überlieferungsstränge (Cap CCXXXV/ 206, De sancto Lazaro episcopo et discipulo domini 23 ). Die Perikope des Johannesevangeliums erscheint dort auf einige wenige Sätze gekürzt: 20 Dass hier kein Aorist steht, signalisiert und unterstreicht das Fortdauern des Zustands. Ich danke Tobias Nicklas für diesen Hinweis. Im lateinischen Text ist dies weniger deutlich; dort ist im Plusquamperfekt von jenem die Rede „ qui fuerat mortuus “ . 21 Allein mehr als 1.000 lateinische Codices und 150 Drucke aus dem späten frühen und frühen 16. Jahrhundert legen hiervon beredtes Zeugnis ab, vgl. Stephanie Rappl, Text und Bild in der Elsässischen Legenda aurea. Der Cgm 6 (Bayerische Staatsbibliothek München) und der Cpg 144 (Universitätsbibliothek Heidelberg), Hamburg 2015, 19. Hinzu kommt eine schier unüberschaubare Zahl an Übersetzungen in alle europäischen Volkssprachen sowie eine wild wuchernde Rezeptionsgeschichte. 22 In den Abschnitten zum Evangelisten Johannes, zur Passion und zur Auferstehung Christi, in der Siebenschläferlegende sowie in den Legenden seiner Schwestern Marta und Maria Magdalena. 23 Johann G. T Graesse, Legenda aurea. Vulgo historial Lombardica dicta ad optimorum librorum fidem, Leipzig 1850, 948 f. In den edierten Textausgaben der Elsässischen Legenda aurea wie auch der neuhochdeutschen, von Richard Benz besorgten Fassung ist die Legende, die zum Sondergut zählt, nicht enthalten. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0008 118 Stephanie Hallinger Der so sehr von unserem Herrn Jesus Christus geliebt wurde, wie auch sein Sekretär Johannes in Kapitel 11 [seines Evangeliums] beschrieb und sagt, dass ein gewisser Lazarus schwer krank war ( Joh 11,1). Da sandten die besagten Schwestern zum Herrn und ließen hm sagen: Sieh, Herr, der, den du liebst, ist krank (vgl. Joh 11,3). Jesus aber, der Retter der Welt ( Joh 4,42), antwortete: Diese Krankheit ist nicht zum Tod, sondern zur Herrlichkeit Gottes und dazu, dass der Sohn Gottes durch sie verherrlicht wird ( Joh 11,4). Und danach sagte er zu seinen Jüngern ( Joh 11,7): Unser Freund Lazarus schläft, aber ich gehe, um ihn aus seinem Schlaf zu wecken ( Joh 11,11). Als er aber an den Ort kam ( Joh 11,17) und die Schwestern des Heiligen Lazarus ihn unter den größten Tränen ( Joh 11,33? ) verehrten ( Joh 11,32) und klagend sagten: Wenn du hier gewesen wärest, wäre mein Bruder nicht tot ( Joh 11,21.32), ging er zu dem Ort und erweckte den seligen Lazarus ( Joh 11,43 f.), der schon vier Tage lang tot war ( Joh 11,17). 24 Für die Bilddarstellung liefert der Text nur wenige Anhaltspunkte; die Szene war (nicht zuletzt aufgrund zahlloser Bilddarstellungen seit der Spätantike) so bekannt, dass sie dem Verfasser lediglich einen einzigen Halbsatz wert ist - der aber offenbar ausreichte, um bei den Rezipienten das kursierende „ Legendenwissen “ 25 zu aktivieren. Ein interessantes Bilddetail ist der Totenkopf unter Lazarus ’ linker Hand, die leblos nach unten weist - als Gegenstück zur Rechten, die abwehrend in Jesu Richtung zeigt. Ob man nun, wie Herwarth Röttgen vermutet, einen Anklang an die acclamatio 26 erkennen mag, sei dahingestellt. In jedem Fall aber zeigt die Rechte auf Christus, Symbol des Lebens schlechthin ( Joh 11,25), die Linke auf den Totenkopf unten - ein, wie Röttgen weiter schreibt, in der Lazarus- Ikonographie ungewöhnliches Bildelement, das die Unentschiedenheit von Lazarus ’ Zustand zwischen Reich des Lebens und des Todes noch zusätzlich 24 Lateinischer Text Graesse, Legenda aurea (s. Anm. 23), 949. Übers. Tobias Nicklas. 25 Zum Begriff vgl. Leopold Kretzenbacher, Die Seelenwaage. Zur religiösen Idee vom Jenseitsgericht auf der Schicksalswaage in Hochreligion, Bildkunst und Volksglaube (Buchreihe des Landesmuseums für Kärnten 4), Klagenfurt 1958, 101. 26 Herwarth Röttgen glaubt hierin eine Reminiszenz an die Geste der acclamatio aus der frühchristlichen Kunst zu erkennen, eines Grußes, der in der christlichen Ikonographie in Gegenwart des sprechenden Jesus die Bedeutung des „ theois dexiousthai “ annahm. ‒ Herwarth Röttgen, La Resurrezione di Lazzaro del Caravaggio, in: Mia Cinotti (Hg.), Novità sul Caravaggio. Saggi e contributi, atti del convegno internazionale di studi caravaggeschi (Bergamo 1974), Mailand 1975, 61 - 74, 62; ders., Kreuz und Auferstehung. Caravaggios Auferweckung des Lazarus, in: Carla Heussler/ Sigrid Gensichen (Hg.), Das Kreuz. Darstellung und Verehrung in der Frühen Neuzeit (Regensburger Studien Zur Kunstgeschichte 16), Regensburg 2013, 130 - 141, 133. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0008 Im Raum zwischen „ kanonisch “ und „ parabiblisch “ 119 verstärke, 27 und das Bild in die Nähe des Nikodemus-Evangeliums (EvNik) rücke - jenem Apokryphon, in dem Jesus eben dieses ‚ Reich des Todes ‘ betrete. Der Descensus Christi ad inferos, also der Abstieg Christi in die Unterwelt, beschrieben im zweiten Teil des EvNik, bildet für Röttgen den Ausgangspunkt zur symbolhaften Implementierung des Totenschädels. Als Textgrundlage verwendet er die lateinische Version aus Tischendorfs Evangelia apocrypha, der bis heute maßgeblichen Textausgabe, 28 und zitiert ausschnittsweise aus dem Dialog zwischen Hades und Satan in Kapitel IV (XX),3: Wer ist dieser Jesus, der mir durch sein Wort ohne Bitten die Toten entreißt? Vielleicht ist er es, der durch sein Machtwort den vier Tage lang stinkenden und zerfallenen Lazarus wieder zum Leben erweckte, den ich als Toten festhielt. Da antwortete Satan, der Fürst des Todes, und sagte: Es ist jener Jesus. Aber als Fähigkeiten, ihn nicht mir zu übergeben. Denn als ich die Macht seines Wortes hörte, erzitterte ich vor Furcht und Schrecken, und all meine Bediensteten waren mit mir verwirrt. Auch Lazarus selbst konnten wir nicht festhalten; er schüttelte sich vielmehr wie ein Adler und entsprang uns voll Behendheit und Schnelligkeit; und die versöhnte Erde, die den Leichnam des Lazarus hielt, gab ihn sofort lebendig zurück. 29 Es handelt sich hier um jenen Dialog um die Wirkmacht Christi, der mit leichten Variationen auch in die Legende Von der Auferstehung des Herrn der Legenda aurea Einzug hielt. 30 Wir erkennen hier einen weiteren Beleg für das bereits oben erwähnte Legendenwissen - und in der Zusammenschau der lateinischen Texte zeigt sich eine erstaunliche Quellentreue des Jacobus de Voragine, der selbst die Adlermetapher aus der spätantiken Vorlage übernahm. Dass Caravaggio bestens mit der Legenda aurea bekannt war, zeigt eine Vielzahl seiner späten Martyrienbilder - sie diente mit hoher Wahrscheinlichkeit als Vermittlungsinstanz für den Stoff aus dem apokryphen Evangelium. Mit einem anderen, weit weniger literarischen Text wiederum war Caravaggio aufs Beste vertraut, da sein Inhalt ihn mehrfach in Auseinanderset- 27 „ Esso [il teschio] ha naturalmente la funzione di rappresentare I due poli poopsti, morte e vita, definendo così l ’ esistenza di Lazzaro - in questo momento sospesa tra il regno della morte e quello della vita - con Maggiore intensità di quanto potrebbe farlo la raffigurazione del semplice risveglio. “ 28 Vgl. Wilhelm Schneemelcher (Hg.), Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung. Band 1: Evangelien, Tübingen 6 1990, 399. 29 Evangelii Nicodemi pars altera sive descensus Christi ad inferos, in: Constantin von Tischendorf, Evangelia apocrypha. Adhibitis plurimis codicibus graecis et latinis maximam partem nunc primum consultis atque ineditorum copia insignibus, Leipzig 1876, 389 - 416, 396. - Übersetzung Tobias Nicklas. 30 Der Text ist über weite Strecken parallel, vgl. Legenda Aurea. Goldene Legende, hg. und üs. von B. W. Häupli (Fontes Christiani), Freiburg u. a. 2 2022, 761. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0008 120 Stephanie Hallinger zungen mit Auftraggebern verwickelte: Die Tridentinischen Bildervorschriften verhandeln das, was in der religiösen Malerei erlaubt ist - und was nicht. Letzteres bildete eine imaginäre rote Linie, die der frühbarocke Maler mit seinem Hang zum Skandal oft und gerne übertrat. In der Sphäre der „ gelebten Religion “ nahm die Bilderfrage während der (Gegen-)Reformation eine zentrale Rolle ein; die formalen Kriterien religiöser Darstellungen wurden in der Schlusssitzung des Tridentinischen Konzils (sessio XXV) erörtert. Die Kernpunkte unterstreichen zunächst die Legitimität der Heiligenverehrung aufgrund ihrer Vorbildfunktion für Gläubige; zugleich wird sie gegen Missbräuche verteidigt. 31 Am bedeutsamsten für die Bildkunst sind bezeichnenderweise nicht die Gebote, sondern die Verbote des Dekrets: Ferner soll aller Aberglaube in der Anrufung der Heiligen, der Verehrung der Reliquien, dem hl. Gebrauch der Bilder beseitigt, jede schändliche Gewinnsucht ferngehalten, jede Lüsternheit vermieden werden, sodaß keine Bilder von üppiger Schönheit gemalt oder geschmückt werden [ … ]. Die Bischöfe sollen endlich hierin mit solch gewissenhafter Sorgfalt vorgehen, daß nichts Unordentliches, nicht in verkehrter und übereilter Weise Angeordnetes, nichts Profanes und nichts Unanständiges in Erscheinung trete, da dem Hause Gottes Heiligkeit geziemt. 32 Es mag also durchaus einem gewissen Überdruss an Auseinandersetzungen (oder auch dem Willen, in den Augen des Papstes Gnade zu finden und seine Verbannung aus Rom aufgehoben zu sehen) geschuldet sein, dass Caravaggio den Hinweis auf den apokryphen Text sehr dezent im Bild versteckt und daher zu einem ungewöhnlichen Einzelmotiv greift. Insgesamt nämlich treten in der mittelalterlichen (nicht nur byzantinischen, sondern auch westlichen) Ikonographie unter Rückgriff auf die Kirchenväter und das EvNik häufig Hades, Satan oder Hinweise auf das Weltgericht (etwa Christus mit einem Buch in der Hand) auf, 33 die den Bilderverboten zufolge der licenza religiöser Darstellungen widersprochen hätten: Apokryphen wurden somit für lange Zeit zu illegitimen Bildquellen erklärt, was zu einem Paradoxon führte: Die (zumeist) spätantiken Texte waren im Lauf der Jahrhunderte tief ins kulturelle Gedächtnis eingesunken; aus ihnen speiste sich ein erheblicher Anteil des Legendenwissens, 31 vgl. Carlo Marcora, Trattati de ’ arte sacra all ’ epoca del Baronio, in: Romeo di Maio u. a. (Hg.), Baronio e l ’ arte. Atti del convegno internaionale di studi (Sora, 10. ‒ 13.10.1984), Sora 1985, 198 ‒ 244, bes. 191. 32 Conciliorum oecumenicorum decreta. Curantibus Josepho Alberigo (et al.); Consultante Huberto Jedin. Bologna: Istituto per le Scienze Religiose, Centro di documentazione 3 1973, 775 f., hier: 776. Übersetzung nach Thomas Aschenbrenner, Die Tridentinischen Bildervorschriften. Eine Untersuchung über ihren Sinn und ihre Bedeutung (Schriftenreihe der Universität), Freiburg i. Br. 1930, 44 f. 33 Vgl. Meurer, Lazarus (s. Anm. 3), 34 ‒ 7. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0008 Im Raum zwischen „ kanonisch “ und „ parabiblisch “ 121 das die Religiosität des Volkes mitbestimmte. Es entstand auf diese Weise eine eklatante Leerstelle in der Produktion neuer religiöser Kunst. Diese wiederum musste auf erfindungsreiche Weise geschlossen werden - indem die neuen Bilder selbst (im weiten Sinne) zu Apokryphen - oder vielleicht besser: zu Parabiblica - wurden, die biblische Geschichten fortschreiben und neu inszenieren. 4. Die Auferweckung des Lazarus als Apokryphon bzw. Teil einer parabiblischen Tradition und als Heterotopie Für einen offenen Apokryphenbegriff plädierte Tobias Nicklas erstmals 2006. Er fasst ihn dezidiert nicht in Form einer geschlossenen Definition, sondern nähert sich ihm von den Aspekten der Textualität und Intertextualität her, die eine Art Geflecht mit Leerstellen entstehen lassen. Diese Leerstellen füllen „ Ergänzungsfragen “ der Rezipienten, die wiederum eine Vielzahl an Deutungsangeboten ermöglichen. 34 Unter Rückgriff auf Gérard Genettes Konzept der Hypertextualität 35 ergeben sich somit offene Grenzen für verschiedenste Überlagerungen von Hyper- und Hypotext, die lediglich Para- und Metatexte ausschließt, ansonsten aber jede Art von Fortschreibung zulassen. Dadurch versteht Nicklas in seinem Versuch einer Begriffsannäherung einen Text als christliches Apokryphon [ … ], wenn er (1) nicht Teil der in der heutigen christlichen Bibel gesammelten Schriften geworden sowie nicht nur oder weitestgehend nur aus Abschnitten der christlichen Bibel zusammengesetzt ist, wenn er aber (2) (in seiner Gesamtheit) als Hypertext zu Teilen oder dem Ganzen der christlichen Bibel gelesen werden will. Diese Teile der christlichen Bibel bzw. die christliche Bibel selbst bildet dann einen ‚ privilegierten Hypotext ‘ des entsprechenden Hypertextes. 36 Zu Apokryphen - oder vielleicht besser: Parabiblica 37 - zählen aufgrund eines weit gefassten Textualitätsbegriffs grundsätzlich auch bildliche Darstellungen. Dies wiederum deckt sich mit Erwin Panofskys Methodikbegriffen der Ikonographie und Ikonologie, 38 deren Terminologie bereits impliziert, dass Bilder wie 34 Vgl. Tobias Nicklas, Semiotik - Intertextualität - Apokryphität. Eine Annäherung an den Begriff „ christlicher Apokryphen “ , in: Apocrypha 17 (2006), 55 - 78 35 „ Darunter verstehe ich jede Beziehung zwischen einem Text B (den ich als Hypertext bezeichne) und einem Text A (den ich … als Hypotext bezeichne), wobei Text B Text A auf eine Art und Weise überlagert, die nicht die des Kommentars ist. “ - Gérard Genette, Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt a. M. 1993, 14 f. 36 Nicklas, Semiotik (s. Anm. 34), 74. 37 Nicklas spricht in diesem Zusammenhang von „ parabiblischen Traditionen “ . Vgl. hierzu auch den Beitrag von Nicklas im vorliegenden Band. 38 Diese entwickelte Panofsky u. a. in zwei grundlegenden Aufsätzen, Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst (1932) sowie Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0008 122 Stephanie Hallinger Geschriebenes zu interpretieren sind. Das Ziel der Interpretation jedoch ist erst erreicht, wenn sie die Gesamtheit der Wirkungsmomente (also nicht nur das Gegenständliche und Ikonographische, sondern auch die rein ‚ formalen ‘ Faktoren der Licht- und Schattenverteilung, der Flächengliederung, ja selbst der Pinsel-, Meißel- oder Stichelführung) als ‚ Dokumente ‘ eines einheitlichen Weltanschauungssinns erfaßt und aufgewiesen hat. 39 Auf jeder der drei Bedeutungs- oder Sinnebenen Sinnschichten (Phänomen-, Bedeutungs- und Dokumentsinn) bedürfe die höchst subjektive, je von der Weltanschauung des bzw. der Interpretierenden abhängige Betrachtung ein Korrektiv, im Grad der Komplexität aufsteigend von der Gestaltungsüber die Typenhin zur allgemeinen Geistesgeschichte. Die drei Sinnebenen sind dabei weder klar zu trennen noch „ als Grenzkämpfe zwischen subjektiver Gewaltanwendung und objektiver Geschichtlichkeit “ darzustellen; sie lassen sich vielmehr „ in praxi zu einem völlig einheitlichen und in Spannung und Lösung organisch sich entfaltenden Gesamtgeschehnis verweben “ 40 . Da nun aber Bilder eben niemals neutral sind und den zugrundeliegenden Text (sofern sich überhaupt ein Primat des Textes konstatieren lässt) nie 1: 1 ins Bild übersetzen, sind sie gemäß David R. Cartlidge und J. Keith Elliott schon ihrer Natur nach „ interpretations of oral and textual narratives “ und „ the transference of a story from one art medium to another. “ 41 Als Konsequenz werden bildliche Darstellungen von Apokryphen selbst zu solchen - auch und gerade deshalb, weil der Medienwechsel es begünstigt, dass kanonische und außerkanonische Motive miteinander verwoben werden. Die Transformation vom Text zum Bild (oder vice versa) wiederum führt zur Eröffnung eines neuen Kommunikationsraums. Eben dieser Raum konstituiert sich im Spannungsfeld zwischen Gegenstand und Interpretation, aber auch - um die vorhergehenden Überlegungen miteinzubeziehen - zwischen Hypertext und Hypotext, Kanonischem und Außerkanonischem. Die hier genannten Begriffspaare stehen dabei keineswegs nur in antagonistischem Bezug zueinander, im Gegenteil: sie tragen auch kompensatorische und affirmative Aspekte in sich, wie Tobias Nicklas es in seiner Beschreibung des Regensburger „ Beyond Canon “ -Projekts erläutert: Ikonographie und Ikonologie (1955), beide erschienen in Erwin Panofsky, Ikonographie und Ikonologie. Bildinterpretation nach dem Dreistufenmodell, Köln 2006. 39 Panofsky, Ikonographie (s. Anm. 38), 26. 40 Panofsky, Ikonographie (s. Anm. 38), 29 f. 41 David R. Cartlidge/ J. Keith Elliott, Art and the Christian Apocrypha, New York 2001, 16. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0008 Im Raum zwischen „ kanonisch “ und „ parabiblisch “ 123 [A]ußerkanonische Traditionen können mit ihren unterschiedlichen Ausdrucksformen, die im altchristlichen Diskurs ‚ Raum ‘ einnehmen, als ‚ Heterotopien ‘ (in freier Anwendung von Michel Foucaults Begriff ‚ Heterotopie ‘ ) verstanden werden oder solche repräsentieren. 42 Dies macht deutlich, weshalb es in mehrfacher Hinsicht sinnvoll ist, mit einem offenen Apokryphenbegriff zu arbeiten und, statt eine Grenze zum „ Kanonischen “ hin zu ziehen, von einem Kommunikationsbzw. Diskursraum zu sprechen. Die Transformation eines Stoffes von einem Medium ins andere (vom Text zum Bild, vom Bild zum Text oder auch im mehrfachen Wechselspiel) bewahrt und re-inszeniert Tradiertes, aktualisiert es, ergänzt es und/ oder schreibt es fort. Die Umsetzung apokrypher Texte in die Bildkunst, wie im vorliegenden Fall, stellt dabei nur einen von unzähligen Transformationsmodi dar, die sich aus dem Dreieck der Quellengattungen (Text - Ritualität - Material Culture) ergeben. Gerade dieser Fall aber bildet einen besonders ergiebigen Ausgangspunkt für eine Metadiskussion um die Methodik in der Zusammenschau von Text und Bild: So lauten einige der Leitfragen rund um die Illustration apokrypher Stoffe und Motive, inwiefern künstlerische Darstellungen z. B. in Abhängigkeit von der Auftraggeberintention, dem situativen Kontext und/ oder der ikonographischen Tradition eine eigene Bildprogrammatik entwickeln können und wie diese sich wiederum auf die Wahrnehmung und Verbreitung von Apokryphen innerhalb der sogenannten „ Volksreligion “ auswirken. 5. Caravaggios letzte Werke als Beispiele literarischer Neuinszenierung Wenden wir uns abschließend noch einmal der Auferweckung des Lazarus zu. Die bereits erwähnte Individualisierungstendenz der Figuren geht bei Caravaggio typischerweise bis zur zweifelsfreien Identifizierbarkeit: Auf der linken Bildhälfte in zweiter Reihe stehend bezeugt die bereits erwähnte Gruppe von Ioudaioi das Auferweckungswunder. In einem von ihnen - jenem, der sich mit 42 Tobias Nickas, „ Beyond Canon “ . Eine kurze Erläuterung des Projekts, in: Early Christianity 12 (2021), 265 - 275, hier: 271 f. Im Hinblick auf den (durchaus offen gehaltenen) Foucault ’ schen Heterotopiebegriff bezieht er sich auf folgende Definition: „ [W]irkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können. “ - Michel Foucault, Andere Räume (1967), in: Karlheinz Barck (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais, Leipzig 1993, 34 - 46, hier 39. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0008 124 Stephanie Hallinger zum Gebet gefalteten bzw. in Verzweiflung ringenden Händen „ dem Erlösung bringenden Licht nachdenklich entgegensehend “ 43 Christus zuwendet - setzt Caravaggio sich wie schon mehrmals zuvor selbst ins Bild; noch zwei weitere Male wird er dieses Stilmittel vor seinem Tod im Juli des Folgejahres einsetzen, um die Wahrheit des Dargestellten zu bezeugen - zunächst im Martyrium der hl. Ursula (Abb. 7; 1610, Neapel), das sein Auftraggeber Marcantonio Doria am 18.06.1610 in Genua in Empfang nahm 44 und das Caravaggio als entsetzten Beobachter rechts hinter der sterbenden Heiligen zeigt. Im Gegensatz zum Heidenfürsten, der den todbringenden Pfeil abgeschossen hat, und seinen Begleitern haben Ursula und die Figur mit den Zügen des Malers fahlweiße Haut, die auf ihren nahenden Tod vorausweist. Abb. 7: Caravaggio, Martyrium der hl. Ursula, 1610, Öl auf Leinwand, 142 x 180 cm, Neapel, Papazzo Zevallos Stigliano, Sammlung Banca Intesa Sanpaolo. Noch drastischer inszeniert Caravaggio, dem von Zeitgenossen mehrfach das bizarre, extravagante Naturell 45 eines schwierigen Genies attestiert wurde, sich selbst in Verbindung mit dem Todesthema in einem seiner letzten Bilder, dem David mit dem Haupte Goliaths (Abb. 8; 1609/ 10, Rom, Galleria Borghese). 43 Ebert-Schifferer, Caravaggio (s. Anm. 5), 231. 44 Schütze, Caravaggio (s. Anm. 15), 300. 45 Vgl. Stefania Macioce, Michelangelo Merisi da Caravaggio. Fonti e documenti 1532 ‒ 1724, Rom 2003, 391. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0008 Im Raum zwischen „ kanonisch “ und „ parabiblisch “ 125 Abb. 8: Caravaggio, David mit dem Haupt Goliaths, 1609/ 10, Öl auf Leinwand, 125 x 101 cm, Rom, Galleria Borghese. Zweifelsfrei zeigt der enthauptete Riese sein Selbstporträt. Der jugendliche Held hält seinen abgeschlagenen Kopf mit gestrecktem Arm an den Haaren weit von sich; Hibbard glaubt in David ein zweites, jugendliches Selbstbildnis Caravaggios zu erkennen und versteht das Bild deshalb einerseits als „ an explicit selfidentification with Evil - and with a wish for punishment “ 46 , sieht darin zugleich aber auch die Hoffnung auf Erlösung 47 eines Malers, dessen Leben und Werk unter den nachfolgenden Generationen von Biographen und Kunstkritikern so umstritten war wie kaum eines anderen Malers. So urteilt etwa der barocke Kunsttheoretiker Giovanni Pietro Bellori: Tali modi del Caravaggio acconsentivano alla sua fisonomia ed aspetto: era egli di color fosco, ed aveva soschi gli occhi, nere le ciglia ed i capelli; e tale riuscí nacora naturalmente nel suo dipingere. La prima maniera dolce e pura di colorire fu la megliore, essendosi avanzato in essa al supremo merito e mostratosi con gran lode ottimo coloritore Lombardo. Ma egli trascorse poi nell ’ altra oscura, tiratovi dal proprio temperament, come ne ’ costumi ancora era torbido e contenzioso. 48 46 Hibbard, Caravaggio (s. Anm. 18), 262. 47 Vgl. Hibbard, Caravaggio (s. Anm. 18), 267. 48 Giovanni Pietro Bellori, Le vite de ’ pittori, scultori e architetti moderni (Rom 1672), Repr. hg. v. Evelina Borea, Turin 1976. „ Caravaggios Stil korrespondierte mit seiner Physiognomie und seinem Erscheinungsbild; er hatte einen dunklen Teint und dunkle Augen, seine Augenbrauen und Haare waren schwarz. Diese Farbgebung spiegelte sich natürlicherweise in seiner Malerei wider. Sein früher Stil, süß und rein in der Farbe, war sein Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0008 126 Stephanie Hallinger Röttgen spricht in diesem Zusammenhang „ von dem Gedanken eines Todes zu Lebzeiten, eines Konfliktes zwischen innen und einer über dem Ich stehenden Strafinstanz außen “ 49 , an anderer Stelle gar von einer selbstzerstörerischen Tendenz und einer persönlichen Religiosität Caravaggios, in der sich „ die völlige Abwesenheit von Hoffnung mit der völligen Abwesenheit von Angst vereint, die beide in der Erwartung der Zerstörung einhergehen. “ 50 Mit seinen Extrembeispielen einer Neuinszenierung literarischer Figuren 51 löst Caravaggio das ein, was Nicklas „ interactive and performative aspects of the processes which lead to the emergence of the new story “ 52 nennt. Auf diese Weise kann ein Tafelbild wie Caravaggios Auferstehung des Lazarus eine Vielzahl von Funktionen übernehmen: Es ist zugleich Heterotopie, Apokryphon, Reinszenierung und zu guter Letzt auch „ Gedächtnisort “ im Sinne Pierre Noras, der aufgeladen ist durch „ ein Wechselspiel von Gedächtnis und Geschichte “ . In seiner Definition fließen sämtliche Schlagwörter zusammen, die sich für das im Bild Dargestellte, seine Textbezüge und seine Interpretation als maßgeblich erwiesen haben als Begriffsdefinition und (im Sinne Erwin Panofskys) Dokumentsinn des frühbarocken Altarretabels: Mit Orten also haben wir es zu tun, doch mit vermischten, mutierenden, mit Zwitterorten, dicht gesponnen aus Leben und Tod, Zeit und Ewigkeit - in einer Spirale des Kollektiven und Individuellen, des Prosaischen und des Sakralen, des Unbewegten und des Beweglichen, einer Folge ineinander verschlungener Möbiusringe. 53 bester. Er erzielte darin große Erfolge und bewies damit, dass er ein exzellenter lombardischer Kolorist war. Später aber, von seiner eigenen Natur getrieben, verlegte er sich auf den dunklen Stil, der mit seiner düsteren und streitbaren Natur verbunden ist. “ 49 Röttgen, Kreuz und Auferstehung (s. Anm. 26), 130 - 141, 130. 50 „ A questo punto l ‘ assenza totale di Speranza si congiunge con l ’ assenza totale di paura essendo entrambe unite nell ’ anticipazione della distruzione. “ - Röttgen, La Resurrezione di Lazzaro (s. Anm. 26), 74. 51 In Bezug auf den 1605/ 06 für die Kirche Santa Maria della Scala im Auftrag von Laerzio Cherubini gemalten „ Tod Mariens “ (heute Paris, Musée du Louvre) hielt sich unter Kunsthistorikern hartnäckig das Klischee, Caravaggio habe die Tiberleiche einer Prostituierten als Modell für seine Maria verwendet - eine moderne Mär, die Sybille Ebert- Schifferer aufgrund eines Übersetzungsfehlers von römisch „ gonfia “ (geschwollen) entmythisiert, der die angeblich schwangere Kurtisane zu einer nicht mehr gänzlich jungen und schlanken Frau macht. - Ebert-Schifferer, Caravaggio (s. Anm. 5), 187. 52 Tobias Nicklas, Second Century Gospels as Re-Enactments of Earlier Writings. The Example of the Gospel of Peter, in: Robert Matthew Calhoun/ David P. Moessner/ Tobias Nicklas (Hg.), Modern and Ancient Literary Criticism of the Gospels. Continuing the Debate on Gospel Genre(s) (WUNT I/ 451), Tübingen 2020, 471 - 486, hier 474. 53 Pierre Nora, Die Gedächtnisorte (1984), in: Günzel (Hg.), Texte zur Theorie des Raums (s. Anm. 17), 84 ‒ 89, hier: 85 f. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0008 Im Raum zwischen „ kanonisch “ und „ parabiblisch “ 127 Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Die Auferweckung des Lazarus, Rom, Katakombe an der Via Latina, Cubiculum O, linke Nische, in situ (Wandmalerei), 4. Jahrhundert n. Chr., Quelle: https: / / es.wikipedia.org/ wiki/ Archivo: CatacombViaLatina_Resurrection_of_Lazarus.jpg (letzer Zugriff am 07.01.2022, Public Domain) Abb. 2: sog. Brescia-Casket (Brescia-Lipsanotheca), Museo di Santa Giulia, San Salvatore, Brescia, Elfenbein, 4. Jahrhundert n. Chr., Quelle: Carolyn Joslin Watson, The Program of the Brescia Casket in: Gesta 20/ 2 (1981), 283 - 298. Abb. 3: S. Apollinare Nuovo, Ravenna, Mosaik, 6. Jahrhundert n. Chr., Quelle: https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: S._Apollinare_Nuovo_Resurr_Lazzaro.jpg (letzer Zugriff am 07.01.2022, Public Domain) Abb. 4: Giotto di Bondone, Fresken in der Arenakapelle in Padua, 1304 - 1306, Quelle: http: / / www.zeno.org/ nid/ 20004036018 (letzer Zugriff am 07.01.2022, Public Domain) Abb. 5: Michelangelo Merisi detto il Caravaggio, Auferweckung des Lazarus, 1609, Museo Regionale in Messina, Öl auf Leinwand, 380 x 275 cm; Quelle: The Yorck Project (2002) 10.000 Meisterwerke der Malerei (DVD-ROM). Abb. 6: Caravaggio, Begräbnis der hl. Lucia, 1608, Öl auf Leinwand, 408 x 300 cm, Syrakus, Basilica di Santa Lucia al Sepolcro (Leihgabe im Museo di Palazzo Bellomo); Quelle: https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: Burial_of_Saint_Lucy-Caravaggio_(1608).jpg (letzer Zugriff am 08.01.2022, Public Domain) Abb. 7: Caravaggio, Martyrium der hl. Ursula, 1610, Öl auf Leinwand, 142 x 180 cm, Neapel, Papazzo Zevallos Stigliano, Sammlung Banca Intesa Sanpaolo; Quelle: https: / / de. m.wikipedia.org/ wiki/ Datei: Caravaggio- Ursula.jpg (letzer Zugriff am 08.01.2022, Public Domain). Abb. 8: Caravaggio, David mit dem Haupt Goliaths, 1609/ 10, Öl auf Leinwand, 125 x 101 cm, Rom, Galleria Borghese; Quelle: https: / / de. m.wikipedia. org/ wiki/ Datei: Caravaggio_-_David_con_la_testa_di_Golia.jpg (letzer Zugriff am 08.01.2022, Public Domain). Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0008 128 Stephanie Hallinger © Dietrich Beutlhauser Stephanie Hallinger studierte Kunstgeschichte und Germanistik in Regensburg, promovierte ebendort und war von 2008 bis 2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur fürÄltere Deutsche Literatur. Von 2014 bis 2018 leitete sie die Redaktion des NM Verlags in Bogen, seit 2018 ist sie als Wissenschaftliche Koordinatorin des Centres for Advanced Studies „ Beyond Canon “ unter der Leitung von Tobias Nicklas, Harald Buchinger und Andreas Merkt an der Universität Regensburg tätig. Sie forscht vornehmlich zu Text-Bild- Relationen in der christlichen Ikonographie zwischen Spätantike und Barock. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0008 Im Raum zwischen „ kanonisch “ und „ parabiblisch “ 129 Buchreport Susanne Luther Stefan Alkier, Christos Karakolis und Tobias Nicklas Sola Scriptura ökomenisch Leiden: Brill, 2021 (Biblische Argumente in öffentlichen Debatten 1) XIX. 235 S. ISBN: 978-3-506-76038-8 eISBN: 978-3-657-76038-1 Unter dem Titel „ Sola Scriptura ökumenisch “ ist 2021 der erste Band der Reihe Biblische Argumente in öffentlichen Debatten erschienen, der sich als eine bibeltheologische Programmschrift aus ökumenischer Perspektive versteht. Tobias Nicklas, Christos Karakolis und Stefan Alkier, ein römisch-katholischer, ein griechisch-orthodoxer und ein evangelischer Theologe, beleuchten gemeinsam - jeweils aus der Perspektive ihrer eigenen Tradition - hermeneutische und methodische Zugänge und ökumenische Ansätze zum Verstehen der Bibel. Die Anordnung der Beiträge in sechs Abteilungen, eingeführt durch eine offene Gesprächseinladung an die Leserinnen und Leser (I.) und eine gemeinsame Thesenreihe aus ökumenischer Perspektive (II.), gefolgt von vier Blöcken (III. - VI.) von jeweils drei Beiträgen, lässt sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten der hermeneutischen Vorannahmen, methodischen Zugangsweisen, interpretatorischen Schlussfolgerungen für die ökumenische Entfaltung und Perspektiven für die schriftgemäße ökumenische Praxis erkennen und erweckt den Eindruck eines Gesprächs zwischen den Positionen, der zu weiterführenden Gesprächen einlädt. Dem Band vorangestellt ist eine Thesenreihe, die auf der Basis der von den Autoren „ praktizierten und intendierten ökumenischen Lektüregemeinschaft “ (xix) in zehn Punkten grundlegende gemeinsame Punkte festhält (S. 3 - 6): Die Schrift wird als „ verbindliche Bezeugungsinstanz des Wortes Gottes “ (These 1) wahrgenommen, wobei Schrift „ als Konzept des Kanons aus Altem und Neuem Testament begriffen [wird], das nicht gebunden ist an eine einzige Version bzgl. Sprache, Auswahl und Reihenfolge der biblischen Bücher “ (These 2). Die „ Bibel als Sammlung der Schriften Alten und Neuen Testaments “ bietet „ [d]en sichersten Zugang zum Wort Gottes “ (These 3), und ist doch zugleich „ historisch gewachsenes Menschenwort in der Vielfalt verschiedener historischer Situationen “ (These 5). Innerbiblische Diversität und Widersprüchlichkeit ist nicht als „ Abbruch ihrer Wahrheitsfähigkeit “ zu werten (These 5) sondern im Rahmen des Kanons zu lesen, der „ als intertextuelle Lektüreanweisung begriffen [wird], die das Zusammenlesen jedes einzelnen Buches der Bibel mit allen anderen Büchern in alle Richtungen eröffnet. Dadurch legt sich die Schrift in unermesslicher Weise selber aus “ (These 4). Die biblischen Schriften sind „ in unterschiedlichen Zeiten, Situationen und Lebenswelten “ je neu auszulegen und die Vielfalt der Interpretationen ist anzuerkennen, solange diese vom „ Geist der Bibel her begründet werden “ können (These 6). Dies führt zu der Folgerung: „ Theologisch sachgemäße Bibelauslegung muss deshalb im Wortsinn evangelisch, katholisch und orthodox sein, d. h.: sie ist der guten Nachricht für alle in richtiger Weise verpflichtet “ (These 8) - und zu der Aufgabe: „ Die Schrift ist für alle verständlich, die sie mit dem Geist der Vernunft und Hingabe in nicht abschließbarer Lektüre auslegen “ , weshalb „ alle zum eigenen kritischen Bibellesen zu ermutigen “ sind (These 10). Der erste der vier thematischen Blöcke steht unter dem Titel Hermeneutische Entfaltungen und wird durch Stefan Alkiers Beitrag „ Sola Scriptura als engagierte Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0009 132 Susanne Luther Leseanweisung - eine evangelische Perspektive “ (9 - 32) eröffnet. Ausgehend von der „ reformatorischen Lektüreanweisung sola scriptura “ (10) betont Alkier die Notwendigkeit der immerwährenden Interpretation der Schrift für die je gegenwärtige Zeit und die je eigenen Lebenswelten. Diese „ Einsicht in die radikale Dynamik, Prozesshaftigkeit und Geschichtlichkeit der Interpretation und der Plural der Versionen biblischer Schriften, die zur hermeneutischen Einsicht in die Unverfügbarkeit des Auslegungsgegenstandes führt “ (12), lenkt den Blick auf das Ziel der kritischen Interpretation unter theologischer Zielsetzung: das Evangelium aus der Polyphonie der Schriften zu erheben und verständlich zu kommunizieren (22). Daher ist im reformatorischen Sinne eine „ stetige Lektüre durch jede(n) Einzelne(n) “ gefordert, eine „ zugleich kritische und empfangsbereite Lektüre der Schrift “ , „ einer an kritischer philologischer, historischer, literaturwissenschaftlicher und theologischer Forschung interessierten und sich selbst wie alle anderen Lektüren vorher und nachher geschichtlich verortet wissenden Lektüre “ (27). Tobias Nicklas antwortet darauf in seinem Beitrag „ Alle müssen für alle interpretieren und jeder kann irren - eine römisch-katholische Perspektive “ (33 - 54), in dem er von Texten des II. Vatikanischen Konzils ausgehend reflektiert, dass „ [d]ie Vielfalt der Stimmen, in denen sich das Wort Gottes in Menschenworten ausdrückt, [ … ] kein Widerspruch zur Vorstellung von der lebendigen einen Wahrheit des einen Gottes [ist], welche für uns Menschen nie voll erfassbar, definier-, d. h. begrenzbar oder in den Griff zu bekommen ist. Diese muss sich vielmehr in der Vielfalt von Stimmen innerhalb der Schrift ausdrücken, welche wiederum die dauernde Interpretation verlangen, um der unendlichen Vielfalt dessen, was menschliches Leben sein kann, begegnen zu können “ (40). Eine Verhältnisbestimmung von „ Schrift “ und „ Tradition “ zeigt, dass es beiden „ letztlich um das Gleiche [geht], nämlich darum, der Selbstmitteilung Gottes so nahe wie möglich zu kommen “ (46). Denn „ [n]icht nur in der Schrift, sondern auch in der Tradition begegnen sich ‚ Gotteswort ‘ und ‚ Menschenwort ‘ . Dabei aber bleibt die Schrift allen Auslegungen vorgeordnet. Umgekehrt kann ‚ Tradition ‘ in dem Sinne, den das Konzil meint, nur da gegeben sein, wo im Menschenwort Gottes Wort erkennbar ist “ (47). Die Schrift dient als kritisches Korrektiv gegenüber der Tradition. Nicklas betont, dass jede und jeder die Schrift auslegen kann und soll: „ Die Rede vom Lehramt macht dann Sinn, wenn sie sich als eine Art von Repräsentation der Interpretationsgemeinschaft des Wortes Gottes versteht, an der jede und jeder einzelne Gläubige teilhat “ (51 f.). Christos Karakolis betont daraufhin in seinem Beitrag mit der Titelthese „ Die Kirchenväter können das eigene Verstehen anleiten, aber nicht ersetzen - eine orthodoxe Perspektive “ (55 - 72) die hohe Wertschätzung der patristischen Interpretation der Bibel in der orthodoxen Theologie. Er zeigt auf, dass es bereits zur Zeit des 4. Ökumenischen Konzil von Chalzedon zu einer Verschiebung „ vom biblischen und apostolischen zum patristischen Paradigma “ (61) kam, d. h. „ dass die patristische Theologie allmählich einen kanonischen Status erreicht hat “ (61). Karakolis positioniert sich klar: „ Die faktische Gleichsetzung der patristischen Literatur mit der Heiligen Schrift ist aber falsch, da die Bibel die apostolische Stimme der Offenbarung Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0009 Buchreport 133 Gottes authentisch bewahrt, während die patristischen Schriften Interpretationen dieser Stimme sind “ (60). Demgegenüber postuliert er einen Zugang zur patristischen Literatur, der die Kirchenväter als „ Anleiter zum Verständnis der Bibel “ heranzieht, denn „ [d]ie Zeitlosigkeit der Exegese der Kirchenväter liegt damit nicht so sehr im Inhalt ihrer Interpretationen, sondern vor allem in der Art und Weise, wie sie sich der Bibel annähern, nämlich mit Respekt, kritischem Geist und mit der Bereitschaft, ihre Botschaft in der Sprache der Gesellschaft ihrer eigenen Zeit zu vermitteln “ (59 f.). Ein angemessener Zugang zur Bibel sollte daher die patristischen Texte den biblischen Texten nicht überordnen, da „ die Kirchenväter den direkten Zugang zur Bibel durch ihre Texte nicht ersetzen können, sollten bzw. wollen. Ihr Hauptziel war die biblische Lektüre zu begleiten, zu erleuchten, zu bereichern und adäquat zu übertragen “ (72). Der zweite der vier Blöcke unter der Überschrift Methodische Entfaltungen eröffnet die Diskussion über die konkrete Auslegung der Schrift mit Stefan Alkiers Beitrag „ Wie sich die Schrift selbst auslegt: Die intertextuelle Schreibweise der neutestamentlichen Literatur als Sachgrund für den Kanon aus Altem und Neuem Testament und der Kanon als Lektüreanweisung “ (75 - 101). Alkier betont die intertextuelle Verfasstheit der neutestamentlichen Schriften, die im kanonischen Kontext zugleich eine Leseanweisung für alle biblischen Schriften bereitstellt. Denn die Lektüre der biblischen Bücher im Gesamtgefüge des Kanons, führt zu der Folgerung, dass „ jede Schrift durch die Transposition in das Gewebe des Kanons zu einem autoritativen Kommentar zu jedem anderen Buch desselben Kanons wird “ (95) und die individuellen historischen Entstehungskontexte der einzelnen biblischen Bücher sowie auch die Autoritätszuschreibungen an jedes der Bücher zurückgestellt werden und alle Schriften „ in die normative Position “ erhoben werden, im kanonischen Zusammenwirken „ gemeinsam Zeugen des Wortes Gottes zu sein “ (95). Diese Herangehensweise, die sich in Luthers Forderung, die Schrift „ integram “ zu lesen spiegelt, dient dazu, „ überhaupt erst das Sinnpotential des zwischen diesen Schriften entstehenden Dialogs wirksam “ (99) offenzulegen. Erst in der kanonischen Vernetzung der Schrift entfaltet sich ihr Potential als dialogisches Korrektiv und ihre Bedeutung als norma normans. Dies wiederum führt zu der für die ökumenische Perspektive zentralen Folgerung, dass die im Kanon angelegte Dialogizität „ zum Modell einer kritischen Ökumene “ (101) werden kann. Tobias Nicklas geht in seinem Beitrag „ Rezeptionsästhetische und -geschichtliche Einsichten: Erinnerungskultur und die Zuordnung von Demut und Verantwortung in der Schriftauslegung “ (102 - 130) auf problematische Zugänge und kreative Potentiale der Interpretation ein. Gegenüber einlinigen, gesetzlichen Applikationen biblischer Ethik auf heutige Fragestellungen und Fehlgängen in der Geschichte der Bibelinterpretation eröffnet Nicklas eine zweifache Perspektive: Einerseits ist die Bibel als „ eine erzählte Welt, die ‚ bewohnt ‘ werden und so zu einer Veränderung der Weltwahrnehmung führen will “ (107) zu begreifen, als Ansatzpunkt für „ Prozesse der ‚ Bildung ‘ , in denen sich Menschen existenziell auf den Weg zu sich selbst machen “ (113), als „ Begleiter auf dem Weg, ‚ der zu werden, der ich bin ‘ bzw. ‚ die zu werden, die ich bin ‘“ (114). Zum anderen verweist Nicklas darauf, dass neben dem Bezug der Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0009 134 Susanne Luther biblischen Texte auf unser eigenes Leben eine kritische Distanz in der Auslegung der Texte erhalten bleiben muss. Anhand problematischer Beispiele aus der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der Bibel zeigt er auf, dass jede/ r Auslegende in der Verantwortung steht, die Bibelinterpretationen kritisch zu hinterfragen und für Auslegungen einzutreten, die „ im wahrsten Sinne des Wortes evangelisch, katholisch und orthodox, d. h. der guten Nachricht für alle in richtiger Weise verpflichtet sind “ (130). Christos Karakolis ’ Beitrag „ Die Gleichzeitigkeit von Lesern und Gelesenem: Wie das Lesebuch zum Lebensbuch wird - Wie die Bibel präsent werden kann “ (131 - 145) zeigt auf, wie die Rezeption und Aktualisierung biblischer Erzählungen im liturgischen Leben orthodoxer Gottesdienste und persönlicher Spiritualität, z. B. in Theologie, Liturgie, Hymnologie, Ikonographie, Spiritualität und ethischer Praxis umgesetzt wird. Er nennt den biblischen Bezug bzw. die biblische Orientierung dieser unterschiedlichen Komponenten orthodoxer Spiritualität eine „ Verschmelzung von örtlichen und zeitlichen Horizonten “ (131) und beschreibt damit „ den Sachverhalt, nach dem die Gläubigen in erster Linie durch das liturgische Leben zu der Glaubenserfahrung kommen, dass im jeweiligen Ort und in der jeweiligen Gegenwart alles im Verlauf der Heilsgeschichte vom ersten Moment der Schöpfung bis hin zur Endzeit Geschehene zusammengefasst und realisiert wird “ (131). Die in den biblischen Texten verschriftlichten - sowohl vergangenen wie zukünftigen - heilsgeschichtlichen Ereignisse, werden im kirchlichen Leben für die Gläubigen aktualisiert und erfahrbar gemacht, d. h. die Gläubigen interagieren synchron mit dem Text, „ so dass ihre eigene persönliche oder kollektive Geschichte, ihre psychologischen Befindlichkeiten, ihre Lebenserfahrungen, ihre Wahrnehmungsfähigkeiten, ihre Lebensinteressen usw. zusammen mit dem Text reflektiert werden können bzw. dass der Text auf sie selbst, ihre Gemeinde und ihre Welt ein neues Licht aus einer erhellenden Perspektive wirft “ (133) und die Möglichkeit bietet, „ sich im eigenen Leben von dessen Sinngehalten leiten zu lassen “ (133). Der dritte Block steht unter der Überschrift Ökumenische Entfaltungen und wird wiederum durch einen Beitrag von Stefan Alkier eröffnet, der unter dem Titel „ Gemeinsam auf dem Weg - oder: keine Christen erster und zweiter Klasse “ (149 - 157) auf das Ideal der Jüngergemeinschaft verweist, um einen schriftgemäßen ökumenischen Weg der Gläubigen aller Konfessionen für die Gegenwart aufzuzeigen. Wie z. B. die Apostelgeschichte „ eine kollektive Identität der im Namen Jesu Christi auf dem ‚ Weg ‘ Befindlichen nicht durch die Etablierung einer kollektivierenden Terminologie und schon gar nicht durch eine institutionalisierte Gemeinschaft “ (153) konstruiert, sondern „ im Namen Jesu Christi durch ein Netz von Erzählungen, Überzeugungen und komplementären Terminologien “ (154), so stehe es „ im krassen Widerspruch zur Schrift, irgendjemandem den Zugang zur Gemeinschaft, zum Gottesdienst, zum Ritus zu verwehren, weil er oder sie einem anderen Kollektiv angehört. Es kann biblisch begründet keine Christinnen und Christen erster oder zweiter Klasse geben. Wer immer sich auf den Weg der Nachfolge Christi begibt, darf nicht abgewiesen werden. [ … ] Man muss [ … ] nicht erst römisch-katholisch oder Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0009 Buchreport 135 griechisch-orthodox oder evangelisch-lutherisch werden, um gemeinsamen Gottesdienst zu feiern und sich gemeinsam um den Tisch des Herrn zu versammeln “ (156). Daraus folgert Alkier: „ Diese Offenheit der Schrift dürfen die Konfessionen nicht beschneiden. Sie vergehen sich sonst am Geist des Evangeliums und setzen ihr begrenztes konfessionelles Verständnis an die Stelle der Liebe und Barmherzigkeit Gottes “ (156). Dies wiederum bedeutet: „ Sola Scriptura als Primat der Schrift vor der je eigenen Konfession als spezifischer kollektiver Identität ermöglicht eine Ökumene des sich gemeinsam auf den Weg der Zeugenschaft Begebens “ (156), auf dem sich die unterschiedlichen Konfessionen „ als Lern- und Lehrgemeinschaft begreifen “ (157) und „ in gegenseitiger Anerkennung der Aufrichtigkeit der Wahrheitssuche und Fremdheit des Anderen “ (157) einen „ schriftgemäße[n] Weg der Ökumene [beschreiten] “ (157). Tobias Nicklas reflektiert unter dem Titel „ Auch die anderen können die Bibel angemessen verstehen “ (158 - 170) aus römisch-katholischer Sicht die Frage, wie Bibelauslegung in Theologie und Kirche(n) im Dialog, in der Auseinandersetzung mit „ anderen “ Positionen kreative, inspirierende und herausfordernde Potentiale entwickeln kann. Auch er geht von der biblischen Perspektive aus, um aufzuzeigen, dass es oft der andere ist, der durch sein Handeln oder seine Textinterpretation Entscheidendes, Neues und zum Umdenken Führendes in die Diskussion einbringen und zu einem erneuerten, vertieften Verständnis führen kann. Dies führt zu der Folgerung, dass es - von frühchristlicher Zeit bis heute „ auch konkrete Stimmen der anderen [waren], die im Verlauf der Auslegungsgeschichte Grenzen überschreitend Anstöße gegeben haben “ (163), seien es frühchristliche Apostel, altkirchliche Theologen und Exegeten, die Reformatoren, die jüdische Perspektive auf das Neue Testament, kontextuelle Zugänge oder neuere Impulsgeber in der hermeneutischen Diskussion wie z. B. gender-gerechte oder disability-sensible Exegese. Diese Impulse führen Nicklas dazu, für die immerwährende, weiterführende Interpretation in Anerkennung der LeserInneninspiration und in der „ Demut gegenüber dem eigenen Wissen, Erkennen und Interpretieren “ (163) zu plädieren. Christos Karakolis grenzt sich in seinem Beitrag „ Auch von den anderen kann man lernen und bereichert werden “ (171 - 188) von der orthodoxen Position ab, alleine „ im Besitz der Wahrheit zu sein “ (171). Entgegen der Position, „ alles, was von außerhalb der Orthodoxie kommt, a priori für fehlerhaft, gefährlich, häretisch und potenziell destruktiv “ (171) zu halten, berichtigt Karakolis, dass „ solche Positionen weder für die orthodoxe Kirche als Ganzes noch für den Geist der Heiligen Schrift noch der Kirchenväter repräsentativ “ (171) seien und plädiert für eine Offenheit für die Bereicherung durch äußere Einflüsse. Diese entdeckt er in der Bibel (z. B. in Semantik, Ethik, Inkulturation), bei den Kirchenvätern (z. B. Philosophie, Rhetorik, Methodik), aber auch in der neueren orthodoxen Theologie (z. B. westliche Bibelwissenschaft, neuere wissenschaftliche Methodik) im Austausch mit ihren jeweiligen Lebenswelten. Daraus folgert er: „ Da es jedoch prinzipiell, wie wir gesehen haben, sowohl zur biblischen als auch zur patristischen Tradition gehört, dass die Theologie äußere Einflüsse aufnehmen, durchdringen und verarbeiten kann und soll, muss das auch für Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0009 136 Susanne Luther die orthodoxe Kirche von heute gelten “ (184). Er plädiert dafür für eine weitergehende Offenheit der Orthodoxie gegenüber der modernen Welt ebenso wie gegenüber den anderen christlichen Kirchen. Der letzte der Blöcke bietet Perspektiven auf Ermöglichungen schriftgemäßer ökumenischer Praxis. Hier eröffnet Christos Karakolis die Diskussion unter dem Titel „ Gemeinsam am Herrenmahl teilnehmen - gemeinsam Eucharistie feiern “ (191 - 206) und legt zunächst die Praxis des Herrenmahls in den paulinischen Gemeinden dar. Daraus schließt er, „ dass im Neuen Testament die eucharistische Praxis als äußerst inklusiv verstanden wird, da alle Glaubenden zum eucharistischen Mahl eingeladen sind “ (204). Wenngleich aber das Neue Testament „ keine fertigen Antworten auf die heutigen komplexen Probleme anbieten “ (205) kann, so wird doch „ in interkonfessionellen Dialogen der Verweis auf die Bibel und insbesondere auf das Neue Testament üblicherweise vernachlässigt “ (204), denn „ [e]s ist in der Regel einfacher und bequemer, sich auf historisch bedingte Situationen in der Geschichte des Christentums zu beziehen, als seine anfänglichen Schritte im Detail zu untersuchen, da die neutestamentliche Vielfalt an theologischen Positionen und kirchlichen Praktiken uns nicht nur inspirieren, sondern zugleich auch vor neue Problematisierungen stellen kann. Aber genau dieser Reichtum der neutestamentlichen Texte hätte sie zum wertvollen Fundament in interkonfessionellen Kontakten machen sollen “ (205 f.) - Karakolis plädiert daher dafür, die in der Heiligen Schrift vertretene eucharistische Inklusivität in den Blick zu nehmen und die aktuellen Debatten von der Autorität und Inspiration der Schrift beeinflussen zu lassen. Tobias Nicklas reagiert unter dem Titel „ Gemeinsam mit dem Herrn auf dem Weg zum Herrn “ (207 - 214) mit apokalyptisch-hoffnungsvollen Bildern und beschreibt das gemeinsame auf dem Weg sein aller, in der Rückbindung und dem Bewahren des Vergangenen, in dem Wissen darum, dass der Weg vom Geist bestimmt wird, der trotz allem auch von „ Zweifel bis hin zu Verzweiflung und Gottesfinsternis “ (212) geprägt sein kann, zugleich aber die - nicht immer erkennbare - Gegenwart Christi und die Hoffnung mit sich führt, dass dieser Wege auf ein Ziel zuläuft - und dass diese Wahrnehmung des Weges „ die Möglichkeit zu einer radikalen Neubestimmung gegenwärtiger Existenz “ (213) ermöglicht. Die Ausführung endet in dem Statement: „ Wo der letzte Horizont, den die Bibel beschreibt, die - wiederum im Horizont des „ Trotz Allem “ stehende und deswegen über alle Maßen unbegreifliche und im wahrsten Sinne des Wortes wunderbare - Gnade des Herrn Jesus ist, kann keine Form ausgrenzender Gnadenlosigkeit unter denen, die in dieser Welt für den Leib Christi stehen wollen, als dem Willen Christi gemäß akzeptiert werden “ (214). Stefan Alkier fokussiert im abschließenden Beitrag des Bandes auf ein „ Gemeinsam hoffentlich handeln “ (215 - 225), denn „ [w]er die Heilige Schrift richtig versteht, wird handeln. Sich herauszuhalten aus den Konflikten, den Problemen, dem Unentscheidbaren, dem Leiden ist ebenso wenig eine schriftgemäße Option, wie dauerhaft dem zusammen Feiern, Singen und Fröhlichsein fern zu bleiben “ (215). Denn die Botschaft des Evangeliums, „ die, richtig verstanden, allen gilt, bewegt zu einem Handeln, das in keiner Weise naiv ist, sondern um die Macht des Bösen, die Feindschaft von Menschen, Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0009 Buchreport 137 die Gewalt der Natur, die erbarmungslose Logik der Ausbeutung und Gewinnmaximierung auf Kosten jeglichen Mitgefühls weiß “ (216). Die sich auf dem Weg der Nachfolge Befindenden verbleiben somit in der Welt, verstehen sich aber als Gottes Kinder im Kontext der neuen Wirklichkeit Gottes und können so - auf der Grundlage der Schrift - hoffnungsvoll handeln (225). Der Band Sola Scriptura ökumenisch bietet einen anregenden Einblick in die ökumenische Diskussion über die Bedeutung und Auslegung der Schrift. Alle drei Beiträger formulieren klare, zum Teil herausfordernde Positionierungen aus ihrer jeweiligen konfessionellen Perspektive, bringen eine Vielzahl an wichtigen Impulsen für den ökumenischen Dialog ein und zeugen von einem Ringen um Offenheiten und Gemeinsamkeiten, die in der gemeinsamen Rückbindung auf die maßgebliche Schrift begründet liegen. Zugleich werden Differenzen und mögliche Neujustierungen von traditionellen konfessionellen Positionen angeboten, die einen klaren Willen zur Verständigung und Verbundenheit über die Konfessionsgrenzen hinaus erkennen lassen. Der Band ist als kritisches und inspirierendes Gesprächsangebot im ökumenischen Dialog konzipiert. Es steht zu hoffen, dass er in Universitäten, Kirchen und in der breiteren Gesellschaft gebührend rezipiert und als kreativer und innovativer Gesprächsanstoß genutzt wird. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0009 138 Susanne Luther BUCHTIPP Das Lehrbuch erschließt mit seinem innovativen Ansatz erstmals die Erkenntnisse interdisziplinärer Forschung zu Gedächtnis und Erinnerung für die Interpretation des Neuen Testaments. Jenseits der Frage wie es gewesen ist, werden die Texte des Neuen Testaments nicht als historische Berichte, Geschichtsschreibung oder Augenzeugenerinnerung, sondern als Zeugnisse frühchristlicher Identitätsbildung gelesen, die sich sozialen Aushandlungsprozessen verdanken. Neben einer grundlegenden Einführung in die Grundbegriffe kulturwissenschaftlicher Gedächtnistheorie, die auch jenseits der Arbeit mit der Heiligen Schrift stimulierend ist, bietet es exemplarische Lektüren neutestamentlicher Texte als Identitätstexte, an die Leser: innen mit ihren eigenen Erfahrungen anknüpfen können, und einen Ausblick in das Potential kulturwissenschaftlicher Exegese. Sandra Huebenthal Gedächtnistheorie und Neues Testament Eine methodisch-hermeneutische Einführung 1. Auflage 2022, 372 Seiten €[D] 26,90 ISBN 978-3-8252-5904-4 eISBN 978-3-8385-5904-9 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de www.narr.digital In der gegenwärtigen Forschung zeichnen sich verschiedene neue Ansätze zum Verständnis des neutestamentlichen Kanons ab. Diese Ausgabe der ZNT möchte sie miteinander ins Gespräch bringen und neue Impulse für Fragen vorstellen, die seit langem diskutiert werden: Inwiefern lässt sich neben der Geschichte der Entstehung des Kanons auch eine Geschichte des bereits bestehenden Kanons schreiben? Welche Funktion kommt dem neutestamentlichen Kanon in Kontexten zu, in welchen Lesen und Schreiben eine andere Rolle spielen als in unseren Welten? Wie lässt sich das Verhältnis von in einem Codex gebunden vorliegendem Kanon neutestamentlicher bzw. biblischer Schriften zur Präsentation kanonischer Texte in anderen Medien (wie Bildern, Dingen und Riten) denken? Mit Beiträgen von Stefan Alkier, Garrick V. Allen, Stephanie Hallinger, Jan Heilmann, Susanne Luther, Tobias Nicklas, Kelsie G. Rodenbiker, Clare K. Rothschild, Michael Sommer, Janet E. Spittler, Jeremy C. Thompson, Joseph Verheyden. ISBN 978-3-381-10531-1