ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
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2023
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Dronsch Strecker Vogel52 www.narr.digital Bereits bei einer Lektüre von Einleitungen und Handbüchern stößt man auf methodische Paradigmen und Geschichtsbilder über das frühe Christentum, die zutiefst den Geist Europas des 19. Jahrhunderts atmen und unhinterfragt als Geschichtswahrheit postulieren. Schulbücher, praktische Handreichungen und Bildungsformate zur Geschichte des Christentums stehen auf dem gleichen Fundament. Die Postcolonial Studies haben in den letzten Jahren nicht nur ein kritisches Bewusstsein für die Eurozentriertheit dieses Denkens geschaffen, sondern verdeutlichten ebenso, dass es jenseits der westlichen Auslegungstraditionen einen enormen Reichtum an inspirierenden, kreativen und innovativen Bibelauslegungen gibt, die durch die Vorherrschaft westlicher Leseweisen in Wissenschaft und theologischer Praxis kaum Beachtung fanden. Mit Beiträgen von Stefan Alkier, Abraham Boateng, Roland Deines, Werner Kahl, Paula Kautzmann, Judith König, Michael Sommer. POSTKOLONIALISMUS / POSTCOLONIAL STUDIES ZNT 52 Heft 52 · 26. Jahrgang · 2023 ZNT Zeitschrift für Neues Testament Das Neue Testament in Universität, Kirche, Schule und Gesellschaft Susanne Luther, Jan Heilmann, Michael Sommer (Hrsg.) 52 POSTKOLONIALISMUS / POSTCOLONIAL STUDIES ISBN 978-3-381-10121-4 Herausgegeben von Susanne Luther Jan Heilmann Michael Sommer in Verbindung mit Stefan Alkier Kristina Dronsch Ute E. Eisen Werner Kahl Matthias Klinghardt David Mofitt Tobias Nicklas Heidrun Mader Hanna Roose Angela Standhartinger Christian Strecker Manuel Vogel Anschrift der Redaktion Susanne Luther Georg-August-Universität Theologische Fakultät Platz der Göttinger Sieben 2 37073 Göttingen Manuskripte Zuschriften, Beiträge und Rezensionsexemplare werden an die Adresse der Redaktion erbeten. Eine Verp ichtung zur Besprechung unverlangt eingesandter Bücher besteht nicht. ZNT Heft 52 · 26. Jahrgang · 2023 Impressum Bezugsbedingungen Die ZNT erscheint halbjährlich (April und Oktober) Einzelheft: € 35,zzgl. Versandkosten Abonnement jährlich (print): € 55,- Abonnement jährlich (print & online): € 69,- Abonnement (e-only): € 58,- Bestellungen nimmt Ihre Buchhandlung oder der Verlag entgegen: Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 D-72015 Tübingen Telefon: +49(0) 70 71 97 97 0 Fax +49(0) 70 71 97 97 11 eMail: info@narr.de Internet: www.narr.de Anzeigen Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Telefon: +49(0) 70 71 97 97 10 © 2024 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG ISBN 978-3-381-10121-4 ISSN 1435-2249 Die in der Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieser Zeitschrift darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Fotokopie, Mikro lm oder andere Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsanlagen, verwendbare Sprache übertragen werden. BUCHTIPP Stefan Silber Postkoloniale Theologien Eine Einführung 1. Auflage 2021, 272 Seiten €[D] 29,90 ISBN 978-3-8252-5669-2 eISBN 978-3-8385-5669-7 Postkoloniale und dekoloniale Studien machen immer mehr von sich reden. In den letzten zwei Jahrzehnten entwickelte sich weltweit bereits eine vielfältige Rezeption dieser kritischen Denkweisen auch in der Theologie. Dieses Lehrbuch zielt auf einen grundlegenden Einblick in diese weltweit diskutierte vielfältige Strömung. In den letzten beiden Jahrzehnten entwickelten sich in unterschiedlichen Kontexten und Sprachräumen weltweit verschiedene Versuche, die Lernfortschritte der postkolonialen Studien auch für die Theologie fruchtbar zu machen. Das Lehrbuch greift viele dieser Beispiele auf und ordnet sie nach einer Systematik, die sich an zentralen Begriffen und Methoden der postkolonialen Studien orientiert. Zahlreiche Beispiele, Literaturhinweise und vorgestellten Autor: innen regen dazu an, sich vertieft mit einzelnen Themenbereichen und/ oder Autor: innen auseinanderzusetzen. Zuletzt widmet sich das Buch auch möglichen Konsequenzen für Theologie und Kirche in Mitteleuropa. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de Inhalt Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 NT aktuell Werner Kahl Postkoloniale Bibelhermeneutik und Exegese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Zum Thema Abraham Boateng Tendenzen der Bibelauslegung im postkolonialen Ghana. Wundergeschichten des Neuen Testaments als Fallstudie . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Paula Kautzmann Der Jakobusbrief - eine relectura aus Abya Yala . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Michael Sommer Wie westlich ist das frühe Christentum? Modelle frühchristlicher Diversität und die Entwicklung diversitätssensibler Kleingruppenmodelle in der empirischen Soziologie . . . . . . . . . . . 71 Kontroverse Michael Sommer Postcolonial Studies und das Neue Testament. Einleitung in die Kontroverse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Roland Deines Postcolonial Studies - Über Risiken und Nebenwirkungen eines notwendigen Nachdenkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Stefan Alkier Postcolonial Studies - eine Chance für die Exegese? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Hermeneutik und Vermittlung Judith König Postkoloniale und missbrauchssensible Exegese. Partnerinnen oder Rivalinnen im Anliegen einer kontextrelevanten Bibelwissenschaft? . . . . . . 117 Buchreport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Editorial Liebe Leserin, lieber Leser, wer denkt beim Genuss eines dicken Stückes Schokolade oder einer duftend heißen Tasse Kaffee an eine Geschichte einer systematischen Ausbeutung und Unterdrückung? Ohne dass es uns im Einzelnen bewusst ist, ohne dass wir stetig darüber nachdenken, gründet der Wohlstand der westlichen Welt in der Kolonialisierung von Afrika, Amerika, Asien und Ozeanien. Viele unserer individuellen Privilegien resultieren aus der gewaltsamen Eroberung, Besetzung und hegemonialer Ausbreitung. Die Folgen für die kolonialisierten Gebiete waren nicht nur verheerend, sondern sind bis zum heutigen Tag spürbar. Die europäischen Kolonialmächte etablierten in den eroberten Gebieten nicht nur koloniale Verwaltungsstrukturen, sondern kontrollierten die kolonialisierte Bevölkerung, indem sie kulturelle Wertesysteme der westlichen Welt, ihre Spra‐ chen und natürlich auch ihre Religion, in den Kolonien einführten und zur neuen Norm des sozialen und wirtschaftlichen Miteinanders erklärten. Westliches Denken wurde somit zu einem Machtinstrumentarium der Legitimation hege‐ monialer Dominanz. Einheimische Lebensweisen durchliefen dadurch einen Prozess der kulturellen Ab- und Entwertung, der nicht zuletzt die Ausbeutung kolonialer Ressourcen rechtfertigte. Dieses System der Ausbeutung führte nicht nur zu einem wirtschaftlichen Aufschwung Europas, sondern ebenso zu einem Überlegenheitsdenken der westlichen Kultur, welches bis zum heutigen Tag in den Strukturen der westlichen Welt, selbst in den Kategorien der Wissen‐ schaft, noch spürbar ist. Im gleichen Atemzug hinterließen die Kolonialmächte, nachdem die Kolonien ihre Unabhängigkeit wiedererlangten, bei ihrem Rückzug Spuren der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verwüstung, von denen sich die Ökonomien vieler der besetzten Gebiete bis zum heutigen Tag nicht erholt haben. Die Postcolonial Studies erforschen diese vielschichtigen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Wechselwirkungen zwischen Kolonialherren und Kolonien, um sie kritisch aufzuarbeiten. Dieses Forschungsfeld analysiert kritisch den Einfluss der Kolonialisierung auf bestehende Wissenssysteme und betrachtet, ob Strukturen von Macht, die zur Kolonialisierung konstruiert und angewandt wurden, auch heute noch fortbestehen. Es widmet sich den kulturellen Imperialismen und Synkretismen, die während der Kolonialisierung entstanden sind, und verfolgt nicht zuletzt das übergeordnete Ziel, kulturelle Vorurteile und westliches Überlegenheitsdenken aufzuarbeiten. Natürlich stehen auch die Bibelwissenschaften vor der großen Aufgabe, ihre eigene Kolonialgeschichte aufzuarbeiten. Die Kolonialisierung wurde nicht nur durch eine imperialistische Christianisierung der unterdrückten Gebiete begleitet und unterstützt, die einheimische Religionen und Weltanschauungen verdrängte und abwertete. Vielmehr ist das westliche Überlegenheitsdenken in der gegenwärtigen Forschung immer noch spürbar. Leseweisen der Bibel, die nicht zu den westlichen Traditionen des Christentums gehören, hatten über viele Jahre weder in Forschung noch Lehre, geschweige denn in der theologischen Praxis einen Stellenwert. Dies soll und muss sich ändern! Und dieser Band möchte als ein Anfang begriffen werden. Werner Kahl führt Sie, liebe Leserinnen und Leser, in die Geschichte der postkolonialen Bibelwissenschaften ein, die im deutschsprachigen Raum (leider) noch in den Kinderschuhen steckt. Abraham Boateng betrachtet im ersten inhaltlichen Beitrag des Bandes westafrikanische Bibelübersetzungen und -her‐ meneutiken und thematisiert gleichzeitig die Auswirkungen der Kolonialisie‐ rung auf die afrikanischen Bibelwissenschaften. Paula Kautzmann widmet sich der Auslegung des Jakobusbriefs durch die Theologin der Befreiung Elsa Tamez (Mexiko/ Costa Rica), wobei diese Perspektive auf die Bibel als ein Lernort begriffen werden soll, und Michael Sommer reflektiert in seinem Beitrag kritisch, wie eurozentristisch moderne Modelle des frühen Christentums sind. Die Kontroverse dieses Bandes stellt sich der Frage nach den Chancen der Postcolonial Studies für die gegenwärtige Exegese. Stefan Alkier und Roland Deines erzielen dabei allerdings kein entgegengesetztes Ergebnis, sondern sehen aus kontroversen Blickwinkeln die Notwendigkeit postkolonialer For‐ schungsansätze. Judith König widmet sich in der Rubrik Hermeneutik und Vermittlung einer missbrauchssensiblen Exegese und arbeitet die Notwendig‐ keit postkolonialer Bibellektüre nach dem Missbrauchsskandal heraus. Im Buchreport dieser Aufgabe steht Moritz Gräpers The Bible and Apartheid zur Debatte. Dieses Werk zeigt mit einem Blick auf die Geschichte Südafrikas, wie leicht die Bibel zu einem Werkzeug der Unterdrückung umgeformt werden kann. Mit der Besprechung dieses Buches endet der vorliegende Band jedoch nicht. Vielmehr versteht er sich als eine Ausgabe mit einem offenen Ende, die Sie, liebe Leserinnen und Leser, zum Nachdenken anregen und zur Überwindung kolonialgeprägter Stereotypen anregen möchte! Michael Sommer Jan Heilmann Susanne Luther 4 1 Musa W. Dube, Reading for Decolonization ( John 4: 1-42), in: Laura E. Donaldson (Hg.), Postcolonialism and Scriptural Reading (Semeia 75), Atlanta 1996, 37-60, hier: 37; vgl. auch Dube, Postcolonial Feminist Interpretation of the Bible, St. Louis 2000, 3. Aufgrund seiner Bedeutung im postkolonialen Diskurs sei dieser Spruch hier im englischen Original wiedergegeben: „When the white man came to our country he had the Bible and we had the land. The white man said to us, ‚let us pray.‘ After the prayer, the white man had the land and we had the Bible.“ Dieser Spruch ist allerdings selbst nicht ganz unproblematisch. Er unterstellt Afrikaner: innen eine gewisse Naivität und bedient somit paternalistische Klischees. NT Aktuell Postkoloniale Bibelhermeneutik und Exegese Werner Kahl 1. Einleitender Überblick Musa W.-Dube aus Botswana zählt zu den Mitbegründer: innen und wirkmäch‐ tigsten Vertreter: innen einer postkolonialen Bibelhermeneutik. Einem ihrer ersten Beiträge zum Thema stellte sie einen im südlichen Afrika verbreiteten Spruch voran: „Als der weiße Mann in unser Land kam, hatte er die Bibel und wir hatten das Land. Der weiße Mann sagte: ‚Lasst uns beten.‘ Nach dem Gebet hatte der weiße Mann das Land und wir hatten die Bibel.“ 1 Der populäre Spruch ruft in prägnanter Kürze die Erfahrung der Kolonisie‐ rung des südlichen Afrika in Erinnerung, und zwar aus der Perspektive von dun‐ kelhäutigen Afrikaner: innen, die ihr Land an die hellhäutigen, selbsternannten Kolonialherren aus Westeuropa verloren hatten. Der Verlust des Landes wird nach dieser Deutung auf ein religiös inszeniertes Täuschungsmanöver zurück‐ geführt. Als Gegengabe erhielten die Bewohner: innen des Landes ungefragt die Bibel. Diese Kurzerzählung über eine komplexe geschichtliche Entwicklung macht beispielhaft auf die Bedeutung der Bibel im Zusammenhang der Kolonialge‐ schichte in der Moderne aufmerksam: Sie wurde in unterschiedlicher Hinsicht benutzt, um einen Macht- und Bedeutungsgewinn auf Seiten der Kolonial‐ 2 Anna Runesson, Exegesis in the Making. Postcolonialism and New Testament Studies, Leiden-2011, 226. 3 Vgl. Werner Kahl, Jesus als Lebensretter. Westafrikanische Bibelinterpretationen und ihre Relevanz für die neutestamentliche Wissenschaft (Neutestamentliche Studien zur kontextuellen Exegese-2), Frankfurt-2007, 27-35. 4 Musa W. Dube, Consuming a Colonial Cultural Bomb. Translating Badimo Into ‘De‐ mons’ in the Setswana Bible (Matthew 8.28-34; 15.22; 10.8), in: JSNT 73 (1999), 33-59; Birgit Meyer, Translating the Devil. Religion and Modernity among the Ewe in Ghana, Edinburgh-1999. 5 Vgl. Frederick M. Amevenku/ Isaak Boaheng, Biblical Exegesis in African Context, Wilmington/ Delaware-2021, 79-98. mächte zu generieren, einhergehend mit einer Entmächtigung der Koloni‐ sierten. Ein bedeutender Strang postkolonialer Bibelhermeneutik befasst sich mit der Erhellung dieser Verstrickungsgeschichte von kolonialistischer Aggression und Bibel, die - aus dieser Perspektive - geschichtlich als „imperialer Text“ fun‐ gierte. 2 Dies gilt zunächst in zweierlei Hinsicht: Vertreter von Kolonialmächten und insbesondere Missionare wussten sich vom 18. bis 20. Jahrhundert durch ihre Lektüren bestimmter biblischer Passagen dazu berufen und ermächtigt, Menschen in fernen Regionen Afrikas, Asiens und Ozeaniens - und zwar vor‐ geblich zu deren Nutzen - zu „zivilisieren“ und zu „christianisieren“. 3 Insofern fungierten diese Bibellektüren zum einen als Motivationsmotor des kolonialis‐ tischen Projekts. Darüber hinaus stellten die von Missionaren verantworteten Bibelübersetzungen in einheimische Sprachen Asiens, Ozeaniens und Afrikas und die Erstellung von Wörterbüchern im Rahmen der Verschriftlichung bis dato ausschließlich oral praktizierter Sprachen auch machtpolitisch relevante Versuche dar, traditionelle Kulturen und deren Religiosität zu diskreditieren, insbesondere durch die Dämonisierung von Ahnengeistern und Göttern. 4 Ein im pazifischen Raum und im subsaharischen Afrika verbreiteter Forschungszweig postkolonialer Hermeneutik ist der kritischen Re-Lektüre der in der Kolonial‐ zeit entstandenen Bibelübersetzungen gewidmet, einhergehend mit Projekten einer kultursensiblen Neuübersetzung biblischer Schriften in Lokalsprachen. So wird in der mother-tongue biblical hermeneutics auf die je einheimischen Enzyklopädien - Sprachen, Kulturen und Traditionen - als Ressourcen für eine angemessene Bibelübersetzung rekurriert. 5 Dies gilt sowohl im Hinblick auf die begriffliche Erfassung des in etwa neutestamentlichen Texten Gemeinten als auch im Hinblick auf seine gegenwärtige Kommunikation innerhalb be‐ stimmter Lektüregemeinschaften. Aufgrund von solchermaßen reflektierten Kolonialismuserfahrungen hinsichtlich der imperialen Benutzung der Bibel zur Beherrschung und kulturellen Herabwürdigung einheimischer Bevölkerungen Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0010 6 Werner Kahl 6 Vgl. die Beiträge in Fernando F. Segovia/ R. S. Sugirtharajah (Hg.), A Postcolonial Commentary on the New Testament Writings (The Bible and Postcolonialism 13), London-2009; und exemplarisch die Studien von Richard A.-Horsley, Paul and Empire. Religion and Power in Roman Imperial Society, Harrisburg PA 1997; ders., Jesus and Empire. The Kingdom of God and the New World Disorder, Minneapolis-2002. im Globalen Süden, d. h. einer partikularen Wirkungsgeschichte der Bibel in der Moderne, haben es eine Reihe von postkolonialen Exeget: innen zum einen un‐ ternommen, in sogenannten „imperial studies“ biblische Schriften selbst kritisch daraufhin zu untersuchen, inwiefern auch in ihnen imperiale Strukturen positiv transportiert, entsprechende Haltungen eingenommen und kolonialistische Handlungsanweisungen empfohlen werden - sei es als bewusste Strategien oder als unbewusste Nachahmungen bestehender Machtstrukturen. 6 Zum anderen kann die Bibel aus postkolonialer Perspektive auch auf ihr Widerstandspotential hin gelesen und gewürdigt werden. Tatsächlich registrieren neuere postkolo‐ niale Untersuchungen verstärkt das Vorhandensein sowohl systemstabilisier‐ ender als auch subversiver Tendenzen in neutestamentlichen Schriften. Neben der Wirkungsgeschichte der Bibel in kolonialistischen Zusammen‐ hängen und einer kolonialismuskritischen Re-Lektüre biblischer Schriften kann als drittes Hauptfeld postkolonialer Kritik die Auseinandersetzung mit der traditionellen historisch-kritischen Exegese benannt werden, wie sie sich im Westen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts entwickelt und durchgesetzt hat. Insbesondere in den deutschsprachigen Bibelwissenschaften, die im 19. und 20. Jahrhundert weltweit als maßgebliche Impulsgeberinnen gewürdigt wurden, galt es beinahe ungebrochen bis zum Ende des letzten Jahrhunderts hinein als selbstverständlich, exegetische Methodik und ihre hermeneutische Flan‐ kierung mit dem Nimbus der Allgemeingültigkeit zu versehen. Ein solches, recht robustes Selbstverständnis wurde - und wird - befördert durch die Ausblendung einer kritischen Reflektion der je eigenen theologischen und kulturellen Standortbestimmtheit bzw. Interessenlage einerseits und die Igno‐ rierung von akademischen und populären Bibelinterpretationen in anderen Regionen der Welt, insbesondere des Globalen Südens, andererseits. Postkolo‐ niale Exeget: innen aus dem Globalen Süden haben aufgrund der Geschichte der westlichen Beherrschung ihrer Länder und Diskreditierung traditioneller Kulturen mitunter ein ausgeprägtes Sensorium für Deutemachtansprüche, wie sie in der westlichen Exegese für eine lange Zeit vorgeherrscht haben und wie sie auch gegenwärtig noch anzutreffen sind. Insbesondere die diachron ausgerichteten Methodenschritte der historisch-kritischen Exegese mit ihrem Interesse an der Rekonstruktion eines ursprünglichen Textes, an der Erhebung einer Autorintention und der Etablierung der einen richtigen Deutung unter Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0010 Postkoloniale Bibelhermeneutik und Exegese 7 7 Christian Koller, Deutschland, in: Dirk Göttsche/ Axel Dunker/ Gabriele Dürbeck (Hg.), Handbuch Postkolonialismus und Literatur, Stuttgart-2017, 399-402, hier 399. 8 Zu den wirkmächtigen rassistischen Konstruktionen von Afrikaner: innen bei Imma‐ nuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel sowie zu weitverbreiteten entspre‐ chenden Haltungen von deutschsprachigen Missionaren, vgl. Kahl, Jesus als Lebens‐ retter (s. Anm. 3), 27-33. Zur Verwobenheit von Kolonialismus, Orientalismus, Theologie und Bibelwissenschaften im 19. Jahrhundert, vgl. Suzanne Marchand, German Orientalism in the Age of Empire. Religion, Race, and Scholarship, Cam‐ bridge 2009; Simon Wiesgickl, Das Alte Testament als deutsche Kolonie. Die Neuerfin‐ dung des Alten Testaments um 1800 (BWANT 214), Stuttgart 2018; Runesson, Exegesis (s.-Anm.-2), 67-71. Anlegung vermeintlich universal gültiger theologischer Wahrheiten können als suspekt erscheinen. Eine solche exegetische Vorgehensweise und Haltung ruft Erinnerungen wach an das kolonialistische Projekt der Beherrschung räumlich (bzw. zeitlich) entfernter (Text-)Körper. Aus postkolonialer Perspektive ist diese Ähnlichkeit indes kein Zufall. Die Entstehung, Ausprägung und Durchsetzung der historisch-kritischen Exegese fällt nämlich exakt in die Zeit des Kolonia‐ lismus des 18. bis 20. Jahrhunderts. Auch wenn das Deutsche Reich selbst nur für eine recht kurze zeitliche Periode als Kolonialmacht in Erscheinung trat (1884- 1918/ 9), allerdings mit einer langen Vorgeschichte der Involvierung deutscher Akteure als Händler (inklusive Sklavenhändler), Söldner und Missionare in oft ausbeuterischen Beziehungen zu fernen Ländern, die bis ins 16. Jahrhundert zurückreichen, 7 so reflektieren philosophische Denkbewegungen, philologische Initiativen und anthropologische Studien deutschsprachiger Gelehrter vor allem des 19. Jahrhunderts die Haltung eines enormen Superioritätsempfindens im Ge‐ genüber zu den als „den ganz Anderen“ konstruierten Menschen in entfernten Weltregionen, die geistesgeschichtlich und zivilisatorisch z. T. weit hinter die Europäer zurückgefallen wären und zu Objekten westlicher Forschungsinte‐ ressen wurden. 8 Insofern können postkoloniale Exeget: innen aus dem Globalen Süden einer solchen westlichen Exegese Komplizenschaft sowohl mit dem kolonialistischen Projekt der Moderne als auch mit dem Neo-Kolonialismus der Gegenwart unterstellen. Veröffentlichungen westlicher Exeget: innen werden einer postko‐ lonialen Hermeneutik des Verdachts unterworfen. Sie gelten als Ausdruck eines in den Bibelwissenschaften nach wie vor unreflektiert weitertradierten Euro‐ zentrismus. Dem hier begegnenden Anspruch an Deutungsmacht verweigern sich postkoloniale Exeget: innen. Zudem wird die traditionelle westliche Exegese mit ihren Fragestellungen und Analysemethoden samt ihrer theologischen bzw. philosophischen Vorverständnisse weithin als irrelevant für die je eigenen Kontexte erachtet. Die Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0010 8 Werner Kahl 9 Vgl. R. S. Sugirtharajah, Introduction. The Bible, Empires, and Postcolonial Criticism, in: ders. (Hg.), The Oxford Handbook of Postcolonial Biblical Criticism e-book, Oxford 2018-2023, 1-21, hier: 1f. 10 Raj Nadella, The Rise of Postcolonial Criticism in Biblical Studies and Its Current Status, in: Oxford Handbook (s.-Anm.-9), 703-734, hier: 706. Erkenntnis hat sich durchgesetzt, dass sich westliche Exegese einer bestimmten Geschichte und Enzyklopädie verdankt. Insofern handelt es sich auch bei ihr um eine Version kontextueller Exegese, auch wenn dies von ihren Vertreter: innen vor allem in der Vergangenheit, aber durchaus auch noch in der Gegenwart selten eingestanden wurde bzw. wird. Aus postkolonialer Perspektive kann sie als suspekte Repräsentantin oder gar Agentin westlicher Herrschafts- und Deutemacht im Bereich der Bibeldeutung erscheinen, die Stimmen der nicht Privilegierten an den Rändern der Machtsphären überhört oder ausgrenzt - sei es in Bezug auf biblische Schriften, sei es in Bezug auf Exeget: innen aus dem Globalen Süden, sei es in Bezug auf die Nöte und Bedürfnisse von Menschen, die unter gegenwärtigem Neo-Kolonialismus leiden. Einige prominente Exeget: innen, die sich dem postkolonialen Diskurs ver‐ schrieben haben, eint das politische Interesse an der Veränderung lokaler gesellschaftlicher und weltweiter ökonomischer Strukturen, um Gerechtigkeit für die vom Westen Abhängigen und Abgehängten zu befördern - sei es an den sogenannten Machträndern im Globalen Süden, sei es innerhalb der sogenannten Machtzentren. Ein solches auf Veränderung abzielendes gesell‐ schaftskritisches Interesse kann aus der Sicht postkolonialer Exeget: innen ge‐ radezu als vornehmste Funktion einer postkolonial ausgerichteten und insofern „ethischen“ Bibelhermeneutik identifiziert werden. 9 Insofern handelt es sich bei postkolonialer Hermeneutik nicht um ein histo‐ risch rückwärtsgewandtes Unterfangen, sondern um ein so engagiertes wie par‐ teiisches Programm mit dem Ziel der Gestaltung von Gegenwart und Zukunft. Einige ihrer Vertreter: innen lokalisieren sich in einem vorgeblichen Kampf „ihres“ jeweiligen Volks um ökonomische Gerechtigkeit und Würde. Sie tun dies im Wissen um eine Kolonialgeschichte, die mit dem Unabhängigwerden vormals kolonisierter Länder ab etwa Mitte des 20. Jahrhunderts nicht zu Ende gegangen sei, sondern die fortwirke, insbesondere in Form des Neo-Kolonialismus. Das Präfix „post“ in Postkolonialismus signalisiert eine kritische Reflexion und Infragestellung von Machtkonstellationen aus der Perspektive der - vormals und in unterschiedlicher Weise auch gegenwärtig vom Westen - dominierten Kolonisierten, und zwar mit dem Ziel der Veränderung von Machtverhältnissen in der Gegenwart, inklusive exegetischer. 10 Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0010 Postkoloniale Bibelhermeneutik und Exegese 9 11 Vgl. die umsichtige Darstellung und kritische Diskussion von Niall McKay, Materia‐ list/ Marxist Interpretations and Postcolonial Biblical Criticism, in: Oxford Handbook (s.-Anm.-9), 677-698. Während sich die klassische Befreiungstheologie der 1960er bis 1990er Jahre mit der ihr entsprechenden Hermeneutik vor allem auf lokal begrenzte Räume bezog - etwa lateinamerikanische Staaten oder Südafrika -, so nimmt postko‐ loniale Bibelhermeneutik seit den 1990er Jahren auch globale Machtverhältnisse und Ungerechtigkeiten in den Fokus, wie sie vom „Westen“, d. h. letztlich von „weißen“ Männern und auch Frauen eingenommen und verübt, theologisch gerechtfertigt und exegetisch untermauert worden seien. In gewisser Weise lebt somit Befreiungstheologie in globaler Weitung in postkolonialer Bibelher‐ meneutik und Theologie weiter. Dies bewahrheitet sich auch im Hinblick auf die politische Ideologie eines Anti-Imperialismus in marxistischer Tradition, wie sie insbesondere von einer Reihe prominenter Vertreter: innen postkolonialer Hermeneutik mehr oder weniger offen vertreten wird, die interessanter Weise vornehmlich selbst an „westlichen Universitäten“ bzw. in den „Machtzentren“ leben, arbeiten und wirken. 11 Insgesamt kann aber nicht von der einen postkolonialen Bibelhermeneutik gesprochen werden. Wie oben ausgeführt, ist das postkoloniale Forschungsfeld stark ausdifferenziert, je nach dem Interesse, der angewandten Methodik, dem Schwerpunkt und der Lokalisierung involvierter Exeget: innen. Das Spektrum postkolonialer Bibelhermeneutik umfasst die folgenden Arbeitsfelder und Posi‐ tionierungen: 1. Wirkungsgeschichte der Bibel in kolonialistischen Zusammenhängen 1.1 Begründung des kolonialistischen Projekts 1.2 Bibelübersetzungen 2. Kolonialismuskritische Re-Lektüren biblischer Schriften 2.1 Biblische Schriften als anti-kolonialistische, anti-imperiale Literatur und/ oder 2.2 Biblische Schriften als kolonialistische, imperiale Literatur 3. Verhältnisbestimmung zur historisch-kritischen Exegese des „Westens“ 3.1 Anwendung aus postkolonialer Perspektive 3.2 Ablehnung als irrelevant bzw. schädlich als Teil des kolonialistischen Projekts 4. Ethnische Kulturen und traditionelle Methoden als Ressourcen der Bibe‐ linterpretation 5. Ethik der Bibelinterpretation Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0010 10 Werner Kahl 12 Vgl. Werner Kahl, Bibelverständnisse und Bibelinterpretationen im globalen Chris‐ tentum - gegenwärtige Tendenzen, in: ÖK 71 (2022), 5-15. 5.1 Nicht-Gehörten eine Stimme geben, in Bibel, Geschichte und Gegen‐ wart, zumal im Globalen Süden, auf akademischer und populärer Ebene 5.2 Politische Agenda einer Weltveränderung in Richtung auf die Ver‐ wirklichung einer globalen, insbesondere ökonomischen Gerechtig‐ keit. Die mittlerweile berühmten Namen der Wortführer: innen einer postkolonialen Hermeneutik - R. S. Sugirtharajah, Fernando F. Segovia, Kwok Pui-lan, Musa W. Dube -, die sich durch eine gewisse politische Radikalität auszeichnen und die den diesbezüglichen internationalen Diskurs aufgrund der von ihnen verantworteten, zahlreichen Publikationen in renommierten Verlagshäusern des Westens prägen bzw. dominieren, sollten aber nicht darüber hinwegtäu‐ schen, dass sie postkoloniale Exegese, wie sie gegenwärtig im Globalen Süden getrieben wird, nicht repräsentieren. Die große Mehrheit der Exeget: innen, die in asiatischen, sub-saharischen und pazifischen Ländern leben, interpre‐ tiert die Bibel aufgrund spezifischer Problemlagen und Glaubenstraditionen different, und zwar ebenfalls oft unter dem Anspruch, postkoloniale Exegese zu treiben. 12 Viele von diesen akademisch bis zum Doktorgrad ausgebildeten Exeget: innen verbindet über Kontinente hinweg, dass sie von ihren Kirchen an theologische Ausbildungsstätten oder Universitäten entsandt wurden, um dort zu unterrichten. Auch als akademische Lehrer: innen sind sie der Kirche und ihren lokalen Glaubensgemeinden weiterhin verpflichtet. Mit ihren Gemein‐ degliedern teilen sie im Allgemeinen eine hohe Wertschätzung der Bibel als Heilige Schrift. Die Methodenschritte, Fragestellungen und hermeneutischen Voraussetzungen der klassischen, diachron ausgerichteten historisch-kritischen Exegese erscheinen hier als ebenso wenig anschlussfähig wie die Lektüre der Bibel unter der postkolonialen Hermeneutik eines Radikalverdachts der Verstrickung in kolonialistischen Zusammenhängen. In dieser Perspektive werden vor allem die folgenden Anliegen verfolgt: 1. Synchron orientierte Exegesen zur Erhellung des Widerstandspotenzials biblischer Narrative und Positionierungen gegenüber kolonialistischer Unterdrückung und Ungerechtigkeit etwa in der Antike. 2. Wiederentdeckung des kulturellen Reichtums der je als eigen erachteten Ethnie - in der Binnenperspektive auf Englisch: „tribe“ - und Stärkung der Widerstandskraft gegenüber kolonialistischer Vorherrschaft. Aus der Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0010 Postkoloniale Bibelhermeneutik und Exegese 11 13 Vgl. exemplarisch die Beiträge indischer Exeget: innen zum Markusbzw. Lukasevan‐ gelium, die in diesem Jahr erschienen sind, und zwar in dem Sammelband Tribal Hermeneutics. Biblical Reflections from North East India, B. Lalnunzira/ A. Abeni Patton (Hg.), Aizawl/ Delhi 2023: Lalmuanpuii Hmar, Jesus’ Confrontation of Empire in Mark’s Gospel and its Significance for Mizo Society, 143-151; Kennedy Poumai, Postcolonial Reading of Luke’s Gospel and Its Importance for Our Church, 165-174. 14 Vgl. exemplarisch die beiden folgenden postkolonialen Beiträge von Exegeten aus Samoa: Mosese Ma’ilo, Bible-ing my Samoan, Apia, Samoa 2016; Apineru Tavita, Sufiga o le va in Romans 13: 1-7. A Samoan Perspective of Postcolonial Theory (A Thesis Presented to The Faculty of Piula Theological College, Samoa, in Fulfillment of the Requirements for the Degree Master of Theology), Piula, Samoa 2022. 15 Nadella, Rise (s.-Anm.-10), 704-717. 16 Nadella, Rise (s.-Anm.-10), 706-708. Perspektive ethnischer, weithin christlicher Minderheiten etwa in nord‐ ostindischen Staaten - z. B. Nagaland oder Mizoram - wird in dieser Hinsicht übrigens als abzuschüttelndes „Imperium“ weder die ehemalige Kolonialmacht Großbritannien noch „der Westen“ identifiziert, sondern das hinduistische Indien. 13 3. Kritische Überprüfung und Revision der vorliegenden, auf Initiative von westlichen Missionaren erstellten Bibelübersetzungen in einheimische Sprachen. 14 2. Zur Entstehung einer postkolonialen Bibelhermeneutik und Exegese Die Entstehung einer postkolonialen Bibelhermeneutik und Exegese ist einzu‐ betten in weitere Zusammenhänge wie etwa Globalisierung, Migration und insbesondere damit verbundene Entwicklungen in den Literaturwissenschaften. An Englisch-Departments von Universitäten in den USA und in Großbritannien wurden ab den 1970er Jahren im Rahmen von colonial studies Romane der Kolonial- und der nach-Kolonialzeit reflektiert. 15 Ab etwa Mitte der 1950er Jahre waren in gerade zu Ende gegangenen bzw. in zu Ende gehenden britischen Kolonien Literaturen von Einheimischen entstanden, die Gegennarrative zu eu‐ ropäischen Konstruktionen des Lebens in den Kolonien, wie sie insbesondere in europäischen Romanen der ersten Hälfte jenes Jahrhunderts verbreitet wurden, darstellten. Verband letztere die deutliche Tendenz westlicher Überheblichkeit gegenüber Menschen in Indien, in afrikanischen oder arabischen Ländern, die entweder als unzivilisiert, unehrlich, kindisch und lüstern oder in romantischer Verklärung vorgeführt wurden, 16 so meldeten sich jetzt literarische Stimmen aus den Kolonien zu Wort, in denen Einheimische als komplexe Subjekte im Fokus standen, die sich vor die Aufgabe gestellt sahen, sich aufgrund des Kolonialismus Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0010 12 Werner Kahl 17 Vgl. Chinua Achebe, Things Fall Apart, Oxford-1958. 18 Vgl. Frantz Fanon, The Wretched of the Earth, New York-1963. 19 Vgl. die exzellente Darstellung und kritische Diskussion der Entwürfe dieser drei Theoretiker: innen des postkolonialen Diskurses in: María do Mar Castro Varela/ Nikita Dhawan (Hg.), Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 3 2020. 20 Nadella, Rise (s.-Anm.-10), 709f. 21 Nadella, Rise (s.-Anm.-10), 706f. 22 Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissen‐ schaften, Reinbek bei Hamburg- 4 2010, 188. in einer Welt zurecht finden zu müssen, in denen althergebrachte Werte und Strukturen nachhaltig erschüttert worden waren. 17 Andere Autor: innen befassten sich theoretisch mit den Auswirkungen des Kolonialismus, etwa auf die Psyche der Menschen in den Kolonialgebieten. 18 Die Entstehung des allgemeinen postkolonialen Diskurses an Universitäten des anglophonen Westens setzte die Mobilität von Studierenden aus dem Globalen Süden voraus. Bei allen drei Akademiker: innen, die im letzten Quartal des 20. Jahrhunderts die entscheidenden Impulse zur Entwicklung des post‐ kolonialen Diskurses setzten, handelt es sich ausschließlich um im Westen ausgebildete und lehrende Literaturwissenschaftler: innen, die aus - vormaligen - britischen Kolonialgebieten stammen: Edward Said (geboren in Palästina), Gayatri Chakravorty Spivak und Homi K. Bhabha (beide geboren in Indien). 19 Unter Rekurs vor allem auf poststrukturalistische bzw. postmoderne westliche Theoretiker wie Michel Foucault (Said: Machtdiskurse), Jacques Derrida (Spivak: Dekonstruktivismus in feministischer Wendung) oder auch den Psychoanaly‐ tiker Jacques Lacan (Bhabha: Mimikry, Hybridität, Ambivalenz, Dritte Räume) 20 arbeiteten sie Theorien aus, die darauf abzielten, „Diskurse, Strategien und das koloniale Erbe zu kritisieren. Dabei bezogen sie Impulse der politischen und literarischen Stadien des Postkolonialismus wie auch des Feminismus und der race-theory mit ein.“ 21 Insgesamt machen diese Autor: innen darauf aufmerksam, dass Menschen und Volksgruppen in weiten Regionen der Welt aufgrund des Kolonialprojekts des Westens an den Rand gedrängt wurden, d. h. in die Bedeutungslosigkeit, und wie sie darauf reagieren. Dieses Machtverhältnis wird diskurskritisch in den Blick genommen: Es stehen hier also die komplexen Vorzeichen jeglicher Produktion von Wissen über die ‚Anderen‘ zur Debatte, Fragen kolonialer und postkolonialer Repräsentation und im Falle des Orientalismus gar die westliche Projektion von Vorstellungen über den Orient zum Zweck der Etablierung eines hegemonialen europäischen Herrschaftsdiskurses. 22 Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0010 Postkoloniale Bibelhermeneutik und Exegese 13 23 Auch andere Exeget: innen wie etwa der Neutestamentler Fernando F. Segovia, ur‐ sprünglich aus Kuba und lehrend an der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee, wären in diesem Zusammenhang zu nennen. Was Segovia aber von den drei benannten Exeget: innen in akademischer Hinsicht unterscheidet, ist dass er im Unterschied zu Kwok, Sugirtharajah und Dube schwerpunktmäßig auch jenseits eines expliziten postkolonialen Programms geforscht, gelehrt und publiziert hat, insbesondere im Bereich der klassischen befreiungstheologischen und interkulturellen Hermeneutik, vgl. etwa Fernando F. Segovia, Intercultural Bible Reading and Liberation in the Steps of Dom Hélder Câmara, in: Daniel S. Schipani/ Martien Brinkmann/ Hans Snoek (Hg.), New Perspectives on Intercultural Reading of the Bible (FS Hans de Wit), Elkhart 2015, 7-37; ders., Intercultural Bible Reading as Transformation for Liberation. Intercultural Hermeneutics and Biblical Studies, in: Hans de Wit/ Janet Dyk (Hg.), Bible and Transformation. The Promise of Intercultural Bible Reading, Atlanta 2015, 19-51. Die Bibel stellt nun auch Literatur dar, und zwar eine, der - wie oben beschrieben - kolonialgeschichtlich eine erhebliche hegemoniale Funktion zuwuchs. Insofern ist es alles andere als ein Zufall, dass es innerhalb der Theologie zunächst Exeget: innen waren, die die Impulse der postkolonialen Theoretiker: innen aufnahmen. In Analogie zu den Biographien jener drei Literaturwissenschaftler: innen handelt es sich bei den drei Initiator: innen bzw. wirkmächtigsten Vertreter: innen einer postkolonialen Hermeneutik ebenfalls um Menschen, die aus vormaligen britischen Kolonialgebieten stammen, die ihre akademische Ausbildung mit Erlangung des Doktorgrads in den USA oder in Großbritannien abschlossen und die als Exeget: innen an amerikanischen oder englischen Universitäten wirkten bzw. wirken: R. S. Sugirtharajah wurde in Sri Lanka geboren und lehrte zuletzt an der Universität von Birmingham in England; Musa W.-Dube stammt aus Botswana, wo sie lange an der staatlichen Universität unterrichtete, bis sie an die Emory University in Atlanta, Georgia wechselte; Kwok Pui-lan wuchs in Hongkong auf und lehrte zuletzt ebenfalls an der Emory University. 23 Insofern handelt es sich bei der Ausbildung der postkolonialen Theorie im Allgemeinen und bei der postkolonialen Bibelhermeneutik im Besonderen um Diasporaphänomene. Die hier entwickelten und exegetisch zur Anwendung gebrachten Theoreme wie z. B. Hybridität, Mimikry, Repräsentation und Dritte Räume reflektieren auch die biographischen Brüche und Erfahrungen der involvierten Exeget: innen aufgrund ihrer Diasporaexistenz. Im Folgenden werde ich ausgewählte programmatische Beiträge der drei Hauptvertreter: innen einer postkolonialen Hermeneutik aus den Anfangs‐ jahren darstellen. R. S. Sugirtharajah hat 1991 mit der Publikation des vom ihm herausge‐ gebenen Sammelbands Voices from the Margin. Interpreting the Bible in the Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0010 14 Werner Kahl 24 R. S. Sugirtharajah (Hg.), Voices from the Margin. Interpreting the Bible in the Third World, New York 1991. 25 Nadella, Rise (s.-Anm.-10), 714. 26 R. S. Sugirtharajah, Introduction, in: Voices (s. Anm. 24), 1-6; ders., Postscript, in: Voices (s. Anm. 24), 434-444. 27 Vgl. dazu den differenzierten Überblick bei Thomas Schmeller, Das Recht der Anderen. Befreiungstheologische Lektüre des Neuen Testaments in Lateinamerika (NTA 27), Münster 1994. 28 Sugirtharajah, Postscript (s.-Anm.-26), 434: „Giving a voice to the voiceless.“ 29 Sugirtharajah, Introduction (s.-Anm.-26), 1f. Third World 24 zum ersten Mal eine Neuorientierung innerhalb der exegetischen Beschäftigung mit der Bibel eingefordert, die inhaltliche Überschneidungen mit dem zeitgenössischen postkolonialen Diskurs in den Literaturwissenschaften aufweist, allerdings ohne schon eine ausgearbeitete und explizit so benannte postkoloniale Hermeneutik vorzulegen. Vorausgesetzt wird die Unterscheidung von Machtzentrum und seinen Rändern, sowohl in der Antike als auch in der Gegenwart. Der Sammelband stellte den Versuch dar, „das Zentrum zu dezentra‐ lisieren, indem seine interpretativen Agenden, Anliegen und epistemologischen Annahmen, wie sie vor allem durch historisch-kritische Methoden befördert wurden, in Frage gestellt wurden.“ 25 In seiner Einführung in den Band sowie in einem Postscript gibt Sugirtharajah Auskunft über das von ihm initiierte Programm einer Neuausrichtung der Exegese. 26 In Anknüpfung an die lateinamerikanische Befreiungstheologie und ihre Bibelinterpretationen 27 wird der Blick jetzt geweitet um die Perspektiven von Unterdrückten in der gesamten - damals sogenannten - Dritten Welt und innerhalb der Machtzentren (African-Americans, Native-Americans). Die Stimmen derer, die aufgrund von Klasse, „Rasse“ oder Gender diskriminiert werden, sollen im weltweiten Chor um die Interpretation der Bibel hörbar gemacht werden, und zwar - abgeleitet aus dem Evangelium - als privilegierte Stimmen. 28 Als ein wesentliches Ziel dieses Vorhabens gilt die Überwindung der Marginalisierung von exegetischen Stimmen aus dem Globalen Süden in „mainline biblical scholarship“, der bis dato von „male Euro-American scholars“ dominiert worden sei. 29 Die historisch-kritische Exegese mit ihrer Methodik, ihrem Anspruch auf Neutralität, ihrer individualistischen Ausrichtung und theologischen Abstraktion soll durch bewusst kontextuelle und parteiische Zugänge zur Bibel ersetzt werden. Nur durch eine Bezugnahme auf konkrete Lebenskontexte mache Bibelexegese Sinn. Die von Sugirtharajah als „hermeneutics of the marginalized“ beschriebene Alternative zum vorherrschenden historisch-kritischen Paradigma wird mit den folgenden Merkmalen versehen: Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0010 Postkoloniale Bibelhermeneutik und Exegese 15 30 Sugirtharajah, Postscript (s.-Anm.-26), 436. 31 Sugirtharajah, Postscript (s. Anm. 26), 436. Ich habe diese vom Evangelium hergeleitete theologische Begründung mit Bedacht als Zitat gebracht. In allzu vielen postkolo‐ nialen Untersuchungen, insbesondere in solchen, die durch eine Hermeneutik des Verdachts geleitet sind, scheint sich die Methode verselbständigt zu haben, ohne dass die Positionierung theologisch reflektiert bzw. an ein wie auch immer geartetes Evangeliumsverständnis zurückgebunden wird. 32 Sugirtharajah, Postscript (s.-Anm.-26), 437. 33 Hier liegt also noch keine grundsätzliche Kritik an der historisch-kritischen Methodik vor. 1. Eine Wiederinbesitznahme der Bibel durch die „gewöhnlichen“ Gläubigen („ordinary people“). 2. Solidarität und performative Interpretationen, um den sogenannten her‐ meneutischen Graben, d. h. zum einen die historische Distanz zwischen biblischen Texten in ihren Kontexten und gegenwärtigen Lektürekon‐ texten zu überbrücken, und zum anderen die arbeitsteilige Trennung von Exeget: innen und Pastor: innen („die größte Sünde der historisch-kritischen Exegese“) 30 zu überwinden. Es wird auch von Exeget: innen Solidarität und eine Beteiligung bzw. Parteinahme im Befreiungskampf an den Rand gedrängter Bevölkerungsgruppen eingefordert, sei es in Bezug auf bibli‐ sche oder auf gegenwärtige Kontexte. Biblische Hermeneutik wird somit - in Tradition der lateinamerikanischen Befreiungstheologie - mit einer gesellschaftsverändernden Funktion verknüpft. Diese Inanspruchnahme begründet Sugirtharajah dezidiert biblisch-theologisch, indem er auf das Evangeliumsnarrativ verweist: „Das biblische Konzept der Auferweckung [gemeint wohl: Jesu von den Toten, W. K.] wird nur dann deutlich, wenn man neue Hoffnung und Liebe zu Menschen bringt, die weder Hoffnung noch Liebe haben. Jesu Verkündigung von Gottes Herrschaft wird verwirk‐ licht nur, wenn die Ideale des Reiches Gottes - Liebe, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit - praktiziert werden.“ 31 3. Die Unterprivilegierten stehen im hermeneutischen Fokus. 4. Eine produktive Verschmelzung von Befreiungsengagement und akade‐ mischer Exegese: Euro-amerikanischen Exeget: innen dienten die histo‐ risch-kritischen Methoden dazu, „die biblischen Narrative für eine säku‐ larisierte Bevölkerung, die sich ihres Glaubens unsicher geworden ist, bedeutsam werden zu lassen.“ 32 Diese Methoden seien nun für den Zweck der Befreiung der Marginalisierten anzuwenden. 33 5. Die Beachtung und Würdigung der sozialen Lokalität von Bibelinterpreta‐ tionen bei gleichzeitiger Ablehnung von exegetischen Ansprüchen, wert‐ neutral zu verfahren. Hermeneutische Neutralität sei in einer in reich Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0010 16 Werner Kahl 34 Dube, Postcolonial (s. Anm. 1). 35 Vgl. die ausführlichere Darstellung und Kritik des Buchs in Kahl, Jesus als Lebensretter (s.-Anm.-3), 95-100. und arm, privilegiert und unterprivilegiert geteilten Welt eine Illusion, die zudem den status quo zementiere. 6. Es geht um das Engagement für eine Transformation der Welt in Richtung auf die Verwirklichung von Gerechtigkeit. Die Exegetin Kwok Pui-lan hat in ihrem Beitrag „Reflection on Women’s Sacred Scriptures“ von 1998 aus explizit feministischer Perspektive die folgenden Hauptanliegen einer postkolonialen Bibelhermeneutik identifiziert: 1. Herausforderung des Totalitäts-, Objektivitäts- und Universalitätsan‐ spruchs westlicher Exegese. 2. Verfolgung eines anti-hegemonialen Diskurses in der Exegese, indem die Strategie verfolgt wird, verdeckte, totgeschwiegene, überhörte und anti-koloniale Stimmen in biblischen Texten aufzuspüren und zum Spre‐ chen zu bringen. 3. Inbeziehungsetzung biblischer Texte mit außerbiblischen Texten, Tradi‐ tionen und Kontexten (Intertextualität). 4. Förderung der Partizipation von Menschen an den Rändern ökonomi‐ scher Machtzentren am exegetischen Diskurs: ethnische Minoritäten, Mi‐ grant: innen und besonders Frauen (Intersektionalität). 5. Orientierung an Einsichten poststrukturalistischer Literaturtheorie und postmoderner Philosophie, insbesondere diskurstheoretische Reflexionen des Verhältnisses von Macht, Sprache und Theorie. Diese Punkte decken sich zum großen Teil mit den von Sugirtharajah aufge‐ führten Anliegen. Anders als Sugirtharajah argumentiert Kwok mit Begrifflich‐ keiten und Konzepten, die sich dem säkularen postmodernen Diskurs in den Li‐ teraturwissenschaften verdanken. Gleichzeitig tritt der befreiungstheologische Impuls, der in Surgirtharajahs Ausführungen von grundsätzlicher Bedeutung ist, zugunsten diskurstheoretischer Reflexionen zurück. Die Neutestamentlerin Musa W. Dube dekonstruierte in ihrer viel beachteten Untersuchung Postcolonial Feminist Interpretation of the Bible aus dem Jahr 2000 34 unterschiedliche Lektüren von Mt 15,21-28 („Die kanaanäische Frau“). 35 Als Kriterium der Analyse des biblischen Textes sowie seiner Interpretationen gilt ihr einzig und allein die Frage danach, ob sie „Leben in Gottes Schöpfung fördern und wiederherstellen“. Es geht Dube aus der Perspektive der partikularen Kolonialismuserfahrungen im südlichen Afrika und seiner Auswirkungen um Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0010 Postkoloniale Bibelhermeneutik und Exegese 17 36 Dube, Postcolonial (s.-Anm.-1), 182. 37 Dube, Postcolonial (s.-Anm.-1), 154. 38 Dube, Postcolonial (s.-Anm.-1), 155. 39 Dube, Postcolonial (s.-Anm.-1), 182. 40 Dube, Postcolonial (s.-Anm.-1), 39. 41 Dube, Postcolonial (s.-Anm.-1), 39. die Dekolonisation des Christentums einschließlich seiner Bibelinterpretation. Der ausgewählte Bibeltext dient ihr als Paradigma zur Aufdeckung imperialis‐ tischer Tendenzen sowohl des Matthäusevangeliums als auch seiner westlichen Interpret: innen, inklusive feministischer Exegetinnen. Ihr Vergleich von Mt 15,21-28 mit 8,15-30 („Der Hauptmann von Kaper‐ naum“) legt nahe, dass der implizite Autor des Matthäusevangeliums, der in einer Situation imperialer Besatzung schrieb, möglicherweise die religiösen Leitungsfiguren herausforderte, wobei er sich mit anderen Gruppen in einem Wettbewerb um Machtgewinn befand und das Wohlwollen des römischen Reichs zu gewinnen trachtete. 36 Indem im Matthäusevangelium „Reisen in entfernte und bewohnte Länder“ zum Zweck der Missionierung favorisiert würden, 37 „stellt das matthäische Model eine Verkörperung imperialistischer Werte und Strategien dar.“ 38 Diese Strategie eines Mimikry würde nun von westlichen Exegeten übersehen werden. Aber auch „weiße, der Mittelschicht zugehörige feministische Lektüren des Wes‐ tens“ 39 blieben einem kulturellen und ökonomischen Imperialismus verhaftet, der es ihnen nicht möglich mache, die der Textpassage zugrunde liegenden Machtverhältnisse, Aushandlungsprozesse und Interessenlagen zu erfassen. Damit partizipierten sie an der hegemonialen Macht des Westens. Was anstehe, sei vielmehr die Befreiung nicht-westlicher Traditionen aus der Gefangenschaft der ökonomischen Machtzentren. Da die Bibel heute der ganzen Welt und nicht mehr nur dem Westen gehöre 40 , sei ein Lektüremodell vonnöten, das die Präsenz von Imperialismus und Patriarchalismus ernst nehme und an einer befreienden Interdependenz interessiert sei „between genders, races, nations, economies, cultures, political structures, and so on“. 41 Ein solches Lektüremodell sieht Dube in der Praxis afrikanisch-unabhängiger Kirchen in Botswana verwirklicht, denn hier seien Machtoppositionen wie / Mann/ versus / Frau/ , / alt/ versus / jung/ , / schwarz/ versus / weiß/ , / schriftliches/ versus / mündliches Wort/ , / christliches Heil/ versus / afrikanische Religiosität/ weithin aufgehoben. Jeder und jede ein‐ zelne würden hier als Personen gewürdigt, die am göttlichen Geist partizipieren könnten. Wie in der afrikanisch-traditionellen Religiosität seien hier Kirche und Theologie daran ausgerichtet, Leben zu bewahren und zu fördern. Menschliche Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0010 18 Werner Kahl 42 Dube, Postcolonial (s.-Anm.-1), 186. 43 Dube, Postcolonial (s.-Anm.-1), 190. 44 Dube, Postcolonial (s.-Anm.-1), 40. Existenz werde wahrgenommen als „befreiendes Beziehungsgewebe“. 42 Und genau damit sei nach Dube der göttliche Wille erfasst. Die hier vorausgesetzte Heilsinklusivität liege in der Bibel nur verdeckt vor; sie komme auch in den mündlichen Mitteilungen von Frauen in den unabhängigen Kirchen nur gebrochen zum Ausdruck. Aufgrund teilnehmender Beobachtungen in jenen Kirchen kommt Dube zu folgender Schlussfolgerung: Die Kommunikation der Bedeutung der Passage war unauflöslich verwoben mit den Akten der Interpretation (…): kommunalistische Interpretation, partizipatorische Interpretation durch den Gebrauch von Liedern, Interpretation durch dramatisierte Erzählung und Interpretation durch Wiederholung. 43 Die im Westen vorherrschende Methode der Bibelinterpretation sei hingegen stark text- und logozentriert. Als solche sei sie für afrikanische Kontexte irrelevant. 44 3. Zentrale Publikationen postkolonialer Hermeneutik und Exegese Exegetische Publikationen unter einem explizit postkolonialen Vorzeichen sind seit Mitte der 1990er Jahre vorgelegt worden, und zwar fast ausschließlich in englischer Sprache. Sie überlappen sich inhaltlich teilweise mit Untersu‐ chungen, die der „kulturellen Exegese“ zugerechnet werden, welche sich wiederum methodisch den linguistic und cultural turns in den Literatur- und Geisteswissenschaften verdankt und die der explizit als postkolonial in Erscheinung tretenden Bibelhermeneutik zeitlich etwas vorangeht. Auch post‐ koloniale Hermeneutik und Exegese wertet kulturelle Zugänge zur Bibel etwa in marginalisierten Ethnien stark auf und kann ihre Anwendung als intertex‐ tuelle Methoden und Ressourcen empfehlen. Sie unterscheidet sich von Unter‐ suchungen kultureller Exegese durch ihre von dem postkolonialen Diskurs geprägte Begrifflichkeit und eine Imperialismus kritische Stoßrichtung, die oft mit einer grundsätzlichen, diskurskritischen Infragestellung der Methoden und Voraussetzungen westlicher Exegese einhergeht und die Bibel selbst unter eine Hermeneutik des Verdachts der Verstrickung in kolonialistischer Ausbeutung stellt. Kulturelle Exegesen hingegen zeichnen sich weithin dadurch aus, dass sie das Spektrum möglicher Bibellektüren um bisher im Westen ausgeblendete Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0010 Postkoloniale Bibelhermeneutik und Exegese 19 45 Vgl. Brian K. Blount, Cultural Interpretation. Reorienting New Testament Criticism, Minneapolis 1995; Fernando F. Segovia/ Mary Ann Tolbert (Hg.), Reading from this Place, Bd. 1: Social Location and Biblical Interpretation in the United States, Minnea‐ polis 1995; Reading from this Place, Bd. 2: Social Location and Biblical Interpretation in Global Perspective, Minneapolis-1995. 46 R. S. Sugirtharajah, From Orientalist to Post-Colonial. Notes on Reading Practices, in: AJT 10 (1996), 20-27. 47 Nadella, Rise (s.-Anm.-10), 715. 48 Laura E. Donaldson (Hg.), Postcolonialism and Scriptural Reading, (Semeia 75), Atlanta 1996. Im selben Jahr erschien übrigens in derselben Reihe der inhaltlich verwandte Band Gerald West/ Musa W. Dube (Hg.), “Reading With”: An Exploration of the Interface between Critical and Ordinary Readings of the Bible. African Overtures (Semeia 73), Atlanta-1996. 49 Musa W. Dube, Reading for Decolonization. Joh 4,37-60, in: Postcolonialism and Scriptural Reading (s. Anm. 48), 37-60. Perspektiven erweitern, ohne den - allerdings kontextuell zu relativierenden - Wert westlicher Exegesen zu bestreiten. 45 Es folgt eine Auflistung weiterer, besonders bedeutender Publikationen im Bereich postkolonialer Hermeneutik und Exegese ab Mitte der 1990er Jahre bis in die Gegenwart. Zur Orientierung versehe ich sie mit kurzen Erläuterungen. Im Jahr 1996 erschienen zwei Publikationen, mit denen das Paradigma einer ausdrücklich als postkolonial markierten Bibelhermeneutik begründet wurde: Sugirtharajah veröffentlichte im Asia Journal of Theology den Beitrag „From Orientalist to Post-Colonial. Notes on Reading Practices“, 46 in dem er „ausdrücklich postkoloniale Kritik mit biblischen Interpretationen ins Gespräch brachte.“ 47 Wie bereits im Titel anklingend, rekurrierte er hierbei auf die Orienta‐ lismuskritik von Edward Zaid. Der vorgeblich westlichen exegetischen Tendenz, Stimmen, Texte und Methoden zur Bibelinterpretation aus dem Globalen Süden totzuschweigen, begegnet Sugirtharajah mit der postkolonial unterfütterten Forderung nach einer intertextuellen Inbeziehungsetzung hinduistischer und christlicher Texte, und zwar als exegetische Methodik. Im selben Jahr erschien der Sammelband Postcolonialism and Scriptural Reading in der Semeia-Reihe der Society of Biblical Literature. 48 Er wurde herausgegeben von Laura E. Donaldson, die selbst eine amerikanisch-indigene Herkunft aufweist. Aus unterschiedlichen lokalen bzw. kulturellen Perspektiven - auch Musa Dube aus Botswana ist hier bereits mit einem Beitrag zu Joh 4,1-42 vertreten - werden kolonialistische Tendenzen sowohl in Bibelinterpretationen als auch in Bibeltexten selbst aufgespürt. 49 1998 wurde eine neue Buchserie ins Leben gerufen, in der im Laufe der Jahre eine ganze Reihe von bedeutenden Studien zu postkolonialer Bibelhermeneutik Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0010 20 Werner Kahl 50 Erschienen bei Bloomsbury, Sheffield Academic Press. 51 Fernando F. Segovia und R. S. Sugirtharajah (Hg.), A Postcolonial Commentary on the New Testament Writings, London 2007. Vgl. als alttestamentliche Entsprechung: Hem‐ chand Gossai (Hg.), Postcolonial Commentary and the Old Testament, London-2020. und Exegese erschienen ist: The Bible and Postcolonialism. 50 Der erste Band trug den Titel The Postcolonial Bible und wurde herausgegeben von Sugirtharajah. Die Beiträge in diesem Sammelband analysieren, wie der Kolonialismus auch durch biblische Exegese befördert wurde. Darüber hinaus werden unterschied‐ liche ethnische und kulturelle Perspektiven präsentiert, die als Ressourcen für kontextuell relevante Bibelinterpretationen ins Feld geführt werden. Diese Thematik wird im zweiten Band der Serie mit dem Titel Vernacular Hermeneutics, wieder von Sugirtharajah im Jahr 1999 herausgegeben, weiter ausgeführt und vertieft. Es wird der Frage nach der postkolonialen Bedeutung und dem Gewinn einer Exegese, die auf indigene Traditionen und Enzyklopä‐ dien in einheimischen Sprachen rekurriert, nachgegangen. In eben dieser Reihe erschien auch die im Jahr 2005 von Stephen Moore und Fernando Segovia herausgegebene Aufsatzsammlung Postcolonial Biblical Criti‐ cism. Interdisciplinary Intersections. Die hier versammelten Beiträge loten das Beziehungsfeld zwischen postkolonialer Bibelhermeneutik und Exegese einer‐ seits und feministischen, ethnischen, poststrukturalistischen und marxistischen Perspektiven andererseits aus, und zwar auf einem hohen Reflexionsniveau. Ein besonderes Ereignis stellte die Veröffentlichung von A Postcolonial Com‐ mentary on the New Testament Writings im Jahr 2007 dar, herausgegeben von Fernando F. Segovia und R. S. Sugirtharajah. 51 Die Kommentierung aller neu‐ testamentlichen Schriften wird eingeleitet durch einen umfänglichen Beitrag von Segovia (S. 1-68). Hier analysiert er die Kommentierungen in komparativer Weise, und zwar mittels der folgenden Kriterien: 1. postkoloniale Konfigura‐ tionen; 2. exegetische Zugänge; 3. Positionierungen zwischen neutestamentli‐ chen Schriften und frühchristlichen Glaubensgemeinschaften einerseits und der gesellschaftspolitischen Realität im Römischen Reich andererseits; 4. die Beziehung zwischen diesen Positionierungen und den jeweiligen Exeget: innen. Resultat seines Durchgangs ist, dass in diesem Kommentar ein weites Spektrum von sich zum Teil widersprechenden hermeneutischen Definitionen, Zugangs‐ weisen und Positionierungen innerhalb der postkolonialen Bibelhermeneutik und Exegese vorliegt. Beendet wird der Band mit einem kurzen Aufsatz von Sugirtharajah, der hier in recht provokanter Weise die nächste Phase der postkolonialen, biblischen Interpretation bedenkt (S. 455-466). Angesichts eines vorgeblich kriegerischen Neo-Imperialismus im Namen von Demokratie, Humanität und Befreiung mahnt Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0010 Postkoloniale Bibelhermeneutik und Exegese 21 er die noch nicht zu Ende geführte und teilweise nicht einmal begonnene postkoloniale Durchdringung der Exegese an sowie die Weitung des Horizonts postkolonialer Bibelhermeneutik in Richtung auf eine (selbst-)kritische Analyse von Terrorattacken im Namen des Islams und des Phänomens von Asylsuchenden. Das Oxford Handbook of Postcolonial Biblical Criticism, herausgegeben von Sugirtharajah, war ab 2018 zunächst nur online oder als e-book zugänglich. Die Hardcover-Version erschien erst Anfang November 2023. Einzelartikel waren in der Zwischenzeit stillschweigend aktualisiert worden. Auf eine Einleitung des Herausgebers („The Bible, Empires, and Postcolonial Criticism“, S. 1-21) folgen 30-Beiträge unter den folgenden Rubriken: Biblical Empires in the Hebrew Scriptures, Inter-Testamental Writings, the New Testament, and the Christian Apocrypha/ Modern European and Asian Empires/ Empires and Translations/ Postcolonial Social and Ethical Concerns/ Postcolonial Biblical Criticism and Cog‐ nate Disciplines/ Postcolonialism, Biblical Studies, and Theoretical Orientations. Mit der Publikation des Handbuchs wird noch einmal die Breite des Spek‐ trums von postkolonialer Bibelhermeneutik und Exegese eindrucksvoll vor Augen geführt. Nachdem diese Forschungsperspektive mit ihrer vielfältigen Methodik gewissermaßen eine Würdigung durch renommierte anglophone Publikationshäuser erfahren hat, stellt sich nun die Frage nach ihrer Rezeption innerhalb der deutschsprachigen Exegese. 4. Zur Rezeption in der deutschsprachigen Exegese In der deutschsprachigen Exegese sind die Entwürfe und Untersuchungen post‐ kolonial orientierter Exeget: innen bisher nur am Rande und erheblich zeitver‐ zögert wahrgenommen worden. Hierbei ergeht es postkolonialer Hermeneutik und Exegese nicht anders als vorangegangenen Perspektivwechseln der letzten 50 Jahre, die ebenfalls in der englischsprachigen Welt ihren Ausgang nahmen und bis dato als sicher geglaubte Forschungsergebnisse, hermeneutische und theologische Vorverständnisse und Haltungen in Frage stellten: sei es in Bezug auf eine differenzierte Wahrnehmung des antiken Judentums, die damit im Zusammenhang stehende Neue Paulusperspektive, die feministische Exegese, die literatur- und kulturwissenschaftlich verantwortete Exegese, die Kritik an der Zweiquellentheorie und anderes mehr. Was postkoloniale Perspektiven anbetrifft, kommt im Unterschied zur anglophonen Welt erschwerend hinzu, dass es aufgrund der spezifischen Kolonialgeschichte Deutschlands keine ins Ge‐ wicht fallende Diasporapräsenz aus vormaligen deutschen Kolonialgebieten hier‐ zulande gibt, die postkoloniale Impulse in die Theologie und Exegese eintragen könnte. Erst seit wenigen Jahren beginnt sich in dieser Hinsicht die Situation Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0010 22 Werner Kahl 52 Bezeichnenderweise kommen im umfänglichen Handbuch Postkolonialismus und Lite‐ ratur, hrsg. von Dirk Göttsche/ Axel Dunker/ Gabriele Dürbeck (Stuttgart 2017), weder Bibel noch postkoloniale Exegese vor. 53 Vgl. Ulrich Winkler/ Christian Boerger/ Joel Klenk (Hg.), Von Peripherien und Zentren, Mächten und Gewalten (Jerusalemer Ansätze für eine postkoloniale Theologie, JThF-41), Münster 2021; Ciprian Burlăcioiu (Hg.), Migration and Diaspora Formation. New Per‐ spectives on a Global History of Christianity (AKG 152), Berlin/ Boston 2022; Gregor Etzelmüller/ Claudia Rammelt (Hg.), Migrationskirchen. Internationalisierung und Plurali‐ sierung des Christentums vor Ort, Leipzig-2022; Malte Cramer/ Alena Höfer (Hg.), Schrift‐ auslegung im Plural. Interkulturelle und kontextuelle Bibelhermeneutiken, Stuttgart 2023. 54 In ihrer kulturwissenschaftlichen Einführung zum Postkolonialismus hat etwa Doris Bachmann-Medick als eine der ersten überhaupt in Deutschland auf die exegetischen Arbeiten von Musa W. Dube, Fernando F. Segovia und R. S. Sugirtharajah hingewiesen, vgl. Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissen‐ schaften (rowohlts enzyklopädie), Reinbek bei Hamburg 4 2010, 208 u. 229f., vgl. aber bereits meine ausführliche Präsentation und Analyse von Dube, Postcolonial Feminist Interpretation of the Bible, in: Kahl, Jesus als Lebensretter (s. Anm. 3), 95-100 aus dem Jahr 2007, sowie die ausdrückliche Würdigung postkolonialer hermeneutischer Ansätze in Stefan Alkiers Lehrbuch Neues Testament (UTB basics), Tübingen 2010, 67-72; und Werner Kahl, Akademische Bibelinterpretationen in Afrika, Lateinamerika und Asien angesichts der Globalisierung, in: VF 54 (2009), 45-59; ders., Gottesgerechtigkeit und politische Kritik - neutestamentliche Exegese angesichts der gesellschaftlichen Relevanz des Evangeliums, in: ZNT-31 (2013), 2-10, hier: 6-8. 55 Interkulturelle Theologie. Zeitschrift für Missionswissenschaft 38/ 1-2 (2012), hierin: K. Pui-lan, Die Verbindungen herstellen. Postkolonialismus-Studien und feministische Bibelinterpretation, 34-62; Fernando F. Segovia, Grenzüberschreitendes Interpretieren. Postkolonialismus-Studien und Diaspora-Studien in historisch-kritischer Bibelexegese, 110-135; R. S. Sugirtharajah, Eine postkoloniale Untersuchung von Kollusion und Konstruktion in biblischer Interpretation, 136-162. Bei diesen Beiträgen handelt es sich um Übersetzungen von englischsprachigen Beiträgen aus den 1990er und 2000er Jahren. etwas zu verändern, insbesondere durch Student: innen mit einer mittelbaren afrikanischen Migrationsgeschichte, die postkoloniale Studien treiben und sich gegen Rassismus engagieren, wenn auch meistens außerhalb der Theologie. 52 Globale Migrationsbewegungen der letzten Jahrzehnte, die eine Diversifizierung der hiesigen Bevölkerung mit sich brachten, haben erst in jüngster Zeit in den theologischen Fächern zu einer Reflexion der Phänomene und Bedeutungen von Migration, Diasporaexistenz und Interkulturalität geführt. 53 Beiträge zur postkolonialen Hermeneutik und Exegese in Deutschland sind beredter Weise zunächst vor allem außerhalb der neutestamentlichen Wissen‐ schaft zur Kenntnis genommen und veröffentlicht worden. 54 In die deutschspra‐ chige Theologie sind bibelhermeneutische Entwürfe der bedeutenden postkolo‐ nialen Exeget: innen Kwok Pui-lan, Fernando F. Segovia und R. S. Sugirtharajah zum ersten Mal im Jahr 2012 eingespeist worden in dem Themenheft Postkolo‐ niale Theologie der Zeitschrift Interkulturelle Theologie. 55 Es folgte 2013 eine um Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0010 Postkoloniale Bibelhermeneutik und Exegese 23 56 Andreas Nehring/ Simon Wiesgickl (Hg.), Postkoloniale Theologien. Bibelhermeneuti‐ sche und kulturwissenschaftliche Beiträge (ReligionsKulturen-11), Stuttgart-2013. 57 Andreas Nehring/ Simon Wiesgickl (Hg.), Postkoloniale Theologien II. Perspektiven aus dem deutschsprachigen Raum, Stuttgart-2017. 58 Vgl. die Einschätzung von Ulrich Luz, Theologische Hermeneutik des Neuen Testa‐ ments, Neukirchen-Vluyn 2014, 279-281. Der wohl erste Aufsatz eines deutschen Neu‐ testamentlers, der sich exklusiv mit postkolonialer Theologie bzw. Hermeneutik befasst hat, stellt insgesamt einen Verriss dar: Lukas Bormann, Gibt es eine postkoloniale Theologie des Neuen Testaments, in: Postkoloniale Theologien II (s. Anm. 57), 186-204. Dabei argumentiert Bormann streckenweise unsachlich und stark verkürzend, etwa wenn er fälschlicherweise den Aufsatzband Still at the Margins, hrsg. von Sugirtharajah im Jahr 2008, als „Kompendium“ bezeichnet, und mit dem Hinweis auf das Fehlen von Namen einiger westlicher Exegeten im Register des Bandes unterstellt, dass sich postkoloniale Exegese „mit theologischer Exegese nicht wissenschaftlich befasst“ (201). Tatsächlich haben sich maßgebliche Veröffentlichungen im Bereich postkolonialer Exegese seit den Anfängen mit den Entwürfen von Vertretern der klassischen Exegese auseinandergesetzt, so bereits in der ersten Auflage von Voices from the Margin aus dem Jahr 1991 (C. K. Barrett, F. F. Bruce, R. Bultmann, E. Haenchen, J. Jeremias, G. von Rad, G. Strecker, G. Theissen and C. Westermann); vgl. Christopher Stanley (Hg.), The Colonized Apostle. Paul in Postcolonial Eyes, Minneapolis, MN 2011 (Theologien von R. Bultmann, N. T. Wright und J. Dunn); Postcolonial Commentary on the New Testament Writings aus dem Jahr 2007 (z. B. im Beitrag zum Römerbrief von Neil Elliott: u. a. C. K. Barrett, H. Bartsch, F. C. Baur, J. C. Beker, R. Bultmann, J. J. Collins, J. Dunn, D. Georgi, E. Käsemann, H. Räisänen, G. Theissen, F. Watson). Das Kriterium für die Bewertung postkolonialer Zugänge stellt für Bormann die „historisch-kritische Exegese“ dar. Die Forderung der postkolonialen Exegese nach einer Ideologiekritik gerade auch des historisch-kritischen Methodenkanons reflektiert er nicht. weitere theologische und exegetische Beiträge, etwa von Musa Dube, erweiterte Textausgabe, wiederrum verantwortet von dem Missions- und Ökumenewis‐ senschaftler Andreas Nehring, diesmal im Verbund mit dem alttestamentlichen Exegeten Simon Wiesgickl: Postkoloniale Theologien. Bibelhermeneutische und kulturwissenschaftliche Beiträge. 56 Beide ließen 2017 einen Nachfolgeband mit Reaktionen deutschsprachiger Theolog: innen inklusive Exegeten folgen: Post‐ koloniale Theologien-II. Perspektiven aus dem deutschsprachigen Raum. 57 Einige deutschsprachige Neutestamentler haben in ersten Reaktionen eher irritiert und insgesamt ablehnend auf die Entwürfe, Anliegen, die Vorgehens‐ weise und die Ansprüche postkolonialer Exeget: innen reagiert. Bei aller Kri‐ tikwürdigkeit auch postkolonialer Exegese meldet sich hier mitunter eine - angesichts der teilweisen Fragwürdigkeit ihrer Methoden und der schnellen Verfallszeit einiger ihrer als sicher kommunizierten Resultate - erstaunliche Überheblichkeit zu Wort, die den hegemonialen Anspruch westlicher Exegese, wie er von Kolleg: innen aus dem Globalen Süden benannt und kritisiert worden ist, noch einmal eindrücklich bestätigt. 58 Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0010 24 Werner Kahl 59 Vgl. Christian Wetz, Die zweite Meile. Mt 5,41 in postkolonialer Perspektive - eine exegetische Erprobung, in: Britta Konz/ Bernhard Ortmann/ Christian Wetz (Hg.), Post‐ kolonialismus, Theologie und die Konstruktion des Anderen. Erkundungen in einem Grenzgebiet/ Postcolonialism, Theology and the Construction of the Other. Exploring Borderlands (STAR 26), Leiden 2020, 100-119; Markus Lau, Der fremde Exorzist (Mk 9,38-40) - zweifach gelesen. Beobachtungen zum Potential postkolonialer Theologie für historisch-kritische Exegese, in: Von Peripherien und Zentren (s. Anm. 53), 31-59; Ingeborg Mongstad-Kvammen, Ein Ritter und ein Bettler. Jakobus 2,1-4 in postkolonialer Perspek‐ tive, in: ZNT 50 (2022), 69-84. Vgl. auch die Vorstellung postkolonialer Hermeneutik durch Arie W. Zwiep, Bible Hermeneutics from 1950 to the Present. Trends and Developments, in: Oda Wischmeyer/ Michaela Durst (Hg.), Handbuch der Bibelhermeneutiken. Von Origenes bis zur Gegenwart, Berlin/ Boston 2016, 933-1008, hier: 999f. Allerdings beginnt sich hier das Bild zu wandeln: Einige neutestamentliche Veröffentlichungen der letzten Jahre zeigen ein wachsendes Interesse an post‐ kolonialer Hermeneutik und Exegese an. Sie zeichnen sich durch die Fähigkeit zu einer differenzierten Würdigung dieser Forschungsperspektive und ihrer Methoden aus und sie verstehen es, sie produktiv mit klassischen exegetischen Zugängen zum Neuen Testament zu verbinden. 59 5. Würdigung postkolonialer Hermeneutik und Exegese Es waren vor allem Neutestamentler: innen im Westen mit biographischen Verbin‐ dungen zu Ländern des Globalen Südens, die im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhun‐ derts das Paradigma einer postkolonialen Hermeneutik und Exegese begründeten und vorantrieben. Dieses Forschungsfeld hat sich durch unterschiedliche Interes‐ senlagen von mit der Zeit sich dem Diskurs anschließenden Exeget: innen - sei es an Universitäten oder Seminaren in Afrika, Asien, Lateinamerika oder Ozeanien, sei es in den USA oder in Großbritannien - stark ausdifferenziert. Aufgrund der Kolonialgeschichte und ihrer Nachwirkungen hat sich das postkoloniale Para‐ digma in der ein oder anderen Fokussierung für Theolog: innen und Exeget: innen in vielen Regionen der Welt als anschlussfähig erwiesen. Von besonderer Bedeutung für die neutestamentliche Exegese im deutsch‐ sprachigen Raum angesichts von Globalisierung, Migration und der erfolgten Verschiebung des Schwergewichts der Weltchristentheit in den Globalen Süden hinein scheinen mir die folgenden Anregungen bzw. Forderungen postkolo‐ nialer Perspektiven zu sein: 1. Eine kritische Reflexion der Exegese hinsichtlich ihrer theologischen und ideologischen Vorverständnisse. 2. Das Eingeständnis der Kontextualität westlicher Exegese und der Vorläu‐ figkeit ihrer Ergebnisse. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0010 Postkoloniale Bibelhermeneutik und Exegese 25 60 Vgl. Esther E. Acolatse, Powers, Principalities, and the Spirit. Biblical Realism in Africa and the West, Grand Rapids 2018; Eve-Marie Becker/ Jens Herzer/ Angela Stand‐ hartinger/ Florian Wilk (Hg.), Reading the New Testament in the Manifold Contexts of a Globalized World. Exegetical Perspectives (NET 32), Tübingen 2022, sowie die Bände der Reihen New Testament Studies in Contextual Exegesis. Neutestamentliche Studien zur kontextuellen Exegese (Frankfurt) und Bible in Africa Studies (Bamberg); vgl. Blount, Cultural Interpretation (s. Anm. 45). 61 Olúfẹ́mi Táíwò, Against Decolonisation. Taking African Agency Seriously, London-2022. 62 Vgl. Anke Graneß, Philosophie in Afrika. Herausforderungen einer globalen Philoso‐ phiegeschichte, Berlin 2023, 34-37; vgl. dazu auch Simon Wiesgickl, Postkoloniale Theologien. Positionen und Potenziale, in: ThLZ-10 (2022), 903-916. 63 Vgl. dazu kritisch Alkier, Neues Testament (s.-Anm.-54), 203-209. 3. Ablegung ihres hegemonialen Absolutheitsanspruchs. 4. Die Prüfung des Beitrags partikularer kultureller Exegesen zur Erhellung möglicher Bedeutungsdimensionen in neutestamentlichen Texten. 60 5. Die Analyse der Bedeutung von Evangelium angesichts von Machtverhält‐ nissen im römischen Reich sowie die differenzierte Erhebung frühchristli‐ cher Positionierungen in Machtkonstellationen. 6. Das Achten auf Konstruktionen des je „Eigenen“ versus des „Anderen“. 7. Entwicklung der Ethik einer Interpretation in Bezug auf biblische Texte und gegenwärtige, akademische und populäre Lektüren, die sich an Gerechtig‐ keit und Barmherzigkeit als zentralen Werten des Evangeliums ausrichtet. Wie alle anderen exegetischen Zugänge sind auch postkoloniale kritikbedürftig. Dies scheint mir insbesondere gegeben zu sein bezüglich einer verbreiteten Ideologisierung unter dem Stichwort der Dekolonisation 61 , wie sie in einem prominenten Strang postkolonialer Hermeneutik vertreten wird. Die gegen Einflusssphären des Westens gerichtete Forderung nach Dekolonisation geht gemeinhin einher mit der Romantisierung und Idealisierung ethnischer Kul‐ turen. Sie redet die Handlungsfähigkeit von Menschen etwa afrikanischer Kulturen in Vergangenheit und Gegenwart klein und konterkariert postkolo‐ niale Konzepte der agency, Hybridität und der Verflochtenheit von Kulturen. 62 Als problematisch erscheint mir auch die in einigen postkolonialen Studien anzutreffende anachronistische Gleichsetzung von kolonialen bzw. imperialen Machtverhältnissen in Moderne und Gegenwart mit denen in der Antike. Das römische Reich mit seinem Anspruch als Friedensgarant bedarf einer differenzierten - und nicht einer schablonenhaften, binären - Betrachtung. 63 Insgesamt gesehen hat postkoloniale Hermeneutik wichtige Impulse gesetzt, der sich die neutestamentliche Exegese im deutschsprachigen Raum - Analoges Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0010 26 Werner Kahl 64 Vgl. Wiesgickl, Das Alte Testament (s.-Anm.-8). 65 Vgl. Runesson, Exegesis (s.-Anm.-2), 130f. gilt für ihr alttestamentliches Pendent 64 - im Zeitalter der Globalisierung nur zu ihrem Schaden wird verschließen können. Im interkulturellen Austausch um mögliche Deutungen und Bedeutungen biblischer Texte ergeben sich aufgrund unterschiedlicher involvierter Weltwissenssysteme Friktionen, die sich als wechselseitig produktiv erweisen können. 65 Die Ausarbeitung einer diesbezüg‐ lichen interkulturellen Hermeneutik unter postkolonialem Vorzeichen, die eine solche produktive Inbeziehungsetzung unterschiedlicher Hermeneutiken und Exegesen auch unter diskurstheoretischen Perspektiven reflektiert, erscheint als dringliche Aufgabe gegenwärtiger neutestamentlicher Wissenschaft. Werner Kahl, 1962 geboren in Essen. Promotionsstu‐ dium (New Testament Studies, Doctor of Philosophy) an der Emory University in Atlanta, Georgia; 1999 bis 2002 Habilitationsstipendiat der Deutschen Forschungs‐ gemeinschaft. Feldforschungen in Ghana, Lecturer an der Legon University in Accra. Seit 2006 ausserplanmä‐ ßiger Professor für Neues Testament an der Goethe-Uni‐ versität Frankfurt. 2006-2020 Studienleiter der Missionsakademie an der Universität Hamburg. Visiting Professor am Baptist University College in Kumasi, Ghana, am Piula Theological Seminary, Samoa, und an der Shanghai University. Seit 2022 Pfarrer der Evangelischen Stadtkirchen‐ gemeinde in Hanau. Veröffentlichungen v. a. zur Wunderfrage, zum synoptischen Problem, zu Reflexionen neutestamentlicher Traditionen im Koran und zu afrikanischen Bibelinterpretationen. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0010 Postkoloniale Bibelhermeneutik und Exegese 27 Zum Thema Tendenzen der Bibelauslegung im postkolonialen Ghana Wundergeschichten des Neuen Testaments als Fallstudie Abraham Boateng 1. Einführung Dieser Artikel setzt sich mit verschiedenen Bibelauslegungen in Ghana aus‐ einander. Er wird einige westafrikanische Interpretationsansätze der Bibel beleuchten, die die Sicht von Leserinnen und Lesern in westafrikanischen Alltagssituationen einfangen möchten. Im Folgenden sollen diese Blickrich‐ tungen populäre Perspektiven genannt werden. Daneben betrachtet der Artikel jedoch auch die akademische Bibelauslegung Westafrikas. In beiden Bereichen entwickelt diese Untersuchung einige Anfragen aus postkolonialer Perspektive. Es soll ein Überblick über die kulturelle Bedeutung der Bibel in unterschied‐ lichen sozialen Milieus entwickelt werden, um daran anschließend kritische Punkte aus postkolonialer Perspektive zu erörtern. Am Ende des Artikels sollen zudem Diskurse über Wunder des Neuen Testaments in westafrikani‐ schen Auslegungen betrachtet werden. Damit soll gleichzeitig eine Brücke zur theologischen Praxis einer Bibellektüre in Westafrika geschlagen werden. Geographisch beschränkt sich der verfolgte Ansatz auf Gebiete südlich der Sahara. Dieser Bereich ist im Folgenden gemeint, wenn von Afrika gesprochen wird. Insbesondere der Bereich Westafrika soll in den Fokus genommen werden. Trotz des geographisch zentrierten Blickwinkels auf die sozialen Normen und kulturellen Differenzen in Westafrika, begegnen ähnliche Zusammenhänge jedoch auch in anderen afrikanischen Ländern wie Nigeria, Gambia, Sierra Leone. 1 John S.-Mbiti, Bible and Theology in African Christianity, Nairobi/ Oxford 1986, 22. 2 John David Kwamena Ekem, Early Scriptures of the Gold Coast, Ghana/ Rome 2011, 1 (Übersetzung M. Sommer). 2. Die Bibel in Ghana Es ist unter Gelehrten umstritten, wann und wie die Bibel in Afrika eingeführt wurde. Eine in der Forschung weit verbreitete Ansicht besagt, dass die Bibel selbst aus Afrika stammt und somit ein originales Zeugnis afrikanischer Kul‐ turen ist. Als Beleg für diese These wird auf die Übersetzung der hebräischen Bibel im ägyptischen Alexandria verwiesen. Folgt man dieser Auffassung, so ist die Bibel in Afrika kein fremdes und erst in der Neuzeit importiertes Gut, sondern bereits seit dem 3. Jahrhundert vor Christus bekannt. John Mbiti vertritt diese Auffassung und behauptet, dass seit der Erstellung der Septuaginta immer wieder Übersetzungen der Bibel in Afrika angefertigt wurden. Die Bibel hätte deshalb seit jeher Einfluss auf die Entwicklung spirituellen und kirchlichen Lebens gehabt. Dies sei nachhaltig spürbar. Er verweist zudem als weiteres Beispiel auf die koptischen und äthiopischen Übersetzungen (Ge‘ez), die einen fortwährenden Einfluss auf die Kirche und die Kultur Ägyptens und Äthiopiens hatten. 1 Ähnlich argumentiert auch John David Kwamena Ekem und verweist auf die Präsenz der Bibel und des frühen Christentums in Afrika: Es ist signifikant, dass das Christentum innerhalb der ersten drei Jahrhunderte seiner Existenz auf den Boden Ägyptens, Nubiens, Äthiopiens und des römischen Nordafrikas gepflanzt worden ist. 2 Dieser Blickwinkel auf das frühe Christentum und ihre literarischen Produk‐ tionen scheinen die These einer kontinuierlichen Präsenz der Bibel in Afrika zu stützen. Eine zweite Meinung, die sich in der Forschungslandschaft etabliert hat, erkennt zwar die von Ekem und Mbiti vertretene These an, führt die Einführung der Bibel in Afrika jedoch auf die Bemühungen der frühen Missionare zurück. Mit anderen Worten: Die Einführung der Bibel, insbesondere in Afrika südlich der Sahara, ist das Ergebnis der Tätigkeit europäischer Missionare und somit auch des Kolonialismus. Ein großer Teil der Forschungsgeschichte ist der Überzeugung, dass das Christentum im Zuge der europäischen Missionen ab dem 15. Jahrhundert in die afrikanischen Länder südlich der Sahara gelangte. In Ghana erfolgte der erste Kontakt mit europäischen Missionaren - so Ekem - im Jahr 1471, als zwei Schiffe in Shama, einem Dorf an der Westküste, landeten. Ein weiterer einflussreicher Umstand für die Verbreitung des Christentums in Afrika war, dass die Bibel in die Landessprache übersetzt worden ist. Kwame Bediako ist der Ansicht, dass es für die massive Präsenz des Christentums auf Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0011 30 Abraham Boateng 3 Kwame Bediako, Christianity in Africa. The Renewal of a Non-Western Religion, Edinburgh-1995), 62. 4 Mbiti, Bible and Theology in African Christianity (s. Anm. 1), 28 (Übersetzung M. Sommer). 5 Justin S. Ukpong, Developments in Biblical Interpretation in Africa, in: Gerald West/ Musa Dube (Hg.), The Bible in Africa, Leiden 2000, 11. 6 Die religiös-kulturelle Kontinuität legt nahe, dass verschiedene Elemente des afrika‐ nischen religiös-kulturellen Ethos an alte israelitische Glaubensvorstellungen und Praktiken erinnern. Die theologische Kontinuität deutet auf eine Kontinuität zwischen dem Alten Testament und dem afrikanischen Leben und Denken hin, da Gott als Gott der ganzen Erde angesehen wird und daher sowohl in Israel als auch in den anderen Völkern am Werk ist. Vgl. Eric Anum, Comparative Readings of the Bible in Africa. Some Concerns, in: West/ Dube, The Bible in Africa (s.-Anm.-5) 457. dem afrikanischen Kontinent keine wichtigere Erklärung gibt als die Verfügbar‐ keit der Schriften in vielen afrikanischen Sprachen. 3 Auch Mbiti verweist auf die enorme Rolle der übersetzten Schriften für das Wachstum der Kirche in Afrika. Auf diese Weise wird die Bibel in der Landessprache zum unmittelbar einfluss‐ reichsten Einzelfaktor bei der Gestaltung des Lebens der Kirche in Afrika. Die Weisheit des Missionars aus Übersee hat ihren Platz, die Treue des afrikanischen Katecheten und Pastors (Priesters) hat ihren Platz, ein theologischer Abschluss hat seinen Platz, Konferenzen haben ihren Platz. Aber keines dieser Mittel kann einen so großen Einfluss auf die Kirche ausüben wie die Bibel in der jeweiligen Landessprache und hat dies auch nicht getan. 4 Lamine Sanneh, Andrew Walls, Bediako und andere haben auf die Bedeutung der Schrift in Landessprache für die Verbreitung und das Wachstum des Chris‐ tentums in Afrika hingewiesen. Dies ist wissenschaftlich gut erforscht und dokumentiert. 3. Annäherungen an die Bibel Unter afrikanischer Hermeneutik verstehe ich, eine Begegnung zwischen dem biblischen Text und dem afrikanischen Kontext zu reflektieren bzw. die Vielfäl‐ tigkeit dieses Verschmelzens von Text und sozialem Kontext wahrzunehmen. Anders als in der historisch-kritischen Perspektive der westlichen Exegese liegt der Schwerpunkt der Auslegung nicht auf den Produktionsorten und -um‐ ständen des Textes, sondern auf den Gemeinschaften, die den Text rezipieren. 5 Interpretationsansätze können religiös-kulturelle Kontinuität oder Diskonti‐ nuität zwischen Bibel und kulturellen Kontext betrachten, 6 einer postkolonialen Richtung folgen oder sich um Bibelhermeneutik in landessprachlichen Über‐ setzungen drehen. Die Bibel ist für die Afrikanerinnen und Afrikaner mehr Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0011 Tendenzen der Bibelauslegung im postkolonialen Ghana 31 7 J. Kwabena Asamoah-Gyadu, Contemporary Pentecostal Christianity. Interpretations from an African Context (Regnum Studies in Global Christianity), Minneapolis 2013, 166. 8 Der Begriff „Volkshermeneutik“ ist ein Versuch, den bestehenden Streit über die Definition des gewöhnlichen Lesers zu vermeiden, wie er von Ukpong und anderen afrikanischen Gelehrten vorgeschlagen wurde. Alle Sphären der zeitgenössischen afrikanischen Gesellschaft sind hier involviert, die Gebildeten und Ungebildeten ebenso wie einige Geistliche. als nur ein Stück alltäglich Literatur; sie wird als heilig und als Wort Gottes angesehen. Dass das Christentum in Afrika eine blühende Religion ist, liegt zum Teil daran, dass afrikanische Christinnen und Christen keine Kompromisse in Bezug auf göttliche Inspiration der Bibel eingehen. Alle Christinnen und Christen betrachten die Bibel als heilig, aber für afrikanische Christusgläubige ist diese Heiligkeit von höchster Bedeutung und grundlegend für den Glauben. 7 4. Populäre Hermeneutik Die populäre Hermeneutik 8 bezeichnet im Zusammenhang dieser Arbeit popu‐ läre Interpretationen oder Alltagsauslegungen der Bibel im zeitgenössischen Christentum Afrikas. Diese Perspektive ist durch afrikanische Weltanschau‐ ungen und afrikanische Lebenssituationen geprägt. Die Bibel wird in einem populären Kontext von Menschen interpretiert, die sich selbst als „biblische Christen“ bezeichnen oder dem so genannten biblischen Christentum in Afrika angehören. Dieses so genannte biblische Christentum geht davon aus, dass die Aussagen der Bibel wörtlich zu verstehen sind und in die Gegenwart hinein mit aktueller Gültigkeit gesprochen werden können. Dieselben Zeichen und Wunder, die die apostolische Verkündigung des Evangeliums begleiteten, müssen auch jetzt die Verkündigung begleiten. Es ist interessant, dass die Bibel als ein lebendiges Buch betrachtet wird, das von Gottes Inspiration erfüllt ist, weshalb sie auch vom Deckblatt bis zur letzten Seite als kraftvoll bezeichnet wird. Der Text - sei es in Twi, Ga, Hausa, Ewe Igbo - wird im Rahmen dieser Auslegungstradition als mächtig und wirkmächtig angesehen. Der in Ghana zur Umgangssprache gehörende Ausdruck „Ich glaube an die Bibel von der ersten bis zur letzten Seite“ scheint diese Sichtweise anschaulich zu verdeutlichen. Diese Auffassung ist vor allem bei pfingstlich-charismatischen Christinnen und Christen anzutreffen, aber auch in vielen anderen Formen des Christentums im heutigen Westafrika. Die Bibel findet dort Anwendung, um existenzielle Lösungen für alltägliche Probleme des Lebens zu finden. Dahinter verbirgt sich die Überzeugung, dass die Bibel ein von Gott autorisiertes Buch ist. Der übersetzte Text ist heilig - „holy“ und „sacred“. Es besteht eine untrennbare Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0011 32 Abraham Boateng 9 Asamoah-Gyadu, Contemporary Pentecostal Christianity (s.-Anm.-7), 170. 10 Asamoah-Gyadu, Contemporary Pentecostal Christianity (s.-Anm.-7), 166. 11 Kwame Bediako, Christianity in Africa (s.-Anm.-3), 61 (Übersetzung M. Sommer). Verbindung zwischen der Bibel als Text und der Bibel als heiligem Material, das mit ehrfürchtigem Respekt behandelt werden muss. 9 Die Bibel ist nicht nur übersetzter Text, der in einem historischen Kontext gewachsen ist, sondern ein Buch voller Lösungen, Zusagen und Anleitungen zur Bewältigung der Schwierigkeiten des Lebens. Sie ist auch eine Waffe gegen die Angriffe durch spirituelle Feinde. Diese Glaubensauffassung hat natürlich auch Auswirkungen darauf, wie die Bibel ausgelegt und gepredigt wird und welchen Zwecken sie in einer christlichen Erziehung dient. Dieser Ansatz steht im völligen Widerspruch zu der in der westlichen Universitätstradition entwickelten Bibelkritik. 10 Ein allgemeiner Ausdruck in Westafrika lässt sich mit „was sagt die Bibel? “ über‐ setzen; er vermittelt eine gute Vorstellung über den Gebrauch der Bibel im Alltag und über ihre Autorität in afrikanischen Lebenswelten. 5. Bibelhermeneutik in der Muttersprache Kwame Bediako schreibt, dass in the African Christianity of the post-missionary era, the extent to which a church can be said to possess a viable heritage of Christian tradition in its indigenous language is the extent of that church’s ability to offer an adequate interpretation of reality and a satisfying intellectual framework for African life. 11 Die biblische Hermeneutik in der Muttersprache versucht, eine angemessene Interpretation der Wirklichkeit vor dem Hintergrund der Bibel in der Lan‐ dessprache anzubieten. Damit ist ein kontinuierlicher Auslegungsprozess im Rahmen einer postkolonialen Hermeneutik intendiert. Die Muttersprache wird hierbei zu einem hermeneutischen Kanal für die Wahrnehmung des lebens‐ weltlichen Kontexts. Es geht darum, die biblischen Begriffe und Gedanken in der Sprache des Volkes wiederzugeben. Dieses Bemühen zielt darauf ab, die Botschaft der Bibel durch die kulturelle Identität der Menschen relevant zu machen. Es werden die richtigen Worte und Ausdrücke in der Muttersprache gesucht, um die Botschaft der Heiligen Schrift zu erklären und anzuwenden. Dies wird erreicht, indem Brücken zwischen den biblischen Sprachen (Hebrä‐ isch, Griechisch und Aramäisch) und den Muttersprachen geschlagen werden. Josee Ngalula Tsianda beschreibt die Muttersprache als Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0011 Tendenzen der Bibelauslegung im postkolonialen Ghana 33 12 Josee Ngalula Tshianda, Quest for Theological Lexicons in African Languages, in: Jean-Claude Loba-Mkole/ Ernst R. Wendland (Hg.), Interacting with Scriptures in Africa Nairobi, 2005, 40. 13 Siehe Asamoah-Gyedu, Contemporary Pentecostal Christianity (s.-Anm.-7), 162. the language in which each of us says ‘yes’ or ‘no’, in which we rejoice or cry, in which we love or hate, in which we thrill or dance. Hence without making meaning of the message of the Bible in this regard, contact with the Gospel will be superficial. 12 6. Wissenschaftliche Hermeneutik (Akademische Hermeneutik) Die akademische Hermeneutik folgt den international anerkannten Methoden und Herangehensweisen an den Bibeltext. Leseweisen der Bibel, die im europäi‐ schen und nordamerikanischen Sprachraum entwickelt und verbreitet wurden, werden hier rezipiert. Dabei hat die Bibel einen anderen Stellenwert und auto‐ ritativen Status als in den oben dargestellten Hermeneutiken. Für die meisten Wissenschaftlerlinnen und Wissenschaftler ist sie schlichtweg ein Text, der als solcher behandelt werden soll und muss. Der Inhalt der Bibel und ihre Botschaft müssen nach den Standards und Prinzipien literarischer Textauslegungen be‐ trachtet werden. Das Besondere an der akademischen Auslegung in Westafrika ist, dass die westlichen Methoden nicht von europäischen Missionaren nach Afrika importiert wurden. Vielmehr sind sie von afrikanischen Gelehrten, die im Ausland wissenschaftliche Qualifikationen erworben haben, nach Afrika gebracht worden. Diese Forschenden verstehen sich als afrikanische Gelehrte, tragen dabei aber westliche Ketten um den Hals. (Sollten nicht alle Theologen die Perspektive der Armen, der Beeinträchtigten, der Opfer von Krankheiten und Gewalt oder Krieg einnehmen? War das nicht die Perspektive von Jesus? ) Eine andere Gruppe von Akademikerinnen und Akademikern versucht, die Bibel in ihrem historischen Kontext literarisch auszulegen, möchte dabei aber gleichzeitig nach Anwendungsmöglichkeiten für die gegenwärtige Situation suchen. Die dafür angewandten Methoden stammen jedoch aus dem Westen. Sie bleiben misstrauisch gegenüber explizit übernatürlichen Themen wie Geis‐ testaufe, Exorzismus und geistlicher Heilung. Sie stehen demnach ein wenig in Kontrast zu dem, was in vielen afrikanischen Kontexten zum Alltag der Bibel‐ auslegung gehört. 13 Justin Ukpong, Eric Anum und andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stellten fest, dass der Ansatz dieser Hermeneutik sich dem Text, seinem Entstehungskontext und der Gegenwart auf einer vergleichenden Ebene annähert, um hier einen Ansatz für eine Theologie zu finden. Diese Form des theologischen Denkens ist auch in der westlichen Welt verbreitet. Die Bibelauslegung der Mainline-Kirchen oder der so genannten historischen Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0011 34 Abraham Boateng 14 Zitiert von Gerd Theißen, Der Schatten des Galilaers. Historische Jesusforschung in erzählender Form, Gütersloh 13 1993, 168: „Wenn ich oder andere ihm Lebensmittel schicken, Brote, Fischund Fruchte, und meine Leute holen sie plotzlich heraus, dann erscheint es der Menge wie einWunder. Diese armen Leute haben oft noch nie so viel Lebensmittel auf einmal gesehen. Wenn man so will, geschieht auch tatsachlich ein Wunder.“ Vgl. auch die englische Fassung: Gerd Theißen, The Shadow of the Galilean: The Quest of the Historical Jesus in Narrative Form, Augsburg, 2007; Heinrich E. G. Paulus, Philologisch-kritischer und historischer Kommentar uber die drei ersten Evangelien, in welchem der griechische Text, nach einer Recognition der Varianten, Interpunctionen und Abschnitte, durch Einleitungen, Inhaltsanzeigen und ununterbro‐ chene Scholien als Grundlage der Geschichte des Urchristenthums synoptisch und chronologisch bearbeitet ist, 3-Bde., Lübeck 1800-1802. 15 Stefan Alkier, For Nothing will be impossible with God (Luke 1: 37), in: Stefan Al‐ kier/ Annette Weissenrieder (Hg.), Miracle Revisited. New Testament Miracles and their concepts of Reality Berlin/ Boston 2013, 5-22. Missionskirchen wie der Presbyterianischen und der Methodistischen Kirche möchte Anwendungsmöglichkeiten für die Lehre des Textes eruieren. Diese Herangehensweise an den Text ist hochgradig rational und universell anspre‐ chend. Man muss beachten, dass der Rationalismus des Ansatzes nicht auf der von Heinrich E. G. Paulus oder Gerd Theißen 14 intendierten Ebene liegt, sondern auf einer dezidiert eigenen Ebene. Dieser Ansatz geht nicht von einer Wiederholbarkeit und eine praktischen Manifestation von biblischen Wundern im gegenwärtigen Lebenskontext aus. Wundergeschichten bieten Lektionen für das Leben und die Möglichkeit, aus dem zu lernen, was zur Zeit Jesu geschah, aber können nicht in der Gegenwart appliziert werden. Um es mit den Worten von Stefan Alkier 15 auszudrücken, nähern sich akademische Gelehrte den neutestamentlichen Wundergeschichten nicht als Fiktion oder Tatsachen, sondern als limitierte Brüche. Die Kollision mit dem Text wird durch die Enzyklopädie der Wissenschaft beeinflusst, die sich auf westliche, allgemein akzeptierte Ansätze konzentriert. 7. Die Hermeneutik der Wunder im ghanaischen Kontext In der afrikanischen/ ghanaischen Vorstellung von der Wirklichkeit gelten Wunder als Tatsachen. Wenn Afrikanerinnen und Afrikaner die Wunderer‐ zählungen der Bibel rezipieren, entstehen häufig bei vielen hoffnungsvolle Stimmungen der Ermutigung und freudigen Erwartung. Diese Gefühle können sich in einem glücklichen Gesichtsausdruck, einer entsprechenden Körperhal‐ tung, einem unbeschreiblichen Gefühl im Magen oder sogar einem brennenden Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0011 Tendenzen der Bibelauslegung im postkolonialen Ghana 35 16 Siehe Alkier, The Reality of the Resurrection. The New Testament Witness, Waco 2013, 228. 17 Alkier, The Reality of the Resurrection (s.-Anm.-16), 228. 18 Vgl. A. A. Anti, Akwamu, Denyira, Akuapem and Ashanti in the lives of Osei Tutu an d Okomfo Anokye, Tema 1971; vgl. Molefi Kete Asante, Okomfo Anokye Asante priest (https: / / www.britannica.com/ biography/ Okomfo-Anokye; letzter Zugriff am 03.08. 2023): „Okomfo Anokye had a profound impact on the Asante nation in its origin. He is the principal architect of Asante laws, customs, and beliefs about religion and supernatural powers. He has a record of great deeds and miraculous cures. It is said that, among other things, he climbed palm trees with his sandals on and carved a game of Oware—a strategy game utilizing shallow indentations and pebbles or the like—out of a stone slab with his bare fingers. The sandals and the slab of stone are on display in Awukugua, Ghana. Other exploits of Anokye include the redirecting of rivers, the restructuring of Asante institutions, the fetching of water in a basket without spilling a drop, and the commanding of the Golden Stool to land on the knees of his friend Osei Tutu, thus making him the first king. Everything that Anokye did seemed to attest to his power over nature. He was even said to have lived in a house without a roof, but he was never wet because the rain did not fall inside his house. Tradition also holds that Anokye buried a sword in the ground to the hilt, and the sword reportedly cannot be removed without destroying the Asante Nation. The sword said to be the one that Anokye buried remains firmly in place on the grounds of a hospital in Kumasi that bears his name. The Asante wrote songs in Anokye’s name, and he was honoured in praise poetry. His fame and reputation grew immensely after his death, and the Asante remember his warning that if the Golden Stool were ever to be destroyed or captured by the enemies of the Asante, the nation would descend into chaos.“ Herzen äußern. 16 Die afrikanische Idee oder das afrikanische Konzept der Realität erzeugt dieses Gefühl, ohne dass die Wundererzählungen der Bibel dabei kritisch analysiert werden. Ein Wunder erhält seine Offenbarungskraft gerade als ein Phänomen der vorkritischen Wahrnehmung. Dieses Gefühl lässt sich in seiner Denkbarkeit oder Kohärenz nicht von anderen Erfahrungen und Erkenntnissen unterscheiden. 17 Dieses praktische Gefühl, wie Stefan Alkier es nennt, fasst die afrikanische Komposition einer Lebenswirklichkeit zusammen. In der afrikanischen Weltanschauung ist dieses praktische Gefühl im inneren Kern des afrikanischen Geistes verankert. Als Beispiel hierfür dient der aus der traditionellen Geschichte der Akan stam‐ mende Mythos von Okomfo Anokye. 18 Es ist anzumerken, dass die anfängliche Akzeptanz und der Glaube an Wunder im afrikanischen Kontext im Gegensatz zur Idee einer Welterfahrung in westlichen Kontexten jenseits der Aufklärung stehen, in denen die anfängliche Vorstellung von Wundern als Repräsenta‐ tion der Realität abgelehnt wird. Wunder werden in der Lebenswirklichkeit Westafrikas nicht als fiktive Phänomene bezeichnet. Sie werden vielmehr als regelmäßige Ereignisse betrachtet, die dem Gott der Bibel zugeschrieben werden. Im postkolonialen Afrika sind diese Vorstellungen intrinsisch, d. h. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0011 36 Abraham Boateng 19 Emmanuel Lartey, Living Color. An Intercultural Approach to Pastoral Care and Counselling, London/ New York 2003, 113 (Übersetzung M. Sommer). ohne westliche Einflüsse, entstanden. Dennoch ist die Basis der Theologie und des Theologisierens mit den Nabelschnüren des Kolonialismus verbunden. Die übersetzten Schriften tragen koloniale Prägungen und atmen westliche Ideologien. Die wundersame Heilung des epilepsiekranken Jungen oder die Austreibung des unreinen Geistes beispielsweise finden im afrikanisch-ghanaischen Kontext einen breiten Anklang. Westafrikanische christliche Bibelleserinnen und -leser haben keinen Grund, an diesen Wundererzählungen vor dem Hintergrund ihrer Perspektive auf Wirklichkeit zu zweifeln. Wundergeschichten spielen im westafrikanischen Christentum eine wichtige Rolle. Das Christentum in Ghana besitzt eine Art der Spiritualität, die Wunder und göttliches Handeln oder Eingreifen erwartet und erlebt. Emmanuel Lartey gibt einen detaillierten Einblick in diese Spiritualität: Spiritualität ist ein Stil, der sich auf die menschliche Fähigkeit zur Beziehung zu sich selbst, zu anderen, zu Gott und zu dem, was über die sinnliche Erfahrung hinausgeht, bezieht, der oft in den Besonderheiten bestimmter historischer, räumlicher und sozialer Kontexte zum Ausdruck kommt und der oft zu spezifischen Formen des Handelns in der Welt führt. 19 Der Schlüssel zu dieser Definition liegt darin, dass Individuen in der Lage sind, Erfahrungen zu machen, die sie mit anderen in Beziehung setzen. Nach afrikanischer Vorstellung äußert das Bewusstsein in verschiedenen Situationen Bedürfnisse, das die Anwesenheit eines Trägers der numinosen Kraft erfordert. Diese Bedürfnisse können von sozioökonomischer, von politischer und von anderer Art sein. Sie erfordern eine starke Hand, um erfüllt zu werden. Folgt man dem, so wird Afrika seine finanzielle Freiheit nur erlangen, wenn die Mächte es zulassen. In seinem jetzigen Zustand ist es dieser Aufgabe nicht gewachsen. Die größten Defizite sind durch die Jahre der Kolonisierung entstanden. Wenn wir zum Thema zurückkehren, so bedingen der Glaube an Hexerei sowie die Überzeugung, dass Krankheiten und Unfälle eine spirituelle Ursache haben in afrikanischen Wirklichkeitskonzeptionen den Glauben an göttliches Eingreifen in die Welt, d. h. an Wunder. Häufig begegnet in westafrikani‐ schen Lebenswelten der Slogan „Jesus, power, superpower! “ Dieser Ausspruch wird von vielen benutzt, die die Wunder Jesu in der Gegenwart persönlich erfahren und in eine Beziehung zu ihnen eintreten wollen. In diesem Zu‐ sammenhang werden die Wundergeschichten der Bibel als Tatsachenberichte Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0011 Tendenzen der Bibelauslegung im postkolonialen Ghana 37 20 See J. Kwabena Asamoah-Gyadu, African Charismatics. Current Developments within Independent Indigenous Pentecostalism in Ghana, Leiden 2005, 18. 21 Sunsum ist Geist und sore ist Anbetung oder Kirche und gehört zu den unabhängigen afrikanischen Kirchen (AICs). Sie gehören zur ersten Welle des Pfingstchristentums in Ghana, die als spontane Reaktion auf den kometenhaften Aufstieg und die parallelen Aktivitäten einer Reihe afrikanischer Propheten begann, deren magnetische Persön‐ lichkeiten und Kampagnen der Erweckung und Erneuerung Massen zum Christentum zogen. Dies sind die Ansichten von Asamoah-Gyadu. Siehe Asamoah-Gyadu, African Charismatics (s.-Anm.-20), 19-21. wahrgenommen und entsprechend behandelt. Der christliche Gott, der gemäß dieser afrikanischen Weltanschauung gegenwärtig handelt und Wunder wirkt, muss angebetet werden. Historische Missionskirchen wie die Methodistische Kirche Ghanas und andere Konfessionen mit tiefen europäischen und aufkläre‐ rischen Wurzeln haben einen Interpretationsansatz entwickelt, der die Wunder‐ geschichten der Bibel mit Hilfe einer westlichen Bibelhermeneutik interpretiert. In diesen Kirchen schienen Gelehrte und Theologinnen und Theologen in früheren Zeiten den Geistern als reale Mächte in afrikanischen Wirklichkeits‐ verständnissen wenig oder gar keine Beachtung zu schenken. Dieses koloniale Erbe beeinflusst das alltägliche und gottesdienstliche Leben von westafrikani‐ schen Menschen bis in die Gegenwart hinein. Asamoah Gyadu schreibt, dass diese Kirchen in historischer Kontinuität mit den westlichen Missionen stehen und eine rationalistische, systematische und bekenntnisorientierte Form des Christentums geerbt haben. Die zeitgenössische christliche Spiritualität befindet sich, wie er argumentiert, „in a state of renewal which involves a rethinking of traditional church pneumatologies including the practical articulation of a response to the reality of evil, as a non-negotiable element in the religious consciousness of indigenous Christians.“ 20 Umdenken und zeitgemäßes Enga‐ gement in einem postkolonialen Kontext sind der richtige Weg auf der Suche nach relevanten Theologien. Die neue Welle der charismatischen Erneuerung betont als zentrale Forderung, dass Wunder, das Wirken des heiligen Geistes und eine göttliche Intervention zur Realität gehören. Die Phänomene der Sunsum Sore, 21 der spirituellen Kirchen, und der charismatisch-pentekostalen Bewegung sind als Hinweis auf diesen Sinneswandel zu verstehen. Dieses Gefühl einer neuen Spiritualität konzentriert sich auf den Glauben an göttliche Intervention im postkolonialen Afrika. Wundergeschichten erfahren im zeitgenössischen Christentum in Afrika eine neue und intensive Würdigung. Der Gott, der Wunder vollbringt, muss in Gebetslagern, bei nächtlichen Zusammenkünften und besonders in Wundergottesdiensten erfahren und angebetet werden. Bei dieser Form der Spiritualität handelt es sich keineswegs um ein Randphänomen. Diese Einstellung zur realen Erfahrbarkeit und unmittelbaren Gegenwart von Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0011 38 Abraham Boateng 22 Werner Kahl, Jesus als Lebensretter. Westafrikanische Bibelinterpretationen und ihre Relevanz für die neutestamentliche Wissenschaft, Neutestamentliche Studien zur kontextuellen Exegese-2, Frankfurt a.-M. 2007, 343. 23 Rev. Prof. Emmanuel Martey ist ehemaliger Präsident des Trinity Theological Seminary, Legon, und ehemaliger Moderator der Generalversammlung der Presbyterianischen Kirche Ghanas. 24 Siehe Kwame Bediako, Jesus in African Culture. A Ghanaian Perspective, Accra 1990. 25 Siehe Benhardt Y. Quarshie, St. Paul and the Contextualization Imperative. The Chris‐ tian Faith, Religion and Culture, in: Trinity Journal of Church and Theology 3 (1993), 1-16. 26 Kahl, Jesus als Lebensretter (s.-Anm.-22), 352 f. Wundern wird nicht nur von Menschen ohne Bildungshintergrund vertreten, sondern begegnet in allen Gesellschaftsschichten und Bildungsmilieus. Auch in der akademischen Theologie Afrikas findet sich dieser auf die erfahrbare Gegenwart bezogene Wunderglaube. Bibelwissenschaftler, auch wenn sie an öffentlichen Universitäten in Ghana lehren, sind entweder als Priester tätig oder engagieren sich stark im pastoralen Feld ihrer Kirchen. Letzteres ist begründet in dem Umstand, dass sämtliche Neutestamentler in Ghana in Vergangenheit und Gegenwart - wie übrigens der überwiegende Teil der an den zwei von drei staatlichen Universitäten unterrichtenden Theologen und Religionswissen‐ schaftler neben ihrer hauptamtlichen akademischen Beschäftigung als aktive Pastoren tätig (gewesen) sind. 22 Die afrikanische Theologie bejaht die Realität von Wundern im postkolonialen Kontext, aber natürlich in einem unterschiedlichem Ausmaß. Der bekannte Befreiungsprediger Rev. Prof. Emmanuel M. Martey 23 bekräftigt regelmäßig, dass übernatürlich wirkende Geister, Dämonen real und erfahrbar sind und dass der mächtige Name Jesu sie besiegen kann. Dies ist schon allein aufgrund der Bekanntheit von M. Martey erwähnenswert. Wunder gehören laut Martey zur Wirklichkeit und zum Lebenskontext für betende Christinnen und Christen. Bibelwissenschaftler wie Bediako, 24 Ekem, Quashie, 25 Pobee und Osei Bonsu schließen sich dem an. Sie haben in ihren Schriften versucht, die Rolle Jesu für Afrikanerinnen und Afrikaner kontextuell theologisch zu erschließen. Werner Kahl urteilt, dass dieser kontextsensible Ansatz fest zur afrikanischen Christologie gehört: Im Zentrum des afrikanischen Inkulturationsbzw. Kontextualisierungsinteresses steht die Problematik der Erfassung der Bedeutung Jesu mittels traditioneller Vor‐ stellungen und Begrifflichkeiten… . Die Christologie sollte aus der „Gefangenschaft der Nordkirchen“ befreit werden, um unter afrikanischen Lebensbedingungen und innerhalb der afrikanischen Enzyklopädie bedeutsam werden zu können. 26 Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0011 Tendenzen der Bibelauslegung im postkolonialen Ghana 39 Die Realität und Faktizität von Wundern und die Erfahrbarkeit des Göttlichen gehört zur Lebenswelt Ghanas untrennbar dazu. In ihrer seelsorgerischen Arbeit sind afrikanische Theologinnen und Theologen sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gehalten, für Mitglieder zu beten, die an Gott glauben und ein Wunder, göttliche Heilung oder Lösungen für ihre Probleme erwarten. So gehört es zum Beispiel fest zur Jahrestagung vieler großer Kirchen in Ghana, dass im Kontext eines Fastentages ein Gottesdienst stattfindet, in dem Pastoren, die sich eine göttliche Begegnung ersehnen, die Möglichkeit für ein spezielles Gebet eingeräumt wird. Sie dürfen sich im Rahmen des Gottesdienstes dafür nach vorne bewegen. Diese Gebete werden meist von führenden Mitgliedern der Konfessionen geleitet und zusammengefasst. Es handelt sich bei ihnen um erfahrene und gelehrte Theologen mit nationaler und internationaler Reputation. Solche Zusammenfassungen beinhalten eine Bitte um Heilung, Befreiung, Durchbruch und natürlich auch um ein Wunder. Diese theologische Perspektive auf Wunder als Tatsachen ist signifikant für Afrika. Neben den charismatisch-pfingstlerischen oder neureligiösen Bewegungen, die Wunder aus eigenem Antrieb propagieren, besitzen aber auch die traditionellen Kirchen Afrikas verwandte Sichtweisen. Geistliche der Methodistischen Kirche Ghanas, der Presbyterianischen Kirche Ghanas und anderer Konfessionen sind häufig Redner oder Gastgeber bei sogenannten „Wunderrevivals“, „Wunder‐ evangelisationen“ oder ähnlicher Veranstaltungen. Diese Geistlichen predigen hauptsächlich über die Wunderkraft im Namen Jesu und fordern ihre Zuhörer auf, sich auf Wunder einzulassen. Ein gutes Beispiel für ein solches Programm ist das sogenannte „Miracle Wave“. Dieses Event, von Pater Obed Quao geleitet, ist bei Angehörigen der anglikanischen und methodistischen Kirche in Accra, der Hauptstadt Ghanas, sehr beliebt. Es findet jeden ersten Samstag im Monat zwischen 7: 00 und 9: 30 Uhr im Gemeindesaal von St. Barnabas in Osu in Accra statt. Auf den Plattformen der sozialen Medien und auf diversen Onlineportalen wird es sehr stark beworben, was sicherlich als ein Indiz für den hohen sozialen Stellenwert des Miracle Wave im sozialen Kontext von Ghana gewertet werden darf. Das Miracle Wave ist nach Angaben des Leiters und Gründers ein Gebetsdienst, der sich der Suche nach Gottes Willen für die Errettung der Unerretteten verschrieben hat. Der Gottesdienst selbst besteht aus einer frühmorgendlichen Anbetung mit einer Predigt, einer intensiven Gebetszeit und der Manifestation von Zeichen und Wundern. Pater Obed Quao schreibt über die Wirklichkeit von Wundern bei diesem Event Folgendes: Ja, ich glaube an das Wunderbare (Lukas 5,17), die Kraft Gottes war da, um zu heilen und zu befreien. Auf dieser Grundlage glauben wir an das Übernatürliche. Es gibt viele Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0011 40 Abraham Boateng 27 Obed Quao, Miracle Wave, Accra 2019, unpublished notes (Übersetzung M. Sommer). Menschen, die von der Güte des Herrn zeugen. Wir haben Zeugnisse von Heilungen, Wundern und Befreiungen erhalten. In der Januar-Ausgabe heilte Gott ein Ohren- und Rachenproblem. Wir vertrauen darauf, dass Gottes offenkundige Gegenwart mit uns ist. 27 Pater Obed Quao schloss 2015 das Trinity Theological Seminary Legon mit einem Bachelor of Theology ab. Derzeit ist er Pfarrer der St. Barnabas Anglican Church Osu. Der biblische Text (Wundergeschichte) wird bei seiner ersten Begegnung in einer postkolonialen Situation als faktische Realität und Tatsache rezipiert. Die gegenwärtige charismatisch-pfingstlerische Präsenz in Afrika unterstützt diesen Ansatz: Unter afrikanischen Charismatikerinnen und Cha‐ rismatikern begegnen häufig Redewendungen, die dies belegen. Ausdrücke wie „Wunder geschehen, wenn wir beten“ oder „Bete für ein Wunder, empfange dein Wunder, komm für dein Wunder“ sind nur einige von vielen Exempeln hierfür. Alle, die den Text der Bibel nicht wörtlich auslegen, gelten als ungläubig. Es wird ihnen unterstellt, dass ihnen der Glaube an die Bibel fehlt. Auslegende, Prediger und Pastoren, die die Bibel nicht auf diese Weise verstehen und verkünden, werden als verwestlicht betrachtet; sie befinden sich in den Augen der Bewegung noch im Schoß der Kolonialherren. Gläubige werden ermutigt, Menschen zu suchen, die über solche göttliche Fähigkeiten und numinose Kräfte verfügen. Sehr häufig wird dies in Westafrika auch beworben. Man sieht regelmäßig riesige Plakatwände, die für „Wunderkreuzzüge“ werben. Den Besuchern werden Wunder in Aussicht gestellt, ja sogar versprochen: Es ist von Heilungen und von Totenauferweckungen die Rede; Blinde sollen wieder sehen und Lahme wieder gehen können. Bei diesen Propheten, Gründern und Wundertätern handelt es sich um afrikanische Christen, die auf dem Kontinent ein enormes Ansehen genießen. Bei ihrer Performance liegt ein Schwerpunkt darauf, Zeugnisse und Bestätigungen des Wunders erfahrbar zu machen, um die Realität der Wunder zu unterstreichen. In diesen Wunderprogrammen kursieren deshalb auch Schlagworte wie Wunderzeit, Zeugniszeit oder ähnliche Begriffe. Dieser Fokus auf die empirische Überprüfbarkeit ist natürlich für viele Menschen ein Anreiz, diese Treffen zu besuchen. Die vermeintlich Blinden, die jetzt sehen können, die Lahmen, die jetzt gehen können, oder alle, die ein Wunder erlebt haben, werden dazu gebracht, öffentlich Zeugnis abzulegen. In den meisten Fällen - so auch bei T. B. Joshua aus Nigeria - werden Zustände vor und nach dem Wunder gezeigt. Ein ursprünglicher Zustand der Not wird beseitigt und die Empfangenden des Wunders präsentieren sich geheilt. Der Bischof Charles Agyin Asare aus Ghana erscheint häufig mit Hilfsmitteln wie Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0011 Tendenzen der Bibelauslegung im postkolonialen Ghana 41 28 Die Anrufer sind die Zuhörer dieser Gottesmänner. Sie sind hauptsächlich Mitglieder oder Anhänger dieser Gottesmänner. Diese Anrufer rufen in der Regel nach Gebeten den Mann Gottes im Radio an, um zu bestätigen oder zu bekräftigen, dass sie ein persönliches Wunder erlebt haben. 29 Werner Kahl, Miracle Accounts in the New Testament - new exegetical and theological Perspectives, in: Trinity Journal of Church and Theology-19 (2018), 47-76, hier 55. z. B. Krücken, die die Patienten vor ihrer Heilung benutzten. Oftmals moderieren diese „Gottesmänner“ auch Sendungen am Radio, in denen „Anrufenden“ 28 viel Zeit eingeräumt wird, ihre Heilungen zu bestätigen. Natürlich wirft dies mehrere Fragen auf und eine Diskussion über die Echtheit dieser Zeugnisse ist mehr als berechtigt. Dennoch herrscht unter der Bevölkerung Ghanas eine breite Akzeptanz des Wunderbaren als Tatsache. Wunder gehören im postkolo‐ nialen Afrika zur faktischen Realität. Dieses Programm wird von einheimischen Predigern, Propheten und Kirchengründern gefördert und propagiert; wer etwas anderes predigt, wird mit dem „weißen Mann“ verglichen, der an nichts glaubt. 8. Überlegungen und Ausblick Bei der Entwicklung einer angemessenen afrikanischen Hermeneutik muss im postkolonialen Afrika ein umfassender Ansatz für die empirischen, existenti‐ ellen und spirituellen Perspektiven des Textes verfolgt werden. Eine angemes‐ sene Hermeneutik der Bibel muss die Lebenswirklichkeiten Afrikas und die des Textes zur Kenntnis nehmen. Wie Alkier feststellt, muss der Wundertext, um sein kritisches Potenzial voll entwickeln zu können, in dem jeweiligen Diskursuniversum - in diesem Falle das postkoloniale Afrika - diskutiert werden; nur so wird deutlich, dass die biblischen Wunder kein Selbstzweck sind, sondern Ausdruck einer Wirklichkeitserschließung der Schöpfung Gottes in Bezug auf die Theologie des Kreuzes. Dieses interessante Zusammentreffen zwischen dem Text und seiner möglichen Bedeutung im afrikanischen Kon‐ text muss aufgegriffen werden. Afrikanerinnen und Afrikaner dürfen bei der Begegnung mit dem Text nicht ihre Vorstellungen von der Wirklichkeit voraus‐ setzen, sondern müssen dem Text erlauben, ihnen in ihrem lebensweltlichen Kontext zu begegnen. Alle verfügbaren hermeneutischen Methoden dürfen und sollen eingesetzt werden, um den Text als Literatur wahrzunehmen und zu untersuchen. Jedoch sollen diese westlichen Ansätze mit afrikanischen Wirklichkeitsauffassungen konfrontiert werden. Dies ist, was Kahl das konven‐ tionalisierte Weltwissen der mediterranen Antike nennt, wie es im frühen Christentum geteilt wurde. 29 Dies muss für afrikanische Bibelleserinnen und Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0011 42 Abraham Boateng -leser von vitalem Interesse sein, wenn sie den biblischen Text ernstnehmen und verstehen wollen. Die Bibelstelle muss von ihrem talismanischen Etikett befreit und analysiert werden. Afrikanische/ ghanaische Christen sollten zunächst mit einem wissenschaftlich analysierten Text konfrontiert werden und dann die Möglichkeit haben, den Text und seine Auslegung mit ihren Realitäten zu verschmelzen und einen lebensweltlichen Bezug herzustellen. In diesem Zusam‐ menhang sollten afrikanische Bibelwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler versuchen, Kommentare und Lexika in ihren Muttersprachen zu erstellen. Die Bibel wird als ein Produkt ihres Autors in einem postkolonialen afri‐ kanischen Kontext betrachtet, der für die mögliche Manifestation göttlichen Handelns fruchtbar ist. Die wissenschaftliche Legitimation der göttlichen Of‐ fenbarung darf nicht den Kolonisierern zugeschrieben werden. Sie dürfen nicht bestimmen, was das Göttliche in zeitgenössischen afrikanischen Kontexten bewirken kann oder nicht. Rev. Dr. Abraham Boateng lehrt Neues Testament, Griechisch, und Homiletik am Trinity Theological Semi‐ nary Legon in Accra Ghana. Er promovierte im Fach Neues Testament an der Johann Wolfgang-Goethe-Uni‐ versität Frankfurt am Main in Deutschland. Seine Doktorarbeit befasste sich mit der Übersetzung der jüdisch-christlichen Schriften (Wunder) in ghanaische Muttersprachen. Zu seinen Interessengebieten gehören Septuaginta-Studien, biblische Hermeneutik in Muttersprachen, postkoloniale Hermeneutik und afrika‐ nisch-theologische Antworten auf Klimafragen. Er lebt mit seiner Familie in Accra, Ghana, und arbeitet als Pastor in der Methodistischen Kirche Ghanas. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0011 Tendenzen der Bibelauslegung im postkolonialen Ghana 43 1 Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien 2020, 129. 2 Spivak, Subaltern (s.-Anm.-1), 126. 3 Die Übersetzungen der Zitate aus der spanischsprachigen Literatur im vorliegenden Beitrag stammen durchgehend, sofern nicht anders markiert, von mir. 4 Vgl. Sofía Chipana Quispe, La Biblia en los procesos andinos de descolonización e interculturalidad, in: Concilium 382 (2019), 41-54, Fn. 2, s. auch dies., Saberes y espiritualidades relacionales en Abya Yala, in: Concilium 384 (2020), 63-74, Fn. 1, und Der Jakobusbrief - eine relectura aus Abya Yala Paula Kautzmann 1. Statt einer Einführung Ich schreibe hier keinesfalls als Expertin für „lateinamerikanische Exegese“, sondern in dem Versuch ein „Lernen zu erlernen“. 1 Dies erfordert ein stetiges Mit(be)denken und Dekonstruieren der eigenen persona, was auch im struktu‐ rellen Verhaltens-Schreib-Prozess erkennbar wird. Damit ist gemeint: Die von mir eingenommene Schreibhaltung ist als ein „Versuch im Dunkeln“ 2 zu be‐ schreiben, dessen Thematik jedoch selbst keinesfalls im Dunklen ruht. Möchten Sie mich nun als Türöffnerin lesen, dann betreten wir im Übertritt in diesen Raum jedoch nicht einen solchen, der durch meine Arbeit erhellt wird, sondern einen bereits hellstrahlenden. In den ersten Zeilen meines Beitrages möchte ich Voraussetzungen klären, Zugangslegungen und machtbesetzte Problematiken thematisieren, also keine Einführung im klassischen Sinne. Vielmehr eine Dekonstruktion normativer Annahmen und gleichwohl ein Versuch selbstkri‐ tischen Lernen Erlernens. Das Syntagma Abya Yala - im Deutschen oft unter der Betitelung „Latein‐ amerika“ oder auch „Süd-Mittelamerika“ subsumiert - steht als Synonym für „Amerika“: Es bezeichnet den ganzen amerikanischen Kontinent und wird von verschiedenen Ethnien in der Bewegung der indigenen Gruppen auf den Cumbres Continentales - kontinentale Gipfeltreffen indigener Organisationen und Gruppen 3 - verwendet. 4 Carlos Walter Porto-Gonçalves, Abya Yala (https: / / sites.usp.br/ prolam/ es/ abya-yala/ ; letzter Zugriff am 25.04.2023). 5 Dieses Buch bietet in seinen wesentlichen Inhalten den Text der Vorlesungen, die Tamez im Jahr 1985 an der Methodistischen Theologischen Fakultät in S-o Paulo (Brasilien) anlässlich der Wesleyan Week gehalten hat (vgl. Elsa Tamez, Santiago: lectura latinoamericana de la epístola, San José 1985,-12). 6 Für-Sprache meint die Anfrage daran, wer mit wem, über was, in welcher Art und Weise überhaupt sprechen, verhandeln oder sich selbst repräsentieren kann. Damit ziele ich auf die Problematik der Repräsentation von Menschen und Gruppen in unterschiedlichen, hegemonialen Diskursen. 7 Der dritte Blickwinkel „Hoffnung“ kann im Rahmen dieses Beitrags aus Platzgründen nicht skizziert werden. Wie Sie bereits sehen können, wird dieser Beitrag begleitet von und mit‐ gestaltet durch spanischsprachige Begrifflichkeiten aus den Ausgangstexten: Die Kapitelüberschriften stammen aus dem von Elsa Tamez publizierten spa‐ nischsprachigen Werk „Santiago: lectura latinoamericana de la epístola“ aus dem Jahr 1985, das im Zentrum dieses Beitrages steht. 5 Die Überschriften sind von deutschsprachigen Schlagwörtern begleitet, die sich meinerseits aus der Auslegung und Beschäftigung mit Elsa Tamez Werk ergeben (s. u. 1.2.). Inhalt und Methode des vorliegenden Beitrages ergeben sich aus einem krea‐ tiven Umgang mit den drei Ausgangssprachen Altgriechisch, Hebräisch und Spanisch sowie der Zielsprache Deutsch. Dieser Beitrag zeichnet die exegetische Auseinandersetzung von Elsa Tamez mit dem Jakobusbrief nach und wird als Angebot verstanden, die Perspektive aus der Haltung des Lernern Erlernens heraus zu schulen und vorschnelle Raumeinnahmen in Form der Für-Sprache 6 - in diesem Falle einer Nachzeichnung „lateinamerikanischer Bibelexegese“ - zu dekonstruieren. Vorab lege ich die modi und termini operandi für diesen Versuch offen: Kapitel 1 befasst sich mit meiner eigenen Verstrickung in hegemoniale Diskurse und dem Versuch der Sichtbarmachung. Kapitel 2 führt in den Grundgedanken von Elsa Tamez ein, den Jakobusbrief als eine (ab)gefangene Schrift zu be‐ trachten. Diesen Rekurs aufgreifend stellt Kapitel 3 punktuell Bildszenen des Jakobusbriefes vor - stets prozesshaft im Dialog mit Tamez Gedankengängen. Dabei werde ich Tamez Auslegung folgen und den Jakobusbrief aus zwei verschiedenen Blickwinkeln betrachten: Dem der Niederdrückung und der integren Praxis. 7 Kapitel-4 resümiert die Ergebnisse. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 46 Paula Kautzmann 8 Robyn Westcott, Witnessing Whiteness: Articulating Race and the ,Politics of Style‘, in: borderlands ejournal Volume 3,2 2004 (https: / / webarchive.nla.gov.au/ awa/ 20050616 0840 14/ http: / / www.borderlandsejournal.adelaide.edu.au/ vol3no2_2004/ westcott_wit‐ nessing.htm; letzter Zugriff am 22.03.2023). 9 Stefan Silber, Postkoloniale Theologien. Eine Einführung, Tübingen 2021, 45. 10 Kommunizierendes Lesen meint, dass ich selbst im Kontakt mit Texten und ihrer Verarbeitung in einen Kommunikationsprozess eingebunden bin, der stets auch hege‐ monialen Impetus besitzt. Dies beginnt bereits bei der Auswahl meiner Lektüren, der Autonomie der Texte selbst, der verfassten Sprache und dem damit gelegten Schwerpunkt auf verschriftlichte Kommunikation. Dadurch bilde ich mir stetig eine Meinung, eine Haltung, ein Inter- oder De-Interesse an gewissen Thematiken. 11 Postkoloniale Theorien machen die Vielfalt und Implikationen des Postkolonialismus zum Thema und legen mit ihrem problemorientierten Ansatz Machtstrukturen offen. Vgl. Paula Kautzmann, Wahrheit im interkulturellen und postkolonialen Diskurs. Theologische Untersuchungen im Anschluss an Catherine Keller und Mayra Rivera, Marburg 2020, 18ff. (https: / / doi.org/ 10.17192/ ed.2023.0004). 1.1 Ambigue Positionalität: Eigene Kompliz: innenschaft Das Sichtbarmachen und das damit verbundene Sichtbarwerden der eigenen Positionierung ist ein relationaler Prozess. Er erübrigt sich nicht in der einfachen Benennung: „Ich bin weiß, cis-Frau und deutschsprachige Theologin.“ Vielmehr setzt dieser Prozess eine selbstkritische sowie fortlaufende Haltung meines Eintretens in eine Struktur der Verantwortlichkeit voraus. Eine wesentliche Er‐ kenntnis der Critical Whiteness Studies zusammenfassend, möchte ich betonen: „A recognition that naming the self as white, if regarded as a finite act of penitence, can only ever be a ‘meaningless piety‘.“ 8 Nicht im endlichen Akt der Buße, sondern in dieser Struktur der Verantwortlichkeit verlaufen Antworten und Fragezeichen verstrickt in beide Richtungen. Der Komplexität dynamischer Strukturen befreiungstheologischer, post- und dekolonialer Denk-Praxis, kann in diesem kleinen Beitrag nur punktuell und eklektisch nachgegangen werden. Als forschende Person besitzen weder ich noch mein „Forschungsgegen‐ stand“ einen neutralen status quo, denn „Wissen kann in der Gegenwart nicht mehr einfach als objektiv vorhanden oder zuverlässig erwerbbar gelten“ 9 . Wissen(schaft) wird situativ von Personen hergestellt und sollte mit der grie‐ chischen Formel panta rhei (alles im Fluss) (durch)gedacht werden. In der Generierung von Wissen sind Diskurse von mehrdimensionalen Machtverhält‐ nissen durchdrungen, die eine vermeintliche Objektivität letztlich schon durch die Gegenwart „anderer Vielfalten“ in Frage stellen. Durch das Gegenüber und in Interaktion mit „den Anderen“ sind Forschende im steten Prozess der Konstituierung ihrer Welt und ihrer selbst. Dies gilt sowohl für persönliche Begegnungen mit Menschen als auch für das Kommunizierende-Lesen 10 von Literatur. Postkoloniale Kritik 11 blickt besonders auf die Machtkonstellationen Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 Der Jakobusbrief - eine relectura aus Abya Yala 47 12 Judith Gruber, Wider die Entinnerung. Zur postkolonialen Kritik hegemonialer Wis‐ senspolitiken in der Theologie, in: Andreas Nehring/ Simon Wiesgickl (Hg.), Postkolo‐ niale Theologien II. Perspektiven aus dem deutschsprachigen Raum, Stuttgart 2018, 27. 13 Vgl. hierzu Concilium 58 (2022) mit der der Heftthematik „Kontextuelle Zugänge zur Bibel“. 14 Vgl. dazu Gruber, Entinnerung (s.-Anm.-12), 23-37. 15 Vgl. Gruber, Entinnerung (s. Anm. 12), 24, und besonders die anekdotischen Beobach‐ tungen auf 23ff. 16 Silber, Postkoloniale Theologie (s. Anm. 9), 206 sowie María do Mar Castro Varela/ Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, 3., komplett überarb. Aufl., Bielefeld 2015, 176. 17 Ein vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung gefördertes Projekt mit den Schwerpunkten auf globale, nachhaltige, machtkritische und sensibilisierende Freiwilligenarbeit, vgl. https: / / www.weltwaerts.de/ de/ startseite. html (letzter Zugriff am 30.04.2023). der Generierung von Wissen und den Umgang mit Ressourcen, also das „unhin‐ tergehbare Zueinander von Macht und Wissen in jeder Wissensproduktion“. 12 Das Machtspiel des Ringens um Universalismus und Partikularismus - wie etwa der vermeintliche Gegensatz objektiver Auslesungskunst und engagierter Exegese 13 - zieht sich mit unterschiedlichen Attributiven durch die Erzäh‐ lungen der westeuropäischen bzw. deutschsprachigen Theologiegeschichte. Engagiert-kontextuelle Zugänge werden im universitären deutschsprachigen Wissenschaftsdiskurs noch immer vielerorts als marginale-provinzielle-nicht repräsentative Stilblüten belächelt. 14 Die römisch-katholische Theologin Judith Gruber zeichnet dies in ihrem Beitrag „Wider die Entinnerung. Zur postkolo‐ nialen Kritik hegemonialer Wissenspolitiken in der Theologie“ charmant-pro‐ vokativ nach, indem sie aufzeigt, wie die Tendenzen einer Ausblendung von Machtverhältnissen in der theologischen Wissensproduktion noch immer ein machtvolles momentum im deutschsprachigen Diskurs sind. 15 Mein Anliegen ist es, eurozentrische und besonders deutschsprachige Wissensbestände einer relectura auszusetzen, deren Augenmerk eben nicht auf dem Verschweigen von Machtkonstellationen ruht. Im Kommunizierenden-Lesen von Tamez Auslegung möchte ich Strukturen der Macht identifizieren, entcodifizieren, transparent machen, anstatt sie und mich oder den Untersuchungsgegenstand unsichtbar und damit unantastbar zu machen. 16 In Bezug auf diesen Beitrag ergeben sich folgerichtig einige mächtige Sichtbarkeiten: Ein Beitrag zur Bibellektüre einer renommierten spanischsprachigen Theologin, Elsa Tamez, aus Abya Yala in der Hand einer unbekannten deutschsprachigen Theologin aus Europa. Zu meinem Kontext sei angemerkt, dass ich angeregt durch meinen „weltwärts“ 17 entwicklungspolitischen Lerndienst in Toluca, Mexiko, Spanisch spreche und lese. Im Theologischen Studienjahr an der Dormitio in Jerusalem Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 48 Paula Kautzmann 18 „Von Peripherien und Zentren, (Ohn)-Mächten und Gewalt(en). 500 Jahre nach der Re‐ formation, 100 Jahre nach der Balfour Erklärung und 50 Jahre nach dem Sechstagekrieg.“ 19 Elsa Tamez, Descubriendo rostros distintos de Dios, in: Juan José Tamayo/ Juan Bosh (Hg.), Panorama de la teología latinoamericana. Cuando vida y pensamiento son inseparables. Estella (Navarra), 2001, 647-659 (https: / / www.ensayistas.org/ critica/ libe racion/ TL/ autores/ tamez.htm#_ftnref1; letzter Zugriff am 22.06.2022). 20 María Pilar Aquino/ Elsa Tamez, Teología feminista latinoamericana, Quito-Ecuador 1998, 75. 21 Vgl. Gabriela Miranda García, „Ihr Frauen, vergesst nicht das Salz“. Elsa Támez (*1950), Bibelwissenschaftlerin in Mexiko und Costa Rica, in: Annegret Langenhorst u. a. (Hg.), Mit Leidenschaft leben und glauben. 12 starke Frauen Lateinamerikas, Wuppertal 2010, 177, und Josep Ignasi Saranyana, Teología en América Latina. Volumen III. El Siglo de las teologías latinoamericanistas (1899-2001), Frankfurt a. M./ Madrid 2002, 476 f., sowie Doris Huber, Wenn du keine Bildung hast, hast du keine Befreiung. Die Entwicklung vertiefte ich, dem Jahresthema 18 geschuldet, machtsensible und kritische postko‐ loniale Theorienbildungen. All dies geschah und geschieht aufgrund meiner Si‐ tuiertheit in ambiguer Kompliz: innenschaft - d. h. der komplexen Verstrickung in hegemoniale, eurozentrierte Denkstrukturen, die nicht nur akademische, sondern auch konkrete, praktische Lebenswelten mitbestimmen. - 1.2-Elsa Tamez: Zwischen den Welten Man sagt, Theologie zu betreiben bedeutet, über Gott zu sprechen. Aber über Gott zu sprechen, bedeutet in gewissem Sinne, über sich selbst zu sprechen. Denn wir sprechen über Gott aus unserer eigenen Perspektive. Egal, wie sehr wir uns bemühen, objektiv zu sein. 19 Die protestantische Theologin Elsa Tamez beginnt in einem Beitrag mit dieser kritischen Selbstreflexion und bestimmt sich an anderer Stelle näher als „fe‐ ministische Theologin der Befreiung“. 20 1950 im Norden Mexikos in Ciudad Victoria geboren und aufgewachsen in Monterrey, mit 15 Jahren der Umzug nach Mexiko-Stadt zu ihrer Schwester, drei Jahre später die Entscheidung für das Theologiestudium am Seminario Bíblico Latinoamericano (Lateinamerikanisches Bibelseminar) in San José in Costa Rica, weil ein Studium der Theologie Frauen in Mexiko innerhalb der presbyterianischen Kirche verwehrt war. Dort wechselte sie in die Methodistenkirche und gestaltete den Umbauprozess des Bibelseminars zur Universidad Bíblica Latinoamericana (UBL) in inhaltlicher Profilierung und der Namensgebung maßgeblich mit. Sie wird an der UBL von 1995-2000 als erste Frau Rektorin einer theologischen Universität in „La‐ teinamerika“. 21 Parallel zum Studium der Theologie besucht sie die Nationaluni‐ Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 Der Jakobusbrief - eine relectura aus Abya Yala 49 und Relevanz von generativen Schlüsselbegriffen zu Befreiung und Bildung für Frauen in Nicaragua, Diss. theol. Wien 2011, 169 (https: / / services.phaidra.univie.ac.at/ api/ obj ect/ o: 1273653/ get; letzter Zugriff am 04.11.2022). 22 Vgl. Miranda García, Frauen, 176 f. Tamez Dissertation wurde aus dem Spanischen „Contra toda condena. La justificación por la fe desde los excluidos“, San José 1991, ins Deutsche und Englische übersetzt. 23 Vgl. Miranda García, Frauen (s.-Anm.-22), 180ff. 24 Bruno Kern, Theologie der Befreiung, Tübingen 2013, 26. 25 Vgl. Kern, Theologie (s.-Anm.-24), 31-36. versität in San José mit den Studienfächern Literatur- und Sprachwissenschaft. Auch wird sie 1976 Teil des neu gegründeten Departamento Ecuménico de Inves‐ tigaciones (DEI), einem ökumenischen Forschungs- und Ausbildungszentrum in San José. Ihre Promotion zur Doktorin der Theologie erlangt sie 1990 innerhalb dreier Jahre an der theologischen Fakultät Lausanne in der Schweiz zum Thema „Gegen die Verurteilung zum Tod. Paulus oder die Rechtfertigung durch den Glauben aus der Perspektive der Unterdrückten und Ausgeschlossenen“. 22 Tamez agiert sowohl theologisch als auch kontinental souverän zwischen den Welten - eine Welt(en)reisende. Ähnlich Edward Saids travelling stories bewegt sich Tamez gewissermaßen als travelling theologian - und wir schreiben die 80er Jahre - zwischen Europa und Abya Yala, zwischen der Schweiz und Costa Rica und zwischen westeuropäischen Theorien und Praxis-Praktiken Abya Yalas. In diesem Beitrag wird punktuell einem der Hauptanliegen von Elsa Tamez nachgegangen: No discriminen a los pobres - Keine Diskriminierung/ Ausgren‐ zung der Armen. Sie selbst wuchs in Armut auf, Armut bildet bei ihr einen unmittelbaren Erfahrungswert. Auch darf nicht vergessen werden, dass die Verzahnung von der Realität konkreter politischer und wirtschaftlicher Unter‐ drückung, Folter, Mord, Verhaftungen und Enteignung dieser Zeit bei Tamez stets durchkreuzender Kern von biblisch-theologischen Reflexionen ist - als ein politischer Ausdruck des Widerstandes und der Unbeugsamkeit in den komplex-multidimensionalen Realitäten in „Lateinamerika“ und der Karibik. 23 In der Fachliteratur subsumiert man diese Gangart auch gerne mit dem soge‐ nannten „Primat der Praxis“ 24 und dem Dreischritt Sehen-Urteilen-Handeln, die als Kernelemente der Theologie der Befreiung (Teología de la liberación) gelesen werden. 25 Elsa Tamez formuliert: Für mich war und ist Theologie nicht die Auseinandersetzung mit interessanten Ideen, unabhängig von der Realität. Es geht darum, Lebenserfahrungen in bestimmten Si‐ Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 50 Paula Kautzmann 26 Tamez, Rostros (s.-Anm.-19). 27 Vgl. Kern, Theologie (s.-Anm.-24), 31. 28 Eduardo Galeano, Die offenen Adern Lateinamerikas. Die Geschichte eines Kontinents, 4. Aufl. der Neuausgabe (2009), Wuppertal 2013, 363. 29 Kern, Theologie (s.-Anm.-24), 7. 30 Vgl. dazu auch die Zusammenfassung Kerns, Theologie (s.-Anm.-24), 7ff. 31 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 18. tuationen auszudrücken, die die Abwesenheit oder Gegenwart Gottes widerspiegeln. Theologie wird gelebt. 26 Als Ausdruck solcher Erfahrungen und der exegetischen Auseinandersetzung mit den uns überlieferten biblischen Texten als sinnstiftendes Fundament wird ein ethos gefordert. Ausgehend vom konkreten Ort und dem Schritt der Aufklärung von sozioökonomischen Bedingungen wird offengelegt, von welchen Bedingungen theologisches Denken und seine Praxis ausgehen soll und wie diese verändert werden kann. 27 Auch hier zeigt sich: Praxis ist keinesfalls ein machtneutrales Unterfangen, sondern erfordert das genaue (Hin)Sehen und Nachdenken über Bedingungen der (Nicht)Teilnahme und (Nicht)Teilhabe. Wer hat wie, warum und worauf Zugriff ? Eduardo Galeano bringt es folgender‐ maßen zusammen: Diese Realität und diese Bücher zeigen, dass die lateinamerikanische Unterentwick‐ lung eine Folge der Entwicklung anderer ist, dass wir Lateinamerikaner arm sind, weil der Boden, auf dem wir stehen, reich ist, und dass die von der Natur bevorzugten Orte von der Geschichte verdammt wurden. In dieser unseren Welt, eine Welt mächtiger Zentren und unterworfener Vororte, gibt es keinen Reichtum, der nicht zumindest verdächtig wäre. 28 Betonen möchte ich, dass es hier keinesfalls um eine Art von „Genitivtheo‐ logie“ 29 geht, sondern darum, dass ein Perspektivwechsel vorgenommen wird. Damit ist nicht gemeint, die exegetische Auseinandersetzung von Tamez beziehe sich nur auf einen ganz bestimmen, kontextuellen und somit kulturellen Gel‐ tungsbereich. 30 Dieser Beitrag und mein gewählter Ansatz sind keine „exotische“ Stilblüte, sondern die logische Konsequenz daraus, dass die geschaffenen loci theologici von Elsa Tamez uns zum Lernen Erlernen herausfordern. Diese Her‐ ausforderung liegt gerade im „Zwischen“ dieser Theologin, die uns in ihrer kontinentalen und lokalen Bewegtheit innerhalb ihrer Auseinandersetzung mit dem Jakobusbrief fragen wird: „Wann hat ein Dokument, das die Nieder‐ gedrückten (oprimidos) vor Ungerechtigkeiten (injusticias) verteidigt, seine Gültigkeit verloren? “ 31 Ich möchte mich nun, von meinem Ausgangspunkt im Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 Der Jakobusbrief - eine relectura aus Abya Yala 51 32 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 13. 33 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 13 und vgl. ebd. 34 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 18. 35 Vgl. Susanne Luther, Der Jakobusbrief in der aktuellen Diskussion. Tendenzen und Perspektiven der neueren Forschung, in: ZNT-50 (2022), 5-25. Lernen Erlernen, den Bildern und Perspektiven nähern, die Elsa Tamez in ihrer Jakobusbriefauslegung entwirft. 2. La carta interceptada: (Ab)gefangen Wenn dieser Brief heute an christliche Gemeinden in Lateinamerika geschickt würde, würde er wahrscheinlich von den nationalen Sicherheitsbehörden einiger Länder abgefangen werden. 32 Dieses heute im Zitat bezieht sich auf die 80er Jahre: Es herrscht die Zeit der Fronten - auch als „kalter“ Krieg bezeichnet -, unterschiedlich spürbar auf den Kontinenten dieser Welt. Tamez konkretisiert für einen Teil der Amerikas: Das Dokument würde als ein subversives gebrandmarkt werden, wenn man die Abschnitte lese, welche die Ausbeutung durch Grundbesitzende ( Jak 5,1-6) und das begnadete Leben der Geschäftsleute (4,13-17) anprangern. Der Abschnitt, in dem es heißt, […] dass ,reine und unbefleckte Religion darin besteht, Waisen und Witwen zu besu‐ chen und sich von der Welt abzusondern‘ (1.27), würde wohl als ,Reduktionismus des Evangeliums‘ oder marxistisch-leninistische Unterwanderung der Kirchen kritisiert werden. 33 Der Fortgang ihrer Eingangsanalyse zur Genese des Jakobusbriefes liest sich für mich wie ein Krimi: Bewusste und unbewusste Abfangversuche im Laufe der Geschichte, Misstrauen und Ablehnung, Diffamierung und Marginalisierung, Empowering und Befreiung. Auf die bereits oben aufgeworfene (An)Frage, wann ein Dokument, das die Niedergedrückten (oprimidos) vor Ungerechtigkeiten (injusticias) verteidige, seine Gültigkeit verloren habe, antwortet sie selbst mit: „Nun, in unserer Geschichte hat es diese immer gegeben. Die Frage ist vielmehr, wer erklärt diesen Brief für obsolet? “ 34 . Die evangelische Theologin Susanne Luther hebt in ihrem aktuellen Forschungsüberblick zum Jak hervor, dass er in der deutsch- und englischsprachigen Fachliteratur erst in den letzten Jahren zunehmend Würdigung gewinnt. 35 Es ist m. E. auffallend, wie divergent dieser neutestamentliche Brief an unterschiedlichen Orten bearbeitet, ausge‐ legt, marginalisiert oder wertgeschätzt wird. Es ist bewegter Ozean, der zwi‐ Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 52 Paula Kautzmann 36 Eine Möglichkeit den englischen Begriff „Mind-Mapping“ in der deutschen Sprache wiederzugeben. 37 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 25-30. 38 Vgl. Tamez, Santiago (s. Anm. 5), 26-28: Die Auswahl der Schlagworte/ -Themen richtet sich nach der anschließenden Auslegung in den Kapiteln 3.1.-3.3. Es gilt der Hinweis, dass diese Auswahl in ambiguer Kompliz: innenschaft geschieht. Meine Auslegung kann und möchte keine exakte Wiedergabe der Gedankengänge von Elsa Tamez sein, sondern zielt auf das Lernen Erlernen als einem relationalen Prozess. schen deutschsprachiger Rezeption, der mehrdimensionalen Machtausübung hegemonialer Strukturen - auch oder besonders in sprachlicher Manier von Übersetzungen - verstärkt auf die Wahrnehmung von Textkorpora einwirkt. Das meint: Deutschsprachige Rezeptionen zum Jakobusbrief wie die seiner wirkmächtigen Deklaration als stroherne Epistel (la epístola de la paja) haben, wie Tamez anhand ihrer Jakobusgenese kritisiert, dazu beigetragen, dass der Jakobusbrief immer wieder und immer noch - auch im deutschsprachigen Kontext - (ab)gefangen wird. Dabei geht sie stets konstruktiv-offen mit der eigenen Verstrickung und Kompliz: innenschaft um, den Brief für den Kontext in „Lateinamerika“ fruchtbar zu machen. 3. El cuadro y sus ángulos: Das Bild und seine Blickwinkel Tamez beginnt in ihrem Buch zum Jak mit einer Gedankenlandkarte 36 des Briefes. Dabei entscheidet sie sich für keine getrennte Lesart der verschiedenen Themen oder den Fokus auf einzelne Kapitel. Ihr Vorgehen beruht darauf, den Jak als ein Bild (cuadro), eine Szene (escena) wahrzunehmen. Das erste Lesen ähnele dabei der Manier einer: s Fotograf: in, sich einem Objekt zu nähern. Es ist das Spiel zwischen Sehen - Nichtsehen - Schärfe und Unschärfe - Scharfstellen. Haben Sie den Brief bereits in einem Zuge gelesen? Für Tamez steht am Ende des Leseprozesses eine lange Liste wichtiger Themen und Worte, die jedoch nicht mit Sicherheit auf ein Hauptthema oder charakteristische Aspekte schließen ließen. Ähnlich den in englisch- oder spanischsprachigen wissenschaftlichen Zeitschriftenbeiträgen vorgelagerten Abstracts, verfasst sie für jedes Kapitel eine Schlagwort-Themenliste. Ihr Vorgehen ist als ein Vorschlag (propuesta) tituliert, es obliegt den Lesenden sich auf diese Lesart einzulassen. 37 Um auch in diesem textlich begrenzten Rahmen nachvollziehen zu können, wie Tamez zu ihren Schlussfolgerungen kommt, das Bild des Jakobusbriefes aus verschiedenen, sich ergänzenden Blickwinkeln zu betrachten, greife ich nun exemplarisch auf ihre Schlagwort-Themenliste zurück. 38 Zu Kapitel-1 z.-B.: Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 Der Jakobusbrief - eine relectura aus Abya Yala 53 39 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 26f. 40 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 28. 41 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 28. 42 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 29. Begrüßung, Freude […], Leiden, vollkommene Werke, Rechtschaffenheit, Gebet, Weisheit, Wankelmut, Beständigkeit, arm-ausgestoßen, reich-ausgestoßen, Freude, Ausdauer […], Gott-Wort der Wahrheit-Leben, bereit zu hören, langsam zu reden […], das Wort tun und nicht nur hören […] 39 [usw.] Tamez resümiert zu ihrer Sammlung, dass Kapitel 1 in gewisser Weise ein Bild entwirft, welches den gesamten Inhalt des Briefes umspannt. Auch ordnet sie diesem Bild durch die Begriffe eine Gewichtung bei, die sie als sehr dicht, schwierig und eklektisch bezeichnet. Eine Verbindungslinie zwischen den einzelnen Einheiten sieht sie in dem in deutscher Sprache kaum übersetzbaren Phänomen der la palabra gancho: Ein „Klammerwort“, welches das letzte Wort einer Redewendung im darauffolgenden Satz wiederholend aufgreift. Ein Bei‐ spiel: Jak 1,1 chairein mit 1,2 chara (grüßen und Freude), Jak 1,4 leipomenoi mit 1,5 leipetai (Mangel leidend [sp. faltando] und wer Mangel leidet [sp. falto]). 40 Für Kapitel 2 bis 4 macht sie eine Ausweitung der bereits im Kapitel 1 ange‐ sprochenen Themen aus, z. B. der Aufruf zur Umkehr in Jak 4,7-10. Kapitel 5 hingegen greife - wenn auch nicht gestochen scharf - wieder Hauptthemen aus dem ersten Kapitel auf. Hier nennt Tamez das Gericht über Reiche (juicio contra el rico), Geduld (paciencia), Gebet (oración), Leiden (sufrimiento), Integrität zwischen Reden und Tun (integridad entre el hablar y el hacer). Haben Sie den Brief noch einmal gelesen? Tamez fordert erneut auf, den Brief zu lesen, um das Bild weiter zu schärfen, die Linse unscharf-scharf zu stellen. Tamez empfiehlt: Das Bild ist immer noch nicht klar, es ist erforderlich noch etwas mehr Konzentration aufzubringen, d. h. die Epistel noch einmal zu lesen, mehrere Male. Danach könnten wir erreichen, das Bild mit mehr Schärfe wahrzunehmen, so kann es aus drei verschiedenen, sich ergänzenden Blickwinkeln betrachtet werden. 41 Das Konvergieren mehrerer Blickwinkel (ángulos) pluralisiert das Bild (cuadro) als solches - ich interpretiere diese Auslegung als ganzen und zugleich fragmen‐ tarischen, als universal-partikularen und prismenbunten-relationalen Aushand‐ lungsprozess. Wer dabei die Linse des Fotoapparats auf das Bild richtet, ist für uns nicht unsichtbar. Elsa Tamez wird sichtbar, weil sie Ihre Linseneinstellung mitteilt: „Dies ist das Bild, das ich mit den Augen eines ,niedergedrückten (oprimido) und gläubigen (creyente)‘ Volkes lese“. 42 Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 54 Paula Kautzmann 43 Bibelzitate übersetze ich, wenn nicht anders angegeben, eigenständig vom griechischen Ausgangstext NA28 oder dem hebräischen Ausgangstext der BHS ins Deutsche. 44 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 28. 45 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 31. 46 Sophie Laws, The Epistle of James, Cambridge 1980, 9, zitiert bzw. eigene Übersetzung nach Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 31f. 3.1 El ángulo de la opresión-sufrimiento: Niederdrückung Siehe, der Lohn der Arbeiter: innen, die eure Felder abgemäht haben, der Lohn, den ihr ihnen vorenthalten habt, schreit […] ( Jak-5,4). 43 Tamez kommentiert eingangs zum Kapitel Niederdrückung (opresión): Es gibt eine Gemeinschaft von Gläubigen (adelphoi mou), die leiden - es gibt eine Gruppe reicher Leute, die sie niederdrücken und vor Gericht zerren wollen. Es gibt Menschen im Tagelohn in der Landwirtschaft, die ausgebeutet werden […]. 44 Das Zitat Jak 5,4 zeigt bereits auf, welche Personengruppen ins Blickzentrum rücken. Neben dieser Gruppierung „der Arbeiter: innen“ macht Tamez zwei weitere aus, die leiden, die „Witwen und Waisen“ (1,27) und „die zwölf Stämme in der Diaspora“ (1,1) - allen dreien folgen wir in diesem Blickzentrum. Gegen die Stoßrichtung klassischer form- und traditionsgeschichtlicher Auslegung, welche die vielen Sprüche/ Sprichwörter und Traditionen aus rab‐ binischen Traditionen wahrnimmt, ohne sie unbedingt mit der Realität der damaligen Rezipient: innen in Verbindung zu setzen, hält Tamez die umgekehrte Herangehensweise an den Brief für wichtiger: „[…] dass Jakobus von der Gegen‐ wart inspiriert wurde, um die Überlieferung aufzugreifen, sie auszuwählen und sie aus ihrem eigenen Kontext herauszulesen (releer).“ 45 Sie hält fest: „Es scheint also vernünftig zu sein, anzunehmen, dass die Einbeziehung der Lehre über Arm und Reich, die so kreativ präsentiert wird, ein echtes Anliegen des Autors selbst widerspiegelt.“ 46 Sie macht die Thematik der Niederdrückung (opresión), als eines der Hauptmotive innerhalb des Briefes aus, die den Verfasser folglich zu diesem Schreiben veranlasst hätten. Die Sprichwörter, Einheiten (unidades), Phrasen (frases), Redewendungen (dichos) sowie die traditionellen und zeitge‐ nössischen Materialien (materiales antiguos y contemporáneos) werden somit bewusst genutzt, aber um sie zu aktualisieren. Dabei negiert Tamez nicht, dass jede Einheit (unidad) des Textes durchaus ihre ganz eigene Geschichte besitzt, so wie es bspw. Dibelius in seinem Kommentar zum Jakobusbrief darlegt. Jedoch: […] wir glauben, dass diese Einheit, wenn sie Teil eines anderen Textes ist und mit anderen Einheiten verknüpft wird, neue uns relevante Inhalte bietet. Wenn wir einen Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 Der Jakobusbrief - eine relectura aus Abya Yala 55 47 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 32. 48 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 32. 49 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 32f. 50 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 34. 51 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 34. 52 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 61-67. Brief oder eine Meditation schreiben, fügen wir vielleicht Gedichte oder vertraute Sätze ein, aber wir geben diesen Einschlüssen den Inhalt, den wir wollen oder den wir im Lichte unseres Kontextes verstehen, und so wird der Brief von den Lesenden verstanden werden. 47 Tamez postuliert: Vorgeformte Einheiten, die in einem anderen Text verwendet werden, sagen mehr über die gegenwärtige Situation dieses anderen Textes aus als über die Zeit, in der sie entstanden sind, obwohl sie natürlich eine ziemlich enge Beziehung zur ursprünglichen Bedeutung behalten. 48 Sie resümiert: „Wir haben also einen neues, aktuelles Schreiben vor uns, das eine Situation der Ungerechtigkeit (injusticia) und Niederdrückung (opresión) widerspiegelt und die Christ: innen auffordert, sich dieser Situation zu stellen.“ 49 Der Begriff opresión changiert in der Auslegung von Tamez ebenso wie die Begrifflichkeit oprimidos (Niedergedrückte). Ich übersetze opresión mit Niederdrückung, denn in dieser deutschsprachigen Wiedergabe wird erkennbar: Es ist nicht „Unterdrückung“ gewählt, sondern der Begriff Niederdrückung, um die Aktivität dieses Tuns innerhalb eines komplexen und vielschichtigen Settings von diversen Personengruppen hervorzugeben. Um das Blickzentrum der „opresión-sufrimiento: Niederdrückung“ weiter erkennen zu können, lenkt Tamez den Blick u. a. auf die zwei antagonistischen Gruppen: los pobres (die Armen) und los ricos (die Reichen), los opresores (die, die niederdrücken) und los oprimidios (die, die niedergedrückt werden). Tamez schreibt: „An einigen Stellen des Briefes ist die Grenze zwischen den opresores und oprimidos nicht ganz klar, denn es gibt implizite Widersprüche.“ 50 Es gibt somit auch hier ein „Dazwischen“ und es können innerhalb dieser Personengruppen Erfahrungen von Niederdrückung sowie eingesetzte Mechanismen der Niederdrückenden (opresores) beobachtet werden. 51 Der Twist in Tamez Auslegung ist, das Augen‐ merk nicht auf die Thematik „Reich, und nun? “, sondern auf „Arm, was tun? “ zu legen. 52 Es geht Tamez zunächst einmal um das Entlarven absichtlicher Unsichtbarmachung und dann das absichtsvolle Sichtbarmachen: „Anderson zum Beispiel stellt zu Beginn, bevor er den Text untersucht, aus seiner Sicht Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 56 Paula Kautzmann 53 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 64. 54 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 64. 55 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 34. 56 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 34. 57 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 34. 58 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 35. klar: ‚Nicht jeder Reiche ist verdammt, nicht jeder Arme ist sicher, gerettet zu werden‘.“ 53 Tamez kommentiert: Wir sind nicht so sehr über diese Aussage erstaunt, die er vielleicht nach einigem Nachdenken trifft, sondern von der Tatsache, dass er seine Analyse mit einer solchen Prämisse beginnt; seine Sorge um die Reichen (ricos) und nicht um die Armen (pobres) ist offensichtlich […]. 54 Zunächst einmal hält Tamez fest: „Die Niedergedrückten (los oprimidos) im Jakobusbrief sind vor allem die Armen (pobres).“ 55 Nun schließt sie daran jedoch an, welche Unschärfen sich in den Begriffen der los oprimidos (die, die niedergedrückt werden) und dem Begriff der pobres (Armen) verbergen. Es bestehe ein offensichtlicher Zusammenhang zwischen Armut (la pobreza) und Niederdrückung (la opresión). „Die Armen (pobres) sind im Allgemeinen arm, weil sie niedergedrückt (oprimidos) und ab/ ausgenutzt (explotados) werden, die oprimidos sind die Verarmten (empobrecidos).“ 56 Im Hebräischen macht Tamez eine Vielfalt für die Begriffe opresión und pobres aus, auffallend sei hier beson‐ ders die enge Beziehung zwischen den Begrifflichkeiten, die durch die Begriffe Raub (robo) und Gewalt (violencia) ergänzt werden. 57 Für den Jakobusbrief hält sie den Zusammenhang dieser Begriffsfamilie für offensichtlich: Siehe in Jak 5,4 liest sie als ein Signalwort analog zum hebräischen hinneh, um auf das Unrecht aufmerksam zu machen und gleichzeitig Lev 19,13 intertextuell mitschwingen zu lassen: „Du sollst deinen Nächsten nicht niederdrücken, du sollst ihn nicht berauben und den Lohn des Knechtes nicht bis zum nächsten Tag zurückhalten“ (Lev 19,13). Die Weisung, seine Nächsten nicht niederzudrücken und (um ihren Lohn) zu berauben, wird auch in Dtn-24,14 sowie in Jeremia betont und Tamez führt weiter, dass die Thematik der opresión konkret auf die Arbeiter: innen bezogen wird: „Wehe dem, der sein/ ihr Haus nicht auf Gerechtigkeit baut und seine/ ihre Böden ohne Recht! Er/ Sie benutzt seine Nächsten umsonst, und dessen Arbeit wird nicht vergütet“ ( Jer-22,13). Diese intertextuellen Referenzen dienen Tamez als Exempla. Wichtig ist ihr, dass der Jakobusbrief diese Traditionen kennt und für seinen Kontext neu liest. 58 Mit den Arbeiter: innen (gr. ergates) macht Tamez die erste Gruppe der oprimidos aus: „Einem Arbeitenden den Lohn vorzuenthalten, bedeutet, Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 Der Jakobusbrief - eine relectura aus Abya Yala 57 59 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 36. 60 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 36 und vgl. ebd. 61 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 36. 62 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 36. 63 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 36. 64 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 36. 65 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 37. 66 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 37. dessen Leben zu bedrohen.“ 59 Auch wenn Grundbesitzende (propietarios) oder Menschen, die das Land verwalten (terratenientes) die Lohnauszahlung zurück‐ halten und exegetisch die griechischen Begriffe apesteremenos als Diebstahl und afusteremenos als Vorenthaltung nicht im Sinne von Verzögerung, sondern von völliger Nichterfüllung betrachtet werden, bleibt das Resultat am Ende gleich: „Arbeitende stehen ohne Lohn da“. 60 Die prekäre Lage von Menschen im Tagelohn auch zur Zeit Jesu lässt sich am besten mit der Umschreibung von der Hand in den Mund zusammenbringen. Die Abhängigkeit von ihrem Lohn war sehr hoch, Menschen im Versklavtenstatus waren bisweilen besser von ihren Besitzer: innen mit Nahrung und Unterkunft versorgt - durch Abhängigkeit vom Tagelohn waren dauerhafte Nichtbezahlung, Zahlungsverzögerung oder eben gar keine Lohnarbeit mehr zu finden eine existenzielle Katastrophe. 61 Vor diesem Hintergrund fasst Tamez zusammen: Deswegen personifiziert Jakobus den Lohn, er sieht ihn als das Blut der ausgebeuteten Arbeitenden, die wie Menschen im Tagelohn in der Landwirtschaft selbst herzzerrei‐ ßend schreien. Menschen im Tagelohn in der Landwirtschaft sterben […], weil die Früchte nicht zu ihnen zurückkehren. Die Menschen können nicht wieder zu Kräften kommen, weil die Reichen ihnen den Lohn vorenthalten. 62 In Jak 5,6 folgt, dass den Reichen vorgeworfen wird, die Gerechten zu verurteilen und zu töten. Die Schreie, die dabei ausgestoßen werden und für die in griechischer Literatur der Begriff boe verwendet wird ( Jak 5,4), das auch für das Heulen von wilden Tieren Anwendung findet, ist ein unzusammenhängendes Schreien. 63 Die Septuaginta führt diesen Begriff im Sinne eines Protests gegen begangenes Unrecht (vgl. Ex-2,23 die Schreie der Versklavten in Ägypten) an. 64 Auch wertet Tamez das Schreiben als Zeichen des Protests, einer Anklage gegen die Ungerechtigkeit. 65 Als eine weitere Gruppe der oprimidos erscheinen die Waisen und Witwen, die „in der Tradition des Alten Testaments […] das Objekt der Liebe Gottes und des Menschen [sind], der danach strebt, Gottes Willen zu tun.“ 66 Tamez verweist hier bspw. auf Dtn 14,29, wo es heißt, Waise und Witwen (und auch Fremde) sollen sich satt essen und auf Ez 22,7, wo es um die Trias der Fremden, Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 58 Paula Kautzmann 67 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 37. 68 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 37. 69 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 38. 70 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 38. 71 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 38. 72 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 38. 73 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 38 und vgl. ebd. 74 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 38f. 75 Vgl. Tamez, Santiago, (s.-Anm.-5) 39. Waisen und Witwen geht, die niedergedrückt werden „[…] mitten in dir war man zu Fremden gewalttätig, in dir hat man Waisen und Witwen niedergedrückt“ (Ez 22,7). 67 Auch in Mk 12,41-44 gehe es um eine Witwe, die all ihr Gut als Opfergabe aus ihrem Mangel herausgab, nicht aus ihrem Überfluss. Tamez betont, dass auch in den frühchristlichen Gemeinden Waisen und Witwen als vulnerable Gruppen galten, denen Fürsorge galt und die Tamez auch als pobres oprimidos (niedergedrückte Arme) bezeichnet. 68 Für Tamez zeigt sich im Jakobusbrief die große Sorge um diese Menschengruppe und der Anspruch - sich selbst und Gott gegenüber als verdadera religión (wahre Religion) - diese Menschen als Dreh-und Angelpunkt zu betrachten. 69 Indem diese „Armen“ besucht und ihnen geholfen wird. Konkret: Zeit mit ihnen zu verbringen und sich mit ihrer opresión zu solidarisieren. 70 An dieser Stelle fächert Tamez den Begriff opresión aus: „Das Wort opresión […] entspricht dem griechischen Wort thlipsis, das in unseren spanischsprachigen Versionen gewöhnlich mit ,Trübsal‘ (tribulación), ,Schwierigkeit‘ (difficultad), ,Bedrängnis‘ (aflicción) usw. übersetzt wird.“ 71 Mit Tomás Hanks zeigt sie auf, dass dieser Begriff im Jakobusbrief oft mit den Begriffen Trübsal, Schwierigkeit oder Bedrängnis wiedergegeben wird, was jedoch die Ambiguität dieses Begriffes mitsamt der skandalösen Bedeutung von wirtschaftlicher Ausbeutung verschleiere. 72 Somit ist die Welt aus der Sicht des Jakobusbriefes in ihrer Struktur eine den Armen gegenüber feindliche, „denn sie grenzt sie aus dem System aus, das von den Herrschenden und den Reichen zu ihrem eigenen Vorteil aufgebaut wurde“. 73 Die Mahnung im Jakobusbrief ziele darauf, auch die Waisen und Witwen vor dieser Welt, die niederdrückt (mundo opresor) zu schützen. 74 Haben Sie noch eine andere Gruppe ausfindig machen können? Tamez weist auf die Gruppe hin, an die sich das Schreiben explizit richtet: „die zwölf Stämme in der Diaspora“ (1,1). Nur im Petrus- und Jakobusbrief wird der Begriff Diaspora (Zerstreuung) im Präskript in der adscriptio verwendet. Tamez folgt der soziologischen Darstellung John H. Elliots, dass Diaspora ein sowohl religiöser identity marker als auch einen sozialen Status als Vertriebene und Fremde bezeichnet. 75 Tamez schreibt: Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 Der Jakobusbrief - eine relectura aus Abya Yala 59 76 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 39f. 77 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 40. 78 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 40. 79 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 40f. 80 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 41. 81 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 41. Das Wort Diaspora bezieht sich nicht ausschließlich auf Jüd: innen und Heid: innen, seine Bedeutung ist figurativ, es impliziert Vergänglichkeit, und seine Komponente ist soziologisch und charakterisiert die Stellung der Christ: innen in der Gesellschaft. 76 Elliot folgend ist Diaspora also eine frühchristliche Gemeinschaft, die in der Regel als Außenseiter: innen gelesen wurde, sich dauerhaft oder vorübergehend in den Regionen Kleinasiens aufhielt und sowohl rechtlichen, sozialen und politischen Zwängen unterworfen war. 77 Von dieser Annahme ausgehend kon‐ statiert Tamez: […] finden wir im Jakobusbrief eine Gemeinschaft oder Gemeinschaften von Brüdern und Schwestern (gr. adelphoi), marginalisiert oder ausgeschlossen von den bürgerli‐ chen, sozialen und politischen Rechten der Städte oder des Landes, in denen sie lebten. 78 Weiter macht sie innerhalb dieser marginalisierten Gruppe unterschiedliche soziale Schichten aus: Die Armen (gr. ptochoi) - Menschen, die völlig mittellos sind und von den Almosen anderer leben müssen. Die Armen (gr. penes), die eine Lohnarbeit besaßen und sich damit ihren Lebensunterhalt verdienen konnten, sofern der Lohn bezahlt wurde, jedoch keinen Besitz hatten. Teils werden diese Gruppenbezeichnungen auch synonym verwendet, denn gemeinsam ist ihnen, dass sie von den Reichen und Mächtigen ausgebeutet werden. 79 Tamez weist darauf hin, dass im Neuen Testament mehr von ptochoi geredet wird, was sie als Indiz betrachtet, dass damit die Realität der betreffenden Menschengruppe im Blickzentrum steht. 80 Im Jakobusbrief begegnen uns ptochoi bspw. in 2,2 oder in 2,15. Auch die Waisen und Witwen in 1,27 können zu den ptochoi gezählt werden. Jedoch zeigt Tamez an, dass die in 5,4 erwähnte Gruppe der Arbeitenden in der Landwirtschaft keine Armen im Sinne des ptochoi waren, sondern eher penes, da sie einer Arbeit nachgingen. Gleichwohl ist die Differenz von Lohnarbeit zu mittelloser Armut gering, denn „wie wir sehen können, werden viele von ihnen [den penes] ptochoi, weil sie keinen Lohn erhalten.“ 81 Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 60 Paula Kautzmann 82 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 71. 83 Tamez, Santiago (s. Anm. 5), 71: Hoffnung in der Situation der Niederdrückung, die die Gemeinde erfährt und an die sich Jakobus richtet, besitzt einen zentralen Stellenwert. Ohne Hoffnung wäre ein Leben nahezu unmöglich. Jedoch nennt Tamez im gleichen Atemzug die Praxis des Handelns - sozusagen nicht als ergänzendes Topping der Hoffnung, sondern als inhärente Notwendigkeit des Zeichens der Hoffnung. 84 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 71f. 85 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 72. 3.2-El ángulo de la praxis: Integre Praxis Werdet aber Täter: innen des Wortes und nicht nur Hörer: innen, sonst betrügt ihr euch selbst ( Jak-1,22)! Das Thema der Praxis beinhaltet laut Tamez das dichteste Blickzentrum, der Inhalt des Schreibens balle sich hier mit höchster Konzentration: „Die Autor: innenschaft verlangt hier mehr Tinte“. 82 Damit meint Tamez, dass sich besonders reiche Bildmotive mit facettenreichen Einzelheiten um „die Praxis, das Handeln (la praxis, el hacer)“ 83 drehen und sich in umfangreicher Textgestalt niederschlagen. Nach Tamez lassen sich drei Herausforderungen für die Gemeinschaft, an die sich Jakobus richtet, zusammenfassen: kämpferische Geduld (paciencia militante), Integrität (integridad) und wirksames Gebet (oración eficaz). Sie bündelt: Wir können auch erkennen, dass der Hintergrund dieser Herausforderungen die bedingungslose und aufrichtige Liebe zwischen den Mitgliedern der Gemeinschaften und außerhalb der Gemeinschaften ist. Geduld und Integrität, Gebet und Weisheit haben keine Daseinsberechtigung, wenn sie nicht von der Liebe zu anderen motiviert sind. 84 Die vielen Details zum Gebet, der Weisheit und Liebe konvergieren immer wieder in Tamez Auseinandersetzung mit einer wie auch immer gearteten Integrität. Letztere kann ich nicht einfangen, aber dazu einladen, den Worten Tamez zu folgen: „Lassen Sie uns unsere Wegstrecke (recorrido) beginnen“ 85 : Wenn ein Bruder oder eine Schwester ohne Kleidung sind und Mangel leiden ohne das tägliche Brot und einer von euch sagt zu ihnen: Geht hin in Frieden, wärmt und sättigt euch! , ihr gebt ihnen aber nicht, was sie zum Leben brauchen - was hilft ihnen das? ( Jak-2,15f.) Die Verse zielen auf die Kernelemente der Praxis: Eine Kohärenz zwischen glauben-hören-reden-und-tun, die Integrität bedeuten. Dabei weitet Tamez Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 Der Jakobusbrief - eine relectura aus Abya Yala 61 86 Vgl. oben die Ausführung zum Begriff „arm“. 87 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 76f. 88 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 78 und vgl. ebd. 89 Den gr. Begriff dipsychos gebe ich mit gespalten, zwei Seelen habend oder unentschlossen wieder. 90 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 78f. 91 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 78f. den Begriff der Integrität, indem sie nicht nur auf die individuell persönliche verweist, sondern auch auf eine gemeinschaftliche. Einender Faktor in dieser frühchristlichen Gemeinschaft ist die Liebe, die sich gegen Feindseligkeiten von außen (seien es politische, soziale oder alimentäre) und innerhalb der Gemeinschaft richtet. Unter Ausschluss und Anfeindung haben besonders diejenigen Menschen zu leiden, die arm (sp. pobres) 86 sind. 87 Tamez zeigt an, dass in dem Bestreben des Briefes die christliche Gemein‐ schaft zu stärken und zu ermutigen, gleichzeitig mitschwingt, über Niederdrü‐ ckung nachzudenken und zu handeln - damals zur Zeit seiner Abfassung wie heute. Nicht der Erfahrung von Niederdrückung wegen, um Belohnung eines ungerechten Leidens zu gegebener Zeit zu erlangen, sondern in der Praxis, sich auf dem Weg der Gemeinschaft befindend, können sie Ganzheit (totalidad) und Integrität (integridad) in sich selbst spüren: Auf paradoxe Weise ist dies bereits ein Prozess der Humanisierung! Durch den Widerstand gegen entmenschlichende Kräfte werden Gemeinschaften und ihre Mit‐ glieder humanisiert. Die Erfahrung, sich vollkommen (teleioi) zu fühlen, was bei Jakobus vollständig ganz (completo), ganz (total), integer (íntegro) bedeutet, erinnert den Leidenden an sein Personsein. 88 D. h. ein Teil von Integrität ist umgekehrt gewandt, die Frucht schmerzlicher Erfahrung. Einen weiteren Aspekt, den Tamez in ihrem Kapitel zur Integrität aufführt, richtet sich gegen den Menschen mit zwei Gesichtern oder den Menschen mit Doppelleben (hombre de vida doble). Bezug nimmt sie dabei auf den griechischen Begriff dipsychos in 1,7f. und 4,8. 89 Im Jakobusbrief würde er als Negativ verwendet werden: Ein gespaltener Mensch, im Gegensatz zu einem einfachen Menschen (hombre simple) - im Griechischen gibt sie dies mit haplous an, was sich auch als „offen“, „ohne Hintergedanken“ übersetzen ließe. 90 Adjektivisch mit haplotes gesprochen, könnte es auch Einzigartigkeit des Herzens (singula‐ ridad de corazón) oder reines Herz (corazón puro) bedeuten. 91 Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 62 Paula Kautzmann 92 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 79. 93 Vgl., Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 79. 94 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 79. 95 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 79f. 96 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 80. 97 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 80. 98 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 80 und vgl. ebd. In Jak 1,8 beziehe sich Jakobus auf jene Menschen, die „schwankend, zwei‐ felnd beten“, 92 vergleichbar mit einem Meer, dessen Wellenkrone vom Wind hin- und her geworfen würde (vgl. 1,6). Die Problematik mit dieser Gruppe Menschen innerhalb der Gemeinschaft ergebe sich durch das damit verbundene Fehlen der Vertrauenswürdigkeit gepaart mit der Sorge um Entschlussfähigkeit und Wil‐ lenskraft. Ein Kampf gegen die Niederdrückung im Kontext des Jakobusbriefes sei mit dieser Art von Mitgliedern ein verlorener - wankelmütig (gr. katastatos) bezeichnet die wankelmütige Eigenschaft der Mehrdeutigkeit (sp. ambiguo). Für die Praxis könnten Zwiespalt (ambigüedad) sowie Unbeständigkeit und Instabilität sehr destruktive Faktoren sein. 93 Reinigt die Hände, ihr Sünder: innen, und heiligt die Herzen, ihr, die ihr zwei Seelen habt/ unentschlossen seid (dispsychoi) ( Jak-4,8). Tamez legt diesen Vers folgendermaßen aus: „Diese Ermahnung richtet sich an diejenigen, die dazu neigen, sich mit der Welt anzufreunden (amistad con el mundo), mit anderen Worten, den Werten der korrupten Gesellschaft zu folgen, die sich im Jakobusbrief widerspiegelt.“ 94 Forschungsgeschichtlich herrscht laut Tamez Einigkeit, dass es in diesem Kapitel 4 um den Götzendienst gehe - Freundschaft mit der Welt bedeutet Freundschaft mit dem Mammon, man kann nicht zwei Herr: innen gehorchen oder sie anbeten. 95 Dieser Linie folgend appelliere Jak 4,8 auch an bzw. für Integrität: Kein Doppelleben zu führen, aufzuhören Böses zu tun und verdorben zu sein, sondern sich Hände und Herzen zu reinigen (vgl. 4,7f.). Der Kontext spiele im Jakobusbrief hier wohl auf eine Gemeinschaft an, in der einige Mitglieder, mehr oder minder wohlhabend, eine Leidenschaft für Gewinn hätten (ähnlich in 4,13-17 die Handeltreibenden). 96 Quintessenz dieser Zusammenschau ist nach Tamez: „In der Praxis muss man eine klare Entscheidung treffen.“ 97 Für Jakobus, könne man nicht im Zwiespalt (ambigüedad) leben oder gar zwei verschiedene Arten von Leben führen: „Entweder man freundet sich mit Gott an oder mit der ungerechten Welt.“ 98 Bezugnehmend auf die Verse 1,7f und 4,8 zeigt der Fortgang der Lesart Tamez’, dass dem gespaltenen (dipsychos) und wankelmütigen Menschen in Vers 1,5 Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 Der Jakobusbrief - eine relectura aus Abya Yala 63 99 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 81. 100 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 82 (Kursivsetzung im spanischsprachigen Ausgangstext). 101 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 82. 102 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 82. 103 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 82-88. 104 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 82. 105 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 83. 106 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 83 und vgl. ebd. die konträrere Haltung des großzügigen, einfachen Gebens analog zu Gott gegenübergestellt wird. Gottes Geben ist haplos, ein Geben großzügig und ohne Zögern, ein vorbe‐ haltloses Geben, ein Geben ohne Zins. 99 Tamez schlussfolgert für den Jakobus‐ brief auf eine enge Verbindung zwischen „Einheit“ und „Ganzheit“: „Gott ist nicht nur eine: r, weil es keine anderen Gottheiten gibt, sondern weil Gott in Übereinstimmung mit der Sache handelt, die in Jakobus die Sache der Armen ist.“ 100 Gottes Integrität bedeute folglich Beständigkeit (vgl. 1,17), woraus auch die der Glaubenden folge. 101 Konkret heißt das nach Tamez, dass Jakobus beständig auf die christliche Praxis Bezug nimmt: […] es muss betont werden, dass sein Hauptanliegen nicht der allgemeine Lebensstil der Gemeinde ist, sondern, wie Donato Palomino sagt, ‚die theoretisch-praktische Einheit des biblischen Glaubens für die Nachfolge, in der er den aktiv-aktivistischen Charakter (el carácter de sus militantes) den Strukturen des wirtschaftlichen, politi‐ schen und religiösen Systems der Zeit des Jakobus gegenüberstellt‘. 102 Einem letzten weiteren Aspekt der integren Praxis möchte ich folgen: Tamez betitelt ihn mit „Glaube und übender Praxis“ (fe y práctica), dem Herzstück (meollo) der Integrität. 103 „Für Jakobus ist die Brücke zwischen der Erfahrung der Niederdrückung und der eschatologischen Hoffnung die Praxis des Glaubens.“ 104 Was das konkret bedeutet, haben wir bereits in den vorangehenden Kapiteln verfolgt, nämlich die Liebe und Fürsorge für die Waisen und Witwen (1,27), die nackten Brüder und Schwestern (2,15f.) und die Armen (sp. pobres): Nämlich diejenigen, die Teil der Niederdrückung sind, die ab-/ ausgenutzt und ausge‐ beutet werden sowie des Weiteren „[…] die Welt, die für die Niedergedrückten verantwortlich ist, [und] die Institutionen, Strukturen, die Werte dar[stellt], die Ungerechtigkeit vorantreiben oder ihr gegenüber gleichgültig sind“ 105 . Die frühchristlichen Gemeinschaften im Jakobusbrief sind dazu aufgerufen, sich dieser Welt nicht anzupassen (vgl. die Kritik daran in Jak 2,1-7.12) und sich klar „[…] gegen die Bevorzugung der Reichen und die Missachtung der Armen“ auszusprechen. 106 Ziel oder vielmehr die Verpflichtung dieser Gemeinschaften sei das Entgegensetzen von Werten der Gerechtigkeit, den Marginalisierten Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 64 Paula Kautzmann 107 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 83. 108 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 83. 109 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 83. 110 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 83. 111 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 83. 112 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 84. 113 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 85. 114 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 85. oprimidos beizustehen. 107 Dabei verbinde Jakobus die Praxis mit dem Gesetz der Freiheit, des Glaubens und der Weisheit: Alle drei wirken, sofern sie durch die Praxis der Gerechtigkeit kenntlich werden (vgl. z. B. 2,14). 108 Das Wort hören-halten-tun; das vollkommene Gesetz der Freiheit (ley perfecta) betrachten (contemplar) und praktizieren. 109 Gebündelt finden wir diese im Jakobusbrief in 2,8 - die Nächsten zu lieben wie sich selbst. 110 „[D]aher sind die anderen Ge‐ bote/ Weisungen (mandamientos) im Sinne dieses einen zu verstehen.“ 111 Tamez legt aus, dass bei Jakobus Wort und vollkommenes Gesetz der Freiheit (1,25) gleichbedeutend sind, allein das Wort zu hören, ohne es auch zu praktizieren, bedeute, nicht aufrecht zu sein und gegen sich selbst zu handeln, letztlich sich zu betrügen. Das Wort wird nur im bloßen Hören geschwächt, Lebendigkeit erfährt es durch das Erfüllen (adquiere vida), die Praxis selbst bringt Freude, denn dann gelinge es kohärent und ganz zu sein (vgl.-1,2ff.). 112 Folgen wir Tamez weiter, so kommen wir zu einer sehr umstrittenen Stelle des Briefes, der vielerorts als Widerspruch zu Paulus’ Rechtfertigung allein durch den Glauben gelesen wird: „Ihr seht, dass der Mensch durch Werke gerechtfertigt wird und nicht durch den Glauben allein“ (2,24). Auch hier geht es um Integrität, konkret um die Integrität von Glauben und Tun, als komplementäre Einheit. „Die Rechtfertigung durch den Glauben bedeutet für manche einen Glauben ohne Engagement für den Nächsten, ohne Werke; Jakobus versucht also, diese Vorstellung zu korrigieren, indem er Werke als wichtige Elemente der Rechtfertigung einführt.“ 113 Was Jakobus mit Glauben meine, könne nicht genau analysiert werden, was er mit Werken meine jedoch schon: In seinem ganzen Brief bezieht er sich auf die guten Werke, von denen die Evangelien im Hinblick auf die befreienden Taten Jesu immer wieder sprechen und die mit Handlungen der Gerechtigkeit zu tun haben; es sind die sozialen Werke, die von den alttestamentlichen Prophet: innen gefordert und in der sinaitischen Tradition gelesen werden. 114 Paulus hingegen, so Tamez, wende sich gegen Werke, die mit Ritualen (las obras relacionadas con lo ritual), Opfern (sacrificios) und andere Arten von Opfergaben Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 Der Jakobusbrief - eine relectura aus Abya Yala 65 115 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 85. 116 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 85f. 117 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 86. 118 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 86. 119 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 86f. 120 Tamez, Rostros (s.-Anm.-19). (ofrendas) und Festivitäten zu tun hätten. 115 Sie markiert Unterschiede in der Herangehensweise von Paulus und Jakobus: Es sind die unterschiedlichen Kontexte aus denen sie sprechen. 116 Für Jakobus hält sie fest: Jakobus hat nicht in erster Linie die Absicht, die Rechtfertigung zu erörtern, er erwähnt sie beiläufig und wahrscheinlich aufgrund eines Missverständnisses der paulinischen Formulierung ,Rechtfertigung durch den Glauben‘ - wenn wir glauben, dass der Autor später als Paulus und mit dieser Lehre vertraut war. 117 Das Blickzentrum, das Tamez scharfstellt - der Blickwinkel der Praxis - zeige, dass Jakobus daran interessiert sei, die Einheit von Glaube und Werken als ein glauben-hören-reden-und-tun zu unterstreichen. 118 Was hilft’s, Brüder und Schwestern, wenn jemand sagt, er: sie habe Glauben, und hat doch keine Werke? Kann etwa der Glaube einen solchen retten? So auch der Glaube: Für sich alleine, wenn er keine Werke hat, ist er tot ( Jak-2,14.17). Es ist die Bemühung um Integrität, Konsistenz und Kohärenz zwischen Theo‐ logie und Praxis, die Tamez anhand des Jakobusbriefes herausarbeitet. Das sogenannte Tun (al hacer) innerhalb der Rechtfertigung sei das novum für viele aus dem lutherischen Protestantismus - „[…] eine Tatsache, die für viele von uns zweifellos skandalös ist“. 119 4. Prozesshafte Auswertung - 4.1 La carta abierta: Offengehalten Träume und Solidarität für eine Gesellschaft, in die alle passen, sind zwei menschliche Dimensionen, die ich zu Beginn dieses dritten Jahrtausends nicht verlieren möchte. 120 Die Worte von Elsa Tamez geben die Richtung vor, mit der sie auch in ihrem Werk zum Jakobusbrief das letzte Kapitel gestaltet: Ein offengehaltener Brief der Hoffnung, der Zuversicht, der herausfordernden integren Praxis und gleich‐ zeitig einer, der uns in die Krise bringt: „Dieser Brief, das haben wir auch gesehen, hat im Laufe der Geschichte viele Probleme gehabt; seine Geschichte Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 66 Paula Kautzmann 121 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 97f. 122 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 96. 123 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 98. 124 Vgl. Kapitel-1. 125 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 99. ähnelt Dokumenten, die auf Verdacht abgefangen werden, weil sie nicht in das herrschende Denken passen.“ 121 Vielleicht erinnern Sie sich noch an die Frage, die Tamez uns gestellt hat: Wann hat ein Dokument wie das des Jako‐ busbriefes seine Gültigkeit verloren? Wann bekommt ein Glaubenszeugnis, das sich inhaltlich an der Lehre und der integren Praxis Jesu abarbeitet, marginalen Charakter? Das Herzstück (meollo) ist die Zusage der Parteilichkeit Gottes für jene, an die sich Jakobus zu wenden scheint, die Armen - gr. ptochoi und penes - und gegen jene, die sie niederdrücken und in dieser Lage halten: Die Situation der Niederdrückung und des Schmerzes neigt dazu, die Menschen zu deprimieren, sie zu entmenschlichen, nicht nur ihren Körper, sondern auch ihren Lebensgeist zu zerstören, die Realität als natürlich und normal zu betrachten. 122 Gleichzeitig hinterfragt Tamez an dieser Stelle kritisch: „Es wäre interessant zu wissen, was die Armen, die Niedergedrückten, über den Brief denken: Würden sie ihm zustimmen? “ 123 Ich würde dieser Rückfrage von Tamez notwendiger‐ weise nicht ein „interessant“ (interesante) vorschalten, sondern für meinen deutschsprachigen Kontext mit Spivak die dekonstruktive Einsicht: Eine solche Frage impliziert zunächst mein Einüben der Haltung eines Lernen Erlernens, einem verantwortlichen Zuhören, um nicht zu vorschnellen oder gar einfachen Lösungsansätzen zu gelangen. 124 Augenscheinlich ist es, wie bereits in der Einleitung zu diesem Beitrag erwähnt, zentral, nicht auf jene zu blicken, die den Brief in der Vergangenheit angegriffen haben, sondern auf jene, die ihn verteidigten: Diese Arbeit wird sicherlich schwierig sein, weil die Armen (pobres) die offizielle Geschichte, die wir kennen, nicht geschrieben haben, aber die Hinweise müssen vorhanden sein und sie werden uns helfen, diese Geschichte von der Kehrseite/ von hinten zu rekonstruieren. 125 Dass der Jakobusbrief ein offenes Beispiel für eine Fülle relevanter theologischer, praktischer und politischer Hoffnungsschimmer ist, mag hierzulande vielleicht gerade erst entdeckt werden. Ich hoffe jedoch, dass mein Beitrag gezeigt hat: Es Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 Der Jakobusbrief - eine relectura aus Abya Yala 67 126 Dazu dann genauer in meinem Dissertationsprojekt unter dem aktuellen Arbeitstitel „Der Jakobusbrief - eine re: lectura befreiungstheologischer, post- und dekolonialer Ambiguität nach Elsa Tamez“. 127 Hans J.-Vermeer, „Sprache oder Kultur? “, in: Heidemarie Salevsky (Hg.), Dolmetscher- und Übersetzerausbildung gestern, heute und morgen. Berliner Beiträge zur Translati‐ onswissenschaft. Akten des internationalen wissenschaftlichen Kolloquiums anläßlich des 100jährigen Jubiläums der Dolmetscher- und Übersetzerausbildung Russisch an der Berliner Universität (1894-1994), veranstaltet an der Humboldt-Universität zu Berlin am 12.-und 13.-Mai 1995, Frankfurt a.-M. u.-a. 1996, 164. 128 Tamez, Rostros (s.-Anm.-19). gibt Türen, hinter denen es hell strahlt und in denen Räume voller Hoffnung liegen, die der Jakobusbrief zu erhellen weiß. 126 - 4.2 Ein Lernen Erlernen Man lernt nie eine Sprache allein, man lernt eine ganze Welt mit ihr und um sie, und ohne diese Welt lernt man die Sprache nicht […]. 127 Lernen Erlernen, das hatte ich zu Beginn dieses Beitrages erwähnt, erfordert einen Perspektivwechsel: So wie der Kompetenzerwerb einer Sprache eine Tür zu einer Welt eröffnet, zeigt sich auch, dass ohne diese Welt - eine Welt mit Menschen, Erzählungen, materiellen Nöten - der bloße Erwerb der Sprache nicht möglich zu sein scheint. Gerade auch weil Sprache zum einen konstruiert ist und zum anderen konstruiert, ist es von wesentlicher Bedeutung, in der Hal‐ tung des Lernen Erlernens nicht das tragendende momentum der Handlung des glauben-hören-reden-und-tun unsichtbar zu machen. Das meint: Schriftsprache benötigt gelebte Sprachkommunikation - Theologie benötigt gelebte, integre Praxis. Ein gelebtes ethos oder mit Jak gesprochen, Täter: innen des Wortes und nicht nur Hörer: innen zu werden, impliziert eine Haltungs-Handlung. Diese Haltung hat m. E. auch damit zu tun, vermessene Vorstellungen sogenannter „kontextueller Theologien“ oder „eurozentrischer Objektivität“ angemessen anzuhören. Gleichzeitig impliziert sie ebenso eine tatkräftige (De)Konstruktion und integre Praxis gegen Niederdrückung, egal in welcher Sprache und in wel‐ chem Kontext. Ein Lernen Erlernen in der Auseinandersetzung mit kolonialen und postkolonialen Geschichten und Theorien, eurozentrischen Lehrinhalten an Schulen oder in Predigten und dem ganz gemeinen Alltagsleben in Deutschland, mag vielleicht eine Haltung schulen, die hoffen lässt auf „Träume und Solidarität für eine Gesellschaft, in die alle passen“ 128 . Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 68 Paula Kautzmann Mag. Theol. Paula Kautzmann promoviert als wissen‐ schaftliche Mitarbeiterin im Fach Neues Testament am Institut für Evangelische Theologie an der Universität Gießen. Das Studium der Evangelischen Theologie ab‐ solvierte sie von 2014 bis 2021 in Hamburg, im Theolo‐ gischen Studienjahr in Jerusalem, Münster, Kopenhagen und Marburg. Erstes Theologisches Examen erfolgte vor dem Prüfungsamt der EKHN, der Abschluss Mag. Theol. an der Universität Marburg. Seit 2021 ist sie Mitglied im „Network of Young Scholars in Jewish Christian Dialogue“ der Universität Salzburg. Forschungsschwer‐ punkte sind Post- und Dekolonialismus, Abya Yala, Theologie(n) der Befreiung, Feminismus und Gender, Interreligiöser Dialog. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 Der Jakobusbrief - eine relectura aus Abya Yala 69 1 Diesen Artikel möchte ich meiner langjährigen, intellektuellen Dialogpartnerin Elisabeth Hernitscheck widmen. Ich danke dir für die langen Jahre der Freundschaft und für die gemeinsame Zeit des Nachdenkens. 2 Vgl. Hayden White, Metahistory, Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt a.-M.-1991 (Originalausgabe 1973). Wie westlich ist das frühe Christentum? Modelle frühchristlicher Diversität und die Entwicklung diversitätssensibler Kleingruppenmodelle in der empirischen Soziologie 1 Michael Sommer 1. Einleitung Im Jahr 1973 veröffentlichte Hayden V. White sein inzwischen zum Klassiker der Geschichtswissenschaft gewordenes Werk Metahistory. 2 Seine darin ver‐ lautbarte Theorie der Poetik der Geschichte brach mit den strukturalistischen Fachkonventionen der Geschichtswissenschaften und galt in seiner Zeit als revolutionär. Als einer der ersten historisch Forschenden suchte White eine Brücke zwischen den poststrukturalistischen Diskursen der Literaturwissen‐ schaften und den Methoden seines Faches zu bauen, um durch diesen Dialog Chancen und Grenzen des historisch Sagbaren zu benennen. Für White gilt Geschichte als eine Erzählung. Geschichte ist für ihn ein konstruiertes Narrativ, das sich durch die Kreativität eines forschenden Geistes nährt und aus seiner Fä‐ higkeit, aus überlieferten Quellen ein zusammenhängendes Ganzes zu formen. Gut fünfzig Jahre später zählen Whites Ausführungen zu den guten Standards der Geschichtswissenschaft. Wohl kein universitäres Proseminar in den geis‐ teswissenschaftlichen Disziplinen berührt nicht Metahistory oder eine davon inspirierte Theorie. Dass Geschichte konstruiert, perspektivisch und subjektiv ist, dass sie mit kreativer, aber methodisch reflektierter Fantasie erzählt ist, begleitet Studierende der Geisteswissenschaften (wohl) durch alle Qualifikati‐ onsarbeiten. 3 Zum Begriff Meistererzählung vgl. weiterführend Frank Rexroth, Meistererzählungen vom Mittelalter. Epochenimaginationen und Verlaufsmuster in der Praxis mediävisti‐ scher Disziplinen, (HZ.B 46) München 2007. Ferner der Sammelband Konrad H. Ja‐ rausch/ Martin Sabrow (Hg.), Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach-1945, Göttingen-2002. 4 Einen guten Überblick über die Postkoloniale Theorie bietet Maria do Mar Castro/ Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Stuttgart 2020; Graham Huggan (Hg.), The Oxford Handbook of Postcolonial Studies, Oxford 2013; Ina Kerner, Postkoloniale Theorien. Zur Einführung, Hamburg-2021. 5 Zu Geschichtstheorien weiterführend: Lothar Kolmer, Geschichtstheorien, Stutt‐ gart-2008; Jörn Rüsen, Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft, Köln-2013. Und bei dieser Erkenntnis beginnt auch dieser postkoloniale Ausflug in die Welt des frühen Christentums. Wohl kaum ein: e historisch-kritisch denkende: r Forscher: in bestreitet, dass die Entstehungsgeschichte in vielen verschiedenen Geschichten erzählt ist, die auf der Grundlage fragmentarisch überlieferter Quellen erzählt sind. Eine einzige, große Meistererzählung über die Anfänge der ersten christlichen Gemeinden in der Antike gibt es nicht; 3 vielmehr lässt sich die Fachkultur als eine facettenreiche Sammlung vieler verschiedener, teils sich überschneidender und aufeinander aufbauender, teils konkurrierender und gegenläufiger Geschichtserzählungen beschreiben. Gemeinsam haben diese oft rezipierten und weitergeschriebenen Meistererzählungen der Fachkultur, dass sie erzählte Geschichte sind, die aus der Feder westlicher Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts stammt. Diese von Vielen als Geschichtswahrheiten geteilten Narrative sind nicht wertneutral. Diese „stories“ atmen den eurozent‐ ristischen Geist der sozialen, politischen, philosophischen und weltanschauli‐ chen Diskurse westlicher Kulturkreise; 4 sie sind verfasst aus der Perspektive von angloamerikanischen und europäischen Denkerinnen und Denkern, die in den Kategorien und Modellen ihrer Lebenswelt, dem Geist der westlichen Welt, verhaftet sind und aus diesem Blickwinkel auf die schriftlichen und ma‐ teriellen Quellen der Geschichte blicken. Verfasst sind diese Geschichten nicht für irgendwen, sondern für die Wissenschafts- und wissenschaftsinteressierte Community der eigenen Zeitgeschichte. Geschichtsnarrative sind demnach kein in sprachliche Form gegossenes und für die Ewigkeit konserviertes, geronnenes Wissen eines aus seiner Zeit herausgetretenen Universalgenies, sondern Narra‐ tive über Vergangenes, die als bleibende, mahnende und deutende Erinnerung für eine konkrete Gegenwart erzählt ist. 5 Sie haben einen Standpunkt und sind verankert in den westlichen Kulturen, obwohl das von ihnen selbst nicht reflektiert wird. Hier genau setzt die Metaperspektive der postkolonialen Studien an, die kritische Fragen nach der kulturellen Bedingtheit von Denkstrukturen und Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0013 72 Michael Sommer 6 Vgl. dazu Elisabeth Hernitscheck, Much Ado about Almost Nothing. Eine Forschungs‐ geschichtliche Meta-Analyse zu Apokryphen Evangelienfragmenten als Quellen des Antiken Christentums, Leuven-2018 (online publiziert). 7 Vgl. dazu Franz Mußner, Traktat über die Juden, München-1979. 8 Vgl. dazu Michael Sommer, Eine Re: Lektüre von Franz Mußners Traktat über die Juden - …oder warum Metareflexion zum Handwerkszeug theologischer Praxisarbeit gehört, in: -Lebendige Seelsorge (2022), 147-149. nach Exklusionsphänomenen stellt: Wie genau sind diese europäischen Meis‐ tererzählungen vom Frühen Christentum, die zum Beginn des 21. Jahrhunderts in verschiedenen Formen in Fachpublikationen, Lehrveranstaltungen und Bil‐ dungsformaten verschiedener Couleur begegnen, vom westlichen Zeitgeist gefärbt? Welche Modelle des frühen Christentums begegnen in den großen Narrativen der Fachkultur und was sagen diese Modelle über die Zeit und über den Kulturkreis aus, in dem sie verfasst wurden, und was verschweigen sie? Elisabeth Hernitscheck hat in ihrer Dissertation (2018) eine Metaperspektive auf die Geschichte der Frühchristentumsforschung des deutschen, französischen und englischen Sprachraums entwickelt und gezeigt, dass sich nicht nur Auslegungspatterns frühchristlicher Literatur in den letzten 130 Jahren der Forschungsgeschichte durch gesellschaftliche Wandlungsprozesse änderten, sondern damit auch gesamte Konzeptionen der Anfangserzählungen des frühen Christentums. 6 Dies geschah nicht im luftleeren Raum, sondern der Wechsel erfolgte in impliziter oder expliziter Korrelation zu kulturgeschichtlichen Wandlungsprozessen westlicher sozialer Ordnungen. Das Zweite Vatikanische Konzil, die gesellschaftliche Aufarbeitung des Holocausts und die einsetzende Globalisierung und Digitalisierung des Zeitalters färbten Anfangsnarrative des frühen Christentums mindestens genauso wie die Entdeckung neuer, antiker Quellen. Blicken wir zurück in die 1970er Jahre und lesen die Einleitung von Franz Mußners Traktat über die Juden, 7 wohl einem der wichtigsten Werke für die deutschsprachige Parting-of-the-Ways-Forschung, so wird diese enorme zeitgeschichtliche Prägung theologischer Geschichtsbilder schlagartig bewusst. Mußner reflektiert, dass sein Geschichtsbild eine Reaktion auf die theologi‐ schen Neuerungen des Zweiten Vatikanischen Konzils und ein Beitrag auf die Aufarbeitung der Grauen von Auschwitz ist. 8 Elisabeth Hernitscheck würdigt dies nicht nur, sondern holt etwas weiter aus und stellt eine weitreichende Vermutung über die kulturelle Bedingtheit gegenwärtiger Vorstellung von frühchristlicher Diversität auf. Nach Hernitschecks Überzeugung konnten sich frühchristliche Diversitäts‐ modelle, die im Moment die Fachkultur beherrschen, nur im Rahmen westlicher Individualgesellschaften entwickeln. Ihr zufolge spiegeln sich nicht nur große Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0013 Wie westlich ist das frühe Christentum? 73 9 Vgl. dazu ausführlich Hernitscheck, Meta-Analyse (s.-Anm.-6), 37. 10 Ronald Hitzler/ Arne Niederbacher, Szenen, 13; Henri Tajfel, Introduction, in: Henri Tajfel (Hg.), Social Identity and Intergroup Relations (European Studies in Social Psychology), New York 1982, 1-14; Johannes Ullrich/ Rolf van Dick/ Sebastian Stegmann, Intergruppenbeziehungen, in: Dieter Frey/ Hans-Werner Bierhoff (Hg.), Sozial-psychologie - Interaktion und Gruppe, Göttingen u.-a. 2011, 265-284. makropolitische und makroökonomische Veränderungen der westlichen Welt in den Meisternarrativen wider, sondern selbst kleinere, mikrosoziale Wandlungs‐ prozesse der sozialen Lebenswelten. Sie ist nicht nur der Überzeugung, dass sich Geschichtserzählungen der westlichen Welt als Ursprungsnarrative des frühen Christentums in der Forschungslandschaft behaupteten, sondern glaubt, dass diese die westlichen Gesellschaften selbst deuten, weil sie deren Verständnis von nicht-statischen Gruppierungen und dynamisch fluktuierenden sozialen Beziehungen explizit spiegeln. Sie blicken der westlichen Welt in den Spiegel. 9 Diese These bleibt in ihrer Arbeit allerdings (leider) vage und behauptend. Sie lässt sich jedoch verifizieren und sogar argumentativ unterlegen, indem Mo‐ delle frühchristlicher Diversität mit empirischen Arbeiten über Kleingruppen verglichen werden, die soziale Interaktionen und Gruppendynamiken in den westlichen Gesellschaften beleuchten. Ein kurzer Blick auf die Entwicklungs‐ geschichte der empirisch-soziologischen Arbeiten über soziale Gruppen genügt, um strukturelle und sprachliche Ähnlichkeiten, ja sogar explizite Parallelen, mit den Kategorien frühchristlicher Diversitätsforschung zu belegen. Diversi‐ tätsmodelle des frühen Christentums ähneln den Modellen kleiner Gruppen und Gruppennetzwerken einer Szene, die in der empirischen Soziologie auf der Grundlage konkreter Untersuchungen der Lebenswelt des eurozentristischen Raums entstanden sind. Doch dieser Vergleich zeigt nicht nur die westliche Prägung der Modelle auf, sondern legt klare Grenzen der Geschichtskonstruk‐ tionen fest, die nicht zuletzt Praxisrelevanz für theologisches Arbeiten besitzen. 2. Kleingruppenmodelle im Wandel der empirischen Soziologie Methodisch beginnt dieser Aufsatz mit einer Metareflexion soziologischer Kategorien, Denkmuster und Theoriebildung, die sich in westlichen Gelehr‐ tenwerkstätten vollzogen haben. Doch ein Rückblick auf den Wandel der soziologischen Kleingruppenforschung - dies muss klar und deutlich benannt werden - kann nur in Auszügen und unter der Gefahr der starken Verkürzung erfolgen. Dennoch lässt sich Ende der 1980er/ Anfang der 1990er in der anglo‐ amerikanischen und europäischen Forschung ein Einschnitt erkennen, 10 der m. E. gravierende Auswirkungen auf Geschichtsmodelle der Christentumsfor‐ Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0013 74 Michael Sommer 11 Zur Forschungsgeschichte eines pyramidalen Modells von Gesellschaft vgl. Rainer M.-Lepsius, Soziale Schichtung in der industriellen Gesellschaft. Mit einem Geleitwort von Oliver Lepsius und einer Einführung von Wolfgang Schluchter, Tübingen 2015, 52. 12 Rolf Schwendter, Theorie der Subkultur, Hamburg 4 1993, 11; Siegfried Lamnek, Theo‐ rien abweichenden Verhaltens I.-„Klassische“ Ansätze, Paderborn 9 2013, 147. 13 Schwendter, Subkultur (s. Anm. 12), 28; Rolf Schwendter, Art. Subkultur, in: Ansgar Nünning (Hg.), Grundbegriffe der Kulturtheorie und Kulturwissenschaften, Stuttgart 2005, 207 f. 14 Vgl. zur Einführung Tajfel, Social Identity (s.-Anm.-10), 1-14. 15 Einen Überblick über die Entwicklung der Forschung geben Hitzler/ Niederbacher, Szenen (s.-Anm.-10), 1-14. 16 Vgl. Schwendter, Subkultur (s. Anm. 12), 11-12, 28-58; ferner Stuart Hall/ Tony Jefferson (Hg.), Resistance through Rituals, London 1976; Dick Hebdige, Subculture. The Meaning of Style, London-1979. schung haben sollte. Westliche Modelle von Subkulturen der 1970er Jahre basierten auf einem marxistisch geprägten, vertikalen Gesellschaftsmodell, das von einer Leit- oder Mehrheitsgesellschaft ausging. 11 Davon unterschieden sie gesellschaftliche Untergruppierungen, sog. Subkulturen, die sich klar und deutlich von einer übergeordneten Gesellschaftsstruktur unterschieden, sich von ihr abgrenzten und in ihr sogar ein politisches und ideologisches Gegenüber sahen. 12 Rolf Schwendter beschreibt in seinem 1973 erschienenen Werk „Theorie der Subkultur“ dieses soziologische Phänomen noch mit folgenden Worten: Somit ist Subkultur ein Teil einer konkreten Gesellschaft, der sich in seinen In‐ tentionen, Bräuchen, Werkzeugen, Normen, Wertordnungssystemen, Präferenzen, Bedürfnissen usw. in einem wesentlichen Ausmaß von der herrschenden Institution etc. der jeweiligen Gesellschaft unterscheidet. 13 Mit den Pionierarbeiten des britischen Sozialpsychologen Henri Tajfel 14 än‐ derten sich Ende der 1980er/ Anfang der 1990er Jahre in der Soziologie nicht nur makrosoziologische Gesellschaftsmodelle, sondern Modelle und Beschrei‐ bungskategorien für Klein- und Kleinstgruppen innerhalb einer Gesellschaft. 15 Während Subkulturmodelle der 1970er Jahre noch von einer vertikalen Kul‐ turhierarchie ausgingen und Subkulturen als starre, fest von einer Mehrheits‐ gesellschaft abgrenzbare und klar erkenn- und definierbare gesellschaftliche Untergruppen beschrieben, die in politischer und ideologischer Opposition zur Mehrheitsgesellschaft standen, 16 verabschiedeten sich Kleingruppenmodelle, die eine feste Leitkultur als definitorischen Gegenpart benötigten. Ab den 1990er Jahren verabschiedete sich die Soziologie, sicherlich in einer Antwort‐ bewegung auf Phänomene der gesellschaftlichen Pluralisierung und Individua‐ lisierung, von der Idee einer in sich geschlossenen Leitkultur. Gesellschaftliche Klassen wurden durch soziologische Milieumodelle ersetzt, die dem komplexen Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0013 Wie westlich ist das frühe Christentum? 75 17 Vgl. ausführlicher Hitzler/ Niederbacher, Szenen (s. Anm. 10), 13-15. Laszlo A. Vasko‐ vics, Subkulturen - ein überholtes analytisches Konzept? , in: Max Haller/ Hans-Joachim Hoff-mann-Nowotny/ Wolfgang Zapf (Hg.), Kultur und Gesellschaft. Verhandlungen des 24. Deutschen Soziologentags, des 11. Österreichischen Soziologentags und des 8. Kongresses der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie in Zürich 1988, Frankfurt a.-M.-1989, 587-599. 18 Vgl. dazu Michael A. Hogg/ Dominic Abrams, Social Identification. A Social Psychology of Intergroup Relations and Group Processes, London/ New York-1988, 18-19. 19 Wilfried Ferchhoff, Jugend und Jugendkulturen im 21. Jahrhundert. Lebensformen und Lebensstile, Wiesbaden-2007, 184. 20 Hitzler/ Niederbacher, Szenen (s.-Anm.-10), 11. Erscheinungsbild einer diversen Gesellschaft besser gerecht werden konnten ( J. Ueltzhöffer/ B. Flaig; in den 1990ern: H. Breking/ S. Neckel, K.H. Hörning/ M. Michailow, G. Schulze, T. Mueller-Schneider, S. Hradil; H.-P. Thurn). 17 Natürlich hatte dies enormen Einfluss auf die soziologische Kleingruppenforschung. Die Beschreibungskategorien und die Sprache, um kleine Gruppierungen innerhalb einer Gesellschaft erfassen zu können, orientierten sich nicht mehr wie in den Anfangstagen der Subkulturtheorie, an einem geschlossenen gesellschaft‐ lichen Überbau, sondern versuchten der Idee einer pluralen und diversen Gesellschaft gerecht zu werden, in der unterschiedliche Milieus nicht nur ne‐ beneinander existierten, sondern miteinander interagierten. 18 Im Gegensatz zur Subkulturtheorie der 1970er vertreten gegenwärtige Ansätze die Meinung, dass Kleinstgruppen sich nicht von der Leitgesellschaft abgrenzen, sondern gesell‐ schaftliche Pluralität durch eine Vielzahl kleiner, heterogener und nicht statisch voneinander abgegrenzten Gruppen gebildet wird. Klein- und Kleinstgruppen sind nicht gesellschaftsspaltend, sondern bilden gesellschaftliche Pluralität. 19 So sprechen sich Ronald Hitzler und Arne Niederbacher - sie sind wohl die aktuellsten Vertreter der soziologischen Kleingruppenforschung im deutschen Sprachraum - in ihrem Modell eines Netzwerks aus verschiedenen Klein‐ gruppen gegen das in der frühen Subkulturforschung vertretene hierarchische Pyramidenmodell aus. Hitzler und Niederbacher setzen in ihrer modellhaften Beschreibung einer Szene bei der empirischen Erfahrung von Diversität des sozialen Raumes ihrer Lebenswelt an: Das Leben in modernen Gegenwartsgesellschaften ist typischerweise hochgradig in‐ dividualisiert. Subjektivierungs-, Pluralisierungs- und Globalisierungsprozesse lösen nicht nur die lebenspraktische Relevanz (die individuelle und kollektive Selbst- und Fremdverortung im sozialen Raum) der in der Moderne herkömmlicher Weise dominierenden Klassen- und Schichtenstrukturen zunehmen ab. 20 Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0013 76 Michael Sommer 21 Hitzler/ Niederbacher, Szenen (s.-Anm.-10) 13f. 22 Vgl. dazu Hogg/ Abrams, Identification (s.-Anm.-18), 18f. 23 Zur empirischen Methode in der Kleingruppenforschung vgl. auch Ferchhoff, Jugend‐ kulturen (s.-Anm.-19), 180. Beide fahren mit ihrer Kritik an gesellschaftlichen Schichtenmodellen fort und entwickeln daraus einen Unterbau für ihr Gruppenmodell. Beide orientieren sich an der empirisch erfahrbaren Überschneidung gesellschaftlicher Milieus. Ihr Ausgangspunkt eines Netzwerkmodells an Kleingruppen ist eine empirische Analyse des sozialen Raumes ihrer Lebenswelt. Modernisierungssensible Sozialstrukturanalytiker versuchen seit geraumer Zeit, diese Entwicklung zu erfassen, indem sie erfahrungsobsolete Klassen- und Schichtenmo‐ delle durch Milieumodelle ersetzen […]. Dies geschieht in der plausiblen Annahme, dass die individuellen Orientierungen und Sinnsetzungen auch in einer komplexer werdenden Welt typischerweise keineswegs ‚autonom‘ vor sich gehen, sondern weiterhin wesentlich in ‚Sozialisationsagenturen‘ vermittelt werden - als welche möglicherweise eben in erster Linie ‚Milieus‘ fungieren könnten. Aber anscheinend halten sich die Akteure nicht an diese analytisch abgesteckten Milieugrenzen. Sie nehmen vielmehr auch ganz woanders im sozialen Raum Kontakte auf, suchen Anschlüsse, gehen Beziehungen ein, schließen Freundschaften, finden sich zurecht, gewöhnen sich […]. Denn gerade die Konfrontation mit einer immer komplexeren ‚Realität‘ verunsichert den Einzelnen. Diese Verunsicherung wiederum erhöht seinen Bedarf an bzw. sein Bedürfnis nach kollektiven ‚Vorgaben‘. 21 Ihre Modellvorstellung über Kleingruppen innerhalb einer Gesellschaft basiert darauf, dass soziale Räume und Wissensdiskurse nicht isoliert voneinander bestehen, sondern sich überschneiden und vermischen. Individuen partizipieren nicht nur an einem einzelnen Milieu, sondern an mehreren und tragen deshalb dazu bei, dass sich Wissensdiskurse miteinander vernetzen. 22 Eine solche, empirisch verifizierbare Annahme ist die Bedingung für das spezifische Modell von Hitzler und Niederbacher; beide gehen davon aus, dass in Kleingruppen die gleichen sozialen Dynamiken und ein ähnlicher Wissenstransfer zu beobachten sind wie in den großen Sozialmilieus einer Gesellschaft. Auch Kleingruppen sind ihnen zufolge nicht statisch, starr und hierarchisch, sondern vernetzen sich fließend untereinander und mit ihrer Umwelt. In ihrem Werk wird diese Theorie belegt mit einer empirischen Analyse 23 von 20 Szenen, die europäische Jugendkulturen ab den 2000er Jahren (bis in die jüngere Gegenwartsgeschichte) nachhaltig prägten (Antifa; Black Metal; Cosplay; Demoszene; Gothic; Graffiti; Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0013 Wie westlich ist das frühe Christentum? 77 24 Vgl. zur Methode Hitzler/ Niederbacher, Szenen (s.-Anm.-10), 27. 25 Hitzler/ Niederbacher, Szenen (s.-Anm.-10), 27. 26 Hitzler/ Niederbacher (s.-Anm.-10), 25-34. 27 Zur Applikation des Modells Hitzler/ Niederbacher (s.-Anm.-10), 27-34. Hardcore; Hip-Hop; Indie; Gaming; Parkour; Punk; Rollenspieler; Skateboar‐ ding; Skinheads; Sportklettern; Techno; Ultras; Veganer; Warez). 24 Die ‚Kartografie‘ der Szenelandschaft auf der materiellen Basis von 20 hier zusam‐ mengetragenen, heterogenen Fallbeispielen soll als ein Versuch verstanden werden, eine Art Modell […] zu entwickeln. […] Eine derartige Szenen-‚Kartografie‘ setzt die Festlegung von Kriterien voraus, entlang derer Szenen beschrieben werden sollen. Dabei muss sich die Auswahl der Kriterien an die ‚Architektur‘ der Szenen anlehnen, was bedeutet, dass diese Kriterien im Forschungsprozess - immer wieder aufs Neue - zu reflektieren und gegebenenfalls zu ergänzen bzw. zu verändern sind. 25 Damit beschreiben Hitzler und Niederbacher nicht nur ihren methodischen Zugang hinter ihrem Modell, sondern legen auch klare Grenzlinien des Modells fest. 26 Sie setzen ein postmodernes Menschen- und Gesellschaftsbild voraus, das sich nach der europäischen Aufklärung entwickelt hat und beschränken ihre empirischen Analysen - also das Herzstück ihres Modells - und die empirischen Studien, die sie übernehmen, auf westliche Individualgesellschaften ab den 2000er Jahren. Ihre Erkenntnisse decken sich mit vergleichbaren Studien aus der westlichen Welt; sie können von daher eine gewisse Allgemeingültigkeit beanspruchen. Allerdings markieren die beiden Soziologen die Tragweite der auf empirischen Analysen basierenden Modelle klar und deutlich. 27 Ihr Modell umfasst acht Merkmale kleiner Gruppen und Gruppennetzwerke; diese Charakteristika beschreiben Demarkations- und Relationsphänomene zwischen Kleingruppen und ihrer Umwelt sowie innere Stabilisierungsmecha‐ nismen, die Kleingruppen innerhalb komplexer Milieugesellschaften trotz ihres fließenden, schwer abgrenzbaren Charakters identifizierbar machen. (1) Szenen als thematisch verbundene, soziale Netzwerke: Szenen sind keine sozial homogenen Entitäten, sondern bestehen als Netzwerk aus diversen, sozial-heterogenen Gruppierungen, die aufgrund eines gemeinsamen Interesses bzw. eines gemeinsamen Themas in einer Verbindung stehen. Eine Szene ist ein künstlich geschaffener Überbegriff für diverse Gruppierungen, die durch gemeinsame Inhalte, gemeinsame Symbole oder Sprache als Teil einer größeren Bewegung angesehen werden können. Die einzelnen Gruppierungen müssen nicht zwingendermaßen im Austausch zueinander stehen, sondern lassen sich nur durch thematische und habituelle Merkmale einem umbrella term Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0013 78 Michael Sommer 28 Vgl. dazu Hitzler/ Niederbacher (s.-Anm.-10), Szenen, 16-20. 29 Hitzler/ Niederbacher, Szenen (s.-Anm.-10), 20. 30 Hitzler/ Niederbacher, Szenen (s.-Anm.-10), 24. 31 Vgl. dazu Hitzler/ Niederbacher, Szenen (s.-Anm.-10), 154. 32 Vgl. dazu Hitzler/ Niederbacher, Szenen (s.-Anm.-10), 17f. 33 Hitzler/ Niederbacher, Szenen (s.-Anm.-10), 17. zuordnen. 28 „Gruppierungen werden offensichtlich vor allem dadurch zu einem Teil von Szenen, dass sie sich auf der Basis gemeinsamer Interessenlagen zu anderen Gruppierungen hin öffnen.“ 29 Die Inhalte und übergeordneten Ideen werden - so Hitzler und Niederbacher weiter - ortsabhängig von den Gruppierungen unterschiedlich realisiert. Die Gruppierungen müssen sich gegenseitig nicht zwingend akzeptieren, sondern können miteinander konkurrieren bzw. in ablehnender Haltung einander ge‐ genübertreten. „Gerade eine solche Unschärfe bzw. eine solche Offenheit und Durchlässigkeit macht Szenen aus.“ 30 Das Netzwerk einer Szene ist also nicht statisch, sondern in sich instabil und verändert sich stetig und in Abhängigkeit von den sozialen Interaktionen seiner einzelnen Gruppierungen. 31 (2)-Szenen als kommunikative Diskurse und kollektive Identitäten: Die inhalt‐ lichen und äußerlichen Merkmale einer Szenegruppierung legen die Mitglieder selbst fest. Eine Szene gestaltet sich selbst diskursiv, indem sie einen „Wir-Aus‐ druck“ konstruiert und die Merkmale ihrer Selbstwahrnehmung festlegt und Momente der Fremdwahrnehmung steuert. Traditionen, Erinnerungskulturen, Sprachspiele, Symbole sowie Performanzen, die die Gestalt einer Szene nach innen hin festlegen und nach außen hin unterscheidbar machen, entstehen in einem kommunikativen Akt des Austausches. Die Mitglieder legen fest, was sie stabilisiert und abgrenzbar macht. Sie produzieren Medien, um ihre kollektive Identität kommunizierbar zu machen. Die kollektive Identität einer Szene spiegelt nicht die soziale Realität ihrer einzelnen Splittergruppierungen wider. Vielmehr ist der inszenierte und medial gesicherte „Wir-Ausdruck“ einer Szene das thematische Verbindungsglied ihrer heterogenen Gruppierungen: 32 Im sinnlich erfassbaren Gebrauch szenetypischer Symbole, Zeichen und Rituale inszenieren diese ihre eigene Zugehörigkeit und konstituieren tatsächlich zugleich, sozusagen ‚beiläufig‘ die Szene. Vor allem in diesem Sinne lässt sich eine Szene mithin als Netzwerk von Personen verstehen, die bestimmte materiale und/ oder mentale Formen der kollektiven (Selbst-)Stilisierung teilen und diese Gemeinsamkeiten kom‐ munikativ stabilisieren, modifizieren oder transformieren. 33 (3) Fließende Grenzen der Szenegruppierungen: Hitzler und Niederbacher ent‐ werfen ihr Modell einer Szene im Rahmen einer Modellvorstellung einer Milieu‐ Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0013 Wie westlich ist das frühe Christentum? 79 34 Vgl. dazu Hitzler/ Niederbacher, Szenen (s.-Anm.-10), 18 f. 35 Hitzler/ Niederbacher, Szenen (s.-Anm.-10), 19. 36 Vgl. dazu Hitzler/ Niederbacher, Szenen (s.-Anm.-10), 17-19. 37 Vgl. dazu Hitzler/ Niederbacher, Szenen (s.-Anm.-10), 18. gesellschaft. Sie beschreiben die Gruppierungen einer Szene als offene Gebilde, die sich mit anderen Diskursen und Gruppierungen eines sozialen Raumes überschneiden. Szenegruppierungen bilden sich nicht auf der Grundlage der formalen Mitgliedschaft ihrer Mitglieder, sondern dadurch, dass Menschen gewisse Diskursregeln befolgen. Deshalb stehen Szenen, wenn es die Diskurs‐ regeln erlauben, allen Mitgliedern einer Gesellschaft offen; sie bilden den Querschnitt des sozialen Gefälles ihrer Umwelt ab, bieten aber ihren Mitgliedern die Möglichkeiten, soziale Hierarchien ihres Alltagslebens neu zu schreiben. 34 Auf eine zuverlässigere Basis des Umgangs miteinander, wie etwa die Herkunft der beteiligten Personen, deren Berufe, deren Bildung oder deren (szenetranszendente) Besitzverhältnisse zu rekurrieren, ist im Szene-Alltag in der Regel wenig hilfreich. Das heißt, das „Wir“(-Bewusstsein) konstituiert sich eben nicht aufgrund vorgängiger gemeinsamer Standes- und Lebenslagen-Interessen, sondern aufgrund des Glaubens an eine gemeinsame Idee bzw. aufgrund der (vermeintlichen) Bestätigung der tatsäch‐ lichen Existenz dieser gemeinsamen Idee durch bestimmte Kommunikationsformen und/ oder kollektive Verhaltensweisen. 35 (4) Dynamiken einer Szene: Im Gegensatz zu den kollektiven Identitäten von Szenen, die i. d. R. der Bewegung eine gewisse Stabilität und Statik zuschreiben, sind Szenen sehr labile soziologische Gebilde. Sie verändern ihre Gestalt und ihr soziales Gefälle stetig; auch die Adaption der kollektiven Identität einer Szene in ihren einzelnen Splittergruppierungen folgt keiner Regelmäßigkeit. Szenen entwickeln sich ständig weiter, passen sich an oder sterben aus. 36 (5) Abgrenzungsphänomene: Eine Szene kreiert durch ihre kollektive Identität gleichzeitig eine Grenzlinie, die sie von der Außenwelt unterscheidbar macht und Mitgliedern eine Weltsicht für das Eigene und das Fremde vermittelt. Diese Demarkation besteht jedoch nur auf einer diskursiven Ebene. Eine Abgrenzung der Szene von ihrer Umwelt tritt dann in Kraft, wenn sich Szenegruppierungen treffen und Grenzlinien inszenieren. Sobald sich das Zusammentreffen auf‐ löst und die Mitglieder in ihr Alltagsleben zurückkehren, verschwimmen die Konturen der Demarkation. Die Grenzlinien verschwinden, wenn sich ein Szenetreffen auflöst. 37 Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0013 80 Michael Sommer 38 Hitzler/ Niederbacher, Szenen (s.-Anm.-10), 18. 39 Hitzler/ Niederbacher, Szenen (s.-Anm.-10), 19. 40 Vgl. dazu Hitzler/ Niederbacher, Szenen (s.-Anm.-10), 18-21. 41 Vgl. dazu Hitzler/ Niederbacher, Szenen (s.-Anm.-10), 19f. Szenen sind im schlichten Wortsinn „Inszenierungsphänomene“, denn sie manifes‐ tieren sich für Szenegänger und für Außenstehende nur insofern, als sie „sichtbar“ sind - an Orten, an denen Kommunikation und Interaktion stattfinden. 38 (6) Temporale Teilzeit und Fluktuation: Durch den performativ-diskursiven Charakter von Szenen haben sie Teilzeitcharakter. Sie existieren nur, wenn sich Mitglieder bewusst dazu entschließen, Zeit zu investieren und Ideen der Szene zu realisieren bzw. weiterzuentwickeln. Phasen des Engagements sind für Mitglieder unstetig und wechseln abhängig von ihren Lebensphasen. Wir-Gefühle [werden] nur im Rahmen der konstituierten Szene (re-)produziert. Nun ist Szene-Engagement aber eben symptomatischerweise ein Teilzeit-Engagement. Dazwischen befinden sich Phasen der Engagiertheit in anderen Lebensbereichen, sei es in Ausbildung, Beruf, Familie oder einer anderen Szene. Während dieser Zwischenphasen ist das Bewusstsein der Zugehörigkeit zu der einen Szene oft nur latent vorhanden. 39 (7)-Szenen bilden die soziale Zusammensetzung einer Gesellschaft ab: Die Partizi‐ pation an Szenen ist i. d. R. unabhängig vom sozialen Status und von den sozialen Hintergründen. Eine Szene steht allen offen, die Zeit investieren und Diskurs‐ regeln befolgen. Dementsprechend betonen Hitzler und Niederbacher, dass eine Szene den Querschnitt einer Gesellschaft abbilden kann. Es können sich in Sze‐ negruppierungen Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus, Wohlstandsverhältnissen und unterschiedlichem Bildungsstand begegnen. 40 (8) Heterogene Hierarchie: Szenen sind i. d. R. hierarchisch organisiert; Führungsrollen werden abhängig von der Intensität des Engagements und von der repräsentativen Performanz der Mitglieder verteilt. Es gibt Kern- und Randfiguren sowie Grenzgänger und Freunde, die einer Gruppierung nur nahestehen, ohne sich ihr anzuschließen. I. d. R. legt jede einzelne Gruppe vor Ort ihre sozialen Hierarchien selbst fest bzw. verändert sie, wenn dies notwendig ist. Das Autoritätsgefälle innerhalb einer Splittergruppe ist meist ortsgebunden. Die Gruppierungen einer Szene müssen die Autoritäten der jeweils anderen Gruppierungen nicht akzeptieren bzw. können diese sogar komplett ablehnen. Hitzler und Niederbacher gehen davon aus, dass sich Machtstrukturen in einzelnen Gruppierungen sowohl überschneiden als auch miteinander konkurrieren können. 41 Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0013 Wie westlich ist das frühe Christentum? 81 42 Philip F. Esler, Response to Part 1. Theoretical Perspectives on the Stratification of Wealth, Power, and Status in the Ancient Mediterranean World, in: Anthony Keddie/ Michael Flexsenhar III/ Steven J. Friesen (Hg.), The Struggle over Class. Socioeconomic Analysis of Ancient Christian Texts (Writings from the Greco-Roman World, Supple‐ ment-19), Williston-2021, 149-160, hier 149. 43 Hernitscheck, Meta-Analyse (s.-Anm.-6), 297. 44 Hernitscheck, Meta-Analyse (s.-Anm.-6), 37. 45 Hernitscheck, Meta-Analyse (s.-Anm.-6), 37. 3. Ist das frühe Christentum eine westliche Szene? - ein kritischer Vergleich von Sprachspielen und Denkmustern soziologischer und historischer Narrative Nach diesem Blick auf die empirische Forschung zu Kleingruppen sowie ihren sozialen Relationen in westlichen Gesellschaften, soll bewusst ein Perspektiven‐ wechsel erfolgen. Wir betrachten Modellvorstellungen zur Sozialisation und Verbreitung frühchristlicher Gruppierungen und sensibilisieren uns für Paral‐ lelen zwischen Geschichtsbildern und empirischen Sozialmodellen. Auch wenn in diesem Rahmen nur ein oberflächlicher Vergleich vorgenommen werden kann, so zeigen sich doch starke Parallelen auf struktureller und sprachlicher Ebene zwischen der Entwicklung der soziologischen Kleingruppenforschung und den Frühchristentumsmodellen. Auch wenn sich hier kaum Vollständigkeit erzielen lässt und der dargelegte Vergleich nur exemplarischen Charakter haben kann, stechen Ähnlichkeiten deutlich ins Auge. Die Christentumsforschung blickt durch die Linse frühchristlicher Quellen auf die westliche Welt. Dabei ist P. F. Eslers Programm sicher zuzustimmen, der in einer kritischen Ausein‐ andersetzung mit Sozialtheorien der Christentumsforschung zur Überzeugung kommt: „It is useful to begin by reflecting on what we are doing when we try to apply a modern theoretical construct […] to ancient data […].“ 42 So räumt Elisabeth Hernitscheck in ihrer Metareflexion ein, dass die „Idee eines pluriformen Christentums […] vor dem Hintergrund einer pluralen Gesell‐ schaft zu sehen“ 43 ist und dass „Geschichtsbilder Orientierungsbedürfnisse und Wertvorstellungen der jeweiligen Gegenwart reflektieren.“ 44 Sie folgert weiter: „Ohne der heute so wichtigen Kategorien des Pluralismus, Individualismus und Subjektivismus wären derartige Modelle vom frühen Christentum und auch das Nachdenken über den (positiv besetzten) Begriff der Diversität wohl kaum vorstellbar.“ 45 Damit legitimiert Hernitscheck einen kritisch-wertschätzenden Vergleich zwischen Modellen des frühen Christentums und den Modellen jener Wissenschaften, die den gesellschaftlichen Wandel und davon abhängige soziale Mechanismen legitimieren. Sicherlich zeigen die in Sammelbände Stefan Alkier/ Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0013 82 Michael Sommer 46 Stefan Alkier/ Hartmut Leppin (Hg.), Juden - Christen - Heiden. Religiöse Inklusion und Exklusion in Kleinasien bis Decius (WUNT-I/ 400), Tübingen-2018. 47 James C. Paget/ Judith Lieu (Hg.), Christianity in the Second Century. Themes and Developments, Cambridge-2017. 48 Vgl. dazu ausführlicher den lesenswerten Beitrag Stefan Alkier, Identitätsbildung im Medium der Schrift, in: Marianne Grohmann (Hg.), Identität und Schrift. Fortschrei‐ bungsprozesse als Mittel religiöser Identitätsbildung, Göttingen 2017, 105-161, hier 141. 49 Jörg Rüpke, Religion und Gruppe. Ein religionssoziologischer Versuch zur römischen Antike, in: Brigitte Luchesi/ Kocku von Stuckrad (Hg.), Religion im kulturellen Diskurs. Religion in Cultural Discourse. Festschrift für Hans G. Kippenberg zu seinem 65. Ge‐ burtstag. Essays in Honor of Hans G. Kippenberg on the Occasion of His 65 th -Birthday (RVV 52), Berlin/ New York 2004, 235-257, 238; Jörg Rüpke, Integrationsgeschichten. Gruppenreligionen in Rom, in: Jörg Rüpke (Hg.), Gruppenreligionen im römischen Reich. Sozialformen, Grenzziehungen und Leistungen, (STAC 43), Tübingen 2007, 113- 126, hier 118f. Hartmut Leppin „Juden - Heiden - Christen? “ 46 und James C. Paget/ Judith Lieu, „Christianity in the Second Century“ 47 in ihren Einführungen an, dass sich Diversitätsmodelle in der europäischen und amerikanischen Christentumsfor‐ schung nicht mehr wegzudenken sind. Stefan Alkiers Gedanke, das Christentum in der Antike als einen umbrella term zu verstehen, wird sicherlich von vielen Forschenden geteilt. 48 Schlagworte und Leitthemen wie soziale Netzwerkstruk‐ turen, Diversität, diskursive Erzeugung kollektiver Identität und rhetorischer Abgrenzungsstrategien mittels Textproduktion, Teilzeitcharakter, offene und fließende Gruppengrenzen begegnen in der jüngeren Forschungsliteratur regel‐ mäßig; ihre auf der Leseweise frühchristlicher Texte basierenden Modelle be‐ dienen sich der Sprachspiele und Denkmuster jüngerer Kleingruppenforschung, deren Modelle auf der Analyse moderner, westlicher Milieugesellschaften ba‐ sieren. Jörg Rüpke und David Brakke reflektieren dies sogar, insofern sie in ihrer Fuß- und Endnotendiskussion auf die soziologischen Modelle verweisen, deren Sprachspiel sie für ihre Geschichtsbilder rezipieren. Jörg Rüpke übernimmt aus der empirisch-soziologischen Diskussion der 1990er Jahre die Definition einer Gruppe ohne statische und starre Grenzen, die sich durch einen Kommunikati‐ onsprozess herausbildet: Der Begriff der Gruppe ist ein soziologisches Konzept, das relativ einfach empirisch einzusetzen ist. Eine Gruppe ist zu verstehen als eine begrenzte Anzahl von Menschen, die miteinander kommunizieren und dadurch aufeinander einwirken; dieses Gemein‐ schaftshandeln weist ein Minimum an Regelhaftigkeit und Dauerhaftigkeit auf. 49 Auch in der angloamerikanischen Forschung begegnet ein ähnliches Ver‐ ständnis, insofern David Brakke sein Modell frühchristlicher Gruppen und ihre Vernetzung mit ihrer Umwelt folgendermaßen beschreibt: „People and Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0013 Wie westlich ist das frühe Christentum? 83 50 David Brakke, The Gnostics. Myth, Ritual, and Diversity in Early Christianity, Cam‐ bridge-2010, 10. 51 Brakke, Gnostics (s.-Anm.-50), 12. 52 Brakke, Gnostics (s.-Anm.-50), 12. 53 Karen L. King, Which Early Christianity? , in: Susan Ashbrook Harvey/ David G. Hunter (Hg.), The Oxford Handbook of Early Christian Studies, Oxford-2008, 66-84, hier 73. ideas travel back and forth and all around socially and intellectually.“ 50 Brakke führt seine Idee fort, insofern er aus der soziologischen Kleingruppenforschung ein sprachliches und gedankliches Subkulturmodell übernimmt, das in der jüngeren Forschung selbst in die Kritik geraten ist. Er reflektiert über „ways that dominate and subordinate cultures mutually interact and create new cultural forms“, 51 wenn er über das frühe Christentum spricht, und argumentiert, dass „religious symbols and social practices combine to form integrated subcultures in which people find meaning.“ 52 Beide Autoren, sowohl David Brakke als auch Jörg Rüpke, die ohne jeden Zweifel großen Einfluss auf die Fachkultur der Christentumsforschung hatten und haben, unterstreichen, dass westliche Modelle der empirischen Soziologie die Basis ihrer Geschichtskonzeptionen bilden. Blicken wir von diesem Punkt aus etwas breiter auf die Fachkultur, so begegnen zahlreiche Parallelen. So basieren die Modelle von Karen L. King und Jörg Rüpke beide auf der Voraussetzung, zwischen der soziologischen Gestalt antiker religiöser Gruppierungen und ihrer kollektiven Identität, die ihre von ihnen produzierten und gebrauchten Medien konstruieren, zu unterscheiden; Karen King definiert einen frühchristlichen Diskurs, der zur sprachlich-me‐ dialen Etablierung einer kollektiven Identität dient, und trägt dabei acht Punkte zusammen, die an Hitzler und Niederbachers Modellvorstellung erinnern: It aims to understand the discursive strategies and processes by which early Christians developed notions of themselves as distinct from others within the Mediterranean world (and were recognized as such by others), including the multiple ways in which Christians produced various constructions of what it means to be Christian. Methodo‐ logically, it is oriented toward the critical analysis of practices, such as producing texts; constructing shared history through memory, selective appropriation, negotiation, and invention of tradition; developing ritual performances such as baptism and meals; writing and selectively privileging certain theological forms (e. g., creeds) and canons; forming bodies and gender; making place and making time; assigning nomenclature and establishing categories; defining „others“ and so on. 53 Neben der Textproduktion produzierten Christen gemeinsame Traditionen und Erinnerungsstrukturen, legten Genderrollen mittels Erzählungen fest, beschrieben religiöse Praktika und Performanzen, die beim Vollzug einer Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0013 84 Michael Sommer 54 Jörg Rüpke, Religiöse Identitäten. Topographische und soziale Komponenten, in: Martina Böhm (Hg.), Kultort und Identität. Prozesse jüdischer und christlicher Identi‐ tätsbildung im Rahmen der Antike (BThSt-155), Göttingen-2016, 19-43. 55 Rüpke, Identitäten (s.-Anm.-54), 42. 56 Vgl. Lewis Ayres, Continuity and Change in Second-Century Christianity. A Narrative against the Trend, in: Paget/ Lieu, Christianity in the second Century (s. Anm. 47), 106-121. 57 Vgl. Cavan W. Concannon, Assembling Early Christianity. Trade, Networks, and the Letters of Dionysios of Corinth, Cambridge-2017. 58 Vgl. Anna Collar, Religious Networks in the Roman Empire. The Spread of New Ideas, Cambridge-2013. 59 Vgl. Greg Woolf, Only Connect? Networks and Religious Change in the Ancient Mediterranean World, in: Hélade 2 (2009), 43-58; Greg Woolf, Empires, Diasporas and the Emergence of Religions, in: Paget/ Lieu (Hg.), Christianity in the Second Century (s.-Anm.-47), 25-38. Gruppierung innere Stabilität verliehen, beschrieben räumliche und zeitliche Versammlungsmöglichkeiten und konstruierten Feindbilder und Grenzlinien nach außen. Jeder einzelne dieser Punkte spiegelt sich auch in Beschreibungen neuzeitlicher Szeneidentitätskonstruktionen wider. Jörg Rüpke folgert, dass die Produktion kollektiver Identitäten durch diskursiv bestimmte Meinungsführer erfolgt und die Vermittlung des medialen „Wir-Ausdrucks“ in Netzwerken verläuft. 54 Gerade die Meinungsführer, deren Autorität auf der Stärke der auf sie bezogenen kollektiven Identität der Angesprochenen beruht, verfassen Texte; gerade Texte, die die kollektive Identität stark machen, haben Chancen, innerhalb eines Netzwerkes oder einer Institution tradiert zu werden. 55 Gedanken zur Kommunikation kollektiver Identitätsstiftungsangebote durch Netzwerke im frühen Christentum verbreiteten sich in der jüngeren For‐ schungsgeschichte schlagartig (Lewis Ayres; 56 Cavan W. Concannon; 57 Anna Collar; 58 Greg Woolf 59 ). King ist der Überzeugung, dass sich in den diversen und heterogenen Gruppierungen mittels eines Netzwerks ein gemeinsames Sprachspiel einer kollektiven Identität verbreitete, das Gruppierungen je unter‐ schiedlich adaptierten und ausgestalteten, um innere und äußere Grenzlinien zu konstruieren: We see notable continuity with well-known Christian rhetoric used to define boun‐ daries between themselves and others, argue for construct a relationship to Jewish Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0013 Wie westlich ist das frühe Christentum? 85 60 Karen King, The Gnostic Myth. How does its Demise impact Twenty-first Century Historiography of Christianity’s Second Century? In: James Carleton Paget/ Judith Lieu (Hg.), Christianity in the Second Century. Themes and Developments, Cambridge 2017, 123-136, 133. 61 Woolf, Empires (s.-Anm.-59), 27. 62 Stefan Alkier, Einleitung. Juden, Christen, Heiden? , in: Alkier/ Leppin, Juden - Christen - Heiden (s.-Anm.-46), 1-18, hier-7. scripture and tradition. And yet, they do not always employ these polemics in the same ways, to the same ends, or against the same „opponents“. 60 Und Greg Woolfe sieht in der Struktur des römischen Reiches ideale Bedin‐ gungen, dass sich über Reise- und Handelsrouten Netzwerke für den ideellen Austausch von Ideen herausbilden konnten. Traffic across the Romano-Persian border was easy and ideas, images and ritual practices were easily transferred to and from central Asia, northern India and beyond. Greek representational styles had already been imitated in Gandhara and beyond the Oxus. Buddhist maxims appear from central India to what is now Afghanistan. There were Jewish communities scattered from Rome to Babylonia, and perhaps beyond. Along Rome’s long temperate European frontier, local deities were repeatedly hybridized and interpreted in Roman terms. For some historians it is primarily this increased movement of traders, soldiers and slaves that explains the appearance in Italy and in Rome’s western provinces of dedications and temples to deities originating in Asia Minor, Syria, Palestine and Egypt. People moved - rather than religions - and took with them their ancestral gods. 61 Ebenso scheinen Aussagen über das Verhältnis zwischen christlichen Gruppie‐ rungen und ihrer Umwelt Parallelen aufzuweisen mit der jüngeren Kleingrup‐ penforschung. Die Idee, dass die Grenzen sozialer Gruppierungen fließend ineinander übergehen, weil Individuen an vielen verschiedenen Gruppen einer Gesellschaft teilhaben, die Diversität der Mehrheitsgesellschaft sich dadurch auch in Kleingruppen abbildet, findet sich auch in der Christentumsforschung. Stefan Alkier schreibt: „Die Diversität der kleinasiatischen Gesellschaft wie die des Imperium Romanum im Ganzen verbindet sich mit der Diversität christlicher Gemeinschaften und Individuen, die ein Teil dieser Gesellschaft waren.“ 62 Judith Lieu blickt auf die Forschungsgeschichte zurück, um diesen von Stefan Alkier markierten Wandel der Forschungslandschaft darzustellen, und deutet gleichzeitig an: Already at the beginning of the century, some members of the so-called Chicago School were keen to challenge the tendency to treat doctrinal ideas as abstract Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0013 86 Michael Sommer 63 Judith Lieu, Laboratory. Modelling the Second Century as the Age of the Laboratory, in: Paget/ Lieu, Christianity in the second Century (s.-Anm.-47), 294-308, hier-294f. 64 Vgl. dazu ausführlicher Anthony Keddie, Introduction. The Struggle over Class in the Study of Early Christianity, in: Keddie/ Flexsenhar III/ Friesen, The Struggle over Class (s.-Anm.-42), 1-50. and absolute, and instead sought to emphasise the social dynamics that shaped early Christianity. Among others, Shailer Mathews and Shirley Jackson Case were determined to understand the emergence and development of Christianity within the social and cultural conditions of its time. However, in practice their accounts worked within the then prevailing models of ‘Judaism versus Hellenism’, of the focal role of Gnosticism, and perhaps most significant for present purposes, of a process of organic evolution in which ‘Christianity’ remained an active and monochrome subject. 63 Beide deuten an, was Elisabeth Hernitscheck als Ausgangsbasis ihrer Metarefle‐ xion postuliert hat: Dynamische Modelle des frühen Christentums entwickelten sich parallel zur Dynamik der Gesellschaft, die sie produzierte. Gleichzeitig manifestierte sich ein sozioökonomischer Wandel in den Geschichtsmodellen der antiken Welt, der sicherlich den Erfolgszug der Kleingruppenmodelle be‐ günstigte. Mit den Arbeiten von Wayne Meeks und Gerd Theißen, die die Sozialgeschichte über lange Strecken prägten, verabschiedeten sich von Marx geprägte Ideen hierarchischer Gesellschaftsklassen in der Antike zu Gunsten von dynamischeren Status- und Milieumodellen. 64 Durch diese Akzentverschie‐ bung wurde begünstigt, dass Kleingruppenmodelle, die in einem hierarchischen Gesellschaftsmodell rein logisch nicht funktionierten, von der Forschung adap‐ tiert werden konnten. 4. Jenseits des Vergleichs - Wie westlich ist das frühe Christentum? Was können wir lernen? Ein Vergleich zwischen den Modellen des frühen Chris‐ tentums und der empirischen Kleingruppenforschung zeigt nicht nur, wie stark westlich gefärbt Vorstellungen und Konzeptionen des frühen Christentums sind. Vielmehr erlaubt diese postkoloniale Perspektive eine kritische Neubewertung öffentlichkeitspräsenter Stereotypen und Meinungen über die Ursprünge des Christentums. Denn westliche Diversitätsmodelle begegnen nicht nur in jün‐ geren akademischen Publikationen. Viele der Erkenntnisse der frühchristlichen Diversitätsmodelle sind bereits, wohl über Hand- und Lehrbuchtraditionen vermittelt, öffentlichkeitswirksam rezipiert worden. Blicken wir beispielsweise auf das Bildungsfernsehen, so begegnen in Formaten über die Anfänge des frühen Christentums zumindest in Ansätzen Spuren frühchristlicher Diversität. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0013 Wie westlich ist das frühe Christentum? 87 65 Das Vermächtnis der ersten Christen. Petra Gerster auf den Spuren der Urgemeinde. Ein Film von Daniel Sich und Stephan Koester, 2013 (https: / / programm.ard.de/ TV/ p hoenix/ das-vermaechtnis-der-ersten-christen/ eid_28725186984599; letzter Zugriff am 07.08.2023). 66 Keddie, Introduction (s.-Anm.-64), 5. 67 Vgl. dazu Hernitscheck, Meta-Analyse (s.-Anm.-6), 37. Auch wenn sich TV-Produktionen wie z. B. Das Vermächtnis der ersten Christen mit Petra Gerster 65 nicht der komplexesten Diversitätsmodelle bedienen, so vermitteln sie dennoch den Eindruck einer pluriformen Ausdifferenzierung frühchristlicher Identität, wahrscheinlich weil sie (vermutlich) auf westlichen Lehrbuchtraditionen basieren. Die populären Meinungen über die Anfänge des frühen Christentums spiegeln westliche Kulturen wider. Schon allein deshalb ist eine Reflexion dieser Modelle für die theologische Praxis unabdingbar, weil sie in mehr oder minder stark ausgeprägter Form bereits ins öffentliche Bewusstsein eingedrungen sind. Eine Diskussion über die Herkunft, Chancen und Grenzen dieser Modelle ist deshalb mehr als angebracht. Ein Vergleich zwischen den Klein- und Kleinstgruppenmodellen der empi‐ rischen Soziologie und zumindest einem Querschnitt der wichtigsten Diver‐ sitätsmodelle des frühen Christentums lässt deutliche Parallelen erkennen. Die Parallelen zeigen sich nicht nur auf struktureller Ebene, sondern ebenso sprachlich. Es scheint, als ob Diversitätsmodelle aus dem deutschen und dem an‐ gloamerikanischen Sprachraum Begriffe aus der Soziologie angewandt haben, um ihre Interpretation antiker Quellen in ein narratives Gerüst eines antiken Sozialraums und dessen Mikrostrukturen zu übersetzen. Das betrifft jedoch nicht nur die Gruppenstrukturen des frühen Christentums, sondern auch - wie jüngst der Sammelband von G. Anthony Keddie, Michael Flexsenhar III. und Steven J. Friesen gezeigt hat - auch den makroökonomischen Sozialraum der Antike, in dem sich das frühe Christentum entwickelt hat: „Therefore, there is no question that scholars […] rely on modern definitions“ 66 . Hernitscheck hat mit ihrer Vermutung dementsprechend nicht unrecht; Modelle des frühen Christentums, die sich in der gegenwärtigen Forschungslandschaft finden, spiegeln die Gesellschaft, aus der sie stammen. 67 Das ist zunächst keine wertende Erkenntnis, weil diese Korrelation zwischen Geschichte und Gegenwart unver‐ meidbar ist. Menschen können sich nicht vollkommen von den Kategorien, Denkmustern und Sprachmöglichkeiten ihrer Lebenswelt lösen, um zu einer objektiven Metaebene einer wertneutralen Thesenbildung durchzudringen. Jedoch sagen diese starken Parallelen etwas über den Eurozentrismus der For‐ schungsgeschichte aus. Die Modelle, die sich in der gegenwärtigen Forschungs‐ landschaft breit durchgesetzt haben, ermöglichen es zwar, einer komplexen und Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0013 88 Michael Sommer 68 Vgl. Daniëlle Slootjes, Response to Part 5. Reflections on Class in Late Antiquity, in: Keddie/ Flexsenhar III/ Friesen, The Struggle over Class (s. Anm. 42), 419-434, hier 431. diversen Quellenlandschaft gerecht zu werden (zumindest gerechter als simple Modelle). Jedoch können sie nicht den Anspruch erheben, Geschichte objektiv darzustellen. Sie spiegeln die Lebenswelt, aus der sie stammen, wahrscheinlich in einem höheren Grade, als dass sie antiken Lebenswelten gerecht werden können. Und dennoch sind sie hilfreich, solang man ihre Grenzen kennt, ihre Herkunft kritisch reflektiert und sich dessen bewusst ist, dass sie nicht die einzigen Modelle für eine Auslegung biblisch gewordener Texte sein können. Gerade die empirische Soziologie macht dies deutlich, weil sie die historische Tragweite ihrer Modelle schon alleine durch ihre empirische Eingrenzbarkeit auf einen sozialen Ort und einen Zeitraum beschränkt. Sie als Blaupause für ein Narrativ des frühen Christentums heranzuziehen, ist zwar möglich, allerdings kann dies nur in einem Bewusstsein geschehen, dass die Modelle in erster Linie dabei helfen, Quellen zu ordnen. Sie liefern Sprache für Geschichte, vermögen es aber mit Sicherheit nicht, Vergangenheit ungebrochen darzustellen. Die wahre Gestalt des frühen Christentums und seiner soziologischen Ausbreitung bleibt wohl in der Vergangenheit. Warum ist ein Nachdenken über die Modelle des frühen Christentums und ihre westliche Prägung für die Praxis von Religionslehrer: innen in der Schule, pastorale Mitarbeiter: innen in der Gemeinde und Lehrende in der Erwachsenen‐ bildung genauso notwendig wie für Forscherpersönlichkeiten, die aus Quellen Geschichte konstruieren? Gerade weil uns der Vergleich mit den empirischen Modellen der Soziologie gezeigt hat, dass Geschichte ein subjektives Konstrukt ist, schützt diese Erkenntnis vor fundamentalistischen Annäherungen an die Welt der Bibel. We constantly have to check the way in which we apply modern terminology to the ancient world, as it is almost always part of larger modern discussions on issues that our current society is trying to come to grips with. 68 Kein Geschichtsnarrativ der Welt, und zumal keine westlichen Narrative, die sich aufgrund der Dominanz westlicher Wissenschaftsmodelle innerhalb der theologischen Forschung leichter verbreiten konnten als andere, können für sich behaupten, das einzig legitime und wahre zu sein. Geschichte ist keine in sich geschlossene Form, sondern ein konstruierter Lernort, der ohne Gegenwartsbezug und ohne Bewusstsein für die Bedingtheit der Gegenwart wohl kaum sinnvoll ist. Geschichtliche Rückfragen in der Theologie können sich alleine hinter ihrem Auftrag verstecken, die geschichtliche Dimension der Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0013 Wie westlich ist das frühe Christentum? 89 Offenbarung wahrzunehmen. Vielmehr führt ein Blick auf die Geschichte dazu, gegenwärtige und als selbstständig an- und hingenommene Strukturen der Kirche konstruktiv zu hinterfragen. Geschichte dient der Prävention vor der Manifestation gefährlicher Machtstrukturen und -traditionen genauso wie dem nachhaltigen Abbau von Stereotypen und Klischees. Und dies sollte zu den Auf‐ gaben und Standards einer verantwortungsvollen und zeitsensiblen Theologie gehören, egal ob sie in den Hörsälen der Akademie, in den Schulklassen oder in den Praxisstätten der theologischen Bildung stattfindet. Michael Sommer studierte Katholische Theologie an der Uni Regensburg, wo er 2013 mit einer Arbeit zur Johannesoffenbarung promoviert und 2020 mit einer Untersuchung über Witwen im frühen Christentum ha‐ bilitiert wurde. Von 2014 bis 2020 war er Juniorprofessor an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; er lehrte und forschte als Lehrstuhl- und Professurvertreter in München, Duisburg-Essen und Regensburg und hatte Gastprofessuren in Hildesheim und Hannover. Seit 2023 ist er Professor für Exegese und Theologie des Neuen Testaments an der Goethe-Universität Frankfurt a.-M. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0013 90 Michael Sommer Kontroverse Postcolonial Studies und das Neue Testament Einleitung in die Kontroverse Michael Sommer Die vorliegende Kontroverse stellt sich der Frage, welche Chancen postkolo‐ niale Perspektiven für die Bibelwissenschaften beherbergen. Die beiden Beitra‐ genden, Stefan Alkier und Roland Deines, unterscheiden sich dabei weniger in ihrem Gesamturteil - beide halten postkoloniale Ansätze für zwingend notwendig und sehen darin einen enormen Gewinn für die Bibelwissenschaften -, denn in ihren Begründungszusammenhängen. Roland Deines reflektiert in seinem Plädoyer für postkoloniale Kritik die Gefahr, dass das Neue Testament selbst zum Ort der Kolonialisierung werden kann. Er beleuchtet imperialistische Machtstrukturen westlicher Weltdeutungssysteme und sieht die Aufgabe der postkolonialen Kritik vordergründig darin, „dieses Versteckspiel der Mächtigen hinter dem von ihnen präferierten Guten aufzudecken“ (R. Deines). Sein Zu‐ gang sieht die Wissenschaften im Zugzwang, ihre Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen und ihren Anspruch auf universelle Gültigkeit abzubauen. Stefan Alkier streift hingegen mit einer grundlegenden Unterscheidung zwi‐ schen Postcolonial Studies und postkolonialer Theorie, die vornehmlich an US-amerikanischen Universitäten entwickelt wurde und auf der Rezeption fran‐ zösischer Sozial- und Literaturwissenschaften basiert, das Grundsatzproblem, wie westlich geprägt die Forschungsrichtung ist. Obwohl er die Beschäftigung mit den postkolonialen Theorien für lohnenswert hält, führt Alkier in Alter‐ nativen dazu ein. Die große Leistung postkolonialer Ansätze sieht er darin, die - für ihn positiv konnotierte - Standortgebundenheit und Pluralität der Wissenschaft zu verdeutlichen. Anstelle eines eingleisigen Abbaus eines von der Aufklärung inspirierten westlichen Denkens tritt bei Alkier eine grundlegende Wertschätzung der Vielfältigkeit menschlicher Weltdeutungen, weshalb er in seinem Beitrag als einen unhintergehbaren Weg der Wahrheitssuche einfordert, „Interesse an dem zu haben, was andere sehen, denken und sagen.“ (S. Alkier). Beide Dialogpartner verdeutlichen nicht nur die Notwendigkeit postkolonialer Exegese, sondern führen in die Vielschichtigkeit und die kontroversen Zugänge dieses Forschungsfeldes ein. 92 Michael Sommer 1 Drei Vorbemerkungen: 1. Ich gehe davon aus, dass die Genese des Postcolonial Criticism und seiner vielfältigen Anliegen und Querverbindungen in diesem Heft an anderer Stelle dargestellt wird. Meine eigenen Bemerkungen sind darum als erste Überlegungen im Gespräch mit dieser neuen ‚Methode‘ der Bibelauslegung zu sehen, die keinen Anspruch erheben, umfassend zu sein. Dass es sich um keine eigentliche Methode handelt, wird von Vertretern desselben selbst hervorgehoben, vgl. z. B. Simon Wiesgickl, Gefangen in uralten Phantasmen. Über das koloniale Erbe der deutschen alttestamentlichen Wissenschaft, in: Andreas Nehring/ Simon Wiesgickl (Hg.), Postkoloniale Theologien II. Perspektiven aus dem deutschsprachigen Raum, Stuttgart 2018, 171-185: Es geht bei „postkolonialen Zugänge[n]“ nicht primär um „neue[] Hypothesen oder alternative Lesarten“, sondern um eine „Verunsicherung“ der bestehenden (westlichen) Exegese (184). 2. Wie diese Fußnote bereits deutlich macht („Vertreter“), verwende ich das generische Maskulinum, weil es die meiner Überzeugung nach am wenigsten ideologische und damit ‚bemächtigende‘ Diktion ist. 3. Ich schreibe diesen Beitrag als Professor einer privaten theologischen Hochschule, die zu einem großen deutschen Missionswerk gehört, das bis heute missionarische Mitarbeiter an Kirchen weltweit vermittelt, die in Gemeindegründung, Gemeindeaufbau und theologischer Lehre tätig sind. Die Anfrage, diesen Beitrag zu übernehmen, kam während meines eigenen Aufenthalts an der Evangelical University of Zambia, wo ich als älterer weißer Mann schwarze sambische Schwestern und Brüder unterrichtet habe. Postcolonial Studies - Über Risiken und Nebenwirkungen eines notwendigen Nachdenkens 1 Roland Deines Ein erster Eindruck: Sieht man sich die Tagungs- und Veröffentlichungspro‐ gramme der Society of Biblical Literature an, dann entsteht der Eindruck, dass das Methodenspektrum, zu dem die Postcolonial Studies gehören, ein absolutes „must have“ ist. Ein Eintrag ins Suchfenster der SBL-Website ergibt knapp 700 Resultate seit 2013. Dieses Ergebnis rangiert knapp vor Queer Studies und deutlich vor LGBTQ*, aber auch vor „fundamentalism“ und etwas weniger stark vor „evangelical“. Trotzdem wirft Andrew Mbuvi der SBL vor, nach wie vor in erster Linie „white and male“ zu sein (und damit zumindest den äußeren Merkmalen nach zu denen zu gehören, die „imperialistic and colonizing biases“ perpetuieren), während die „non-white, non-Euro-American groups“, die als 2 Andrew M. Mbuvi, African Biblical Studies. Unmasking Embedded Racism and Colo‐ nialism in Biblical Studies, London 2023, 8f. 3 Zu dieser Entwicklung s.-besonders die Kapitel-3,-4-und-6 in: Ulrich Luz, Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments, Neukirchen-Vluyn 2014; Arie van der Zwiep, Bible Hermeneutics from 1950 to the Present. Trends and Developments, in: Oda Wischmeyer (Hg.), Handbuch der Bibelhermeneutiken. Von Origenes bis zur Gegenwart, Berlin/ New York 2016, 933-1008; Simon Wiesgickl, Das Alte Testament als deutsche Kolonie. Die Neuerfindung des Alten Testaments um-1800 (BWANT-214), Stuttgart 2018, 95-98. 4 Wiesgickl, Das Alte Testament als deutsche Kolonie (s.-Anm.-3), 21. 5 Für eine erste Zusammenfassung mit exemplarischen Textbeispielen s. Anna Runesson, Exegesis in the Making. Postcolonialism and New Testament Studies (BIS 103), Leiden/ Boston-2011. 6 van der Zwiep, Bible Hermeneutics from 1950 to the Present (s. Anm. 1), 999 f. Die Bibliografie dieses Artikels listet die meisten Hauptwerke des Postcolonial Criticism auf. Vertreter einer postkolonialen Agenda auftreten, „remain largely confined to the margins.“ 2 Schaut man in deutsche exegetische Veröffentlichungen der letzten Jahre, dann entsteht ein ähnlicher Eindruck: Die Praxis (wenn man von Kommentaren als dem Ziel der exegetischen Arbeit ausgeht) ist weiterhin dominiert von den klassischen historisch-kritischen Methoden, ohne dass über diese eine nennens‐ werte methodische Reflexion stattfindet. Dazu sind in den letzten 50 Jahren ver‐ mehrt literaturwissenschaftliche Methodiken gekommen. In hermeneutischer Positionierung: Die historischen Entstehungsumstände einschließlich Autori‐ nention, mithin das, was - aus der Sicht des Lesenden - hinter dem eigentlichen Text liegt („the world behind the text“), steht im Vordergrund, ergänzt durch Methoden, die den Text als eigenes Subjekt wahrnehmen und die Autonomie des Textes gegenüber seinen Entstehungsumständen und -intentionen abgrenzen. Themenstellungen und verarbeitete Literatur kommen weitestgehend aus dem Bereich der ‚weißen‘ Exegese (West-)Europas und Nordamerikas, Anliegen und Anstöße aus den Postcolonial Studies sind nur vereinzelt zu finden. Die „world in front of the text“, d. h. die von dem Text Betroffenen (ob als Lesende oder un‐ freiwillig mit seinen Aussagen Konfrontierte), findet in der deutschsprachigen Exegese nach wie vor, wenn überhaupt, eher in Nischen statt. 3 Dazu passen die Klagen der Vertreter postkolonialer Theologien, dass ihre Theorien „bisher wenig Anwendung auf das Feld der Theologie im deutschsprachigen Raum gefunden haben.“ 4 Ganz anders ist die Wahrnehmung in der englischsprachigen Forschung 5 und es ist vielleicht kein Zufall, dass auch im „Handbuch der Bibelhermeneutiken“ der entsprechende Abschnitt von einem holländischen Kollegen verfasst wurde. 6 Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0014 94 Roland Deines 7 R. S. Sugirtharajah, Postcolonial Criticism and Biblical Interpretation, Oxford 2002, 40, übers. u.-zit.-Bei-Wiesgickl, Das Alte Testament als deutsche Kolonie (s.-Anm.-3), 23. 8 Stefan Silber, Postkoloniale Theologien (UTB 5669) Tübingen 2021, 21. Zum Problem einer Definition von Postkolonialismus s.-Runesson, Exegesis (s.-Anm.-5), 17-30 9 Marion Grau, Christus und die Axt am Baum. Ein Beitrag zur Soteriologie in postkolo‐ nialer Perspektive, in: Nehring/ Wiesgickl (Hg.), Postkoloniale Theologien II (s. Anm. 1), 242-255, hier 243. 10 Etwas polemisch formuliert: Der Exeget wird zum Erlöser der Marginalisierten und zum Bringer der Gerechtigkeit. 1. Exegese als Mittel zum Zweck einer besseren Welt Zu den Grundanliegen des „Postcolonial Criticism“ gehört es, „Unterdrückung aufzudecken, Miss-Repräsentationen herauszustellen und eine gerechtere Welt voranzubringen.“ 7 In diesem Sinn steht Postkolonialismus nicht nur für eine Perspektive nach dem kolonialen Zeitalter im engeren Sinn, sondern für eine kritische Theorie, „die auf Kontinuitäten kolonialen Denkens und Handelns“ auch heute noch aufmerksam macht. Es geht nicht nur um Kolonialismus „als ein Geschehen in der Vergangenheit“, sondern auch um „seine gegenwärtigen Konsequenzen (im kulturellen, epistemischen, soziologischen, wirtschaftlichen, politischen - und eben auch religiösen Bereich) als eine grundlegende Ursache von Konflikten und Problemen der Gegenwart [zu] analysieren.“ 8 Das Selbst- (und Sendungs-? )bewusstsein seiner Vertreter, die besseren Interpreten von Geschichte und Gegenwart zu sein, ist dabei nicht zu übersehen: Postkoloniale Theorien lenken den Blick auf koloniale Diskurse und Machtverhält‐ nisse in Kontext und Geschichte. Daher kann eine Theologie, die sich als postkolonial versteht, sowohl die koloniale Geschichte besser verstehen, als auch gegenwärtige Ereignisse feinfühliger interpretieren. 9 Mein eigener Lehrer, Martin Hengel, hatte die Angewohnheit, bei solchen selbstbewussten und ausgreifenden Behauptungen mit Bleistift an den Rand zu schreiben: „q.-e.-d.“ (quod esset demonstrandum/ was zu beweisen wäre). Ein weiterer Aspekt, der hier aber nicht im Zentrum stehen soll, ist die - durch eigene Marginalitätserfahrungen geschärfte - Perspektive auf aus‐ gegrenzte oder zum Schweigen verurteilte Personen oder Personengruppen in den biblischen Texten. Indem der Exeget sich in ihre Erfahrungen einzu‐ fühlen vermag, verschafft er ihnen - als einem Akt egalitärer Gerechtigkeit - nachträglich Gehör und wird dadurch zu einem Sprachrohr derer, die in der Gegenwart in vergleichbarer Form zum Schweigen gebracht sind. 10 Die Urheber des (Ver)Schweigens sind die gesellschaftlichen - eben: imperialen oder Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0014 Postcolonial Studies - Über Risiken und Nebenwirkungen eines notwendigen Nachdenkens 95 11 Fernando F. Segovia, Postcolonial Criticism and the Gospel of Matthew, in: Mark Allan Powell (Hg.), Methods for Matthew (Methods in Biblical Interpretation), Cambridge 2009, 194-238, hier 207. kolonialistischen - Mächte und Gewalten, die sich anmaßen, die Welt zu ordnen und ‚den Anderen‘ ihren Platz zuzuweisen. Im Hinblick auf die biblischen Personen bzw. Autoren stellt sich dabei die Frage, ob sie selbst zu den Marginalisierten gehören (dann können diese bibli‐ schen Texte als Widerstandsliteratur gegen die Kolonialisierung gelesen werden und sie gehören zu den ‚Guten‘) oder ob sie gegebenenfalls als Komplizen kolonialistischer Macht entlarvt werden müssen und damit gleichsam gegen den Strich gelesen werden müssen. Auf diese Weise erklärt Fernando F. Segovia, der zu den Begründern postkolonialer Exegese gehört, in einem einführenden Aufsatz über „Postcolonial Criticism and the Gospel of Matthew“ exemplarisch die Funktionsweise dieser Methode, die - basierend auf einer Hermeneutik des Verdachts - nach „silenced“ bzw. „oppressive voices“ sucht. 11 Zugrunde liegt die Annahme, dass das, was in einem Text nicht gesagt wird, aber nach Meinung des Auslegers unbedingt hätte gesagt werden müssen, nur als „zum Schweigen gebracht“ betrachtet werden kann. Segovia zeigt dies anhand von Mt 8,5-13, der Heilungsgeschichte des παῖς des römischen Centurio von Kapernaum. Das ist ein „thoroughly imperializing text“, dem entweder zu widerstehen ist („is to be resisted“) (220) oder der dahingehend zu dekonstruieren ist, dass er zu einer „exercise in cutting Rome down to size“ wird (235). Dass der Text möglicherweise nichts über das römische Imperium und seine Politik sagen will, wird erst gar nicht in Betracht gezogen. Dadurch stellt sich die Frage, wie und ob ein Text oder ein Autor überhaupt gegen den Vorwurf des „silencing“ verteidigt werden kann? Für das Matthäusevangelium ist es bei einer solchen Lektüre schlicht unmöglich, gegenüber der römischen Reichspolitik gleichgültig zu sein. Es muss entweder - vorsätzlich oder unbewusst - unterstützend oder subversiv antiimperial sein, weil die Methode nichts anderes zulässt. Dabei ist von vornherein festgelegt, dass das römische Reich und seine Expansionspolitik böse waren, denn nur dann kann Gleichgültigkeit als Verweigern des nötigen Widerstands gegen Rom überhaupt angeprangert werden. Das bedeutet, dass die Methode einen totalitären (imperialistischen) Anspruch hat, weil sie den biblischen Autoren nicht erlaubt, sich dem Positionierungsdruck der postkolonialen Kritik zu entziehen. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0014 96 Roland Deines 12 Runesson, Exegesis (s. Anm. 5), 48, bringt dies so auf den Punkt: „Who is Chief in the Global Village? Is it the one who has ‚Western optics‘ or the one who has ‚postcolonial optics‘? “ 13 Simon Wiesgickl, Weltaneignung dekolonisieren. Oder: Was die Erfindung des Alten Testaments mit dem Humboldt-Forum zu tun hat, in: Interkulturelle Theologie. Zeit‐ schrift für Missionswissenschaft-45 (2019), 106-125, hier 123. 14 Sugirtharajah, Postcolonial Criticism (s. Anm. 7), 156. Es ist allerdings daran zu erin‐ nern, dass die Übersetzung der Bibel die christliche Mission von Anfang an begleitete und darum keine Folge des Kolonialismus ist. 15 Ein vieldiskutiertes Beispiel ist Musa W. Dube, Consuming a Colonial Cultural Bomb. Translating Badimo Into ‘Demons’ in the Setswana Bible (Matthew 8.28-34; 15,22; 10,8), in: JSNT 21 (1999), 33-59; abgedruckt und diskutiert in: Runesson, Exegesis (s. Anm. 5), 141-167 (s.-auch 99-102); Mbuvi, African Biblical Studies (s.-Anm.-2), 61-83. Vereinfachend formuliert: Postcolonial Criticism fragt kritisch nach, wer be‐ stimmt, was gilt. 12 Und damit verbunden: Welche Interessen stehen hinter denen, die bestimmen (wollen). Es geht um die Machtverhältnisse in der Deutung der Welt, wobei die Betonung darauf liegt, dass diese Macht ungleich verteilt ist und - weniger explizit als implizit vorausgesetzt - die Machthabenden diese zu ihrem eigenen Vorteil einsetzen und damit die Unterlegenen zum Schweigen bringen (sowohl metaphorisch als auch tatsächlich bis hin zum Mord). Postcolonial Criticism will dieses Versteckspiel der Mächtigen hinter dem von ihnen präferierten Guten aufdecken und so zur „Dekolonisierung der Weltaneignung“ 13 beitragen und den zum Schweigen Gebrachten eine Stimme geben. Die biblischen Texte sind dabei insoweit wichtig, als sie in der Kolonialgeschichte eine Rolle gespielt haben, die es in ihrer positiven und nachteiligen Wirkung wahrzunehmen gilt. Das fängt bereits mit der Frage der Übersetzung biblischer Texte in die Sprachen kolonisierter Gemeinschaften an, denn, so der vielzitierte Satz von R. S. Sugirtharajah: „In the colonial context, translation acted as a mediating agency between conquest and conversion.“ 14 So sehr die erstmalige Verschriftung indigener Sprachen, die oft die Voraussetzung von Übersetzungen war, zum Erhalt derselben beigetragen hat und ihre Sprecher dadurch befähigt haben, sich in der modernen Welt zu behaupten, so sehr haben Übersetzungen das Weltbild und die Weltaneignung dieser Sprachgruppen auch verändert. 15 Insofern gehören die postkolonialen Fragestellungen zur Wirkungsgeschichte biblischer Texte, ohne allerdings darin aufzugehen. 2. Zur Dekolonialisierung des westlichen Methodenkanons Im Vordergrund steht vielmehr, scheinbar wissenschaftliche Selbstverständlich‐ keiten in Frage zu stellen, die ihre Selbstverständlichkeit unreflektiert daraus beziehen, dass ein Vertreter (meist: männlich, weiß, europäische Herkunft) einer Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0014 Postcolonial Studies - Über Risiken und Nebenwirkungen eines notwendigen Nachdenkens 97 16 Ernst Troeltsch, Ueber historische und dogmatische Methode, in: Friedemann Voigt (Hg.), Ernst Troeltsch Lesebuch (UTB 2452), Tübingen-2003, 2-25, hier-5. 17 Wiesgieckl, Weltaneignung dekolonisieren (s. Anm. 13), 111; s. ders., Das Alte Testa‐ ment als deutsche Kolonie (s. Anm. 3), 91-120; Runesson, Exegesis (s. Anm. 5), 33-39, und ihr Kapitel 4: „Deconstructing Western Biblical Studies“ (51-88); außerdem Mbuvi, African Biblical Studies (s.-Anm.-2), 25-57. 18 Vgl. Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton 2000. D. h. die Wahrnehmung und Darstellung der Entwicklung der Welt und ihrer ‚Entdeckung‘ (was nur aus der europäischen Perspektive überhaupt Wissenschaft einen Sachverhalt in einer Weise erklärt, als ob er allgemeingültig oder allgemeinmenschlich sei. Damit wird diese eine Wahrnehmung, sofern sie als „wissenschaftlich“ oder „objektiv“ akzeptiert wird, universalisiert. Was für naturwissenschaftliche Basisdaten möglich ist (aber schon in ihrer Anwendung, wie etwa die Medizin zeigt, nicht mehr in derselben Weise, weil Gesundheit, Krankheit, Schmerz etc. sehr unterschiedlich wahrgenommen und bewertet werden), lässt sich jedoch nicht in derselben Weise auf Vorgänge übertragen, deren Geltungsbereich ohne hermeneutische Reflexion nicht darstellbar ist. Das erscheint so selbstverständlich, dass es keiner weiteren Begründung bedarf, aber ein Blick in theologische Klassiker zeigt, dass dies gerade nicht der Fall ist. Stattdessen ist es nach wie vor häufig der Fall, dass Vertreter einer partiellen - aber aufgrund von Machtdiskursen (europäisch, weiß, männlich, wissenschaft‐ lich) präferierten - Perspektive auf ‚die Wirklichkeit‘ (ein Abstraktum, das keineswegs universalisierbar ist, auch wenn das von westlicher Wissenschaft oft mehr intuitiv als argumentativ vertreten wird) für sich in Anspruch nehmen, gültige Aussagen für alle Menschen (zumindest der eigenen Zeit und Bildungs‐ stufe) machen zu können. So kann Ernst Troeltsch in seinem berühmten Aufsatz „Ueber historische und dogmatische Methode der Theologie“ die „Analogie des vor unseren Augen Geschehenden und in uns sich Begebenden“ als „Schlüssel zur Kritik“ bezeichnen. Als historisch kann demnach nur gelten, was „vor uns“ und „in uns“ anschlussfähig ist, weil „wir“ analoge Erfahrungen und Ereignisse erleben. 16 Aber wer ist dieses „uns“? Der deutsche protestantische Theologieprofessor des ausgehenden 19. Jahrhunderts? Ist, was er in sich und um sich herum erlebt und wahrnimmt, der Maßstab dessen, was einst geschehen sein konnte und was als historisches Geschehen ausscheidet, eben weil es dafür in seiner Lebenswirklichkeit keine Analogie gibt? Entsprechend lehnen die verschiedenen postkolonialistischen Ansätze den postulierten „Neutralitäts‐ anspruch“ der westlichen Wissenschaften ab und versuchen stattdessen, „die Eingebundenheit wissenschaftlicher Forschung in Machtstrukturen deutlich zu machen,“ 17 um so die präferierte europäische Perspektive an den Rand zu drängen. 18 Mbuvi erklärt als eines der Ziele seines Buches, „to establish Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0014 98 Roland Deines gedacht werden kann) sollte nicht länger davon bestimmt sein, als wäre Europa ganz selbstverständlich Dreh- und Angelpunkt der welthistorischen Ereignisse. 19 Mbuvi, African Biblical Studies (s.-Anm.-2), 13. 20 Lukas Bormann, Gibt es eine postkoloniale Theologie des Neuen Testaments? , in: Nehring/ Wiesgickl (Hg.), Postkoloniale Theologien II (s. Anm. 1), 186-204, hier 194. Für Bormann macht dieses „Insistieren auf einem radikalen Bruch“ mit der historisch-kritischen Bibelauslegung „einen Austausch und wechselseitige Anregung nahezu unmöglich.“ Für Versuche des Ausgleichs s. Runesson, Exegesis (s. Anm. 5), 45-48. 21 Mbuvi, African Biblical Studies (s. Anm. 2), 13. Am Ende seines Buches verwendet er eine exorzistische Terminologie („casting it out“), die nötig ist, um den „systemic racism that has undergirded the western biblical interpretive enterprise“ zu überwinden (201). Konkret werden darum Vorschläge für ein eigenständiges afrikanisches Theo‐ logie-Curriculum erarbeitet, s. Johannes Knoetze, Decolonising or Africanisation of the Theological Curriculum. A Critical Reflection, in: Scriptura-120 (2021), 1-15. the historical link of the imperialistic and colonial background from which Biblical Studies emerged and of which it was a full beneficiary and supporter.“ 19 In der Exegese führt dies zur Forderung nach „einem radikalen Bruch mit dem, was als ,epistemisches System des Westens‘ beschrieben wird“ 20 , womit insbesondere die historisch-kritische Methode gemeint ist. Mbuvi geht sogar noch weiter: Er hofft, mit seinem Buch dazu beizutragen „to add to the eroding of western hegemony in Biblical Studies.“ 21 3. Die Methode muss der Sache dienen Was aber ist die „Sache“, wenn es um die Auslegung des Neuen Testaments geht? Die Antwort auf diese Frage entscheidet darüber, welche Bedeutung die postkoloniale Exegese für die eigene Auslegungspraxis hat. Geht es beim Ziel der Beschäftigung mit den Texten - über das reine historische Verstehen von historischen Quellen aus dem 1. Jahrhundert hinaus - um „eine gerechtere Welt“ (s. Anm. 7) oder um „Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten und das ewige Leben“, wie es im apostolischen Glaubensbekenntnis heißt? Für eine kirchlich orientierte Exegese wird die Antwort anders lauten als für eine gesellschaftspolitisch motivierte. Darum kann ich hier nur eine persönliche Antwort geben. Entscheidend ist für mich das Dienen. Das ist das unpopuläre Gegenteil von Herrschen und Beherrschen. Postcolonial Criticism will, wenn ich es recht verstanden habe, der Sache einer gerechte(re)n Welt dienen, aber es will nicht primär dem Verstehen und letztlich Annehmen der biblischen Botschaft dienen. Die ‚gute Botschaft‘ des Postcolonial Criticism steht schon fest, bevor das Neue Testament gelesen wird, und sein Interesse am Neuen Testament bemisst sich Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0014 Postcolonial Studies - Über Risiken und Nebenwirkungen eines notwendigen Nachdenkens 99 22 Vgl. z. B. Rosemary Kalenga, The Lambas of the Copper Belt - Zambia’s Behaviours and Taboos ‚Before Colonisation and Christianisation‘. A Literature Review to Accom‐ modate Research in the Indigenous Realm, Indilinga. African Journal of Indigenous Knowledge Systems 14 (2015), 185-194. Ihr geht es um die geistige Befreiung von westlichen, durch Missionare eingeführten Epistemen durch den bewussten Anschluss an die spirituellen Traditionen der eigenen Vorfahren, weil nur so der Weg zu einem harmonischen, sozial und ökologisch nachhaltigen Leben möglich ist. 23 Runesson, Exegesis (s.-Anm.-5), 46, spricht deutlich vom „Battle for Power“. 24 Vgl. R. S. Sugirtharajah, Postcolonial Biblical Interpretation, in: ders., (Hg.), Voices from the Margin. Interpreting the Bible in the Third World, Maryknoll, 3 2006, 64-84, hier 77f.: „Postcolonial biblical criticism … challenges not only hegemonic biblical interpretations, but also the position and prerogative given to the Bible itself.“ 25 Christian Senkel, Deskriptivität und Interpretation. Friedrich Nietzsche und die theolo‐ gische Ethik, in: ZThK 109 (2012), 96-121, hier 104; Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral (1887), in: ders., Werke in drei Bänden, Bd. 2, hg. v. Karl Schlechta, Darmstadt 1997, 782-797. daran, inwieweit es dem eigenen Anliegen nützt bzw. schadet oder dieses sogar ursächlich durch die Missionsgeschichte (mit)verschuldet hat. 22 Entsprechend können Teile der neutestamentlichen Botschaft für den eigenen „Kampf um die Macht“ 23 verwendet werden, während andere entlarvt, desavouiert und unschädlich gemacht werden müssen, um weiteren Schaden durch diese Texte zu verhindern. 24 Diese Bemächtigung der neutestamentlichen Texte für die eigene Agenda bzw. Botschaft steht m. E. in der Gefahr, ihrerseits eine Koloni‐ sierung des Neuen Testaments zu sein: Es geht um kulturelle Deutungshoheit, Macht (Lehrstühle, öffentliche Wahrnehmung), Verteilung von Ressourcen (Forschungsgelder, wissenschaftliches Personal), Neuzentralisierungen (z. B. der Kampf für die Marginalisierten als angebliches Zentrum der Botschaft Jesu) und entsprechende neue Marginalisierungen (z. B. „Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten und das ewige Leben“), dazu die Einteilung der Welt in Gute (die Frauen um Jesus, die zum Schweigen gebrachten Sklaven wie Rhode und Malchus) und Böse (Matthäus, Lukas, Paulus als passive oder aktive Unterstützer des römischen Imperialismus). Wer die Botschaft des Postcolonial Criticism für richtig hält, für den ist sie darum nicht nur eine Chance, sondern eine Notwendigkeit auf dem Weg zu einer besseren Welt. Aber auch da bleibt - angesichts von Nietzsches scharfsichtiger Analyse der „Moral des Ressenti‐ ments“, die von den Unterlegenen eingesetzt wird, um den Siegern ein schlechtes Gewissen zu machen, um sie so dann doch noch zu besiegen - die Frage, „welche Moral hinter dem eigenen Wahrheitspathos lauert.“ 25 Auch für diejenigen, die die Botschaft des Neuen Testaments im „Einver‐ ständnis“ mit derselben und in Loyalität zu ihrer beinahe 2000-jährigen kirchli‐ Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0014 100 Roland Deines 26 Dass es eine übereinstimmende Botschaft des Neuen Testaments gibt, die sich um Jesus als Messias, seinen stellvertretenden und heilschaffenden Tod und seine Auferstehung als Erfüllung der Schrift zentriert, ist - ich bin geneigt zu sagen: selbstverständlich - in der gegenwärtigen Exegese umstritten, aber darum weder historisch unplausibel noch sachlich defizitär, wie es die jüngste Exposition dieser traditionellen, die Kirche von den Anfängen an prägende Überzeugung erneut darstellt: Simon Gathercole, The Gospel and the Gospels. Christian Proclamation and Early Jesus Books, Grand Rapids 2022. Zum Stichwort „des Einverständnisses mit den biblischen Texten“ im Kontext ihrer Auslegung durch die altkirchlichen Bekenntnisse und die exegetische und spirituelle Tradition der Kirche(n) s. Peter Stuhlmacher, Vom Verstehen des Neuen Testaments. Eine Hermeneutik (GNT 6), Göttingen 2 1986. Auch Luz, Theologische Hermeneutik (s. Anm. 3), macht deutlich, dass die Texte Anweisungen geben, „wie sie verstanden werden wollen“ (22). Der „universale[] Wahrheitsanspruch“ der neutestamentlichen Texte in ihren Aussagen über Gott als Schöpfer der Welt, dem sich Luz zwar nicht „normativ“, aber immerhin „dialogisch“ aussetzen will (24), führt bei ihm zu seinem sehr zurückhaltenden Urteil über die „postmoderne Bibelexegese“, zu der er auch „post-koloniale Zugänge zur Bibel“ rechnet. Sie erlaubten „eine unbegrenzte Vielfalt von Bedeutungen eines Textes“, werden aber gerade dadurch beliebigen Interessen untergeordnet. Er bekennt: „Solche ›postmodernen‹ Programme und Versuche von Bibelinterpretation sind für mich darum relativ uninteressant, weil sie einen sang- und klanglosen Verzicht auf den Wahrheitsanspruch einschließen, der zu den von Gott zeugenden biblischen Texten gehört“ (102f. u. ausführlicher 267-287). chen Auslegungstradition rezipieren, 26 ist Postcolonial Criticism eine notwendige Infragestellung von Selbstverständlichkeiten und „ein Stachel im Fleisch“ allzu selbstgefälliger Betriebsamkeit. Der vom Postcolonial Criticism angeregte Refle‐ xionsprozess über die eigene Motivation im Umgang mit den biblischen Texten und ihrer Relevanzvermittlung in die Gegenwart ist hilfreich, um sich der ei‐ genen „Lokalisierung“ im Streit der Mächte bewusst zu werden. Dabei sind Her‐ kunfts- und Statusfragen selbstkritisch zu reflektieren, ebenso wie Privilegien im Hinblick auf die eingenommenen Positionen im Wissenschaftsbetrieb. Das Ernstnehmen nicht nur der Verquickung von Mission und Kolonialismus (wobei dies nur ein Teil der Missionsgeschichte ist), sondern auch von kolonialistischen Tendenzen der westlichen Exegese, sowie die ungeschönte Betrachtung der biblischen und exegetischen Wirkungsgeschichte auf kolonisierte Menschen ist unbedingt nötig. Dabei ist die Aufarbeitung und Anerkennung der eigenen Fehler, die in der Regel trotz guter Absichten durch das persönliche Verfangensein in den religiösen, kulturellen und epistemischen Prägungen im Kontext der Missions‐ geschichte geschehen sind, vielleicht der wichtigste Beitrag, den die westliche Wissenschaft den aufstrebenden Kirchen und theologischen Traditionen des globalen Südens zu leisten vermag. Denn hier sind die Folgen des Missbrauchs von biblischen Texten zu Gunsten von triumphalistischen Kirchenidealen, Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0014 Postcolonial Studies - Über Risiken und Nebenwirkungen eines notwendigen Nachdenkens 101 27 Zu afrikanischen Ahnen-Christologien s. Mbuvi, African Biblical Studies (s. Anm. 2), 180f.189f.; einen guten Überblick über die verschiedenen Versuche, Jesus mit afrika‐ nischen Heilern und Heilsmittlern zu verbinden ist Djiokou Sadrack, Afrikanische Christologie. Kontext und Aktualität (Schriften der Hans Ehrenberg Gesellschaft 27), Kamen 2021. 28 Zum „conceptual lock“ (der Begriff stammt von Keith W. Whitelam), s. Wiesgickl, Phantasmen, 172: Er kritisiert, dass „der Methodenkanon der historisch-kritischen Forschung, der bis in die 1960er Jahre hinein fast ungebrochen herrschte, sich Grundan‐ nahmen des 19. Jahrhunderts verdankt, die forschungsgeschichtlich kaum aufgearbeitet scheinen“ (vgl. auch 185 u. ders., Das Alte Testament als deutsche Kolonie [s. Anm. 3], 85 f.). ideologischen Programmen oder bestimmter Gruppen, Völkern oder Nationen schon sichtbar und ermöglichen aus der Distanz einen besseren, weil kriti‐ scheren Blick. Die Auseinandersetzung mit dem theologischen und kirchlichen Antijudaismus kann hierfür als Beispiel genannt werden. Auch die Aufarbeitung des Bemühens der Deutschen Christen, eine ‚völkische‘ Theologie zu formen, in der die biblischen Texte für die Ideologie des Dritten Reiches kolonisiert wurden, kann hier genannt werden. Die damaligen Versuche, Germanentum - als „Ahnenerbe“ verklärt - und Christentum miteinander zu verbinden, sind nämlich nicht völlig verschieden von gegenwärtigen afrikanischen Theologien, die traditionelle Verehrung der Ahnen christologisch zu integrieren. 27 Die damit nur angeschnittenen Fragen der Inkulturation der biblischen Botschaft ist eine bleibende Aufgabe, bei der die herkömmliche, historisch-phi‐ lologische und kritische Exegese, die nach dem Ursprungssinn des Textes fragt, eine wichtige, aber bisher noch wenig wahrgenommene Aufgabe hat. Hier gilt es einerseits, den „conceptual lock“ 28 der westlichen Exegesetradition im bzw. seit dem 19. Jahrhundert aufzubrechen, und andererseits endlich damit anzufangen, die exegetischen Beiträge aus Afrika, Südamerika und Asien (selbst Osteuropa wird weitgehend außer acht gelassen) ernsthaft zur Kenntnis zu nehmen, zu diskutieren und dann auch zu kritisieren. Denn nur wenn westliche Wissenschaftler die Beiträge aus dem globalen Süden in derselben Weise kritisch in Hinsicht auf historische, philologische oder Ideologie-geleitete Exegesen beurteilen, wie sie das gegenüber den Fachkollegen aus dem eigenen kulturellen Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0014 102 Roland Deines 29 Vgl. Alkuin Schachenmayr, The Corruption of Theological Institutions by Plagiarism in Dissertations (Studies in Research Integrity 1), Leiden/ Boston, 2022. Der Band analysiert eine Reihe von Promotionsschriften katholischer Priester aus dem globalen Süden, die entgegen wissenschaftlichen Standards als Dissertation an österreichischen und deutschen katholischen Fakultäten angenommen wurden. Schon ein oberflächliches Nachforschen würde wohl auch an evangelischen Fakultäten vergleichbare Vorfälle finden. Dass es Schachenmayr dabei nicht um Diskriminierung, sondern akademische Integrität geht, zeigt seine Auseinandersetzung mit dem irischen Bischof Stephen Robson, gegen den er ebenfalls Plagiatsvorwürfe erhob, die letztlich dazu führten, dass Schachenmayr seine damalige Position verlor. 30 Letzter Zugriff am 3.6.2023. Kontext tun, ist das koloniale Gefälle überwunden. Das ist vielfach noch nicht der Fall. 29 Nur ein Beispiel für den Nachholbedarf bei der bloßen Kenntnisnahme nichtwestlicher Bibelwissenschaft: In der „Africa Bible Commentary Series“ erschien 2012 der Rö‐ merbriefkommentar des ivorischen Theologen Solomon Andria. Nach Auskunft von Worldcat.org 30 steht dieser Kommentar jedoch nur in den Bibliotheken von Marburg und Leiden, dazu je einmal in England, Schottland und Wales (obwohl er z. B. über amazon.de bestellbar ist). In amerikanischen Universitäten und Seminarbibliotheken ist er dagegen häufig zu finden. Der weitverbreitete einbändige „Africa Bible Com‐ mentary“, den der nigerianische Theologe Tokunboh Adeyemo (1944-2010) herausgab (er erschien 2006 in Nairobi), ist laut Worldcat.org immerhin in fünf deutschen Uni‐ versitätsbibliotheken nachgewiesen. Schaut man sich allerdings die Kommentarlisten etwa der neuen Bände des EKK oder ThHK durch, dann tauchen dort die genannten afrikanischen Beispiele nicht auf. Beim schnellen Durchsehen sind mir auch keine Hinweise auf die Bände der Reihe „The Bible and Postcolonialism“ aufgefallen, in der als Band 13 der von Fernando F. Segovia und R. S. Sugirtharajah herausgegebene „A Postcolonial Commentary on the New Testament Writings“ (London 2007) erschienen ist. Das ist nicht als Vorwurf gedacht, da dieser Sachverhalt auch alle meine eigenen Veröffentlichungen betrifft, sondern nur eine Beobachtung, um zu verdeutlichen, dass privilegierte Wissenschaft(ler) selten aus eigenem Antrieb ihre Privilegien und gegebenenfalls auch deren kolonialistischen Implikationen wahrnehmen. Gerade wenn man dem historisch falschen oder doch unterkomplexen Verständnis, wonach das Christentum eine westliche Religion sei, die der Welt in der Zeit der Kolonialreiche gewaltsam aufgezwungen wurde, entgegentreten will, ist es nötig, in der eigenen exegetischen Arbeit den Kontext der alten Kolonialmächte zu überschreiten und Anschluss an den Umgang und die Beschäftigung mit der Bibel in der weltweiten Christenheit zu gewinnen. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0014 Postcolonial Studies - Über Risiken und Nebenwirkungen eines notwendigen Nachdenkens 103 Zu einer Neuorientierung gehört auch, darüber nachzudenken, warum be‐ stimmte Sprachen selbstverständlich gegenüber anderen privilegiert werden. Das führt dazu, dass alle Nicht-Muttersprachler gezwungen sind, in einer fremden Sprache zu lernen und zu publizieren, um gehört zu werden. Wenn daran aus praktischen Gründen auch nur begrenzt Veränderungen möglich sind, dann wäre es doch immerhin geboten, wenigstens ihre englischsprachigen Veröffentlichungen zur Kenntnis zu nehmen und von ihnen zu lernen. Das ist für die engagierten Vertreter des Postcolonial Criticism noch immer viel zu wenig, aber es wäre immerhin ein Anfang. Noch einmal anders stellt sich die Situation für diejenigen dar, die Ange‐ hörige einer von kolonialer Herrschaft betroffenen Gemeinschaft sind. Für sie können die Analysen des Postcolonial Criticism ein hilfreiches Instrument sein, um die eigene Situierung im Kontext des Metanarrativs der biblischen ‚Heilsgeschichte‘, die sie vielfach nur in Verbindung mit der (Unheils)Geschichte des Kolonialismus erlebt haben, wahrzunehmen, kritisch zu reflektieren und idealerweise die negativen Auswirkungen auf diesem Weg zu überwinden. Hier kann Postcolonial Criticism dazu verhelfen, zwischen der erfahrenen kolonialen Verwendung der Bibel und ihren Selbstaussagen zu unterscheiden, so dass die Bibel ein heilsames Instrument der eigenen Identität vor Gott werden oder bleiben kann. Roland Deines studierte Evangelische Theologie in Basel und Tübingen, wo er 2003 mit einer Arbeit zum Matthäusevangelium habilitiert wurde. Nach ver‐ schiedenen akademischen Positionen in Tübingen, Jena, Beer-Sheva (Israel) und von 2006-2016 in Nottingham (GB) ist er seit 2017 Professor für Biblische Theologie u. Antikes Judentum u. seit 2022 Prorektor an der Interna‐ tionalen Hochschule Liebenzell. Er gehört zum Leitungsteam des Corpus Judaeo-Hellenisticum Novi Testamenti und arbeitet an einem Kommentar zum Matthäusevangelium. Wer mehr wissen will: https: / / ihl.eu/ personen / roland-deines/ #tab-id-7 Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0014 104 Roland Deines 1 Eindrücklich werden diese Zusammenhänge in der dokufiction von Raoul Peck, Rottet die Bestie aus, in Szene gesetzt, zu sehen in der Arte Bibliothek. Postcolonial Studies - eine Chance für die Exegese? Stefan Alkier 1. Zur Notwendigkeit und zum Nutzen von Postcolonial Studies Um die Frage gleich vorweg zu beantworten: Ja, Postcolonial Studies sind eine Chance nicht nur für die Exegese, sondern mehr noch für Bibelhermeneutik und konfessionelle Theologie insgesamt. Sie zwingen dazu, Rechenschaft dar‐ über abzulegen, warum überhaupt und wie Bibel gelesen wird und inwiefern mit biblischen Texten nicht nur konfessionsgebundene theologische Aussagen getroffen, sondern auch Wissenschafts-, Kultur-, Gesellschafts-, Kirchen- und Machtpolitik geformt und begründet wurden und werden. Sie zeigen auf, dass ein unverkennbarer Zusammenhang zwischen der zentralisierenden Wis‐ sensorganisation in europäischen Universitäten, christlicher Missionierung und der kolonialen Expansion einiger europäischer Nationalstaaten mit verhee‐ renden Folgen für die Kolonisierten bzw. Versklavten und deren Gesellschaften zu konstatieren ist. Sie führen vor Augen, dass der Reichtum Europas und Nordamerikas zu einem erheblichen Teil auf Ausbeutung, Raub, Versklavung, Völkermord beruht und diese brutale Machtpolitik mit der Bibel in der Hand und mit dem europäisch-nordamerikanischen Mythos einer Zivilisierung im Namen von Aufklärung und Menschenrechten christlich-humanistisch verbrämt und legitimiert wurde. 1 Es wird deutlich, dass der wirtschaftliche Vorteil, den Nordamerika und die EU gegenüber etwa Afrika haben, auf der katastrophalen Schwächung der Wirtschaftskraft weiter Teile Afrikas durch die Dezimierung 2 Joseph E. Inikori, Art. Sklavenhandel, in: Jacob E. Mabe (Hg.), Das Afrika-Lexikon. Ein Kontinent in 1000 Stichwörtern, Stuttgart 2004, 556-559, hier: 558: „Und der atlantische S[klavenhandel] hatte noch weitere nachhaltige Auswirkungen auf die lang‐ fristige Wirtschaftsentwicklung in Afrika. Durch das mehrere Jahrhunderte verzögerte Bevölkerungswachstum blieb das subsahar. Afrika spärlich bevölkert. Diese niedrige Bevölkerungsdichte verlängerte angesichts einer extrem geringen Warenproduktion das Vorherrschen der Subsistenzwirtschaft in Afrika und verzögerte die Kommerziali‐ sierung des sozioökonom. Lebens, ohne die eine sinnvolle wirtsch. Entwicklung nicht stattfinden kann.“ Vgl. auch Michael Zeuske, Handbuch Geschichte der Sklaverei. Eine Globalgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, 2. Überarb. u. erw. Aufl., 2 Bde, Berlin/ Boston 2020. 3 Pierre Bourdieu u.-a. Das Elend der Welt. Studienausgabe, Paris 2 2010. 4 Wolfgang Reinhard, Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der Europäischen Expansion 1415-2015, München 5 2020. der dortigen Bevölkerung durch Sklaverei und mörderische Ausbeutung be‐ ruht. 2 Postcolonial Studies gehen diesen Zusammenhängen nach und jagen so Ex‐ egese und Theologie aus der Wohlfühlzone angeblich unbeteiligter, objektiver, politikfreier Wissenschaftlichkeit heraus, die sich neben oder mitunter sogar über den Dingen des Alltagslebens und seiner globalen Verwirrungen und Verwerfungen wähnt. Sie legen die Verstrickungen des individuellen wie kol‐ lektiven Lebens in die Verteilungskämpfe um Macht, Einfluss und materiellen Reichtum - was u. a. auch die gute Bezahlung der Professuren an deutschen Universitäten möglich macht - offen und mahnen in aller Deutlichkeit und Komplexität an, die je eigene Verantwortung für Das Elend der Welt 3 wahrzu‐ nehmen und zu einer besseren, gerechteren, lebenswerteren, liebevolleren Welt beizutragen. Postcolonial Studies sind aber auch schon deswegen nötig, weil die Auswirkungen und damit die Gegenwartsrelevanz der Kolonialgeschichte im gesellschaftlichen und auch im akademischen kollektiven Gedächtnis der europäischen Nationalstaaten, die als Kolonialmächte gewirkt und profitiert haben und weiter profitieren - Portugal, Spanien, England, Frankreich, Nieder‐ lande, Belgien und ab 1870 dann auch Deutschland -, kaum bewusst ist. Um zu begreifen, in welcher geschichtlichen Situation heute Exegese geschieht, ist es genauso dringlich, die Geschichte der „europäischen Expansion“ 4 zu vergegenwärtigen, wie die gänzlich veränderte kulturelle, theologische und epistemische Situation nach dem Holocaust bewusst zu halten. Es wird dabei aber unerlässlich sein, Phänomene von offener und verdeckter Kolonisierung und Kolonisation mit kritischer historischer Sorgfalt zu differenzieren und christliche Mission, Kolonialismus, Imperialismus und Eurozentrismus nicht als austauschbare Chiffren für „das Böse“ in der Welt zu gebrauchen oder in anachronistischer Weise antike Reiche mit modernen Nationalstaaten gleich zu Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0015 106 Stefan Alkier 5 Vgl. demgegenüber das differenzierte Verständnis von Imperien bei Herfried Münkler, Imperien. Die Logik der Weltherrschaft vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Hamburg 2014. 6 Vgl. dazu Francois Dosse, Geschichte des Strukturalismus Bd. 2: Die Zeichen der Zeit, 1967-1991, übers.-v.-Stefan Barmann, Hamburg 1997. setzen und die Wut auf den gegenwärtigen US-amerikanischen, chinesischen oder russischen Imperialismus auf das Imperium Romanum zu übertragen, 5 wie es in weiten Teilen des sogenannten imperial criticism innerhalb US-amerika‐ nischer Bibelwissenschaften geschieht und auch hierzulande jenseits von kriti‐ scher geschichtswissenschaftlicher Differenziertheit Mode zu werden scheint. (Monty Python’s Leben des Brian ist hier hilfreich: „Was haben uns die Römer gebracht? …“) 2. Zur Unterscheidung von Postcolonial Studies und Postcolonial Theory Es wäre aber eine ungeschickte Verkürzung, Postcolonial Studies mit Postcolo‐ nial Theory gleichzusetzen. Bei weitem nicht alle, die sich intensiv mit der Erforschung kolonialer Machtpolitik und deren Folgen auseinandersetzen, sind der Postcolonial Theory verpflichtet, die im Wesentlichen an US-ameri‐ kanischen Eliteuniversitäten wie Harvard oder Columbia an hoch dotierten US-amerikanischen Eliteprofessuren insbesondere der vergleichenden Litera‐ turwissenschaften wie die von Edward Said, Gayatri Chakravorty Spivak und Homi K. Bhabha in Aufnahme, Diskussion und Kritik frankophoner poststruk‐ turalistischer und postmoderner Ansätze 6 insbesondere von Jacques Lacan, Michel Foucault, Julia Kristeva, Roland Barthes, Jacques Derrida, Gilles Deleuze entwickelt und vermarktet wurden. Wer sich also heute den Postcolonial Studies aktiv widmen möchte, steht vor einer vergleichbaren Frage, die sich in den Anfängen der Christusverehrung gestellt haben mag: Muss ein Verehrer der Artemis und des Apollon eigentlich erst Jude werden, um angemessen den Weg der Nachfolge Jesu Christi einschlagen zu können? Müssen also an Postcolonial Studies Interessierte erst frankophonen Poststrukturalismus verinnerlichen und dann dem US-amerikanischen Dreigestirn postkolonialer Theoriebildung folgen (Said, Spivak, Bhabha), bevor der eigene Weg postkolonialer Studien etwa auch an europäischen Universitäten angemessen beschritten werden darf ? Meine klare Antwort lautet: Nein, aber es lohnt auf jeden Fall, sich auch mit Ansätzen und mehr noch, mit den Streitfragen innerhalb des ganz und gar nicht homo‐ genen Feldes der Postcolonial Theory zu befassen, die nicht nur von einem mas‐ siven Konflikt zwischen texttheorieorientierten Literaturwissenschaftler: innen Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0015 Postcolonial Studies - eine Chance für die Exegese? 107 7 María do Mar Castro Varela/ Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 3 2020, 13. Vgl. auch Graham Huggan (Hg.), The Oxford Handbook of Postcolonial Studies, Oxford 2013. 8 Franziska Dübgen/ Stefan Skupien, Afrikanische politische Philosophie. Postkoloniale Positionen, Frankfurt 2 2016. Sehr informativ und mit zahlreichen weiterführenden Literaturhinweisen ausgestattet ist der Band von Anke Graneß, Philosophie in Afrika. Herausforderungen einer globalen Philosophiegeschichte, Berlin 2023. 9 Rasiah S. Sugirtharajah, Voices from the Margin. Interpreting the Bible in the Third World, Maryknoll 1991; Rasiah S. Sugirtharajah, Still at the Margins. Biblical Scholarship Fifteen Years after Voices from the Margin, London 2008; Postcolonialism and Scriptual Reading, Semeia 75 (1996); „Reading With“. African Overtures, Semeia 73 (1996); Race, Class, and the Politics of Bible Translation, Semeia 76 (1996); Justin Ukpong u. a. (Hg.), Reading the Bible in the Global Village, Atlanta 2002; Stephen D. Moore/ Fernando F. Segovia (Hg.), Postcolonial Criticism. Interdisciplinary Intersections, London/ New York 2005; Fernando F. Segovia/ Rasiah S. Sugirtharajah, A Postcolonial Commentary on the New Testament Writings, The Bible and Postcolonialism 13, London 2007; Rasiah einerseits und eher marxistisch-materialistischen Politikwissenschaftler: innen, Soziolog: innen und Philosoph: innen andererseits und wenigen zwischen diesen Positionen Vermittelnden besteht (um die Streitparteien idealtypisch elemen‐ tarisiert zu benennen). Glücklicherweise gibt es hierzu sehr informative ein‐ führende Literatur wie etwa der Band „Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung“, der von María do Mar Castro Varela, einer Professorin für Allge‐ meine Pädagogik und Soziale Arbeit, und von Nikita Dhawan, einer Professorin für Politikwissenschaften mit dem Schwerpunkt Gender Studies, verfasst wurde. Sie resümieren: „Eine Beschäftigung mit postkolonialen Theorien ermöglicht es, sich Wissen über die andauernde Vergangenheit anzueignen, ein gelehrtes Hoffen zu lernen und das Archiv der Kritik und Ethik zu erweitern.“ 7 Keineswegs aber sollte sich die notwendige und noch ausstehende Rezeption postkolonialer Theoriedebatten und Studien in den deutschsprachigen Bibelwis‐ senschaften auf die inspirierenden Publikationen von Said, Spivak und Bhabha beschränken. Es lohnt gleichermaßen, deren Kontrahenten zu studieren wie etwa die Monographie Against Decolonisation des 1956 in Nigeria geborenen Olúfémi Táíwò, der ebenfalls in den USA lebt und an der Cornell University lehrt. Seine Hauptthese lautet, dass das maßgeblich an US-amerikanischen Universitäten entwickelte Programm einer politischen und epistemischen De‐ kolonisierung die Handlungskraft und Eigenständigkeit afrikanischen Denkens und politischen Agierens unterminiere. Einblicke in inspirierende Ansätze afrikanischer politischer Philosophie gibt der Band Afrikanische Politische Phi‐ losophie. Postkoloniale Positionen. 8 Diese Streitigkeiten bilden auch die zahlreichen Sammelbände 9 ab, die seit 1991 unter dem Label Postcolonial Biblical Criticism erschienen sind. Sehr Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0015 108 Stefan Alkier S. Sugirtharajah (Hg.), The Oxford Handbook of Postcolonial Biblical Criticism, 2023. Vgl. auch Andreas Nehring/ Simon Tielesch (Hg.), Postkoloniale Theologien. Bibelher‐ meneutische und kulturwissenschaftliche Beiträge, Religionskulturen 11, Stuttgart 2013; Andreas Nehring/ Simon Tielesch (Hg.), Postkoloniale Theologien II. Perspektiven aus dem deutschsprachigen Raum, Stuttgart 2018. 10 Rasiah S. Sgirtharajah, Introduction. The Bible, Empires, and Postcolonial Criticism, in: The Oxford Handbook of Postcolonial Biblical Criticism (s. Anm. 9), 1-21, hier 1: „The central function of postcolonial criticism is to be a contestatory force, more of a moral stance than a theory or dogma.“ 11 Reinhard, Die Unterwerfung der Welt (s.-Anm.-4), 27. aufschlussreich ist es, dass in dem einflussreichen Band Voices from the Margin. Interpreting the Bible in the Third World aus dem Jahr-1991 noch poststruktura‐ listisch und marxistisch orientierte Ansätze zusammenfanden, was aber nach zahlreichen Streitigkeiten und gegenseitiger Verwerfungen für die Fortsetzung unter dem Titel Still at the Margins. Biblical Scholarship Fifteen Years after Voices from the Margin, nicht mehr möglich war. Der Herausgeber beider Bände, Rasiah S. Sugirtharajah, beschreibt die Entwicklung im ebenfalls von ihm herausgegeben Oxford Handbook of Postcolonial Biblical Criticism, 10 sachkundig, aber keineswegs unparteiisch. Das in diesem Jahr (2023) erschienene Handbuch gibt einen breiten Einblick in gegenwärtige Themenfelder, Methoden und Entwicklungen des postcolonial biblical criticism. Da meine Aufgabe hier aber nicht in einem Literaturbericht besteht, möchte ich zumindest zwei Aspekte der Postcolonial Studies und der Postcolonial Theory anreißen, die hoch relevant für die Bibelwissenschaften und zum Teil auch schon in die neuere Diskussion eingeflossen sind: 1.-Räume 2.-Repräsentationen. 3. Räume als analytische Kategorie Schon das Leitwort postcolonial verbindet eine zeitliche adverbiale Bestimmung mit einem Raumbegriff: Kolonialismus setzt wie Kolonialreich und Kolonialherrschaft logisch die Begriffe Kolonie (vom römischen colonia) und Kolonisation voraus. Kolonisation bedeutet einfach die Errichtung von Kolonien, zum Beispiel auch in einem trocken gelegten Moor an der Oder. Kolonie ist also eine Neuansiedlung, die selbständig sein oder unter der Kontrolle des Gemeinwesens bleiben kann, aus dem die Siedler stammen. In übertragenem Sinn wurde aber jedes räumlich von dem betreffenden Gemeinwesen getrennte Herrschaftsgebiet Kolonie genannt, vor allem wenn es in Übersee lag. Der Minimalinhalt des Begriffs Kolonie besteht also in Siedlung oder Herrschaft, der Maximalinhalt in Siedlung und Herrschaft. 11 Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0015 Postcolonial Studies - eine Chance für die Exegese? 109 12 Reinhard, Die Unterwerfung der Welt (s.-Anm.-4), 27. 13 Edward W.-Said, Orientalismus, übers. v.-Hans Günter Holl, Frankfurt a.-M. 7 2021. 14 Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur. Mit einem Vorwort von Elisabeth Bronfen, übers. v. Michael Schiffmann/ Jürgen Freudl, Stauffenburg Discussion 5, Tübingen 2000. Aufgrund dieser Überlegungen unterscheidet der Historiker Wolfgang Rein‐ hard „drei Grundtypen von Kolonien“, „die ihrerseits Varianten aufzuweisen haben“ 12 : Stützpunktkolonien, Siedlungskolonien, Herrschaftskolonien. Was durch die Ausführungen Reinhards schon auf den ersten Blick deutlich wird, ist, dass das Raumkonzept „Kolonie“ immer mit der Frage von Macht, Besitz und Herrschaft verbunden ist, aber jeweils nach Kolonietyp eigens in seinen jewei‐ ligen historischen politischen und geographischen Konstellationen untersucht werden muss. Die Vernachlässigung der Differenzierung zwischen „Kontinen‐ talexpansion“ und „Überseeexpansion“ führte nämlich zu der weitgehenden Konzentration auf Europa als dem (H)Ort des kolonialen Imperialismus unter Vernachlässigung des kontinentalexpansiven Kolonialismus etwa Russlands, Chinas oder den USA. Die literatur- und kulturwissenschaftlichen Arbeiten etwa von Said zum „Orientalismus“ 13 und Bhabha zur „Verortung der Kultur“ 14 greifen das geogra‐ phisch-politische Raum- und Herrschaftskonzept des Kolonialismus auf und überführen es in ein metaphorisches Analyseinstrument unter der Fragestel‐ lung, wie Räume und semantische Füllungen und Bewertungen von Räumen durch Texte entstehen und damit universale Deutungsmachtansprüche und Identitätspolitiken befördert wurden und werden, die alle Bereiche mensch‐ licher Gesellschaften, Kulturen, Religionsgemeinschaften durch ein binäres Denken der Ungleichheit zwischen dem Eigenen und dem Anderen zu Un‐ gunsten des Anderen kontaminiert. Dekolonisierung wird dann zum morali‐ schen Kampfbegriff westlicher Eliten, die sich für eine Welt der Gleichheit einsetzen sollen. Dabei wird das zeitliche post-kolonial zur wissenschafts- und kulturethischen Aufgabe des de-kolonial transformiert. Es sollte bei aller Kritik am zuweilen selbstherrlichen Dekolonisierungs‐ konzept nicht in Abrede gestellt werden, dass diese Konzepte maßgeblich zum spatial turn in den Literaturwissenschaften beigetragen haben, von dem bereits zahlreiche alt- und neutestamentliche Studien profitiert haben. Die Frage nach der Imagination und semantischen Codierung von Räumen ist aber nicht nur objektsprachlich interessant. Vielmehr zeigt sie sich auch in der enzyklopädischen Aufgabenverteilung und fragwürdigen Grenzziehung etwa zwischen dem Fach Alte Geschichte und der Orientalistik, wofür Saids Orientalismusstudien höchst aufschlussreich sind: Das Fach Alte Geschichte ist maßgeblich auf Europa beschränkt und zeugt als solches von einem unsach‐ Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0015 110 Stefan Alkier 15 Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, übers. v. Alexander Joskowicz/ Stefan Nowotny, m. e. Einl. v. Hito Steyerl, Wien/ Berlin 2 2020. 16 Donna Landry/ Gerald Maclean/ Gayatri Chakravorty Spivak, Ein Gespräch über Subal‐ ternität, in: Spivak, Can the Subaltern speak? (s.-Anm.-15), 119-148, hier: 119f. gemäßen Eurozentrismus. Unter Einbeziehung der Kritik an epistemischen Raumkonzepten zur Verortung der Welt dürften die Fächergrenzen neu zu ziehen sein, was erheblichen konzeptionellen Einfluss auf die Erforschung der Geschichte christlicher Religionsgemeinschaften und ihren unterschiedlich ausgebildeten Expansionsinteressen haben könnte. 4. Repräsentationen Kaum ein Essay aus dem Feld der Postcolonial Theory hat so viel kontroverse Diskussionen ausgelöst wie Gayatri Chakravorty Spivaks provokante Frage‐ stellung „Can the Subaltern Speak? “ 15 Spivak vertritt darin die These, dass Subalterne, die abgeschnitten sind von jeglicher Mobilität der fremden und auch der einheimischen Eliten, sich kein Gehör verschaffen können, weil sie niemals als Subalterne gehört, sondern stets für andere Interessen vereinnahmt würden, wenn sie überhaupt öffentlich zu Wort kommen. In einem sehr interessanten Interview berichtet sie dann über diesen Essay: Ich habe nicht alle Reaktionen gelesen, die der Aufsatz provoziert hat. Der allgemeine Tenor der Reaktionen war, glaube ich, ich hätte nicht erkannt, dass die Subalternen doch sprechen. Von einigen wurde sogar behauptet, ich erlaube es dem Widerstand nicht, zu sprechen. Nun, ich glaube doch, dass mein Aufsatz zu kompliziert ist. […] Ich stand am Anfang von etwas. […] als ich von den Herausgeberinnen einer dem französischen Feminismus gewidmeten Nummer der Yale French Studies um einen Beitrag zum Thema gebeten wurde und als ich vom Critical Inquiry angefragt wurde, über dekonstruktiven Feminismus zu schreiben. Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass etwas Seltsames passiert. […] Wie ich in ‚French Feminism Revisited‘ geschrieben habe, begann ich den Umstand, dass ich von zwei wichtigen US-Zeitschriften darum gebeten wurde, über französischen Feminismus zu schreiben, als problematisch anzusehen. 16 Das Problem, das Spivaks Essay thematisiert und auch im Interview zu ihrem Essay reflektiert, ist das identitätslogische Problem der Repräsentation schlechthin. Wer kann für wen sprechen? Wer spricht, wenn US-amerikanische Professor: innen wie der in Palästina geborene Edward Said, die in Indien geborenen Gayatri Chakravorty Spivak und Homi K. Bhabha, und der in Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0015 Postcolonial Studies - eine Chance für die Exegese? 111 17 Barack Obama, Bruce Springsteen, Renegades. Born in the USA. Dreams - Myths - Music, New York 2021: „What makes America exceptional isn’t our wealth or size or skyscrapers or military power. It’s the fact that America’s the only nation in human history that’s made up of people of every race, religion, and culture from every corner of the globe. And that we’ve had faith in our democracy, our common creed, to blend this hodgepodge of humanity into one people.“ Das ganze Buch dieser doch eigentlich beiden klugen und sympathischen US-Bürger ist ein erschreckendes Zeugnis eines naiven religiös überhöhten Nationalismus mit einem erstaunlichen moralischen Überlegenheitsgefühl und einer kompletten Ausblendung der Genozide an der indigenen Bevölkerung. den USA geborene und lebende Olúfémi Táíwo die Stimme erheben? Ist ihr gegenüber anderen Denkerinnen und Denkern - wie z. B. Julia Kristeva oder Michel Foucault, um nur zwei zu nennen, die noch glimpflich davonkommen - erhobener moralischer Zeigefinger nicht Ausdruck des US-amerikanischen Mo‐ ralismus und Überlegenheitsgefühls, wie er sich auch in dem Gespräch zwischen Barack Obama und Bruce Springsteen 17 findet. Ist der erbittert geführte Kampf zwischen eher an poststrukturaler und eher an marxistischer Theoriebildung orientierter Wissenschaftler: innen im Zeichen des postcolonial nicht lediglich ein inneres US-amerikanisches Problem der gesellschaftlichen Spaltung im Zeichen moralistischer Rechthaberei? Was hat aber die Frage der Repräsentation, die auch schon Denker wie Jacques Lacan oder Jacques Derrida stellten, mit der Exegese biblischer Texte zu tun? Grundlegendes, denn sie führt zu der hoch relevanten Frage nach dem Verhältnis von Ausleger und Auslegungsgegenstand: Welchen Anspruch haben Exeget: innen, wenn sie Bibeltexte analysieren, auslegen, interpretieren? Welche Haltung, welche Position nehmen sie gegenüber biblischen Texten ein? Was erwarten sie von ihrer eigenen Arbeit? Welche übergriffigen Machtphantasien impliziert etwa das Selbstverständnis als Exeget „Anwalt des Textes“ sein zu wollen, eine ziemlich hinkende Meta‐ pher, da Texte niemanden beauftragen können und diejenigen, die die Texte geschrieben haben, nicht mehr leben, sich also auch keinen Anwalt nehmen können. Und warum brauchen Texte eigentlich einen Anwalt? Ist mit dieser Metapher nicht eher so etwas wie eine Schutzmacht gemeint, demzufolge sich der Exeget vor den Text stellt, um ihn vor Verfremdung und Missbrauch zu schützen? Dann wären Exeget: innen so etwas wie bodyguards? So oder so scheint es sich um Gewalt- und Machtphantasien zu handeln. Der Exeget als „Anwalt des Textes“ möchte ihn mit seiner exegetischen Macht vor Gewalt beschützen. Aber wer entscheidet, wann einem Text Gewalt angetan wird, der Text oder sein Exeget als „Anwalt“, der weiß, was der Text „eigentlich“ sagen will? Der parajuristische Anspruch eines Anwaltexegeten beansprucht Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0015 112 Stefan Alkier 18 Um zumindest ein Beispiel für diese verurteilende und ersetzende Bibelkritik zu geben, verweise ich auf Musa W. Dube, Reading for Decolonization ( John 4: 1-42), Semeia 75 (1996), 37-60. Vgl. dazu auch im selben Heft die Kritik von Susan van Zanten Gallagher, Mapping the Hybrid World. Three Postcolonial Motifs, 229-240, insbes. 230. 19 Vgl. zu diesen drei interpretationsethischen Minimalforderungen Stefan Alkier, Fremdes verstehen wollen. Überlegungen auf dem Weg zu einer Ethik der Lektüre biblischer Schriften. Eine Antwort an Laurence L.-Welborn, in: ZNT-11 (2003), 48-59. notwendigerweise, die Stimme der Texte oder gar die seiner Autor: innen zu kennen und sie mit seiner eigenen Stimme adäquat zu repräsentieren. Sollte man davon nicht Abstand nehmen und besser zu einem „zeitgemäßen“, sub‐ jektivistischen und konstruktivistischen Selbstverständnis gelangen? Solchen Exeget: innen ginge es nur darum, eigene Lektüren zu konstruieren, also einen Beliebigkeitskonstruktivismus zu propagieren, der an den Lektüren anderer nicht mehr ernsthaft interessiert sein kann, weil es um nichts mehr geht. Jede: r macht halt gleichermaßen sein: ihr eigenes Ding. Zu schnell aber ist man dann auch nicht mehr an den Texten selbst interessiert, sondern nur noch daran, was sie zu repräsentieren scheinen - und das bestimmt dann wieder die je eigene Interpretation des Textes. Quasijuristisch landen biblische Texte so auf der Anklagebank, nun aber als Beschuldigte, als Protagonisten sexistischer Gewalt, als Komplizen des imperialen Kolonialismus. Sie werden dafür verurteilt, nicht das zu repräsentieren, was den Werten und Bedürfnissen der Auslegenden entspricht. Sie werden in ihrer vermeintlichen Scheinheiligkeit dekonstruiert, entlarvt, vorgeführt, ersetzt, weil sie nicht demokratisch, nicht gendergerecht, nicht humanistisch, kurz, nicht so sind, wie man sie zur Unterstützung der eigenen Weltsicht gern als Verbündete hätte. 18 Die herausfordernde und zum Teil auch verstörende Fremdheit biblischer Texte wird dann nicht als Anlass zur kritischen Auseinandersetzung wahrgenommen, sondern als zu beseitigendes Ärgernis. Die Einsicht in die Problematik der Repräsentation als solcher könnte aber aus der unnötigen Alternative „Anwaltexeget: innen vs. Anklageexeget: innen“ herausführen, wenn Hermeneutiken des Verdachts als repräsentationslogischer Holzweg erkannt würden und sich Exeget: innen mit dem begnügen würden, was sie als Interpret: innen zu leisten vermögen: Mit eigener Stimme ihre je eigene Lektüre des Textes mit Respekt vor der Gegebenheit der Textzeichen (Realitätskriterium), mit Respekt vor der aufrichtigen Wahrheitssuche anderer Interpret: innen (Sozietätskriterium) und mit der Einsicht in die geschichtliche, kulturelle, politische Bestimmtheit und Perspektivität der je eigenen Methodik, Fragestellung und Auslegung (Kontextualitätskriterium) klug und fleißig zu erarbeiten und mit anderen ergebnisoffen zu diskutieren. 19 Solche Auslegungen Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0015 Postcolonial Studies - eine Chance für die Exegese? 113 20 Vgl. Jörg Volbers, Perpektivität ist kein ‚Käfig‘. Eine kurze Einführung in den Schwer‐ punkt, Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 44 (2019), 241-249. Vgl. auch Vgl. Eckart Reinmuth, Positionen im Konflikt. Neutestamentliche Antagonismen in neuer Perspektive, in: Stefan Alkier (Hg.), Antagonismen in neutestamentlichen Schriften. Studien zur Neuformulierung der „Gegnerfrage“ jenseits des Historismus (Beyond Historicism - New Testament Studies Today-1), Paderborn 2021, 45-70. verstecken sich dann nicht mehr hinter der vermeintlichen Stimme des Textes, mit der ihre eigene Stimme identitätslogisch verschmilzt, sondern akzeptieren die grundlegende Differenz zwischen Ausleger: in und Auslegungsgegenstand. Sie übernehmen damit die Verantwortung für ihre exegetische Stimme im Konzert oder aber auch im Streit der Auslegungen. Gerade das, was Exegese und Interpretation sein kann und sein will, bedarf einer auch von postkolonialer Theorie angeregten Selbstreflexion der Präsuppositionen, Repräsentationskon‐ zepte, impliziten Machtdiskurse, Grenzziehungen und Denkverbote alt- und neutestamentlicher Wissenschaft. Wie, mit welchen Themen und welchen Methoden kann engagierte Exegese im globalen Netzwerk von Freundinnen und Freunden des Wortes in gemeinsamer inter- und transdisziplinärer Arbeit an Entwürfen und Gestaltungen einer besseren Welt mitwirken? Was ist wissenschaftlich verantwortbar und redlich sagbar und was nicht? Welche Fragestellungen sind es wert, mit viel Zeit und Geld bearbeitet zu werden? 5. Fazit Das Wichtigste vor allem anderen, wozu postkoloniale Theoriebildung bei‐ tragen kann, ist die verstärkte Einsicht in die Perspektivität jeglicher Wissens‐ bildung, auch die der so leistungsfähigen europäischen Aufklärung mit all ihren Ambivalenzen, die schon die frühen Romantiker kritisierten und in die Schranken wiesen. Das ist sicherlich keine neue Erkenntnis, auf die postkolo‐ niale Theoriebildung ein Urheberrecht einklagen könnte, aber sie könnte zu einem Katalysator für die Verbreitung dieser Einsicht werden. Perspektivität 20 als Standortgebundenheit darf dabei keinesfalls mit subjektiver Beliebigkeit verwechselt werden. Jede und jeder sieht von seiner Perspektive aus etwas, das die anderen so nicht in den Blick bekommen, und nicht als bloße Konstruktion des selbstherrlich autonomen Subjekts abgetan werden kann. Für diejenigen, die an aufrichtiger Wahrheitssuche und lebensrelevanter Erkenntnis interessiert sind, ist das Grund genug, Interesse an dem zu haben, was andere sehen, denken und sagen. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0015 114 Stefan Alkier © Stefanie Alkier-Karweick Prof. Dr. Stefan Alkier ist seit 2001 Professor für Neues Testament und Geschichte der Alten Kirche am Fach‐ bereich Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt/ Main. Er gibt den neutestamentlichen Teil des bibelwissenschaftlichen Internetlexikons www.wib ilex.de heraus. Zusammen mit dem Gräzisten Thomas Paulsen fertigt er eine philologisch-kritische Überset‐ zung aller neutestamentlichen Texte an; die Bände 1- 4 des „Frankfurter Neuen Testaments“ sind bereits er‐ schienen. In der von ihm begründeten Buchreihe „Biblische Argumente in öffentlichen Debatten“ hat er zuletzt zwei Bände zum Thema „Zuver‐ sichtsargumente - Biblische Perspektiven in Krisen und Ängsten unserer Zeit“ herausgegeben. Sein semiotisch-kritischer Ansatz vereint kritische philologische und historische Forschung mit Fragen der Gegenwartsrele‐ vanz biblischer Texte. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0015 Postcolonial Studies - eine Chance für die Exegese? 115 Hermeneutik und Vermittlung Postkoloniale und missbrauchssensible Exegese Partnerinnen oder Rivalinnen im Anliegen einer kontextrelevanten Bibelwissenschaft? Judith König 1. Einleitende Gedanken und zentrale Fragestellung Biblische Texte lassen sich auf vielfältige Weise erschließen, sie können mit unterschiedlichsten Methoden und aus beinahe zahllosen Perspektiven bear‐ beitet werden. Die moderne Literaturwissenschaft hat dabei auch in der Bi‐ belwissenschaft zu der zentralen Einsicht geführt, dass den Leser: innen eine ganz entscheidende Rolle in der Konstitution des Sinns eines Textes zukommt. Leser: innen nehmen Texte - auch biblische Texte - nicht einfach passiv auf, sondern bringen sich selbst, ihre Vorerfahrungen, Perspektive, Hoffnungen, Wünsche und Ängste aktiv in die Begegnung mit dem Text ein, dessen Sinn sich erst in dieser Begegnung erschließen kann. Das bedeutet auch, dass die Herausforderungen, die eine Annäherung an Texte der Bibel mit sich bringt, nicht einfach für alle Leser: innen identisch sind. Dies führt dazu, dass es auch risikoreich sein kann, sich der Sammlung biblischer Texte anzunähern, obwohl sie ungeheures Potential für persönliches und kollektives Empowerment birgt. Neben persönlichen Vorerfahrungen beeinflusst auch die Einbindung in Deu‐ tungs- und Auslegungsstrukturen die Art und Weise, wie biblische Texte gelesen werden, und ob sie das lebensdienliche und emanzipatorische Potential auch entfalten können, das in ihnen liegt. Dieser Beitrag möchte diesen grundlegenden Umstand anhand eines kon‐ kreten Textes und zweier hermeneutischer Perspektiven näher untersuchen und fragt davon ausgehend danach, ob (und wenn ja, wie) eine postkoloniale und missbrauchssensible Exegese von Offb 17 fruchtbar miteinander in Verbindung gebracht werden können. Dazu wird zunächst ein genauer Blick auf Offb 17 und 1 Die Übersetzung von pornē als ‚Hure‘ versucht möglichst nahe an die Konnotationen heranzukommen, die frühen Leser: innen der Offenbarung des Johannes mit dem Begriff verbunden haben könnten. Gewählt wurde deshalb bewusst keine neutrale Bezeichnung wie ‚Prostituierte‘ oder ‚sex worker‘ sondern eine, die auch im Deutschen den pejorativen Charakter des griechischen pornē (zumindest in der Offb) beibehält. 2 Dieser Aufsatz nimmt damit auch ein Anliegen auf, das in einer früheren Veröffentli‐ chung der Autorin formuliert worden ist (vgl. Judith König, The ‚Great Whore‘ of Babylon [Rev-17] as a Non-Survivor of Sexual Abuse, in: Religions 13.3 [2022], 267). 3 Für weitere Details zu dieser äußerst spannenden Frage vgl. Julia Snyder, The Canon of the New Testament, in: Patrick Gray (Hg.), The Cambridge Companion to the New Testament, Cambridge 2021, 333-347, und sehr ausführlich Tobias Nicklas, Revelation and the New Testament Canon, in: Craig R. Koester (Hg.), The Oxford Handbook of the Book of Revelation, Oxford 2020, 361-375. spezifisch die Figur der ‚gewaltigen Hure‘ 1 (pornē megalē) geworfen und ihre Eigenart als personifizierte Stadt bedacht. In einem nächsten Schritt werden wichtige Erkenntnisse einer postkolonialen wie einer missbrauchssensiblen Auslegung der Schilderung von der Vernichtung Babylons in Offb 17 vorgestellt, bevor in einem letzten Schritt nach Möglichkeiten einer produktiven Verbin‐ dung beider - in den Augen der Autorin elementarer - Lesarten gesucht wird. 2 2. Methodischer Zugang Diese Untersuchung wird sich Offb 17 aus narrativer Perspektive nähern. Der Text wird im Close Reading untersucht werden, das auch intertextuelle Verbindungen zu anderen - genauer: alttestamentlichen - Texten ernst nimmt. Der historische Kontext der Offb wird aber zusätzlich in der Vorstellung postko‐ lonialer Zugänge zu Offb 17 ebenso eine Rolle spielen wie in den grundlegenden Bemerkungen zur Eigenart der Figur der ‚gewaltigen Hure‘ Babylon. Schließlich sollen auch einige der vielfältigen und divergierenden Perspektiven moderner Leser: innen in den Blick genommen werden. 3. Die Schilderung der Vernichtung Babylons in Offb-17 Der Beispieltext, an dem der Frage nach einer produktiven Verbindung miss‐ brauchssensibler und postkolonialer Bibellektüre nachgegangen werden soll, ist der Offenbarung des Johannes entnommen, einem Text, der wie kein zweiter in der christlichen Bibel umstritten war und es bis heute ist. Dies lässt sich aus historischer Perspektive eindrucksvoll an einem Blick auf die hochkomplexe Geschichte der Offb als Teil einer Sammlung heiliger Schriften erkennen. 3 Wer der Offb in welchem (Verwendungs-)Kontext welchen autoritativen Status zuer‐ kannte, war in Antike und Spätantike regional stark unterschiedlich. Besonders Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0016 118 Judith König 4 Vgl. Nicklas, Revelation (s. Anm. 3), 366 mit Bezugnahme auf Bruce Metzger, The Canon of the New Testament. Its Origin, Development, and Significance, Oxford 1987, 223f. 5 Vgl. exemplarisch für die Problematisierung der Gewaltdarstellung in der Offb Konrad Huber, der von „massive[r] und erschreckend brutale[r] Gewalt“ spricht (Konrad Huber, Vernichtungsphantasien eines Fanatikers? Gewalt in der Offenbarung des Johannes, in: Thomas Hieke/ Konrad Huber [Hg.], Bibel um-gehen. Provokative und irritierende Texte der Bibel erklärt, Stuttgart 2022, 306-312, hier 307). Problematisiert wird die Gewaltdarstellung in der Offb etwa auch in Gerd Häfner, Anstößige Texte im Neuen Testament, Freiburg u.-a. 2017, 199. 6 In Offb 17,6 wird Babylon zumindest als Nutznießerin von Gewalt dargestellt, wenn sie „berauscht vom Blute der Heiligen und vom Blute der Zeugen Jesu“ ist. Kapitel 18 spielt (wohl) auf den Sklavenhandel Babylons an (vgl. Offb 18,13). Siehe dazu Eliza Rosenberg, ‚As She Herself Has Rendered‘. Resituating Gender Perspectives on Revelation’s ‚Babylon‘, in: Adela Yarbro Collins (Hg.), New Perspectives on the Book of Revelation (BETL 291), Leuven u. a. 2017, 545-560, hier 548. Offb 18,23f. wird noch expliziter und spricht von „Giftmischerei“ (pharmakeia) und davon, dass in Babylon „Blut von Propheten und Heiligen gefunden“ wurde. 7 Sofern nicht explizit anders gekennzeichnet folgen alle Zitate des deutschen Textes der Offb der Übersetzung des Frankfurter Neuen Testaments (Stefan Alkier/ Thomas Paulsen, Die Apokalypse des Johannes. Neu übersetzt und mit Einleitung, Epilog und Glossar [Frankfurter Neues Testament 1], Paderborn 2020), das gegenüber der Übersetzung der Einheitsübersetzung oder Lutherbibel den Vorteil hat, dass es sich in der Übersetzung besonders eng an den „syntaktischen, semantischen, pragmatischen und klanglichen Komponenten“ (Alkier/ Paulsen, Die Apokalypse, 3) des griechischen Textes orientiert - ohne freilich der Illusion zu unterliegen, stets alle der aufgezählten Komponenten berücksichtigen zu können. 8 Genau genommen begegnet die Stadtfrau Babylon den Leser: innen bereits im 14. Kapitel der Offb, wo ein Engel die Botschaft ihrer Vernichtung verkündet. Auch dort wird sie bereits als ‚Hure‘ gekennzeichnet, tritt aber als handelnde Figur noch nicht selbst in Erscheinung: „Und ein anderer Engel, ein zweiter, folgte ihnen sprechend mit lauter im Osten blieb die Offb lange umstritten; für Armenien ist etwa erst am Ende des 12. Jahrhunderts eine Übersetzung der Offb ins Armenische belegt, die auch explizit als Teil des Neuen Testaments kanonischen Status besaß. 4 Und auch wenn für die katholische, orthodoxe und protestantische Tradition heute weitgehend unbestritten ist, dass die Offb Teil des Neuen Testaments ist, regt sich auch heute Kritik an ihr. Ein ‚Stein des Anstoßes‘, der für die hier angestrebte Untersuchung besonders relevant ist, stellt die explizite und häufige Darstellung von Gewalt in der Offb dar. 5 Diese Gewalt wird von unterschiedlichen Akteur: innen verübt und richtet sich gegen die Natur ebenso wie gegen verschiedenste Erzählfiguren. Eine Sonderposition unter denen, die in der Offb Gewalt anwenden 6 und denen, die Opfer von Gewalt werden, nimmt die sog. ‚Stadtfrau‘ Babylon ein. Sie wird den Leser: innen in Offb 17,1 als „die Hure, die große“ 7 vorgestellt. 8 Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0016 Postkoloniale und missbrauchssensible Exegese 119 Stimme: ‚Gefallen, gefallen ist Babylon, die Große, die von dem Wein des Ingrimms ihrer Hurerei zu trinken gegeben hat allen Völkern.‘“ (Offb-14,8) Nachdem einer der sieben Engel dem Seher in Offb 17,1 angekündigt hatte, er werde ihm „das Urteil über die Hure, die große“ zeigen, löst der Engel dieses Versprechen auch ein. Johannes sieht „eine Frau sitzend auf einem Tier“ (Offb 17,3), die mit purpur- und scharlachroten Gewändern bekleidet ist und kostbaren Schmuck trägt (vgl. Offb 17,4). In ihrer Hand hält sie „einen Becher, einen goldenen, in ihrer Hand voll von Abscheulichkeiten und hinsichtlich des Unreinen ihrer Hurerei“ (Offb 17,4). Sie ist betrunken vom „Blute der Heiligen und vom Blute der Zeugen Jesu“ (Offb 17,6). In den nächsten Versen folgt ein Monolog des Engels, in dem er Johannes das siebenköpfige Tier mit den zehn Hörnern, auf dem Babylon sitzt, ebenso deutet wie das Wasser, an dem das Tier und Babylon verortet werden (vgl. Offb-17,7-15). Der Engel fährt fort: Und die zehn Hörner, die du gesehen hast, und das Tier, diese werden hassen die Hure und verlassen werden sie sie machen und nackt und ihre Fleischstücke werden sie essen und sie verbrennen im Feuer. Denn Gott gab in ihre Herzen auszuführen seinen Gedanken (Offb-17,16-17a). Bereits wenige Verse später verkündet ein anderer Engel die erfolgreich durch‐ geführte Vernichtung Babylons (vgl. Offb 18,1), die mit der Hurerei (porneia) Babylons begründet wird (vgl. Offb 18,3) und mit der Tatsache, dass „die Kaufleute der Erde aus der Macht ihrer Begierde reich wurden“ (Offb 18,3). Die folgenden Verse kontrastieren die große Trauer der Könige (basileis) und Handelsreisenden (emporoi) über Babylons Untergang (vgl. Offb 18,9-19) mit der Freude, die im Himmel über eben diese Vernichtung Babylons herrscht (vgl. Offb-19,1-4). Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0016 120 Judith König 9 Im Bewusstsein der Problematik einer Anwendung systematisierender Begriffe gegenwärtiger Debatten auf biblische Texte (vgl. dafür auch König, Babylon as a Non-Survivor [s. Anm. 2]) arbeitet dieser Aufsatz mit dem Begriff ‚sexualisierte Gewalt‘. Möglich ist dies deshalb, weil er in den Augen der Autorin ein Phänomen beschreibt, das sich auch in biblischen Texten prinzipiell erkennen lässt. Gemeint ist mit ‚sexualisierter Gewalt‘ die Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung durch Gewalt, die sich sexueller Mittel bedient um Interessen durchzusetzen, die selbst jedoch nicht primär sexuell sind - wie etwa Machtinteressen (vgl. Doris Reisinger/ Ute Leimgruber, Sexueller Missbrauch oder sexualisierte Gewalt? , in: feinschwarz.net, 2021 [https: / / www.feinschwarz.net/ sexueller-missbrauch-oder-sexualisierte-gewalt-ein-einspruch/ ; letzter Zugriff am 24.06.2023]). 10 Mutmaßlich hängt die fehlende Problematisierung auch mit der eindeutigen pejorativen Wertung zusammen, die der Text der Offb Babylon gegenüber vornimmt. Bereits in ihrer ersten Erwähnung als ‚Hure‘ kenntlich gemacht, ist sie sowohl durch sexuelle Verfehlungen als auch durch ihre Gefährlichkeit für die ‚Heiligen‘ unzweifelhaft als negativer Charakter gezeichnet. 11 Vgl. exemplarisch Gail Corrington Streete, The Strange Woman. Power and Sex in the Bible, Louisville 1997, bes. 155-158; Tina Pippin, Apocalyptic Bodies. The Biblical End of the World in Text and Image, London und New York 1999, und Caroline Vander Stichele, Re-Membering the Whore. The Fate of Babylon According to Revelation 17.16, in: Amy-Jill Levine/ Maria M. Robbins (Hg.), A Feminist Companion to the Apocalypse of John, London und New York 2009, 106-120. 12 Zum Phänomen der Stadtfrauen im AT vgl. die wichtigen Monografien von Christl Maier (Daughter Zion, Mother Zion. Gender, Space, and the Sacred in Ancient Israel, 4. Feministische Kritik und missbrauchssensible Lektüre von Offb-17: Die sexualisierte 9 und körperliche Gewalt an der Stadtfrau Babylon Während nicht unerhebliche Teile der neutestamentlichen Exegese die Gewalt, die Babylon angetan wird, zwar wahrnehmen aber nicht weiter problemati‐ sieren, 10 gibt es in der feministischen Bibelwissenschaft bereits seit mehreren Jahrzehnten eine kritische Auseinandersetzung mit der oben geschilderten Ankündigung der (und dem Bericht über die) Vernichtung Babylons. 11 Ein wichtiger Ansatzpunkt der feministischen Kritik, die ein wertvolles Fundament für eine missbrauchssensible Lektüre von Offb 17 bildet, ist die Beobachtung, dass in der Offb Babylon zwar an einigen Stellen eindeutig als Stadt erkennbar ist (vgl. Offb 18,2 und explizit Offb 17,18 und 18,10.16.18.19.21), sie an anderen Stellen aber ebenso eindeutig menschlich, genauer: weiblich personifiziert wird. Sie ist eine ‚Stadtfrau‘. Mit diesem Begriff bezeichnet die Bibelwissenschaft das vor allem im Alten Testament häufig vorkommende und auch außerhalb biblischer Texte belegte Phänomen, geografische Gebiete und besonders Städte weiblich zu personifi‐ zieren. 12 Dies kann sowohl durch bildliche Darstellung (z. B. auf Münzen Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0016 Postkoloniale und missbrauchssensible Exegese 121 Minneapolis 2008) und Milena Heussler (‚War deine Hurerei noch zu wenig? ‘ Zur Metapher der Stadtfrau Jerusalem, Zürich 2021). - Der Zusammenhang von Geschlecht und Land in der Bibel beschränkt sich nicht auf das Phänomen der ‚Stadtfrauen‘. So betont etwa Musa Dube die Tatsache, dass in imperialistischen Narrativen, die sich auch in der Bibel finden, weibliche Erzählfiguren geografische Gebiete repräsentieren können: „In general, if a woman is met, her affections won, then the land she represents will also be entered and domesticated by the colonizer, or it is at least available for the taking of the colonizer, if so desired.“ (Musa Dube, Postcolonial Feminist Interpretation of the Bible, St. Louis 2000, 76). 13 Im AT werden beispielsweise besonders häufig Jerusalem/ Zion entsprechend weiblich personifiziert dargestellt, daneben aber z. B. auch Samaria, Niniveh und Babylon (vgl. dazu u. a. Vander Stichele, Re-Membering [s. Anm. 11], 109-110). Für den nicht-literarischen Bereich weist Maier z. B. auf die Darstellung Antiochias als sitzende Frau mit zinnenbewehrter Krone aus dem 3. Jh. v. Chr. hin (vgl. Maier, Daughter Zion [s.-Anm.-12], 68). 14 Vgl. dazu J. Cheryl Exum, Plotted, Shot and Painted. Cultural Representations of Biblical Women, Sheffield 1996, 104, und Nesina Grütter, Die Blöße der Stadt-Frauen. Überle‐ gungen zur Verwendung der Substantive αἰσχύνη und ἀσχημοσύνη in der Septuaginta, in: Eberhard Bons/ Patrick Pouchelle/ Daniela Scialabba (Hg.), The Vocabulary of the Septuagint and Its Hellenistic Background, Tübingen 2019, 14-29, hier 18-19. 15 Vgl. dazu etwa Ulrike Sals, Die Biographie der ‚Hure Babylon‘. Studien zur Intertextu‐ alität der Babylon-Texte in der Bibel, Tübingen 2004, 31. Sals weist auf Jes 47, Ez 16 und-23 sowie Nah-3 hin. 16 Thomas Hieke geht davon aus, dass bis zu 30% des Textes der Offb in hohen Maße von alttestamentlichen Intertexten beeinflusst sind (vgl. Thomas Hieke, Die literarische und theologische Funktion des Alten Testaments in der Johannesoffenbarung, in: Stefan Alkier/ Thomas Hieke/ Tobias Nicklas [Hg.], Poetik und Intertextualität der Johannesapokalypse [WUNT-I/ 346], Tübingen 2015, 271). oder in Form von Statuen) als auch in literarischer Form erfolgen. 13 Im Alten Testament ist dabei auffällig, dass sowohl die Körperlichkeit der Stadtfrauen betont wird als auch ihre spezifisch weiblichen Geschlechterrollen. Häufig steht dabei ihre Sexualität im Fokus: Die Stadtfrauen werden (oder wurden) geheiratet (vgl. z. B. Ez 16,8; Hos 2,20; Jer 2,2) und sie gebären (vgl. z. B. Jes 66,7; Jer 49,24; Ez 23,4). Ihre Brüste werden beschrieben (vgl. z. B. Ez 16,7; 23.3.8.21) und das Entblößen ihrer Genitalien wird erwähnt (vgl. z. B. Ez 23,39; Jes 47,3; Hos 2,9). 14 In einigen der alttestamentlichen Texte, die den Leser: innen Stadtfrauen präsentieren, werden letztere auch mit sexualisierter Gewalt für eigene sexuelle Aktivität bestraft 15 - ebenso wie Babylon in Offb 17. Besonders vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Offb im Allgemeinen häufig auf alttestamentliche Intertexte für die Sinnkonstitution der eigenen Erzählung verwiesen ist, 16 und dass prophetische Texte, in denen auch die oben erwähnten AT-Stadtfrauen häufig begegnen, zu den besonders häufig mit der Offb ver‐ Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0016 122 Judith König 17 Vgl. Adela Yarbro Collins, Rewritten Prophets. The Use of Older Scripture in Revelation, in: Alkier/ Hieke/ Nicklas, Poetik und Intertextualität (s.-Anm.-16), 291-300, hier 291. 18 Vgl. etwa Streete, Strange Woman (s. Anm. 11), 7-8 (wörtliches Zitat: 7). Ähnlich bei Brian Blount, Revelation. A Commentary, Louisville 2009, 323. Blount betont aber besonders das Motiv der Prostitution und beschränkt sich in den Beispielen nicht auf Stadtfrauen, sondern bezieht sich etwa auch auf Isebel (vg. 2-Kön-9,30-37). 19 Vgl. zur weiblichen Präsentation Babylons etwa Streete, Strange Woman (s. Anm. 11), bes. 153-157, Vander Stichele Re-Membering (s. Anm. 11), oder Blount, Revelation (s. Anm. 18), 310. Michelle Fletcher betont darüber hinaus: „she [d. h. Babylon, J. K.] is presented to the audience as a fleshly body, not just at the start […], but right through until the end of her destruction“ (Michelle Fletcher, Flesh for Franken-Whore. Reading Babylon’s Body in Revelation-17, in: Joan Taylor (Hg.), The Body in Biblical, Christian and Jewish Texts, London/ New York 2014, 144-164, hier: 152). 20 Kursivsetzung: Judith König. bundenen Texten gehören, 17 ist es plausibel, eine intertextuelle Verbindung der Stadtfrau Babylon aus Offb 17 mit den alttestamentlichen Stadtfrauen anzunehmen. Die Stadtfrauen können vor diesem Hintergrund als „scriptural protoype“ der ‚Hure Babylon‘ angesehen werden. 18 (Nicht nur) Vertreterinnen der feministischen Bibelwissenschaft haben auf dieser Basis argumentiert, dass Offb 17-18 nicht nur von der Zerstörung der Stadt Babylon erzählt, sondern - mindestens auch - von der körperlichen und sexualisierten Gewalt an einer weiblichen Erzählfigur, die mit ihrem Tod endet. 19 Wo und wie genau tritt Babylon in Offb 17 den Leser: innen der Offb nun aber als menschliche und weibliche Erzählfigur gegenüber? Bereits die erste Erwähnung Babylons in der Offb in Offb 14,8 verbindet Babylon mit dem Motiv der ‚Hurerei‘ (pornē). Im gleichen Zug wird Babylon rein sprachlich-grammatikalisch als weiblich vorgestellt: Es ist „von dem Wein des Ingrimms ihrer Hurerei (tēs porneias autēs)“ die Rede. 20 Offb 17,1 wird expliziter: Bevor überhaupt ihr Name genannt wird (die Namensnennung erfolgt erst in Offb 17,5) nennt der Engel die Figur „die Hure (pornē), die große“. Die nächste Information, die die Leser: innen über die ‚Hure‘ erhalten, ist die des Sitzens - zweifellos verstärkt dies die Anthropomorphisie‐ rung der Figur, auch wenn das Sitzen keine geschlechtsspezifische Tätigkeit ist. Offb 17,2 erwähnt die sexuelle Aktivität der „Könige der Erde“, die diese mit der ‚Hure‘ durchführen, und wiederholt leicht abgewandelt gegenüber Offb 14,8 die Rede vom „Wein ihrer Hurerei“. Im nächsten Vers wird die Figur schließlich eindeutig und explizit als Frau (gynē) bezeichnet und die Aussage wiederholt, dass sie (auf einem Tier) sitzt (vgl. Offb 17,3). Auch Offb 17,4 reaktiviert die Vorstellung Babylons als Frau, indem der Vers nicht nur die Bezeichnung gynē wiederholt, sondern zudem Gewand und Schmuck der Figur beschreibt. Auch die Verse sechs und sieben betonen die weibliche Personifikation, nachdem Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0016 Postkoloniale und missbrauchssensible Exegese 123 21 Kursivsetzung: Judith König. - Michael Bachmann macht sich für eine von den gegenwärtigen kritischen Textausgaben abweichende Akzentsetzung im griechischen Text stark, die einen Genuswechsel zur Folge hätte und die Übersetzung von ‚Mutter der Huren‘ zu ‚Mutter der Hurer‘ ändern würde (vgl. Michael Bachmann, Wo bleibt das Positive? Zu Offb 6,1f. und 17,5 in Rezeptionsgeschichte und Exegese, in: Martin Karrer/ Michael Labahn [Hg.], Die Johannesoffenbarung. Ihr Text und ihre Auslegung [ABIG-38], Leipzig-2012, 201-203). 22 Vgl. Fletcher, Flesh for Franken-Whore (s. Anm. 19), 152 mit Verweis auf David Aune und Elisabeth Schüssler-Fiorenza. 23 Einfügung in eckigen Klammern und Kursivsetzung: Judith König. 24 Für die Bezeichnung Babylons als Königin vgl. Offb-18,7. in Offb 17,5 die nächste spezifisch weibliche Beschreibung eingeführt worden war. Babylon ist nicht nur Frau und ‚Hure‘, sondern „die Mutter (mētēr) der Huren und der Abscheulichkeiten der Erde.“ 21 Offb 17,6 bezeichnet Babylon noch einmal explizit als Frau (gynē), ebenso wie Offb 17,7 und 9 - dort wird sie dann zum insgesamt sechsten Mal als Frau bezeichnet. In Offb 17,15 nennt der Engel Babylon erneut ‚Hure‘ (pornē). Auch in Offb 17,16 während der Beschreibung der Vernichtung Babylons wird diese als ‚Hure‘ (pornē) bezeichnet. Es soll nicht in Abrede gestellt werden, dass den Leser: innen klar, ist, dass es um das Schicksal einer Stadt geht. Auffallend ist trotzdem, dass den zahlreichen oben aufgezählten Bezeichnungen der Erzählfigur als ‚Hure‘, Frau, und Mutter nur eine Erwähnung des Namens Babylon (vgl. Offb 17,5) gegenübersteht, und dass Babylon erst in Offb 17,18 explizit als Stadt (polis) bezeichnet wird - nach der Beschreibung ihrer Vernichtung in Offb 17,16. 22 Auch wenn es inhaltlich um das Schicksal einer Stadt gehen mag - erzählt wird in Offb 17,16, wie einer weiblichen Erzählfigur körperliche und sexualisierte Gewalt angetan wird. Denn Babylon wird von den zehn Hörnern und dem Tier, nicht nur gefressen (genauer: „ihre Fleischstücke“ werden gefressen) und „im Feuer“ verbrannt. Zuvor „werden [sie] hassen die Hure und verlassen werden sie sie machen und nackt“. 23 Offb 17,16 schildert damit den Fall der scheinbar so mächtigen Königin 24 Babylon „mit der zusammen hurten die Könige der Erde“ (Offb 17,2). Von der begehrten Sexualpartnerin wird sie zur Gehassten und Verlassenen und schließlich auch zu einer, die gewaltsam entblößt wird. Dass das Nacktsein Babylons in Offb 17,16 nicht freiwillig geschieht, markiert der Text deutlich. Die ‚Hure‘ wird von den Hörnern und dem Tier nackt gemacht (poiēsousin autēn … gymnēn). Die sexuelle Konnotation des Nackt-Seins in Verbindung mit der Herbeiführung dieses Zustandes durch andere und der Tatsache, dass das gewaltsame Entblößen von brutaler körperlicher Gewalt flankiert wird, rechtfertigt die Bezeichnung des in Offb 17,16 Geschilderten als sexualisierte Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0016 124 Judith König 25 Für eine Definition des Begriffs ‚sexualisierte Gewalt‘ siehe Anmerkung 9. - Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung kommt John Marshall, der Isebel (vgl. Offb 2,22f.) und Babylon als Frauen „condemned by God to suffer sexual violence“ bezeichnet ( John Marshall, Gender and Empire. Sexualized Violence in John’s Anti-Imperial Apocalypse, in: Levine/ Robbins [Hg.], A Feminist Companion (s. Anm. 11), 17-32, hier 31). - Parallelen hat eine Bezeichnung erzwungener Nacktheit als sexualisierte Gewalt auch in der Diskussion um die Kreuzigung Jesu als sexualisierte Gewalt. Auch hier wird die erzwungene Nacktheit Jesu explizit thematisiert (vgl. etwa Jayme Reaves und David Tombs, Introduction. Acknowledging Jesus as a Victim of Sexual Abuse, in: Jayme Reaves/ David Tombs/ Rocio Figueroa (Hg.), When Did We See You Naked? Jesus as a Victim of Sexual Abuse, London 2021, 1-11, hier: 1). 26 Vgl. dazu die einflussreiche Monographie von Phyllis Trible, die die überwiegend sexualisierte Gewalt an Tamar, Hagar, der namenlosen Frau aus Ri 19 und der Tochter des Jeftah thematisiert und problematisiert: Phyllis Trible, Texts of Terror. Literary-Feminist Readings of Biblical Stories, Philadelphia 1984. - U. a. Irmtraud Fischer wendet den Begriff „Terrortexte“ dann auch auf die Erzählungen an, in denen den (alttestamentlichen) Stadtfrauen Gewalt angetan wird (vgl. Irmtraud Fischer, Liebe, Laster, Lust und Leiden. Sexualität im Alten Testament [Theologische Interventionen 5], Stuttgart 2021, 164). 27 Vgl. etwa Barbara Rossing, The Rapture Exposed. The Message of Hope in the Book of Revelation, Boulder 2004, bes. 133 f.; Brian Blount, Can I Get a Witness? Reading Reve‐ lation through African American Culture, Louisville 2005, sowie bereits Allan Boesak, Comfort and Protest. Reflections on the Apocalypse of John of Patmos, Philadelphia 1987, bes. 111-122, und Pablo Richard, Apocalypse. A People’s Commentary on The Book of Revelation, Maryknoll 1995, bes. 122f. Gewalt. 25 Für die Theologie - besonders für eine solche Theologie, die sich ihrer Verantwortung auch in Auseinandersetzung mit kirchlichem Handeln bewusst ist - ergibt sich daraus im Jahr 2023 ein massives Problem: Wer die Darstellung Babylons als weiblich personifizierter Erzählfigur ernst nimmt muss sich damit auseinandersetzen, dass in einem Text, der als Teil der Sammlung heiliger Schriften eine normative Position für die eigene Religionsgemeinschaft besitzt, sexualisierte Gewalt an einer weiblich-anthropomorphen Erzählfigur nicht nur erzählt wird. Vielmehr wird diese Gewalt auch explizit als göttlich veranlasst beschrieben (vgl. Offb 17,17; 18,5.20) und damit von höchster Stelle legitimiert. 5. Postkoloniale Kritik: Die Vernichtung Babylons als Triumph über die Kolonialmacht Rom? Die Erzählung von der Vernichtung Babylons lässt sich aber nicht nur als „text of terror“ 26 lesen, der die gewaltsame Kontrolle weiblicher Sexualität mit den Mitteln (sexualisierter) Gewalt göttlich legitimiert, sondern ganz im Gegenteil auch als Text, der seinen Leser: innen Hoffnung macht - Hoffnung auf göttliche Befreiung aus Unterdrückung. 27 Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0016 Postkoloniale und missbrauchssensible Exegese 125 28 Gelegentlich werden auch die Jahre kurz vor oder nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels für die Datierung der Offb vorgeschlagen. Für eine Zusammenstellung der Datierungsansätze und der dafür aufgeführten Argumente vgl. Akira Satake, Die Offenbarung des Johannes (KEK 16), Göttingen 2008, 51-58, und Martin Karrer, Johannesoffenbarung (Offb. 1,1-5,14) (EKK 24/ 1), Ostfildern 2017, 50-70. - Die Adressat: innen-Frage ist weitgehend unbestritten. 29 Für eine ausführliche Untersuchung zur Geschichte der römischen Kolonien in Klein‐ asien vgl. Eckhard Stephan, Honoratioren, Griechen, Polisbürger. Kollektive Identitäten innerhalb der Oberschicht des kaiserzeitlichen Kleinasien (Hypomnemata 143), Göt‐ tingen 2002 (bes. Kapitel-3.1. Römische Provinzialverwaltung). 30 Vgl. dazu etwa Blount, Can I Get a Witness? (s. Anm. 27), ixf.; Stephen Moore, The Revelation to John, in: F. Segovia und R. Sugirtharajah (Hg.), A Postcolonial Commentary on the New Testament Writings (The Bible and Postcolonialism 13), London 2009, 436-454, hier 441, und Rossing, Rapture Exposed, bes. 105-106 und 157-158. Die oben angeführten Linien der Forschung zur Offb als Imperiumskritik bleiben notwendigerweise holzschnittartig. Für eine ausführlichere Beschäftigung mit wichtigen Argumenten sowie den Vorschlag, die Offb differenzierter und damit weder ausschließlich überzeitlich-mythologisch noch rein imperiumskritisch zu lesen vgl. Tobias Nicklas, Die Johannesapokalypse zwischen Sozialkritik, Geschichtsdeutung und ‚Mythos‘, in: Cambry Pardee/ Jeffrey Tripp (Hg.), Sacred Texts & Sacred Figures. The Reception and Use of Inherited Traditions in Early Christian Literature (Festschrift Edmondo F. Lupieri; Judaïsme antique et origins du christianisme 25), Turnhout 2022, 201-232. 31 Marshall, Gender and Empire (s.-Anm.-25), 32. 32 So etwa bei Streete, Strange Woman (s. Anm. 11), 153; Blount, Revelation (s. Anm. 11), 274 und 314; Klaus Berger, Die Apokalypse des Johannes. Kommentar, Bd. 2), Freiburg i. Br. 2017, 1188; Lynn Huber, Revelation, in: Benjamin H. Dunning (Hg.), The Oxford Handbook of New Testament, Gender, and Sexuality, Oxford 2019, 349-369, hier 355, und Lynne St. Clair Darden, Scripturalizing Revelation. An African American Postcolonial Reading of Empire (SemeiaSt 80), Atlanta 2015, 120 und 136. - Anders Edmondo Lupieri, der es für wahrscheinlicher hält, dass die Leser: innen Babylon Diese Lesart ergibt sich zum einen im Blick auf die Entstehungssituation der Offb als plausible Leseperspektive früher Leser: innen. Folgt man der Mehrheit der gegenwärtigen Forschung zur Offb, lässt sich der Text in das späte 1. oder frühe 2. Jahrhundert datieren und als Erzählung verstehen, die sich an Christusanhänger: innen in Kleinasien richtet 28 - einem Gebiet, das im 1. und 2. Jahrhundert vom Imperium Romanum kontrolliert wurde. 29 Zahlreiche Exeget: innen interpretieren vor diesem historischen Hintergrund die Offb als einen Text der mehr oder weniger offenen Kritik am Imperium Romanum und als einen Text der Ermutigung für diejenigen, die unter der Brutalität des Imperiums und seiner Zwänge litten. 30 So betont etwa John Marshall: „Revelation is a document of resistance to Rome’s colonial empire.“ 31 Auch Offb 17-18 spielen in dieser Lesart der Offb eine wichtige Rolle, wird die ‚große Hure‘ Babylon doch üblicherweise als Chiffre für Rom verstanden: 32 „She is Rome. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0016 126 Judith König mit Jerusalem identifizieren sollen (vgl. Edmondo Lupieri, A Commentary on the Apocalypse of John, Grand Rapids 2006, bes. 223-225). Aufgenommen wurde diese Interpretationsmöglichkeit in jüngerer Zeit etwa von Francis Moloney, The Apocalypse of John. A Commentary, Grand Rapids 2020, bes. 260. 33 Blount, Revelation (s.-Anm.-11), 323. 34 So verweist Michael Bachmann etwa darauf, dass die „Johannesoffenbarung in Krisen‐ zeiten der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit - etwa unter dem südafrikanischen Apartheidsystem […] als Trostschrift gelesen wurde und wird“ (Bachmann, Wo bleibt das Positive? [s.-Anm.-21], 198). Vgl. auch Rossing, Rapture Exposed, 127. 35 Freilich ist in der Rezeptionsgeschichte der Offb auch das Gegenteil zu finden, wenn Kolonialmächte etwa die Verheißung der tausendjährigen Herrschaft der Zeug: innen mit Christus in Offb 20 als Ermutigung für die eigene Tätigkeit lasen. So weisen Judith Kovacs und Christopher Rowland auf den spanischen Dominikaner und Missionar Francisco de la Cruz und seine Interpretation von Offb 20 im Licht der Kolonialisierung Südamerikas hin: „De la Cruz predicted the coming of an idyllic society free from the attacks of Satan […]. The millenium was the ideal model of a colonial society ruled by a morally liberal Creole aristocracy. The encomienda system, in which indigenous people would work for the colonizers in return for the protection of Spain, would continue within a hierarchical society“ ( Judith Kovacs/ Christopher Rowland, Revelation. The Apocalypse of Jesus Christ, Malden u.-a. 2004, 212). 36 Vgl. etwa Bachmann, Wo bleibt das Positive? (s. Anm. 21), 198; Boesak, Comfort and Protest, und Rosenberg, As She Herself Has Rendered (s. Anm. 6), 549-550 (mit Verweis u. a. auf Allen Callahan, The Talking Book. African Americans and the Bible, Yale und London 2006). […] [Together with the beast she] represents the reality of Rome’s power. The woman particularly represents Rome’s economic seduction.“ 33 Im Anschluss an diese Rekonstruktion der ursprünglichen Funktion des Textes als Ermutigung in der Situation des Leidens unter einer brutalen Kolo‐ nialmacht wurde die Offb über die Jahrhunderte hinweg aber auch in anderen historischen Kontexten als Text gelesen, der im Angesicht von Unterdrückung die Hoffnung auf göttliche Gerechtigkeit kommuniziert. 34 Dies ist auch - und in besonderer Weise - in solchen Kontexten zu beobachten, die besonders spürbar von kolonial-rassistischen Strukturen geprägt waren und sind. 35 Neben dem Apartheid-Regime in Südafrika werden dabei in der Forschungsliteratur immer wieder auch die Sklaverei in Nordamerika des 17. bis 19. Jahrhundert genannt. 36 Wandelt sich vor diesem Hintergrund das Gesicht von Offb 17-18? Schließ‐ lich ist aus postkolonial-exegetischer Perspektive stets die zentrale Frage zu berücksichtigen, die Musa Dube in ihrem Aufsatz Rahab Says Hello to Judith (2003) stellt: „Do they [i.e. biblical texts] provide us with any paradigm for relations of liberating interdependence in economic, political, and cultural spheres? Or do they provide for oppressive relations, and, if so, how can our Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0016 Postkoloniale und missbrauchssensible Exegese 127 37 Musa Dube, Rahab Says Hello to Judith. A Decolonizing Feminist Reading, in: Fernando F. Segovia (Hg.), Toward a New Heaven and a New Earth. Essays in Honor of Elisabeth Schüssler Fiorenza, Maryknoll 2003, 54-72, hier 55. 38 Dube, Postcolonial Feminist Interpretation (s.-Anm.-12), 17. 39 James Resseguie interpretiert die Aufzählung der 28 (4 x 7) verschiedenen Waren, die die Kaufleute in Offb 18,12f. als die Dinge aufzählen, die sie vorher an Babylon verkauft hätten, als Symbol der vollkommenen „world-wide dominance“ Babylons ( James Resseguie, The Revelation of John. A Narrative Commentary, Grand Rapids 2009, 230). 40 Vgl. Rosenberg, As She Herself Has Rendered (s.-Anm.-6), bes. 548-549. 41 Dass der Hinweis auf Sklav: innen die Aufzählung beschließt und infolgedessen an besonders exponierter Stelle in der Aufzählung steht, betont etwa Rosenberg, As She Herself Has Rendered (s.-Anm.-6), 548. 42 Vgl. dazu etwa Jennifer Glancy, Slavery in Early Christianity, Oxford 2002, 10, und Rosenberg, As She Herself Has Rendered (s.-Anm.-6), 548. reading practices transform them into liberating texts? “ 37 In anderen Worten: „a postcolonial reader is challenged to ask […] how to read for empowering the disempowered areas and races or creating a better system.“ 38 Vor diesem Hintergrund sollte in der Tat das rassismus- und kolonia‐ lismus-kritische Potential der Offb ernstgenommen werden. Für die Lektüre von Offb 17 und 18 bedeutet dies, dass es zumindest widerspruchslos möglich ist, die Vernichtung der ‚großen Hure‘ als Befreiung von einer imperialen Macht zu lesen, die enormen wirtschaftlichen Einfluss hat (vgl. Offb 18,3.11-13.15- 17.19) 39 und die sich überdies am Sklav: innenenhandel beteiligt. 40 Die Liste der Waren, die die Kaufleute nun nicht mehr an Babylon verkaufen können, schließt in Offb 18,13b mit dem Hinweis auf (Ware von) „Pferden und von Wagen und von Leibern und Leben von Menschen“. 41 Das bei Alkier und Paulsen als ‚Leiber‘ übersetzte sōma(ta) ist im Griechischen eine der gängigen Bezeichnungen für Sklav: innen. 42 Die Vernichtung Babylons beendet in dieser Perspektive gelesen nicht nur die (sexuell chiffrierte) Untreue der Menschen gegenüber Gott, sondern auch die Abhängigkeit und wirtschaftliche Ausbeutung durch die imperiale Macht ‚Babylon‘. 6. Missbrauchssensible und postkoloniale Perspektiven in Verbindung bringen? - 6.1. Forschungsethische Erwägungen Schließen sich missbrauchssensible und postkoloniale Lesarten der Offb also gegenseitig aus? Bleiben die sexuell missbrauchte und brutaler Gewalt ausge‐ Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0016 128 Judith König 43 Die Überlegungen oben beziehen sich bewusst auf den wissenschaftlichen Kontext. Selbstverständlich können in anderen Kontexten weitere Erwägungen eine wichtige Rolle spielen, darunter z. B. traumasensible Bibellektüren für die Begleitung von Überlebenden sexualisierter Gewalt. 44 Dube, Postcolonial Feminist Interpretation (s.-Anm.-12), 16. 45 Dube, Postcolonial Feminist Interpretation (s.-Anm.-12), 122. setzte weibliche Erzählfigur und die endlich für ihre Taten zur Rechenschaft gezogene Kolonialmacht unverbunden nebeneinander stehen? Eine solche Trennung beider Perspektiven hätte aus forschungsethischer Sicht ernsthafte Folgen. 43 Beide Lesarten würden dann nämlich jeweils einen Kontext aus‐ blenden, der aus gegenwärtiger Perspektive nicht einfach als einer unter vielen möglichen gesehen werden sollte, sondern in der deutschen theologi‐ schen Bibelwissenschaft in den Augen der Autorin des vorliegenden Beitrags besondere Beachtung finden muss. Diese prioritäre Bedeutung missbrauchs‐ sensibler und postkolonialer Bibellektüren ergibt sich zum einen aus der Ver‐ antwortung von Theologie für eine kritischen Analyse kirchlichen Handelns, das gegenwärtig ganz besonders in Bezug auf den Umgang mit sexualisierter Gewalt, Missbrauch und Vertuschung zu begleiten und hinterfragen ist. Zum anderen aber ist Deutschland ehemalige Kolonialmacht. „[This] challenges Western readers to be aware of their history of hegemonic power and to scrutinize their current interpretations to avoid repetition of the victimizing of non-Western races.“ 44 - 6.2. Die Impulse der postkolonialen Exegese Glücklicherweise fordert die postkoloniale Exegese nicht nur dazu auf, sich der eigenen Verantwortung als - im Fall der Autorin des vorliegenden Beitrags weiße europäische - Bibelwissenschaftlerin zu stellen. Sie bietet interessierten Leser: innen auch wertvolle Impulse, wie dies gelingen kann, ohne feministische (und im Fall von Offb 17-18: missbrauchssensible) Anliegen aufzugeben. Musa Dube betont: „feminist readers of colonizing nations can choose to also read for decolonization.“ 45 Für unseren Testfall Offb 17-18 wird dies deutlich, wenn man (und frau) sich vor Augen hält, dass Babylon nicht entweder als Opfer von körperli‐ cher und sexualisierter Gewalt interpretiert werden muss oder als besiegte Kolonialmacht. Stattdessen ist mit der Stadtfrau Babylon eine „ambivalent identification as representing both imperial power as well as a victim of Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0016 Postkoloniale und missbrauchssensible Exegese 129 46 Shanell Smith, The Woman Babylon and the Marks of the Empire. Reading Revelation with a Postcolonial Womanist Hermeneutics of Ambiveilence, Minneapolis 2014, 133 (Kursivsetzung: Judith König). 47 St. Clair Darden, Scripturalizing Revelation (s. Anm. 32), 138. Ähnlich bei Moore, der betont: „Revelation, though passionately resistant to Roman imperial ideology, paradoxically and persistently reinscribes its terms […]. For the divine empire that Revelation proclaims is anything but independent from the Roman Empire. Instead, it is parasitic on it“ Moore, Revelation (s.-Anm.-30), 451. 48 Moore, Revelation (s. Anm. 30), 446. Zur Problematik der Imitation imperialer Strukturen als Versuch des Empowerment vgl. auch Dube, Postcolonial Feminist Interpretation (s. Anm. 12), 37 (dort in Anwendung auf das Kyriarchie-Konzept Elisabeth Schüssler Fiorenzas). 49 St. Clair Darden, Scripturalizing Revelation (s.-Anm.-32), 155. oppression“ 46 verbunden. An der Figur der Stadtfrau Babylon und der Art und Weise, wie die Offb über ihr Schicksal erzählt, lässt sich nämlich exemplarisch zeigen, was die neuere postkolonial orientierte Exegese für die Offb insgesamt konstatiert: In der literarischen Inszenierung des kosmischen Kampfes gegen die Mächte des Bösen, zu denen auch Babylon gehört, erzählt die Offb nicht die Überwindung imperialer Systeme und ihrer Denkweisen. Stattdessen kann sie selbst als „recycled imperialism“ 47 interpretiert werden. In ihrem Versuch, den römischen Kaiserkult parodierend als schwach, ja letztlich satanisch, zu entlarven, gelingt es der Erzählung doch nicht, sich aus den vorherrschenden imperialen Mustern zu lösen. Stephen Moore betont: „[in Revelation, J. K.] parody or mockery of the imperial order constantly threatens to keel over into mimicry, imitation and replication“. 48 Dies gilt auch für die Beschreibung der Vernichtung Babylons in Offb 17 und 18. So wird die gewalttätige Macht ‚Babylons‘ mitnichten gewaltlos gebrochen. Stattdessen setzt sich die Gewalt, die ‚Babylon‘ in Offb-17 vorgeworfen wird, mit und auch nach ihrer Entmachtung ungebrochen fort: Instead of reconceptualizing the performances as preliminiary acts for establishing the nonviolent, peaceful, and holistic transformation of the old world into the new Jerusalem, John maintains the status quo and imagines a new world order founded on violence and bloodshed. 49 Diese ‚new world order‘ trägt auch außerhalb ihrer Charakterisierung als grundsätzlich gewalttätig deutlich imperiale Züge, wenn man einen Blick auf das Thema Sklaverei wirft. Auch wenn in Offb 18,13 die Beteiligung ‚Babylons‘ am Sklav: innenhandel markant am Ende der Liste ihrer Verfehlungen steht, ist das neue Imperium, dessen Sieg herbeigesehnt wird, mitnichten frei von Abhängigkeit. Zumindest sprachlich finden wir auch nach Offb 18 Sklav: innen: Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0016 130 Judith König 50 Vgl. Marshall, Gender and Empire (s. Anm. 25), 32. Für die Konstruktion eines Systems der Abhängigkeiten als eines der zentralen Kennzeichen von Imperialismus vgl. Dube, Postcolonial Feminist Interpretation (s.-Anm.-12), 36. 51 Dube, Postcolonial Feminist Interpretation (s.-Anm.-12), 73. Dann, wenn von den ‚Knechten‘ Gottes (douloi - neben sōma ein weiterer geläufiger Begriff für Sklaven) die Rede ist (vgl. Offb-19,2.5; 22,3.6). 50 Und schließlich ist der Einsatz von Gewalt gegen Frauen innerhalb von Narrativen nicht nur Thema feministischer (und missbrauchssensibler) Ansätze, sondern elementarer Bestandteil postkolonialer Theorien. Denn: „imperialism employs gender relations to articulate ideologies of subordination and domi‐ nation.“ 51 Auch hinsichtlich dieses Prinzips bleibt die Offb in der imperialen Denklogik verhaftet: Kontrolle und Einfluss werden auch in Offb 17 und 18 über die Kontrolle weiblicher Sexualität ausgedrückt. Ein derartig kritischer Blick auf die Perpetuierung imperialer Strukturen durch ihre Reinszenierung in der Offb kann gleichzeitig auch ein feministischer und missbrauchssensibler - und damit ein intersektionaler - Blick auf die Offb sein. 7. Fazit Entscheidend dafür, ob biblische Texte das ihnen eigene Potential entfalten können, die befreiende Botschaft eines Gottes, der immer an der Seite der Unterdrückten steht, zu erzählen, ist der Kontext in denen sie gelesen, erzählt, gehört und diskutiert werden. Jedes In-Kontakt-Kommen mit biblischen Erzäh‐ lungen geschieht in einem komplexen Netz aus gesellschaftlichen, religiösen und individuellen Bezügen. Für den Kontext wissenschaftlicher Theologie in Deutschland scheint es der Autorin des vorliegenden Beitrags unverzichtbar darauf zu achten, mul‐ tiperspektivisch zu denken und sensibel besonders auch für die jeweiligen intersektionalen Verflechtungen zu bleiben. Ein konkreter Punkt für weitere Untersuchungen, die sowohl feministisch-missbrauchssensible als auch postko‐ loniale Perspektiven ernst nehmen möchten, könnte beispielsweise die genauere Untersuchung der Machtstrukturen auf den verschiedenen kommunikativen Ebenen von Offb 17-18 sein. Wie genau konstruiert und dekonstruiert die Erzählung Macht? Wer hat (keine) Macht über andere und warum? Ein multiperspektivisch-sensibler Blick auf den Text kann zusätzlich nur dann gelingen, wenn im wissenschaftlichen Diskurs auch die Perspektive derer wahr- und ernstgenommen wird, die von den verhandelten Fragen direkt betroffen sind. Der vorliegende Aufsatz hat versucht, dies nicht nur durch Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0016 Postkoloniale und missbrauchssensible Exegese 131 52 Zur elementaren Wichtigkeit der Auswahl von Sekundärliteratur für die Ausgewogen‐ heit wissenschaftlich-theologischer Diskurse vgl. Ute Leimgruber, ‚Hidden Patterns‘. Überlegungen zu einer machtsensiblen Pastoraltheologie, in: ET-Studies 11.2 (2020), 207-224, hier 220. intellektuelle Anstrengung, sondern auch durch die bewusste und zielgerichtete Auswahl der verwendeten Sekundärliteratur umzusetzen. 52 Judith König studierte Katholische Theologie in Re‐ gensburg. Seit November 2023 ist sie Akademische Rätin a.Z. am Lehrstuhl für Exegese und Hermeneutik des Neuen Testaments an der Universität Regensburg wo sie bereits seit 2017 forscht und lehrt. Ihre Forschungs‐ schwerpunkte liegen im Bereich der narrativen Exegese, Körperlichkeit, und Sexualität. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0016 132 Judith König Buchreport Michael Sommer Moritz Gräper The Bible and Apartheid. Contested Interpretations in the History of Christianity in South Africa and Beyond Wiesbaden: Harrasowitz Verlag 2019 (Studien zur Außereuropäischen Christentumsgeschichte [Asien, Afrika, La‐ teinamerika]-12) XVIII. 262 S. ISBN: 978-3-447-11222-2 eISBN: 978-3-447-19875-2 Ohne jeden Zweifel ist die Bibel bei einer missbräuchlichen Auslegung ein gewalttätiges Buch. Einige ihrer Texte besitzen das Potenzial, zur Legitimation von Unterdrückung und Ausgrenzung instrumentalisiert zu werden. Die Bibel ist schlichtweg das, was man aus ihr macht. Gerade deshalb gehört eine grundlegende Einführung in biblische Hermeneutik zu den verschiedenen Curricula der theologischen Ausbildung dazu, insofern Umgangsstrategien für Texte mit Gewaltpotenzial praxisrelevant für alle sind, die sich einer Theologie der Gerechtigkeit und Freiheit verpflichtet fühlen. Die Geschichte der Bibelauslegungen hält leider viele erschreckende und gleichsam mahnende Beispiele für missbräuchliche Interpretationen bereit. Man muss nicht sehr weit in die Vergangenheit gehen, um zu erkennen, dass biblische Texte mit nur wenigen exegetischen Handgriffen zu einem Instrument der Diskriminierung gemacht werden können. Die Geschichte ist sicherlich ein Lernort für eine gewaltsensible Bibelhermeneutik und gehört gleichzeitig im Kontext einer verantwortungsbewussten Theologie aufgearbeitet. Antijüdische Auslegungen in der dunkelsten Stunde der deutschen Geschichte, das Eisenacher Institut oder die Person Walter Grundmann werden im Theologiestudium deshalb breit behandelt und begegnen wohl nicht nur in neutestamentlichen Veran‐ staltungen. Leider zählte - zumindest in meinem Theologiestudium - die Aufarbeitung des außereuropäischen Missbrauchs nur zu den blinden Flecken und Nischenthemen. Themen wie die Rolle der Bibel in der nordafrikanischen Sklaverei oder der Kolonialgeschichte - und das kann als Plädoyer dieses Bandes gelten - gehen westliche Theologen an und müssen in Forschung und Lehre einen zentralen Stellenwert erhalten. Moritz Gräpers Dissertation „The Bible and Apartheid. Contested Interpretations in the History of Christianity in South Africa and Beyond“ leistet einen zentralen Beitrag, um hieran etwas zu ändern. Seine Arbeit deutet nicht nur darauf hin, dass in der deutschsprachigen Bibelexegese ein Desiderat in den postkolonialen Studien besteht, sondern ebenso, dass die Geschichte der Bibelauslegung samt ihrer Schattenseiten eine eurozentristische Schlagseite hat. Seine Arbeit setzt sich nicht nur zum Ziel, den Gebrauch oder besser den Missbrauch der Bibel in Diskursen zur Legitimation und Konstruktion der Apartheid darzulegen. Vielmehr zeigt er ebenso, welchen Stellenwert die Bibel in der Geschichte der Überwindung der Apartheid hatte. Gräper demonstriert anschaulich, wie dabei die gleichen biblischen Texte un‐ terschiedlich und vor allem gegenläufig gelesen wurden. In einer methodischen Einleitung (S. 1-40) führt Gräper in die postkoloniale Theorie und ihre Chancen für die Bibelexegese ein. Erwähnenswert ist besonders, dass er ausführlich seinen eigenen hermeneutischen Standort selbstkritisch reflektiert (S. 33-40) und im Anschluss an Mark G. Brett sich selbst biographisch verortet, um einer kulturimperialistischen Bewertung der Geschichte entgegenzuwirken. Sein zweites Kapitel wirft einen ausführlichen Blick auf die Geschichte der Kolonialisierung Südafrikas und auf die Missionsgeschichte, die er als Funda‐ ment der Apartheid begreift (S. 41-64). Kapitel 3 ist das Herzstück des Buches (S. 65-158). Es ist in sich zweigeteilt (Legitimizing Apartheid with Scripture 134 Michael Sommer [S. 65-101] und Opposing Apartheid with Scripture [S. 102-158]), und stellt die Bibelauslegung der die Apartheid legitimierenden Autoren ( J. G. Strydom; W. J. van der Merwe; Totius; E. P. Groenewald; G. B. A. Gerdener; A. B. Du Preez; W. J. Snymann u. a.) Diskursen und Autoren gegenüber, die sich für die Abschaffung der Apartheid einsetzten (Christian Council; B. J. Marais; B. B. Keet; A. Geyser; The Cottesloe Consultation; Ope Brief; The Kairos Document u. a.). Gräper führt in die Kontexte und inhaltlichen Positionen der jeweiligen Autoren ein, verortet sie im größeren Umfeld des Apartheid-Diskurses und analysiert ihre Bibelher‐ meneutik (in erster Linie fokussiert er dabei ihren Umgang mit Gen 11; Apg 2; Apg 17,26 und Gal 3,28, die als loci classici des Apartheid-Diskurses gelten). Gerade bei diesem Punkt räumt Gräper das von W. S. Voster in den 1980er Jahren vertretene Urteil aus dem Weg, dass die Befürworter der Apartheid und die Gegenbewegung mit der gleichen selektiven Bibelhermeneutik gearbeitet hätten. Zumindest in einigen Auslegungen der Gegenbewegung führte, so Gräper, eine historische Perspektive auf die Entstehungssituation der biblischen Literatur zu einer Kritik an rassistischen Auslegungspatterns (S. 155). Dennoch resümiert er einräumend: Bewertet man beide Seiten des Diskurses nach ihren hermeneutischen Kategorien, muss festgestellt werden, dass es zu kurz greifen würde, zu resümieren, die legitimie‐ renden Stimmen haben die Bibel missbraucht und der Widerstand hatte die exegetisch besseren Interpretationen. Vielmehr war entscheidend, mit welchen Grundwerten die Akteure an das Alte und Neue Testament herangetreten sind. Der Apartheidsdiskurs ist so ein Paradebeispiel für das zutreffende Diktum, dass Exegese ultimativ immer auch Eisegese ist (S.-214-215). Gerade deshalb widmet sich Gräper im abschließenden Kapitel seines Buches der Konstruktion sozialer Identität im frühen Christentum und der Gegenwart (S. 159-208). Er verdeutlicht, dass frühchristliche Literatur durch den Gebrauch von Othering-Techniken des ersten Jahrhunderts eine gewisse Interpretations‐ offenheit besitzt, die Ansatzpunkte für diskriminierende Auslegung bietet und betont. Denn die biblischen Texte weisen auch in ihrem historischen Kontext gelesen durchaus teilweise Tendenzen der Betonung von Partikularität und Ethnizität sowie der Hierarchisierung von Gruppenzugehörigkeiten auf. […] Um den Ambivalenzen der biblischen Texte sowie ihrer Rezeptionsgeschichte theologisch verantwortungs‐ voll zu begegnen, ist eine umfassende Ethik der Interpretation notwendig. […] Eine solche Ethik beinhaltet immer auch die Option zur Opposition gegen einen biblischen Text. Denn lange nicht alle Verse des Alten und Neuen Testaments ‚sind auf der Seite der Menschenrechte‘ (S.-214-215). Buchreport 135 Gräpers Zitat von I. J. Mosala verdeutlicht besonders die große Leistung der Arbeit. Er verliert sich weder in einer blanken geschichtlichen Abhandlung über den Apartheid-Diskurs noch in einer einseitigen Kritik der Vergangenheit, sondern entwickelt aus einem reflektierten, historischen Bewusstsein eine verantwortete Bibelhermeneutik für die Gegenwart. Eine Lektüre von Gräpers Buch ist nicht nur für Leserinnen und Leser empfehlenswert, die zum Miss‐ brauch biblischer Literatur arbeiten, sondern für alle eine Bereicherung, die eine verantwortungsvolle, rassismuskritische und gerechte Bibellektüre in der Gegenwart entwickeln möchten. 136 Michael Sommer Herausgegeben von Susanne Luther Jan Heilmann Michael Sommer in Verbindung mit Stefan Alkier Kristina Dronsch Ute E. Eisen Werner Kahl Matthias Klinghardt David Mofitt Tobias Nicklas Heidrun Mader Hanna Roose Angela Standhartinger Christian Strecker Manuel Vogel Anschrift der Redaktion Susanne Luther Georg-August-Universität Theologische Fakultät Platz der Göttinger Sieben 2 37073 Göttingen Manuskripte Zuschriften, Beiträge und Rezensionsexemplare werden an die Adresse der Redaktion erbeten. Eine Verp ichtung zur Besprechung unverlangt eingesandter Bücher besteht nicht. ZNT Heft 52 · 26. Jahrgang · 2023 Impressum Bezugsbedingungen Die ZNT erscheint halbjährlich (April und Oktober) Einzelheft: € 35,zzgl. Versandkosten Abonnement jährlich (print): € 55,- Abonnement jährlich (print & online): € 69,- Abonnement (e-only): € 58,- Bestellungen nimmt Ihre Buchhandlung oder der Verlag entgegen: Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 D-72015 Tübingen Telefon: +49(0) 70 71 97 97 0 Fax +49(0) 70 71 97 97 11 eMail: info@narr.de Internet: www.narr.de Anzeigen Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Telefon: +49(0) 70 71 97 97 10 © 2024 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG ISBN 978-3-381-10121-4 ISSN 1435-2249 Die in der Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieser Zeitschrift darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Fotokopie, Mikro lm oder andere Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsanlagen, verwendbare Sprache übertragen werden. BUCHTIPP Stefan Silber Postkoloniale Theologien Eine Einführung 1. Auflage 2021, 272 Seiten €[D] 29,90 ISBN 978-3-8252-5669-2 eISBN 978-3-8385-5669-7 Postkoloniale und dekoloniale Studien machen immer mehr von sich reden. In den letzten zwei Jahrzehnten entwickelte sich weltweit bereits eine vielfältige Rezeption dieser kritischen Denkweisen auch in der Theologie. Dieses Lehrbuch zielt auf einen grundlegenden Einblick in diese weltweit diskutierte vielfältige Strömung. In den letzten beiden Jahrzehnten entwickelten sich in unterschiedlichen Kontexten und Sprachräumen weltweit verschiedene Versuche, die Lernfortschritte der postkolonialen Studien auch für die Theologie fruchtbar zu machen. Das Lehrbuch greift viele dieser Beispiele auf und ordnet sie nach einer Systematik, die sich an zentralen Begriffen und Methoden der postkolonialen Studien orientiert. Zahlreiche Beispiele, Literaturhinweise und vorgestellten Autor: innen regen dazu an, sich vertieft mit einzelnen Themenbereichen und/ oder Autor: innen auseinanderzusetzen. Zuletzt widmet sich das Buch auch möglichen Konsequenzen für Theologie und Kirche in Mitteleuropa. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de 52 www.narr.digital Bereits bei einer Lektüre von Einleitungen und Handbüchern stößt man auf methodische Paradigmen und Geschichtsbilder über das frühe Christentum, die zutiefst den Geist Europas des 19. Jahrhunderts atmen und unhinterfragt als Geschichtswahrheit postulieren. Schulbücher, praktische Handreichungen und Bildungsformate zur Geschichte des Christentums stehen auf dem gleichen Fundament. Die Postcolonial Studies haben in den letzten Jahren nicht nur ein kritisches Bewusstsein für die Eurozentriertheit dieses Denkens geschaffen, sondern verdeutlichten ebenso, dass es jenseits der westlichen Auslegungstraditionen einen enormen Reichtum an inspirierenden, kreativen und innovativen Bibelauslegungen gibt, die durch die Vorherrschaft westlicher Leseweisen in Wissenschaft und theologischer Praxis kaum Beachtung fanden. Mit Beiträgen von Stefan Alkier, Abraham Boateng, Roland Deines, Werner Kahl, Paula Kautzmann, Judith König, Michael Sommer. POSTKOLONIALISMUS / POSTCOLONIAL STUDIES ZNT 52 Heft 52 · 26. Jahrgang · 2023 ZNT Zeitschrift für Neues Testament Das Neue Testament in Universität, Kirche, Schule und Gesellschaft Susanne Luther, Jan Heilmann, Michael Sommer (Hrsg.) 52 POSTKOLONIALISMUS / POSTCOLONIAL STUDIES ISBN 978-3-381-10121-4
