ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
61
2024
2753
Dronsch Strecker Vogel52 www.narr.digital Der Römerbrief ist vermutlich der am intensivsten kommentierte Brief des Neuen Testaments. Luther befand ihn nicht zuletzt wegen seiner Bedeutung für die Rechtfertigungslehre als das „eigentliche Hauptstück des Neuen Testaments und das allerlauterste Evangelium“. Das vorliegende Heft gibt einen Einblick in neuere Tendenzen der Römerbriefforschung. Dabei ist festzustellen, dass z.B. die Eigenlogik der paulinischen Theologie gegenüber einer lutherischen Perspektive in den Vordergrund gerückt und das Verhältnis zu den übrigen Schriften des Neuen Testaments intensiv diskutiert wird. Mit Beiträgen von Stefan Alkier, Douglas A. Campbell, Jan Dochhorn, Johannes Greifenstein, Thomas Paulsen, Konrad Schwarz, Nadine Ueberschaer, Markus Vinzent und Manuel Vogel. RÖMERBRIEF ZNT 53 Heft 53 · 27. Jahrgang · 2024 ZNT Zeitschrift für Neues Testament Das Neue Testament in Universität, Kirche, Schule und Gesellschaft Jan Heilmann, Susanne Luther, Michael Sommer (Hrsg.) 53 RÖMERBRIEF ISBN 978-3-381-12251-6 Herausgegeben von Jan Heilmann Susanne Luther Michael Sommer in Verbindung mit Stefan Alkier Kristina Dronsch Ute E. Eisen Werner Kahl David Mofitt Tobias Nicklas Heidrun Mader Hanna Roose Angela Standhartinger Christian Strecker Manuel Vogel Anschrift der Redaktion Susanne Luther Georg-August-Universität Theologische Fakultät Platz der Göttinger Sieben 2 37073 Göttingen Manuskripte Zuschriften, Beiträge und Rezensionsexemplare werden an die Adresse der Redaktion erbeten. Eine Verp ichtung zur Besprechung unverlangt eingesandter Bücher besteht nicht. ZNT Heft 53 · 27. Jahrgang · 2024 Impressum Bezugsbedingungen Die ZNT erscheint halbjährlich (April und Oktober) Einzelheft: € 35,zzgl. Versandkosten Abonnement jährlich (print): € 55,- Abonnement jährlich (print & online): € 69,- Abonnement (e-only): € 58,- Bestellungen nimmt Ihre Buchhandlung oder der Verlag entgegen: Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 D-72015 Tübingen Telefon: +49(0) 70 71 97 97 0 Fax +49(0) 70 71 97 97 11 eMail: info@narr.de Internet: www.narr.de Anzeigen Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Telefon: +49(0) 70 71 97 97 10 © 2024 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG ISBN 978-3-381-12251-6 ISSN 1435-2249 Die in der Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieser Zeitschrift darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Fotokopie, Mikro lm oder andere Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsanlagen, verwendbare Sprache übertragen werden. BUCHTIPP Der neutestamentliche Römerbrief ist die redaktionelle Überarbeitung einer älteren Fassung, die für die marcionitische 10-Briefe-Sammlung bezeugt ist. Bei dieser Überarbeitung im 2. Jahrhundert wurde die ältere Fassung in großem Umfang ergänzt: Das „Abrahamkapitel“ (Rm 4) sowie die beiden letzten Kapitel (Rm 15f) finden sich nur in dieser jüngeren, kanonisch gewordenen Fassung. Diese grundstürzende These wird vor allem textgeschichtlich begründet: Die Studie stützt sich auf paratextuelle Zeugnisse, die von der Textkritik bislang weitgehend vernachlässigt wurden, und verbindet sie mit neueren Untersuchungen zur marcionitischen Schriftensammlung und zur Kanonischen Ausgabe des NT. Die Ergebnisse haben weitreichende Auswirkungen auf die Paulusexegese sowie auf die Textkritik und ihre Methodik. Sie erschließen die früheste Theologiegeschichte und etablieren das NT als Buch des 2. Jahrhunderts. Alexander Goldmann Über die Textgeschichte des Römerbriefs Neue Perspektiven aus dem paratextuellen Befund Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter (TANZ), Vol. 63 1. Auflage 2020, 254 Seiten €[D] 98,00 ISBN 978-3-7720-8709-7 eISBN 978-3-7720-5709-0 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ info@narr.de \ www.narr.de Inhalt Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 NT aktuell Konrad Schwarz Der Römerbrief in der neueren Forschungsdiskussion Tendenzen und offene Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Zum Thema Stefan Alkier und Thomas Paulsen Philologisch-kritische Beobachtungen zur sprachlichen Gestaltung des Römerbriefes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Jan Dochhorn Neue Erkundungen zum Werden und Wesen der Theologie des Paulus Ein Bericht aus eigener Forschung mit Fokus auf der Nomologie . . . . . . . 51 Nadine Ueberschaer Paulus, Apostel der Völker Der Römerbrief als Zeugnis apostolischen Selbstverständnisses im Vergleich mit den johanneischen Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Kontroverse Jan Heilmann Enthält Röm 1-3 paulinische Theologie? Zur Beurteilung des Beginns des Römerbriefes als schlechte Theologie Einführung in die Kontroverse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Douglas A. Campbell Warum Röm 1-3 schlechte Theologie ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Manuel Vogel Nicht Richten und nicht sich Rühmen: Röm 1-3 als Lektion an Juden und Nichtjuden über ihr Verhältnis zu einander Meine Antwort an Douglas Campbell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Hermeneutik Johannes Greifenstein Religiöse Rede und religiöse Lehre Herausforderungen und Chancen der Epistelpredigt am Beispiel des Römerbriefs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Buchreport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Editorial Liebe Leserin, lieber Leser, das vorliegende Heft widmet sich einem, wenn nicht dem theologischen Schwergewicht des Neuen Testaments - dem Römerbrief. Er ist mit etwa 7100 Wörtern der längste Brief des Neuen Testaments und liegt damit noch weiter als die anderen authentischen Paulusbriefe (den Philemonbrief einmal ausgenommen) über der durchschnittlichen Länge antiker Briefe, deren Ide‐ almaß ein Papyrusblatt war. Mutmaßlich ist der Römerbrief auch der am intensivsten kommentierte und zumindest im Protestantismus wirkmächtigste Brief. Nicht zuletzt wegen der Bedeutung des Römerbriefes für die reformato‐ rische Rechtfertigungslehre sah Martin Luther in ihm das „rechte Hauptstück des Neuen Testaments und das allerlauteste Evangelium“, wie er es in der „Vorrede auf die Epistel Sanct Paulus zu den Römern“ im Septembertestament von 1522 formuliert. Die Beiträge des vorliegenden Heftes werfen Schlaglichter auf neuere Tendenzen und Themen der Römerbriefforschung. Dabei ist in der Summe festzustellen, dass z. B. die Eigenlogik der paulinischen Theologie gegenüber einer lutherischen Perspektive in den Vordergrund gerückt und das Verhältnis zu den übrigen Schriften des Neuen Testaments intensiv diskutiert wird. In der Rubrik NT aktuell gibt Konrad Schwarz anhand exemplarischer Themen einen Überblick über die neueren Forschungstendenzen und offenen Fragen zum Römerbrief. Im ersten Beitrag „Zum Thema“ bieten Stefan Alkier und Thomas Paulsen einen grundlegenden philologischen Beitrag zur Sprache des Römerbriefes. Ihre Analyse erwächst aus einem größeren Projekt, dem „Frankfurter Neuen Testament“. Dieses Projekt verfolgt das Ziel, das Griechisch der Texte des Neuen Testaments im Rahmen des Koine-Griechisch ihrer Entstehungszeit zu verstehen und sich bei der Übersetzung nicht mehr von Übersetzungstraditionen, die durch Vulgatismen und durch Hypothesen der Existenz eines distinkten neutestamentlichen Griechisch geprägt sind, leiten zu lassen. Jan Dochhorn führt in seinem Artikel in ausgewählte Thesen seiner jüngsten Monographie zum Adammythos bei Paulus ein, einer exegetischen Untersuchung von Röm 7,7-25, von der ausgehend Dochhorn die Theologie des Paulus neu systematisch zu erschließen sucht. Zentral für Dochhorns Monogra‐ phie ist die Hypothese, dass sich eine Abhängigkeit der paulinischen Theologie von der Apokalypse des Mose zeigen lasse. Im dritten thematischen Beitrag vergleicht Nadine Ueberschaer den Römerbrief mit den johanneischen Schriften und gibt damit einen Einblick in die Ergebnisse ihrer Dissertationsschrift zur „Theologie des Lebens bei Paulus und Johannes“. In der Kontroverse duellieren sich Douglas A. Campbell und Manuel Vogel. Streitpunkt ist die Frage, ob Röm 1,18-3,20 als schlechte Theologie („bad theo‐ logy“) zu bewerten sei. Dies behauptet Campbell, der die Passage als Widergabe einer gegnerischen Theologie versteht, von der Paulus sich abgrenzt. Vogel ver‐ steht die Passage als genuin paulinisch und kontert Campbells Argumentation mit der These, dass die identifizierbaren Widersprüche sich dialektisch in einen kohärenten Argumentationsgang einfügen. In der Rubrik „Hermeneutik und Vermittlung“ findet sich im vorliegenden Heft ein homiletischer Beitrag. Johannes Greifenstein skizziert Chancen und Herausforderung der Predigt über Perikopen aus der neutestamentlichen Brief‐ literatur am Beispiel des Römerbriefes. Den Abschluss bildet Markus Vinzents Rezension von Alexander Goldmanns publizierter Fassung seiner Dresdner Dissertationsschrift. In dieser Arbeit stellt Goldmann die für die neutestament‐ liche Exegese herausfordernde und textkritisch gut begründete These auf, dass Zentralkapitel wie Röm 4, große Teile von Röm 9-11 und die Schlusskapitel Röm 15 und 16 nicht von Paulus stammen, sondern als redaktionelle Ergänzung des 2.-Jahrhunderts anzusehen sind. Wir wünschen Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, eine anregende Lektüre des vorliegenden Heftes. Jan Heilmann Susanne Luther Michael Sommer 4 1 Mein herzlicher Dank gilt Jens Schröter für eine Reihe inhaltlicher Anregungen zu diesem Beitrag. NT aktuell Der Römerbrief in der neueren Forschungsdiskussion Tendenzen und offene Fragen 1 Konrad Schwarz Paulus war Jude, er ist Zeit seines Lebens Jude geblieben und hat jüdisch gelebt. Dies gilt auch für die Zeit seit seiner Hinwendung zum Glauben an Jesus als „Christus“ und „Sohn Gottes“, in der er das Evangelium unter den nichtjüdi‐ schen Völkern verkündigte. In der Sicht der gegenwärtigen neutestamentlichen Wissenschaft gilt diese Einschätzung weithin als selbstverständlich. Zugleich schließen sich daran zahlreiche Fragen an, die die Paulusforschung insgesamt und insbesondere die Auslegung des Römerbriefs grundlegend beschäftigen. So wäre etwa genauer zu bestimmen, was es zur Zeit des Paulus bedeutete, jüdisch zu leben; in welchem Verhältnis die Sicht des Paulus auf Gott, die Tora, den Messias etc. zu derjenigen anderer jüdischer Gruppen seiner Zeit steht; welche Stellung nichtjüdischen Menschen zukommt, die den Gott Israels und Jesus als den Messias verehren, und welches Ethos für diese Menschen gelten soll. Als längster der erhaltenen Paulusbriefe und als derjenige, in dem Paulus das von ihm verkündigte Evangelium so grundsätzlich erörtert wie in keinem anderen Brief, ist der Römerbrief Gegenstand einer breiten internationalen Forschung. Die folgende Besprechung der neueren Römerbriefforschung muss sich daher notwendigerweise auf ausgewählte Aspekte der neueren Diskussion beschränken. Mit der Frage, an wen Paulus den Römerbrief adressiert hat, und mit der vielschichtigen Debatte, wie Paulus als christusgläubiger Jude im Kontext des Judentums seiner Zeit zu verstehen ist, sind zwei wichtige Eckpunkte genannt, die 2 Bereits der 1. Clemensbrief, der gegen Ende des 1. Jahrhunderts in Rom verfasst wurde, hebt Petrus und Paulus unter einer größeren Anzahl verfolgter und getöteter Christinnen und Christen als einzige namentlich hervor (1Clem-5f.). 3 Vgl. die Forschungsübersicht in Michael Wolter, Der Brief an die Römer. Teilband 1: Röm 1-8/ Teilband 2: Röm 9-16 (EKK 6/ 1-2), Neukirchen-Vluyn u. a. 2014-2019, hier Bd.-1, 32. die neuere Römerbriefforschung in grundlegender Weise erörtert. Im Anschluss an eine Diskussion dieser grundsätzlichen Fragen soll der Blick auf zwei konkrete Abschnitte des Römerbriefs gerichtet werden, in denen Paulus zum einen auf gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen eingeht (Röm 1,16f.) und zum anderen das Verhältnis der Christinnen und Christen zu den staatlichen Machthabern erörtert (13,1-7). Die intensive Diskussion dieser beiden Abschnitte ist dabei weniger mit ihrem argumentativen Gewicht innerhalb des Römerbriefs selbst verbunden als vielmehr mit ihrer umfangreichen Wirkungsgeschichte und ihrer Relevanz in den theologischen Diskursen der Gegenwart. 1. An wen hat Paulus den Brief adressiert? Die Debatte darüber, wer die Adressatinnen und Adressaten des Römerbriefs waren und in welcher Situation sie sich befanden, gehört seit Langem zu den Schlüsselfragen der Paulusexegese. Dieser Fragenkomplex ist von besonderer Bedeutung, weil sich daraus entscheidende Weichenstellungen für die Interpre‐ tation des Briefes ergeben. Eine wichtige Rolle spielen dabei zum einen die Auswertung der historischen Informationen, die Aufschluss über die Anfänge des Christentums in der Stadt Rom geben, zum anderen mögliche Indizien, die sich aus dem Brief selbst gewinnen lassen. Wenngleich sich gegen Ende des 1. Jahrhunderts die Verehrung der Apostel Petrus und Paulus als zentrale Figuren in der Erinnerung des römischen Christentums zu etablieren begann, 2 sind die ersten Christusgläubigen in Rom namentlich unbekannt. In der neutestamentlichen Wissenschaft werden die Anfänge des Christusglaubens in Rom seit langem in der jüdischen Bevölke‐ rung der Stadt gesehen. Neuere Schätzungen über die Größe des jüdischen Bevölkerungsteils in Rom in der Mitte des 1. Jahrhunderts gehen auseinander, sie bewegen sich jedoch im Bereich mehrerer zehntausend Menschen. 3 Zu berücksichtigen ist weiterhin, dass die Jüdinnen und Juden in Rom - im Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 6 Konrad Schwarz 4 In der neueren Forschung wird für Rom die Zahl von elf inschriftlich belegten Synagogen genannt. Obwohl von einer Vielzahl von Synagogen in der Mitte des 1. Jahrhunderts auszugehen ist und sich dafür Hinweise in der antiken Literatur finden, lassen sich die archäologischen Überreste nicht sicher in die Zeit Neros datieren; vgl. Karl-Wilhelm Niebuhr, Die Juden in Rom unter Nero. Intellektuelle Netzwerke, religiöse Praxis, geistige Horizonte, in: Christian Eberhart u. a. (Hg.), Tempel, Lehrhaus, Synagoge. Orte jüdischen Lernens und Lebens. FS Wolfgang Kraus, Paderborn 2020, 289-321, hier 301. 5 Iudaeos impulsore Chresto assidue tumultuantis Roma expulit (Claud.-25,4). 6 Vgl. Dietrich-Alex Koch, Geschichte des Urchristentums. Ein Lehrbuch, Göttingen 2 2014, 125. 7 Vorausgesetzt ist dabei, dass der Prozess vor dem Statthalter Gallio (Apg 18,12-17) mit Hilfe der sogenannten Gallio-Inschrift auf das Jahr 51/ 52 datiert werden kann, sodass sich die Ankunft des Paulus in Korinth auf das Jahr 49 oder 50 eingrenzen lässt. Die Datierung des Claudiusedikts auf das Jahr 49 wird außerdem durch eine Angabe des spätantiken Historikers Orosius aus dem 5. Jh. gestützt; vgl. Koch, Geschichte des Urchristentums (s.-Anm.-6), 126. 8 Anders als Paulus verwendet die Apostelgeschichte für Priska stets die Namensform Priszilla. Unterschied etwa zu Alexandria - nicht zentral organisiert waren, sondern mehrere Synagogengemeinden bildeten. 4 Diese Erkenntnisse bilden den Hintergrund für die Frage, wie das sogenannte Claudiusedikt zu bewerten ist. In der römischen Geschichtsschreibung wird dieses Edikt erstmals bei Sueton in seiner Claudiusvita vom Anfang des 2. Jahr‐ hunderts erwähnt. Im Zusammenhang mit den innenpolitischen Maßnahmen des Claudius fügt Sueton die kurze Notiz ein: „Die Juden, die sich von Chrestus ständig zu Unruhen anstiften ließen, vertrieb er aus Rom.“ 5 Bei „Chrestus“ han‐ delt es sich wahrscheinlich um eine irrtümliche Verschreibung für „Christus“, die auf Ähnlichkeiten in der Aussprache des Griechischen zurückzuführen ist. Ein Problem bei der Interpretation dieser Notiz besteht vor allem darin, dass die lateinische Formulierung mehrdeutig ist: Sie lässt sich entweder auf alle Juden der Stadt beziehen (im Sinne von „Da die Juden sich … zu Unruhen anstiften ließen …“), oder in begrenzter Weise auf „Diejenigen Juden, die … dauernd Unruhen verursachten …“ 6 Die Datierung des Ereignisses auf das Jahr 49 lässt sich vor allem aus einer Bemerkung in Apg 18,2 ableiten: 7 Lukas berichtet im Zusammenhang mit der Ankunft des Paulus in Korinth, dass er dort auf das jüdische Ehepaar Priska und Aquila trifft, 8 und erklärt, dass die beiden „vor Kurzem aus Italien gekommen“ waren, „weil Claudius angeordnet hatte, dass sich alle Juden aus Rom entfernen sollen.“ Die historischen Informationen über das Claudiusedikt stellten in der neu‐ testamentlichen Wissenschaft lange Zeit den wichtigsten Bezugspunkt dar, um die Situation der römischen Christusgläubigen zur Abfassungszeit des Briefs zu erörtern. So schlussfolgerte etwa Eduard Lohse, dass infolge des Edikts Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 Der Römerbrief in der neueren Forschungsdiskussion 7 9 Eduard Lohse, Der Brief an die Römer (KEK 4), Göttingen 15 2003, 39; ähnlich u. a. bereits James D.-G. Dunn, Romans-1-8 (WBC-38A), Waco, Tex. 1988, liii. 10 So etwa Michael Theobald in einem Beitrag von 1983, der auf einen jüdischen Bevöl‐ kerungsanteil von schätzungsweise 20.000 Personen hinweist. Dennoch geht er von einer „Strukturverschiebung“ infolge des Edikts aus, sodass sich die Christusgläubigen nach und nach aus dem bisherigen Synagogenkontext lösten (Studien zum Römerbrief [WUNT-1/ 136], Tübingen 2001,-10). 11 Ausführlichere Berichte liegen dagegen über Tiberius vor, der ägyptische und jüdi‐ sche religiöse Praktiken einschränken ließ und Maßnahmen gegen deren Anhänger verhängte (vgl. Sueton, Tiberius 36; Tacitus, annales 2,85,4; Josephus, antiquitates judaicae-18,83). 12 Vgl. bereits John M. G. Barclay, Is it Good News that God is Impartial? A Response to Robert Jewett, Romans: A Commentary, in: JSNT-31 (2008), 89-111, hier 91-93. „der judenchristliche Teil der werdenden Christenheit in Rom zumindest stark geschwächt wurde, wenn nicht ganz verschwunden ist.“ 9 Nach dem Tod des Claudius habe das Edikt seine Gültigkeit verloren, sodass die Betroffenen, unter denen viele Christusgläubige waren, zurückkehren konnten. Die jüdischen Christusgläubigen hätten sich nun aber in der Minderheit gegenüber den nichtjüdischen Christusgläubigen wiedergefunden, weshalb es zu Spannungen zwischen beiden Gruppen gekommen sei. Gegen diese Darstellung wurden zwar gelegentlich Bedenken geäußert, dennoch schrieb man dem Edikt weiterhin gravierende Auswirkungen zu. 10 In der neueren Forschung werden jedoch grundlegende Einwände gegen diese Auswertung der historischen Informationen erhoben: Angesichts der mutmaßlichen Größe des jüdischen Bevölkerungsteils in Rom und wegen der dezentralen Organisation der Synagogen kann eine Ausweisung aller jüdischen Menschen historisch als sehr unwahrscheinlich gelten, da sie praktisch nicht durchsetzbar und kontrollierbar gewesen wäre. Vor allem ist die Erwähnung in den antiken Quellen, gemessen an der öffentlichen Wahrnehmbarkeit, die ein solches Ereignis gehabt hätte, zu spärlich, zumal der jüdische Historiker Flavius Josephus gar nicht davon berichtet. 11 Die neuere Forschung tendiert deshalb dazu, in dem Edikt eine Maßnahme des Kaisers mit mehr oder weniger begrenzter Reichweite zu sehen. 12 Demnach gehörten Priska und Aquila zu den jüdischen Christusgläubigen, die Rom verlassen mussten, und auch die Notiz, dass Paulus in Korinth bei ihnen wohnte (Apg 18,2), lässt sich damit verbinden, dass Priska und Aquila jüdisch waren. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass mehrere andere Personen von dem Edikt betroffen waren, deren Zahl jedoch unbekannt ist. Die prominente Nennung von Priska und Aquila in der Grußliste des Römerbriefs (16,3-5), wo auch eine „Versammlung“ von Chris‐ tusgläubigen (ekklēsia) in ihrem Haushalt erwähnt wird, bietet sodann einen Anhaltspunkt dafür, dass sie sich zur Abfassungszeit des Briefs wieder in Rom Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 8 Konrad Schwarz 13 Wolter, Römer (s. Anm. 3), Bd. 1, 41; ähnlich Alain Gignac, L’épître aux Romains (Commentaire biblique: Nouveau Testament-6), Paris 2014, 49f. 14 Markus Öhler, Römisches im Römerbrief ? Auf der Suche nach den Adressaten und Adressatinnen, in: Jörg Frey u. a. (Hg.), Paulusmemoria und Paulusexegese. Römische Begegnungen (Rom und Protestantismus-5), Tübingen 2023, 11-40, hier 19. 15 Mark D. Nanos, Der Brief des Paulus an die Römer, in: Wolfgang Kraus u. a. (Hg.), Das Neue Testament - jüdisch erklärt. Lutherübersetzung. Englische Ausgabe hg. v. Amy-Jill Levine und Marc Zvi Brettler, Stuttgart 2021, 304-341, hier 304. 16 Röm 1,5f.13; 11,13.17-24.28-32. Gegenüber der Wiedergabe von ethnē mit „Heiden“ hat die Übersetzung mit „Völker“ den Vorzug, dass damit eine innere Differenzierung angedeutet wird, dass es also verschiedene „Völker“ gibt. Zudem ist der deutsche Begriff „Heiden“ als Gegenbegriff zu „Christen“ geprägt. Bei Paulus ist diese Verwendung von ethnē jedoch selten und stets näher qualifiziert (1Thess 4,5; 1Kor 5,1; 12,2); vgl. dazu Esther Kobel, Paulus als interkultureller Vermittler. Eine Studie zur kulturellen befanden. Welche Auswirkungen das Claudiusedikt darüber hinaus auf weite Teile der jüdischen Bevölkerung in Rom hatte, ist dagegen ebenso unbekannt wie mögliche Folgen dieser Maßnahme in Bezug auf das Verhältnis zwischen jüdischen und nichtjüdischen Christusgläubigen. Für die Interpretation des Römerbriefs hält Michael Wolter deshalb pointiert fest: „Das Claudiusedikt hat zu keinem Zeitpunkt die Bedeutung gehabt, die ihm oft zugeschrieben wird.“ 13 Auch wenn das Claudiusedikt hinsichtlich seiner konkreten Auswirkungen inzwischen meist zurückhaltend diskutiert wird, finden sich in der gegenwär‐ tigen Forschung unterschiedliche Einschätzungen des Verhältnisses zwischen den christusgläubigen und den nicht-christusgläubigen Jüdinnen und Juden und den nichtjüdischen Christusgläubigen. Während sich Wolter zurückhaltend in dieser Frage äußert, nimmt etwa Markus Öhler an, dass zurückkehrende jüdi‐ sche Christusgläubige wie Priska und Aquila eine eigene Gruppe bildeten und nicht wieder in ihre früheren Synagogengemeinschaften gingen, weil sie dort nicht mehr erwünscht waren. Zudem geht Öhler davon aus, dass die nichtjüdi‐ schen Christusgläubigen ebenfalls eine eigenständige Gruppe bildeten. 14 Mark Nanos hingegen sieht weiterhin enge soziale Beziehungen zwischen allen drei Gruppen. Nanos argumentiert, der Römerbrief wende sich an die nichtjüdischen Christusgläubigen, damit sie „verstehen (lernen), wie sie leben sollten und wie sie sich gegenüber der jüdischen Gemeinschaft verhalten sollten“; Paulus trete dafür ein, dass sie als „Vollmitglieder der jüdischen Gemeinde“ gelten, und er trete zugleich dem Konzept einer „Proselytenkonversion“ mit Beschneidung, Tora-Beachtung etc. für sie entgegen. 15 Mit den zuletzt genannten Einschätzungen ist bereits die Frage berührt, welche Indizien im Brief selbst erkennbar sind hinsichtlich der Frage, wen Paulus adressiert. Dass Paulus die Adressatinnen und Adressaten mehrfach als Christusgläubige aus den nichtjüdischen „Völkern“ (ethnē) anspricht, 16 wurde Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 Der Römerbrief in der neueren Forschungsdiskussion 9 Positionierung des Apostels der Völker (Studies in Cultural Contexts of the Bible 1), Paderborn 2019, 28-31. 17 Lohse, Römer (s.-Anm.-9), 40 Anm.-9. 18 Ein Teil der Forschung geht davon aus, dass nomos in Röm 7,1 nicht von der Tora spricht, sondern „ganz allgemein von der Gattung Gesetz“; so u. a. Wolter, Römer (s. Anm. 2), Bd.-1, 410. 19 Lohse, Römer (s.-Anm.-9), 41. 20 Für eine ausführlichere Erörterung s. zuletzt Öhler, Römisches im Römerbrief? (s.-Anm.-14), 32-39. 21 Vgl. die häufige Verwendung des Verbs „essen“ (esthiō, 14,2f.6.20f.23) und des Substantivs „Speise“ (brōma,-14,15.17.20). 22 Dies wird erst in Röm 14,21 deutlich. Anders als etwa in der Lutherbibel von 2017 wiedergegeben spricht Paulus in-14,2f. zunächst davon, dass der eine meint, „alles“ essen zu dürfen, aber „der Schwache isst Gemüse.“ 23 Röm-14,21; in V.-17 ist allgemein von „trinken“ die Rede. in der Forschung seit jeher gesehen. Strittig ist jedoch, ob er darüber hinaus auch jüdische Christusgläubige zu den Adressatinnen und Adressaten zählt. Als Indizien, dass Paulus im Brief „keineswegs nur Heidenchristen“ im Blick hat, 17 galten unter anderem die vorausgesetzte Vertrautheit der Adressatinnen und Adressaten mit der Tora (Röm 7,1), 18 die Grußliste in Röm 16 und vor allem die in Röm 14,1-15,13 erörterten Konflikte zwischen „Starken“ und „Schwachen“. Im Hinblick auf das zuletzt genannte Problem wurde zwar angemerkt, dass Paulus im Römerbrief - anders als im 1. Korintherbrief - allgemeiner formuliert und nicht auf konkrete Anfragen eingeht. Die meisten Forscherinnen und Forscher sahen hier jedoch das zentrale Problem in der Paulus „stets bewegende[n] Frage, wie Heiden- und Judenchristen in der Gemeinschaft des einen Leibes Christi zusammenzuleben haben.“ 19 Die Erörterung über die Konflikte zwischen „Schwachen“ und „Starken“ (14,1-15,13) hat in der neueren Forschung zu unterschiedlichen Interpretationen geführt. 20 Der Schwerpunkt des Abschnitts liegt im Bereich der „Speise“. 21 In diesem Zusammenhang thematisiert Paulus zum einen den Fleischverzehr, 22 zum anderen die grundlegende Frage reiner und unreiner Speisen (V. 14.20). Eher am Rande tritt auch das Trinken von Wein als mögliches Problem hinzu. 23 Ein weiterer Themenbereich ist mit der kurz erwähnten Unterscheidung der „Tage“ angesprochen (V.-5f.). Zu beachten ist grundsätzlich, dass Paulus nur zu Beginn des Abschnitts ausdrücklich eine Position des „Schwachen“ beschreibt, der nicht „alles“ meint essen zu können, sondern nur „Gemüse“ (V. 2). Schon mit Blick auf die Beurtei‐ lung der „Tage“ (V. 5f.) wird nicht gesagt, dass es sich um eine Position der gleichen Personen handelt. Da die Darstellung der verschiedenen Haltungen in Röm 14-15 eher allgemein formuliert ist, wird in der neueren Forschung Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 10 Konrad Schwarz 24 Wolter, Römer (s.-Anm.-3), Bd.-1, 54 bzw. Bd.-2, 348. 25 Vgl. John M. G. Barclay, „Do We Undermine the Law? “. A Study of Romans 14.1-15.6, in: ders., Pauline Churches and Diaspora Jews (WUNT 1/ 275), Tübingen 2011, 37-59, hier 38 f., der in diesem Zusammenhang darauf hinweist, dass die allgemein formulierte Darstellung der Konflikte auf rhetorische Gründe zurückgeführt werden kann. 26 So u. a. Gignac, Romains (s. Anm. 13), 499; William S. Campbell, Romans. A Social Identity Commentary, London u.-a. 2023, 358. 27 So etwa Wolter, Römer (s. Anm. 3), Bd. 2, 352; John M. G. Barclay, Faith and Self-De‐ tachment from Cultural Norms. A Study in Romans 14-15, in: ZNW 104 (2013), 192-208, hier 194. 28 Christina Eschner, Essen im antiken Judentum und Urchristentum. Diskurse zur sozialen Bedeutung von Tischgemeinschaft, Speiseverboten und Reinheitsvorschriften (AJEC-108), Leiden/ Boston 2019, 322. 29 Ein Beispiel ist das Verhalten Daniels und seiner Gefährten, wo auch Wein als Möglich‐ keit der Verunreinigung genannt wird (Dan-1,12.16). mitunter angenommen, dass Paulus über die Situation in Rom „nicht genau Bescheid weiß“; demnach spreche Paulus diese Kontroverse lediglich an, „weil sie für christliche Gemeinden seiner Zeit typisch war“ und er es für denkbar hielt, dass solche Konflikte auch in Rom auftraten. 24 Sowohl die spezifischen Details der dargestellten Positionen als auch die Art und Weise, wie Paulus argumentiert, geben jedoch Grund zu der Annahme, dass Paulus tatsächliche Debatten unter den Christusgläubigen in Rom anspricht. 25 Gegenstand der Forschungsdebatte ist weiterhin, ob die Gegenüberstellung von „Schwachen“ und „Starken“ in Rom in dieser Weise geläufig war und Paulus darauf reagiert, 26 oder ob Paulus diese Bezeichnungen selbst einführt. 27 Strittig ist jedoch vor allem, ob die angesprochenen Fragen vorwiegend im Zusammenhang mit einem jüdischen, auf die Tora bezogenen Ethos stehen. Viele Forscherinnen und Forscher vertreten die Auffassung, die paulinische Darstellung der „Schwachen“ beziehe sich auf „Judenchristen […], die sich dem Gesetz weiterhin verpflichtet fühlen“. 28 In dieser Sicht problematisiert Paulus den Verzehr von Fleisch in Bezug darauf, dass es sich um Fleisch handelt, das nicht den jüdischen Speisegeboten entspricht. Dafür spreche etwa, dass die generelle Vermeidung des Fleischverzehrs durch den „Schwachen“ eine bekannte jüdische Strategie erkennen lassen könnte, ein solches Problem zu bewältigen, 29 und vor allem dass die Bewertung von Speisen als „unrein“ (koinos) und „rein“ (katharos) einen spezifisch jüdischen Sprachgebrauch widerspiegelt. Ebenso wird der Hintergrund bei den Anmerkungen über die Unterscheidung der „Tage“ (V. 5f.) dahingehend bestimmt, dass Paulus sich hier auf die Beachtung des Sabbats und der jüdischen Feste bezieht. In der neueren Forschung mehren sich aber auch die Stimmen, die dieser Interpretation in unterschiedlicher Weise kritisch gegenüberstehen. So vertritt Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 Der Römerbrief in der neueren Forschungsdiskussion 11 30 Nanos, Römer (s.-Anm.-15), 336. 31 John M.-G. Barclay, Paul and the Gift, Grand Rapids, Mich./ Cambridge 2015, 511f. 32 Wolter, Römer (s.-Anm.-3), Bd.-2, 354. 33 Wolter, Römer (s. Anm. 3), Bd. 2, 358 f. Dieser Interpretationsansatz wird näher ausgeführt von Öhler, Römisches im Römerbrief ? (s. Anm. 13), 32-39, der u. a. die antike „Tagewählerei“ als möglichen Hintergrund diskutiert. 34 Wolter, Römer (s.-Anm.-2), Bd.-1, 53. 35 Hier liegt auch ein wesentlicher Unterschied im Vergleich zu 1Kor 8-10, wo diese Terminologie nicht verwendet wird. 36 Wolter, Römer (s. Anm. 3), Bd. 1, 52; Bd. 2, 376; ähnlich auch Öhler, Römisches im Römerbrief ? (s.-Anm.-13), 35. etwa Nanos die Auffassung, dass sich die Darstellung des „Schwachen im Glauben“ auf Jüdinnen und Juden bezieht, die nicht an Christus glauben. Paulus beabsichtige, die nichtjüdischen Christusgläubigen zu unterweisen, „wie sie innerhalb der jüdischen Gemeinden Roms leben“ sollen, ohne die nicht an Christus glaubenden Angehörigen der jüdischen Gemeinschaft zu verachten. 30 Aus der Sicht von John Barclay ergeben sich die von Paulus diskutierten Probleme zwar aus der Beachtung jüdischer Speisegebote und des Sabbats. Da sich Paulus aber selbst auf die Seite der „Starken“ stellt (15,1), seien die Trennlinien zwischen „Schwachen“ und „Starken“ offensichtlich nicht entlang des ethnischen Unterschieds zwischen jüdischen und nichtjüdischen Christus‐ gläubigen verlaufen. 31 Gänzlich anders hingegen interpretiert Michael Wolter: Der Fleischverzicht könne mit jüdischen Speiseregeln in Verbindung stehen, möglicherweise aber auch mit dem „neupythagoreischen Vegetarismus“; 32 ebenso seien die Anmer‐ kungen über die Beurteilung der „Tage“ derart unspezifisch, dass damit zwar das Sabbatgebot eingeschlossen sein könnte, jedoch sei auch die Berücksichtigung anderer Festkalender denkbar. 33 Mit Verweis auf Röm 15,7-13 kommt Wolter daher zu dem Schluss, dass Paulus hier eine Auseinandersetzung „ausschließlich unter den römischen Heidenchristen“ im Blick hat. 34 Ein gewisses Problem stellt für diesen Interpretationsansatz allerdings die spezifisch jüdische Rede von „unreinen“ und „reinen“ Speisen dar (14,14.20). 35 Wolter bestreitet, dass die diskutierten Konflikte vorwiegend aus der Beachtung jüdischer Speisegebote resultieren; vielmehr handle es sich lediglich um eine „interpretatio judaica“ der Probleme durch Paulus selbst. 36 Ein weiterer Abschnitt des Römerbriefs, der Aufschluss über die Situation des frühen Christentums in Rom geben kann, sind schließlich die umfangreichen Grußaufträge (16,3-16). Bemerkenswert ist darin, erstens, dass unter den zu Grüßenden der Anteil von Frauen für antike Verhältnisse sehr hoch ist. Unter anderem gehört inzwischen zum Konsens der Forschung, dass Paulus auch eine Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 12 Konrad Schwarz 37 Röm-16,7; vgl. Christine Jacobi, Art. Junia, in: WiBiLex 2016 (https: / / bibelwissenschaft.de / stichwort/ 51888; letzter Zugriff am 02.01.2024). 38 Bei Priska und Aquila geht dies aus Apg 18,2f. hervor; Andronikus, Junia und Herodeion (Röm 16,7.11) werden von Paulus als „Verwandte“ (syngeneis) bezeichnet (vgl. 9,3). Ob weitere Namen wie z. B. Maria (V. 6) als Hinweis auf eine jüdische Herkunft gewertet werden können, ist umstritten. 39 Öhler, Römisches im Römerbrief ? (s.-Anm.-14), 31. 40 Vgl. Röm-1,8-15; 15,22-29. 41 Lohse, Römer (s.-Anm.-9), 40. Frau namens Junia zu den „Aposteln“ zählt; sie wird zusammen mit Andronikus, ihrem Ehemann bzw. Gefährten, erwähnt und soll bereits vor Paulus zum Christusglauben gekommen sein. 37 Zweitens ist von Bedeutung, dass unter den zu Grüßenden mehrere jüdische Christusgläubige genannt werden, zu denen mit hoher Wahrscheinlichkeit Priska, Aquila, Andronikus, Junia und Herodion gehören. 38 Als Drittes ist anzumerken, dass die Grußliste in Verbindung mit dem Briefpräskript (1,1-7) wichtige Indizien enthält, wie die Christusgläubigen in Rom organisiert waren: Paulus schreibt den Brief nicht an eine „Versammlung“ bzw. „Gemeinde“ (ekklēsia), wie er dies sonst zumeist tut, sondern er wendet sich in offener Weise „an alle, die von Gott geliebt sind, die berufenen Heiligen“ in Rom. Nur im Haus von Priska und Aquila wird eine ekklēsia erwähnt (16,5), während die Versammlungsorte und gottesdienstlichen Gemeinschaften der anderen Gegrüßten unklar bleiben. In jedem Fall wird daran erkennbar, dass es zu dieser Zeit keine stadtweit einheitliche oder zentral organisierte Gemeinde von Christusgläubigen in Rom gab, ähnlich wie dies auch bei den jüdischen Synagogen der Fall war. Zugleich nimmt Paulus offenbar an, dass die Adressa‐ tinnen und Adressaten des Briefes die zu Grüßenden persönlich kennen, da die namentlich genannten Personen nur mit dem Rufnamen (Cognomen) erwähnt werden. 39 Viertens schließlich lässt sich an dieser umfangreichsten Grußliste der erhaltenen Paulusbriefe erkennen, dass Paulus diesem Briefabschnitt eine erhebliche kommunikative Bedeutung beimisst. Paulus war bisher noch nicht in Rom und möchte zu den dortigen Christusgläubigen eine Beziehung aufbauen. 40 Vor diesem Hintergrund sollen die Grußaufträge signalisieren, dass Paulus an den sozialen Beziehungen der Adressatinnen und Adressaten Interesse hat und darüber informiert ist, und es ist anzunehmen, dass er sich von den zu Grüßenden die Unterstützung für sein kommunikatives Anliegen erhofft. In der neueren Forschung zeigt sich jedoch eine wichtige Veränderung im Hinblick darauf, was die Auswertung der Grußaufträge im Römerbrief mit Blick auf die Adressatinnen und Adressaten betrifft. Mit Verweis auf die Grußaufträge an jüdische Christusgläubige wurde häufig geschlussfolgert, Paulus adressiere auch sie und somit „alle Christen in Rom, woher sie auch gekommen sein mögen“. 41 Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 Der Römerbrief in der neueren Forschungsdiskussion 13 42 Siehe oben Anm.-16. 43 Wolter, Römer (s.-Anm.-3), Bd.-1, 40. 44 Markus Öhler, Zum Römerbrief, in: Wolfgang Kraus u. a. (Hg.), Das Neue Testament jüdisch erklärt - in der Diskussion, Stuttgart 2023, 52-60, hier 53 Anm.-6. 45 Campbell, Romans (s.-Anm.-26), 18. 46 Dass Paulus nicht bestimmte Gruppen nennt, sondern Verhaltensweisen beschreibt, hebt Wolter, Römer (s.-Anm.-3), Bd.-2, 348, zutreffend hervor. Dem wird jedoch in jüngerer Zeit vermehrt widersprochen und vor allem auf die Anrede der Adressatinnen und Adressaten als Angehörige der nichtjüdischen Völker hingewiesen. 42 So hält Wolter fest, Röm 16,3-16 zeige zwar, dass Paulus „von der Existenz christlicher Juden in Rom“ wusste, jedoch „schreibt er den Römerbrief ausschließlich an nichtjüdische Christen“. 43 Und Öhler hebt hervor: „Die in der Liste der zu Grüßenden (Röm 16) genannten jüdischen Personen […] sind gerade nicht unter den intendierten Leserinnen und Lesern“. 44 Zusammenfassend lässt sich im Anschluss an die neuere Forschungsdiskus‐ sion festhalten, dass die Indizien innerhalb des Briefs und damit die Anrede der Adressatinnen und Adressaten als Christusgläubige aus den Völkern den maßgeblichen Ausgangspunkt für die Interpretation des Römerbriefs bilden: Paulus stellt sich als Missionar für die nichtjüdischen Völker vor und wendet sich an Christusgläubige, die zu diesen Völkern gehören. Wie die umfangreiche Grußliste (16,3-16) andeutet, geht Paulus davon aus, dass die Adressatinnen und Adressaten mit jüdischen Christusgläubigen in Kontakt stehen und sie treffen. Dennoch richtet sich Paulus in dem Brief nicht an die jüdischen Christusgläubigen, sondern, wie William Campbell formuliert: „His concerns are only with the ethnē in Christ.“ 45 Ob und in welcher Weise sich jüdische und nichtjüdische Christusgläubige regelmäßig trafen und ob sie weiterhin gemeinsame gottesdienstliche Versammlungen bildeten, lässt sich anhand des Briefs nicht deutlich in die eine oder andere Richtung entscheiden. Die Erörte‐ rung über die „Starken“ und „Schwachen“ (14,1-15,13) lässt vermuten, dass Paulus Konflikte annahm, die mit dem Sabbat und den Speisegeboten der Tora in Verbindung stehen könnten. Aus der Darstellung des Paulus lässt sich jedoch ableiten, dass die Trennlinien nicht entlang des ethnischen Unterschieds zwischen jüdischen und nichtjüdischen Christusgläubigen verlaufen; vielmehr stellt Paulus verschiedene Verhaltensweisen in den Mittelpunkt: „Der eine handelt so …, der andere aber so …“ 46 Unklar sind darüber hinaus die genauen Auswirkungen des historiographisch spärlich bezeugten Claudiusedikts, wes‐ halb man zurückhaltend sein sollte, zu dieser Zeit für die gesamte Stadt Rom eine einheitliche Entwicklung einer Trennung zwischen jüdischen und nichtjüdischen Christusgläubigen anzunehmen. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 14 Konrad Schwarz 47 Für eine ausführliche Besprechung der New Perspective in dieser Zeitschrift, hier mit Fokus auf dem Thema der „Gnade Gottes“, s. Lutz Doering, Gnade und Erbarmen Gottes im Judentum der hellenistisch-frührömischen Zeit, in: ZNT 46 (2020), 41-72, hier 41-44. Überblicksartige Einführungen finden sich darüber hinaus bei Michael Bachmann, „The New Perspective on Paul“ und „The New View on Paul“, in: Friedrich W. Horn (Hg.), Paulus Handbuch, Tübingen 2013, 30-38, sowie Jörg Frey, Das Judentum des Paulus, in: Oda Wischmeyer/ Eve-Marie Becker (Hg.), Paulus: Leben - Umwelt - Werk - Briefe (UTB-2767), Tübingen/ Basel 3 2021, 47-104, hier 85-100. 48 Kraus u. a. (Hg.), Das Neue Testament - jüdisch erklärt (s. Anm. 15). Die Kommentie‐ rung basiert auf Amy-Jill Levine/ Marc Z. Brettler (Hg.), The Jewish Annotated New Testament. New Revised Standard Version Bible Translation, New York 2 2017. 49 Eine allgemeine Einführung bietet der Beitrag von Kathy Ehrensperger, Die „Paul within Judaism“-Perspektive. Eine Übersicht, in: EvTh 80 (2020), 455-464. Die Position einer weiteren namhaften Vertreterin dieses Forschungsansatzes entfaltet der poin‐ tierte Beitrag von Paula Fredriksen, Was bedeutet es, Paulus „innerhalb des Judentums“ zu sehen? , in: KuI 37 (2022), 124-150, sowie Paula Fredriksen, Als Christen Juden waren ( Judentum und Christentum 27), Stuttgart 2021. Würdigungen und kritische Rückfragen zu Ansätzen der Paul-within-Judaism-Forschung enthält auch der Band von Kraus u. a. (Hg.), Das Neue Testament jüdisch erklärt - in der Diskussion (s. Anm. 44), sowie die in der Neuauflage erweiterte Fassung des Beitrags von Frey, Das Judentum des Paulus (s.-Anm.-47), 97-102. 2. Perspektivwechsel: Paulus und das Judentum - Paulus innerhalb des Judentums Zusammen mit dem Galaterbrief steht der Römerbrief im Fokus einer vielstim‐ migen internationalen Forschungsdebatte, die die Frage nach dem Verhältnis zwischen Paulus und dem Judentum seiner Zeit erörtert. Maßgebliche Impulse zur neueren Forschung erfolgten durch die New Perspective on Paul, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts grundsätzliche Einwände gegen die lutherisch geprägte Paulusexegese und deren Bild des frühen Judentums erhob. 47 Im gegenwärtigen Forschungsdiskurs mehren sich nun jedoch die Stimmen, die wiederum die Darstellung des Judentums und dessen Verhältnisbestimmung zu Paulus in der New Perspective kritisieren und erneut einen Perspektivwechsel einfordern. Grundlage der Paulusforschung soll demnach sein, Paulus „inner‐ halb des Judentums“ zu sehen. Während die Beiträge der - inzwischen nicht mehr ganz neuen - New Perspective on Paul nur mit zeitlicher Verzögerung auf Deutsch publiziert wurden, verhält sich dies bei den Forschungsbeiträgen zu Paul within Judaism nun anders. Zu nennen sind hier unter anderem verschiedene Beiträge in der Ausgabe „Das Neue Testament jüdisch erklärt“, das von renommierten jüdischen Forscherinnen und Forschern erarbeitet wurde, 48 sowie weitere deutschsprachige bzw. ins Deutsche übersetzte Publikationen, die sich auch an eine nicht-akademische Öffentlichkeit wenden. 49 Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 Der Römerbrief in der neueren Forschungsdiskussion 15 50 Vgl. Ed P. Sanders, Paul and Palestinian Judaism. A Comparison of Patters of Religion, Philadelphia 1977. 51 Der einflussreiche Beitrag aus dem Jahr 1983 ist abgedruckt in James D.-G. Dunn, The New Perspective on Paul. Collected Essays (WUNT-1/ 185), Tübingen 2005, 89-110. 52 Neben den in Anm. 47 genannten Überblicksdarstellungen zur New Perspective sei an dieser Stelle auf den umfangreichen Beitrag von Dunn hingewiesen, der den Diskussionsstand Anfang der 2000er reflektiert („The New Perspective: Whence, What and Whither? “, in Dunn, New Perspective [s.-Anm.-51], 1-88). 53 Mark D. Nanos/ Magnus Zetterholm (Hg.), Paul within Judaism. Restoring the First-Cen‐ tury Context to the Apostle, Minneapolis 2015. 54 Vgl. Michael F. Bird, An Introduction to the Paul within Judaism Debate, in: Michael F. Bird u. a. (Hg.), Paul within Judaism: Perspectives on Paul and Jewish Identity (WUNT-1/ 507), Tübingen 2023, 1-28, hier-3. Wie bereits angedeutet, ist die New Perspective on Paul weiterhin ein wichtiger Bezugspunkt der Paulusforschung. Hierbei handelt es sich allerdings um eine Forschungsrichtung, die sich über mehrere Jahrzehnte entwickelte und ausdif‐ ferenzierte, weshalb an dieser Stelle einige zusammenfassende Anmerkungen genügen müssen. Die Bezeichnung „New Perspective on Paul“ wurde Anfang der 1980er Jahre von James Dunn geprägt, der den religionsstrukturellen Ansatz von E. P. Sanders 50 vor allem in soziologischer Hinsicht weiterentwickelte. Dunn wandte sich gegen den von Sanders dargestellten Kontrast zwischen jüdischem „Bundesnomismus“ und der paulinischen „Teilhabe“-Christologie. Demgegenüber ging Dunn von der Bezeichnung „Werke des Gesetzes“ (erga nomou) in Gal 2,16 aus und kam zu dem Schluss, es müsse sich dabei um religiöse Praktiken handeln, die einerseits für die Identität des Judentums maßgeblich sind („identity marker“) und andererseits das Judentum von den nichtjüdischen Völkern abgrenzen („boundary marker“), nämlich Beschneidung, Speisegebote und Sabbatruhe. Paulus habe diese jüdische Praxis abgelehnt, weil sie die Tora in „nationalistischer“ Weise auf das Judentum begrenze, und ihr die Rechtfertigung des Menschen aus dem Christusglauben entgegengesetzt. 51 Die von der New Perspective maßgeblich beeinflusste Forschungsdebatte wurde seitdem auf umfangreiche Weise kritisch weitergeführt. 52 Ein spezifi‐ scher Schwerpunkt der Auseinandersetzung bildete sich in Nordamerika und den skandinavischen Ländern heraus. Kritische Stimmen der Forschung aus diesen Ländern fanden schließlich in einer Forschungsgruppe und dem 2015 veröffentlichten Band „Paul within Judaism“ zusammen, wobei sich dieser Band programmatisch als Ausdruck einer „neuen Perspektive in der Paulus‐ forschung“ präsentiert. 53 Die Positionen der beteiligten Forscherinnen und Forscher sind dabei keineswegs in allen Details deckungsgleich, weshalb der Begriff Paul within Judaism eher einen Forschungstrend bezeichnet und nicht eine einheitliche „Schule“. 54 Im Folgenden sollen zu diesem Forschungsansatz Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 16 Konrad Schwarz 55 Ehrensperger, „Paul within Judaism“-Perspektive (s.-Anm.-49), 458. 56 Wie etwa Paula Fredriksen anmerkt: „Wir sollten uns auch in Erinnerung rufen, dass verschiedene Juden damals wie heute die Regeln für jüdische Verhaltensweisen unterschiedlich verstanden“ (Paulus und das Judentum, in: Kraus u. a. [Hg.], Das Neue Testament - jüdisch erklärt [s.-Anm.-15], 684-689, hier-687). 57 Vgl. etwa das Zitat von Dtn 32,43 (LXX) in Röm 15,10, wo die „Völker“ (ethnē) zusammen mit Gottes „Volk“ (laos) zum Jubel aufgerufen werden. 58 Vgl. 2Kor-11,24. einige Eckpunkte dargestellt werden, die im Einzelnen durchaus unterschiedlich gewichtet werden. Ausgangspunkt ist allgemein eine weitreichende Kritik sowohl an der älteren Paulusexegese als auch an der New Perspective, wobei insbesondere die Beiträge von Dunn im Fokus stehen. Die New Perspective habe viele Tendenzen aus der älteren Paulusforschung übernommen, etwa indem sie von einem jüdischen „Nationalismus“ im Kontrast zum „Universalismus“ des Paulus sprach. Ebenso sei zwar nicht mehr das jüdische Gesetz selbst als Problem dargestellt worden, sondern die am Gesetz ausgerichtete jüdische Praxis - und damit die Jüdinnen und Juden zur Zeit des Paulus selbst. Als kritisches Fazit folgt daraus: „Jüdische Tradition, insbesondere jüdische Partikularität, diente auch im Ansatz der New Perspective dazu, die Überlegenheit der Christus-Bewegung darzulegen.“ 55 Die Paul-within-Judaism-Forschung betont demgegenüber, dass Paulus Jude war und dies auch seit seiner Hinwendung zum Christusglauben blieb, und dass er an keiner Stelle christusgläubige Juden dazu auffordert, die Tora nicht mehr zu befolgen, die Beschneidung abzulehnen und den Sabbat nicht zu beachten. Deshalb sei grundsätzlich davon auszugehen, dass Paulus stets Tora-treu lebte, wobei in dieser Hinsicht gewisse Spielräume im antiken Judentum angemerkt werden. 56 Entscheidend ist für diesen Forschungsansatz aber vor allem die Wahrnehmung der Missionstätigkeit des Paulus unter nichtjüdischen Völkern. In diesem Zusammenhang wird betont, dass es sich beim frühen Christentum um eine apokalyptische Bewegung handelt, die auf das nahe Wiederkommen Christi hofft und erwartet, dass in der Endzeit die nichtjüdischen Völker zur Verehrung des Gottes Israels gelangen. 57 Sie seien jedoch weiterhin vom jüdischen Volk unterschieden, sodass die Tora für sie nicht gilt. Die Chris‐ tusverkündigung des Paulus unter den Völkern ist demnach keineswegs als „gesetzesfrei“ anzusehen, da die Gültigkeit der Tora nicht infrage gestellt wird und Paulus konsequent dem folgt, wie die Tora auf nichtjüdische Menschen blickt. Die wiederkehrenden Konflikte des Paulus mit jüdischen Autoritäten - bis hin zur Auspeitschung als Synagogenstrafe 58 - hätten sich nicht daran entzündet, dass man Paulus in irgendeiner Weise einen „Abfall“ vom Judentum vorwarf. Entscheidend sei vielmehr gewesen, dass die jüdischen Autoritäten Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 Der Römerbrief in der neueren Forschungsdiskussion 17 59 Fredriksen, Paulus und das Judentum (s.-Anm.-56), 688. 60 Ehrensperger, „Paul within Judaism“-Perspektive (s.-Anm.-49), 459. 61 Ebd. 62 Vgl. die Anmerkungen bei Karl-Wilhelm Niebuhr, Einführung: Paulus im Judentum seiner Zeit. Der Heidenapostel aus Israel in neuer Sicht. Mit einem Nachtrag zur ‚New Perspective on Paul‘ seit 2010, in: ders., Paulus im Judentum seiner Zeit. Gesammelte Studien (WUNT 1/ 489), Tübingen 2022, 1-40, hier 27f. Zu einer anderen Einschätzung kommt hingegen Udo Schnelle. Er gesteht zwar zu, Paulus sei „zeitlebens dem Judentum eng verbunden“ geblieben (Udo Schnelle, Über Judentum und Hellenismus hinaus. Die paulinische Theologie als neues Wissenssystem, in: ZNW 111 [2020], 124-155, hier 124). Unter anderem mit Bezug auf 1Kor 9,20-23 kommt Schnelle zu dem Ergebnis, dass Paulus „im Vollsinn weder Jude noch Heide, sondern Träger einer neuen Identität und flexibler Repräsentant einer neuen Bewegung“ gewesen sei, denn beispielsweise die „Selbstbeschreibung“ in 1Kor 9,22b.23 „geht weit über das hinaus, was für eine jüdische Identität zumutbar wäre, für die eben nicht ‚alles‘ möglich ist! “ (139f.-Anm.-48). den Anbruch der messianischen Zeit bestritten. Sie hätten vor allem eine Gefahr darin erkannt, dass Paulus nichtjüdische Menschen dazu bewegte, die kultische Verehrung ihrer Götter aufzugeben. Nach antiker Auffassung konnte dies den Zorn der Götter hervorrufen und die Ordnung einer antiken Stadt zerstören, sodass die bislang gesicherte Stellung der Synagogen in Gefahr geriet. 59 Was die Interpretation der Paulusbriefe betrifft, geht die Paul-within- Judaism-Forschung davon aus, dass alle überlieferten Briefe - insbesondere der Römerbrief - an nichtjüdische Christusgläubige adressiert sind. Aus dieser Einschätzung der brieflichen Kommunikationssituation wird die weitreichende Konsequenz gezogen, dass Paulus sich an keiner Stelle unmittelbar an jüdische Menschen wendet, seien sie christusgläubig oder nicht. Die Implikationen der Paulusbriefe für das Judentum ließen sich deshalb „nur indirekt und hypothe‐ tisch erschließen“. 60 Daher sollten insbesondere die Aussagen über die Tora und deren Beachtung in der religiösen Praxis spezifisch darauf bezogen werden, dass „die Christus-Nachfolgenden aus den Völkern sich dem einen Gott Israels zuwenden sollen, ohne jüdisch zu werden.“ 61 Unter den Impulsen für die Forschungsdiskussion, die vom Paul-within- Judaism-Ansatz ausgehen, seien an dieser Stelle vor allem zwei Aspekte her‐ vorgehoben: Zu nennen ist zum einen, dass hier die jüdische Herkunft des Paulus und seine bleibende Zugehörigkeit zum Judentum in den Vordergrund gestellt werden, sodass seine Briefe nicht ohne Bezug auf das zeitgenössische Ju‐ dentum zu verstehen sind. Wenngleich diese grundlegende Einschätzung in der gegenwärtigen Forschung weithin anerkannt ist, 62 wird sie hier in besonderer Weise ins Zentrum gestellt. Als zweiter Impuls ist zu würdigen, dass das frühe Christentum und insbesondere Paulus hier bewusst im Horizont der jüdischen Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 18 Konrad Schwarz 63 In der New Perspective war die eschatologische Dimension des frühen Christentums oftmals in den Hintergrund getreten; vgl. Frey, Das Judentum des Paulus (s. Anm. 46), 93. 64 Ehrensperger, „Paul within Judaism“-Perspektive (s.-Anm.-48), 463. 65 Vgl. Gal-1,15f.; 1Kor-9,1; 15,8-11; Phil-3,7-11. 66 Vgl. Gal-1,16; Röm-1,5.13; 15,15-19 u.-ö. 67 Dies betrifft etwa die oftmals einseitige Darstellung der differenzierten Arbeiten von Dunn (vgl. Dunn, New Perspective [s. Anm. 50]). Zudem werden neuere Studien au‐ ßerhalb der anglophonen Forschung kaum wahrgenommen (vgl. ausführlich Niebuhr, Einführung [s.-Anm.-62], 28 f.). Die Polemik richtet sich u. a. auch gegen renommierte jüdische Wissenschaftler wie Daniel Boyarin und Shaye J. D. Cohen, deren Studien Fredriksen als „Inszenierungen des protestantischen Paulus durch Nicht-Protestanten“ karikiert (Fredriksen, Paulus „innerhalb des Judentums“ [s.-Anm.-49], 127-Anm.-5). 68 Die Frage nach der historischen Entwicklung des Judentums und des Christentums als zwei verschiedene Religionen wird in der gegenwärtigen Forschung vor allem mit Bezug auf das viel diskutierte Modell des Parting of the Ways erörtert. Vgl. den Überblick zum gegenwärtigen Forschungsstand in Jens Schröter/ Benjamin A. Edsall/ Joseph Verheyden, Introduction, in: dies. (Hg.), Jews and Christians - Parting Ways in the First Two Centuries CE? Reflections on the Gains and Losses of a Model (BZNW-253), Berlin/ Boston 2021, 1-10, hier-1-5. Apokalyptik gesehen werden: 63 Demnach stellt die Einschätzung der Zeit, die mit dem Glauben an Jesus als dem Messias verbunden ist, einen grundlegenden Unterschied zwischen den christusgläubigen und den nicht-christusgläubigen Teilen des Judentums dar. 64 Dies ist von besonderer Relevanz sowohl mit Blick darauf, wie Paulus seine Lebenswende hin zum Glauben an Jesus als den Messias gedeutet hat, 65 als auch für die Frage, wie Paulus seine Missionstätigkeit als Apostel für die nichtjüdischen Völker aufgefasst hat. 66 An verschiedenen Punkten werden in der aktuellen Forschungsdebatte je‐ doch auch kritische Rückfragen zu dieser Forschungsrichtung geäußert. Nur am Rande sei angemerkt, dass in den Beiträgen dieses Ansatzes andere For‐ schungspositionen oftmals selektiv und verkürzt dargestellt oder gar verächt‐ lich gemacht werden, 67 was einem differenzierten, offenen Forschungsdiskurs sicherlich abträglich ist. In inhaltlicher Hinsicht werden vor allem drei wei‐ terführende Anfragen gestellt. Zum ersten ist darauf hinzuweisen, dass der Fokus auf „Paulus innerhalb des Judentums“ umgekehrt zu der Frage führen könnte, wer oder was denn nicht „innerhalb des Judentums“ wäre, zumal die beteiligten Forscherinnen und Forscher die Vorstellung eines Gegensatzes zwischen Judentum und Christentum als verschiedener Religionen zur Zeit des Paulus zu Recht zurückweisen. 68 Im Zusammenhang damit besteht die Gefahr, anachronistische religionsgeschichtliche Vorstellungen einzutragen, denn im 1. Jahrhundert gab es keine religiöse Institution, die autoritativ über eine Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 Der Römerbrief in der neueren Forschungsdiskussion 19 69 Frey, Das Judentum des Paulus (s.-Anm.-47), 102. 70 Jens Schröter, Was Paul a Jew within Judaism? The Apostle to the Gentiles and His Communities in Their Historical Context, in: Schröter/ Edsall/ Verheyden (Hg.), Jews and Christians (s.-Anm.-68), 89-119, hier-113. 71 Fredriksen, Paulus „innerhalb des Judentums“ (s.-Anm.-49), 128. 72 Am häufigsten drückt Paulus dies in der Gegenüberstellung von „Juden“ (Ioudaioi) und „Griechen“ aus (Hellēnes); vgl. 1Kor 1,22-24; Gal 3,28; Röm 1,16 u. ö. Jedoch lässt sich auch beim Begriff Hellēnes fragen, ob damit nicht bereits die Kategorie der Ethnizität verlassen ist, da dieser Begriff hier in ähnlicher Weise verwendet wird wie „Völker“ (ethnē); vgl. Wolter, Römer (s.-Anm.-3), Bd.-1, 118. 73 Jörg Frey, The Relativization of Ethnicity and Circumcision in Paul and His Communi‐ ties, in: Bird u.-a. (Hg.), Paul within Judaism (s.-Anm.-54), 45-62, hier-54. 74 Vgl. 1Thess-1,1; 1Kor-1,2; 2Kor-1,1; Phil-1,1; Gal-1,2; Röm-1,7. 75 Frey, Relativization (s.-Anm.-73), 62. 76 Vgl. Röm 2,11; 3,9.22.29; 10,12f.; ausführlich dazu Samuel Vollenweider, Are Christians a New „People“? Detecting Ethnicity and Cultural Friction in Paul’s Letters and Early Christianity, in: EC-8 (2017), 293-308, hier-305f. 77 Vgl. Phil-3,8-11; 2Kor-11,22f.; Gal-1,13-15; 2,15f. „Zugehörigkeit zum ‚Judentum‘“ hätte entscheiden können. 69 Zudem könnte man bei der Frage nach der Zugehörigkeit zum Judentum auch dahingehend differenzieren, dass diese Frage aus unterschiedlichen Perspektiven verschieden beurteilt werden kann, wie etwa aus der Perspektive römischer Behörden, der jüdischer Zeitgenossen des Paulus oder der christusgläubigen Nicht-Juden. 70 Eine zweite Anfrage an die Paul-within-Judaism-Position bezieht sich darauf, dass hier der „antike ethnische Essentialismus“ in den Vordergrund gerückt und die Unterscheidung zwischen jüdischen und nichtjüdischen Menschen für Paulus als theologisch leitend verstanden wird, bis hinein in die Eschato‐ logie. 71 Dabei ist zwar durchaus anzumerken, dass Paulus ethnische Aspekte vielfach berücksichtigt. 72 Bereits bei der spezifisch jüdischen Bezeichnung von nichtjüdischen Menschen als „Völker“ (ethnē) ist jedoch fraglich, ob sich dies noch in der antiken Kategorie der Ethnizität erfassen lässt, da es sich bei den „Völkern“ ja nicht um ein einheitliches Volk handelt. 73 Vor allem aber lässt sich bei Paulus das Bemühen erkennen, die Christusgläubigen als eine Gemeinschaft, als „Gemeinde“, „Heilige“, „Berufene“ und „Geliebte“ Gottes anzusprechen 74 und auf deren Einheit zu dringen. Deshalb wird man zumindest sagen können, dass Paulus bestrebt ist, ethnische Differenzen innerhalb der an Jesus glaubenden Gemeinschaft zu relativieren 75 und vor allem in soteriologischer Hinsicht zu überwinden. 76 Dies betrifft in analoger Weise auch die Frage nach dem Selbstverständnis des Paulus, denn an vielen Stellen, an denen Paulus auf seine jüdische Identität zu sprechen kommt, betont er zugleich seine Zugehörigkeit zu Christus. 77 Eine wichtige Frage in der Forschungsdiskussion ist deshalb, ob die Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 20 Konrad Schwarz 78 So John M. G. Barclay, Gift Perspective Response to Zetterholm, in: Scot McKnight/ B. J. Oropeza (Hg.), Perspectives on Paul. Five Views, Grand Rapids, Mich. 2020, 210-215, hier-212. 79 Vgl. Barclay, Gift Perspective (s.-Anm.-78), 213. 80 Vgl. etwa die Wendungen mit „jeder Glaubende“ bzw. „alle Glaubenden“ (Röm 1,16; 3,9.22), „kein Fleisch“ (3,20) und „der Mensch“ (3,28). 81 Vgl. Wolter, Römer (s.-Anm.-3), Bd.-1, 358f. 82 So Nanos, Römer (s.-Anm.-15), 337. Zugehörigkeit zu Christus das Selbstverständnis des Paulus als Jude mindestens näher qualifiziert, wenn nicht sogar relativiert. 78 Eine dritte und weitreichende Anfrage bezieht sich darauf, ob die skizzierten Grundsätze des Paul within Judaism insgesamt geeignet sind, die Aussagen des Paulus über das Judentum, über das „Gesetz“ und die „Werke des Gesetzes“ vollumfänglich zu erklären. Dass Paulus sich als Apostel für die Völker versteht und die Leserinnen und Leser in seinen Briefen in dieser Weise anspricht, wird gegenwärtig von weiten Teilen der Forschung vertreten. Dennoch können die Ausführungen des Paulus nicht in jeder Hinsicht auf diesen Kommunikations‐ rahmen begrenzt werden, als ob seine Aussagen für die jüdischen Zeitgenossen, seien sie christusgläubig oder nicht, keine Relevanz hätten. Zum einen kann die Frage, worüber Paulus spricht, nicht mit Blick darauf eingeengt werden, zu wem er spricht. 79 Zum anderen formuliert Paulus oftmals in einer sehr grund‐ sätzlichen Art und Weise, die den konkreten Zusammenhang übersteigt. 80 Wenn er beispielsweise feststellt, dass die Tora zu der Verstrickung des Menschen in Sünde und Tod „hinzugetreten“ ist, „damit die Verfehlung sich vermehrt“ (Röm 5,20), 81 oder wenn Paulus die Tora aufs engste mit der Hervorbringung von „Leidenschaften der Sünden“ in Verbindung bringt (7,5), sind das innerhalb des vielfältigen antiken Judentums in jedem Fall provokante Aussagen. Ebenso verhält es sich mit den Formulierungen, wonach „nichts aus sich heraus unrein“ sei (14,14), ja sogar „alles ist rein“ (V. 20), da Paulus dies nicht bloß in begrenzter Weise als „halachische Entscheidungen“ für nichtjüdische Christusgläubige äußert. 82 Vielmehr stellt er dies in betonter Weise als seine eigene Überzeugung „in dem Herrn Jesus“ dar (V.-14). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Einschätzung des Paulus als Tora-treuer Jude nähere Qualifizierungen erfordert und nicht zuletzt davon abhängt, von welcher Perspektive aus die Frage der Treue zur Tora betrachtet wird. In jedem Fall ist jedoch mit Blick auf die aktuelle Forschungsdiskussion festzustellen, dass vom Paul-within-Judaism-Ansatz bedeutende Impulse aus‐ gehen, die die Debatte über die theologische Verortung des Paulus im Judentum seiner Zeit intensiv anregen. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 Der Römerbrief in der neueren Forschungsdiskussion 21 83 Röm 1,24.26.28. Die Formulierung „Gott lieferte sie aus“ lehnt sich an die antike Gerichtssprache an, in der das Verb paradidōmi als terminus technicus verwendet wird, dass der Verurteilte an die Personen, die die Strafe ausführen, überstellt wird (vgl. Mk 15,15 parr.). Da Röm 1,18-32 im Hinblick auf juristische Termini jedoch zurückhaltend ist (dies setzt erst in 2,1f. ein), könnte auch die alttestamentliche Tradition anklingen, wonach Gott das Volk wegen seiner Vergehen an Feinde ausliefert (Ps-105,41-LXX u.-ö.). 3. Ethische Konkretisierungen: Der Blick auf gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen und das Verhältnis zu den staatlichen Machthabern Die Aussagen des Paulus über gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen (Röm 1,16f.) und über das Verhalten gegenüber den staatlichen Machthabern (13,1-7) sind für den Römerbrief selbst von eher geringem argumentativem Gewicht. In der neutestamentlichen Wissenschaft werden diese Textpassagen jedoch intensiv erörtert, da sie in der Geschichte des Christentums stark rezipiert wurden und mitunter auch in der Gegenwart herangezogen werden. Hinsichtlich des ersten Textabschnitts ist zunächst der Kontext in den Blick zu nehmen: Röm 1,18-32 bildet den ersten Teil einer umfangreich angelegten Argumentation, wonach „Juden und Griechen alle unter der Sünde sind“ (3,9). Nachdem Paulus in 1,16f. das Evangelium als göttliche „Kraft zur Rettung“ für alle Glaubenden präsentiert, entwickelt V. 18-32 das Bedrohungsszenario einer eschatologischen Lebensgefahr: Der offenbar werdende „Zorn Gottes“ richtet sich gegen alle „Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen, die die Wahrheit durch Ungerechtigkeit unterdrücken“ (1,18) und schließlich den Tod verdienen (V. 32). Weite Teile des Abschnitts sind im Rückblick formuliert (V. 21-28): Trotz ihrer einstigen Gotteserkenntnis, die Paulus den Menschen an dieser Stelle zugesteht, hätten sie sich von Gott abgewendet, ihn nicht verehrt und seine Herrlichkeit mit dem „Abbild eines vergänglichen Menschen und von Vögeln, Vierfüßern und Schlangen“ vertauscht. Dreimal wiederholt Paulus die Wendung, Gott habe die Menschen daraufhin in strafender Weise „ausgeliefert“ an die „Begierden ihrer Herzen“, an „entehrende Leidenschaften“ usw. 83 Aus der Sicht des Paulus resultiert daraus ein ungeheuerliches ethisches Fehlverhalten, das in einem sogenannten Lasterkatalog zusammengefasst wird (V.-29-31). Das theologisch grundlegende Argument des Abschnitts ist die Überzeugung, dass es der Gott Israels ist, der die Welt geschaffen hat und allein als Gott und Schöpfer zu verehren ist. Mit Blick auf die Wortwahl ist allerdings zu bemerken, dass Paulus bestimmte jüdisch-hellenistische Begriffe vermeidet, die Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 22 Konrad Schwarz 84 So u. a. eidōlon („Götzen“), eidōlolatria („kultische Verehrung von Götzen“) oder porneia. Letzteres hat keine deutsche Entsprechung. Der Begriff bezeichnet verschie‐ dene Formen sexueller Kontakte, die als illegitim galten, sodass die Übersetzung mit „Ehebruch“ unzutreffend ist; vgl. Christine Gerber, Liebe ohne Sex, Sex ohne Liebe - der Apostel Paulus gibt zu denken, in: ZPT-74 (2022), 17-28, hier-21. 85 Etwa epithymiai („Begierden“), pathē („Leidenschaften“), physis („Natur“), nous („Sinn, Verstand“) und to kathēkon (Röm 1,28). Der zuletzt genannte Begriff wurde insbesondere in der stoischen Philosophie verwendet und bezeichnet das richtige Handeln, das der Natur eines Lebewesens entspricht, bzw. das ihm „Angemessene“; zum diesem Begriff vgl. Jens Schröter, Ποιεῖν τὰ μὴ καθήκοντα (Röm 1,28). Ein Beitrag zum Ansatz der paulinischen Ethik, in: Jochen Flebbe/ Matthias Konradt (Hg.), Ethos und Theologie im Neuen Testament. FS Michael Wolter, Neukirchen-Vluyn 2016, 157-184, hier-174. 86 So u.-a. Nanos, Römer (s.-Anm.-15), 307; sowie Campbell, Romans (s.-Anm.-26), 71. 87 Vgl. Röm 1,23.25 mit Ps 105,20 LXX (ähnlich Apg 7,41f.); so u. a. Wolter, Römer (s. Anm. 3), Bd. 1, 136.144f.; Wolter weist außerdem darauf hin, dass Röm 1,18-32 signifikante Abweichungen von SapSal 13f. aufweist, sodass Röm 1,18-32 nicht allein vor diesem Hintergrund zu interpretieren ist. 88 Vgl. Röm-3,9. an dieser Stelle zu erwarten wären. 84 Zugleich treten insbesondere geprägte Begriffe der griechisch-römischen Popularphilosophie hervor, 85 verbunden mit der in der Antike verbreiteten sozialen Kategorie von Ehre und Schande. Paulus beabsichtigt offensichtlich, das menschliche Fehlverhalten vor dem Hintergrund allgemeiner antiker Moralvorstellungen aufzuzeigen. In der Forschungsdiskussion umstritten ist, wer mit den in Röm 1,18-32 erwähnten Menschen gemeint sein könnte. In Teilen der Forschung wird die Auffassung vertreten, dass sich dieser Textabschnitt gegen die nichtjüdischen Völker richtet, da die kultische Bilderverehrung und das ethische Fehlverhalten vor dem Hintergrund jüdischer Polemik gegen die Völker zu verstehen sei. 86 Andere Forscherinnen und Forscher verweisen hingegen darauf, dass Paulus von den „Menschen“ (V. 18) allgemein spricht und der Text deutliche Anklänge an die jüdische Überlieferung vom Goldenen Kalb zeigt. 87 Dies spricht dafür, den Textabschnitt nicht nur auf die nichtjüdischen Völker, sondern auf die gesamte Menschheit zu beziehen. 88 Die Bemerkungen des Paulus, die auf gleichgeschlechtliche sexuelle Prak‐ tiken eingehen (V. 26f.), erwähnen zuerst die „Weiblichen“ (thēleiai) und danach die „Männlichen“ (arsenes), wie es wörtlich übersetzt heißt. Normativ leitend ist der Begriff „natürlicher Gebrauch“ (physikē chrēsis), was auf einem Konzept von Sexualität beruht, das nicht auf Konsens und gegenseitigen Lustgewinn inner‐ halb einer Partnerschaft ausgerichtet ist, sondern ein hierarchisch bestimmtes „Gewaltverhältnis“ voraussetzt, „bei dem ein aktives Subjekt ein passives Objekt Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 Der Römerbrief in der neueren Forschungsdiskussion 23 89 Wolter, Römer (s.-Anm.-3), Bd.-1, 150. 90 Wolter, Römer (s. Anm. 3), Bd. 1, 151. Er argumentiert dabei, dass das Adverb homoiōs („ebenso“) am Beginn von V. 27 eine gerichtete „Relation“ beschreibe, wonach das „Verhalten der Frauen […] Vergleichsspender“ für die Männer sei, nicht umgekehrt. 91 Bernadette J. Brooten, Liebe zwischen Frauen. Weibliche Homoerotik in hellenis‐ tisch-römischer Zeit und im frühen Christentum, Münster 2020, 285. Laut Brooten „präzisiert“ homoiōs in Röm-1,27 die Bedeutung von V.-26. 92 Gerber, Liebe (s.-Anm.-84), 27. 93 Stefan Krauter, Studien zu Röm 13,1-7. Paulus und der politische Diskurs der neroni‐ schen Zeit (WUNT 1/ 243), Tübingen 2009, sowie weitere Einzelbeiträge des Autors; daneben noch Manuel Vogel, Römer 13,1-7 als Lobrede auf die Verfolger, in: Stefan Alkier/ Christfried Böttrich (Hg.), Neutestamentliche Wissenschaft in gesellschaftlicher Verantwortung. Studien im Anschluss an Eckart Reinmuth, Leipzig 2017, 221-248, sowie der umfangreiche Abschnitt in Wolter, Römer (s.-Anm.-3), Bd.-2, 306-329. sexuell ‚gebraucht‘.“ 89 Dies schließt etwa auch sexuelle Beziehungen eines verheirateten Mannes zu Sklavinnen oder unverheirateten Frauen ein. Die Aussagen über das sexuelle Verhalten von Männern (V. 27) sind um‐ fangreicher und drastischer als die über die Frauen: Die „Männlichen“ hätten den „natürlichen Gebrauch des Weiblichen verlassen“, sie seien „gegenseitig in Verlangen entbrannt“ und hätten miteinander „Schande“ hervorgebracht (V. 27). Von den Frauen wird nur gesagt, dass sie „den natürlichen Gebrauch durch den widernatürlichen vertauscht“ hätten. In der Forschung wird deshalb diskutiert, was Paulus bei den Frauen im Blick hatte. So diskutiert Wolter etwa verschiedene Interpretationen der neueren Forschung und kommt zu dem Schluss, hier gebe es eine „Leerstelle“, da Paulus „in der Tat keine bestimmte sexuelle Praxis der Frauen in den Blick nimmt.“ 90 Aufgrund der Bewertung weiblicher Sexualität in der Literatur der römischen Zeit kommen jedoch die meisten Forscherinnen und Forscher zu dem Ergebnis, dass Paulus hier „sexuelle Beziehungen zwischen Frauen“ meint. 91 Deutlich ist in jedem Fall, dass Paulus die erwähnten Verhaltensweisen als Folge eines strafenden Handelns Gottes hinstellt. Mit Blick auf moderne theologische Diskurse lässt sich daher in jedem Fall festhalten: „Eine Applikation dieser Polemik zur Bewertung von Menschen, die sich mit ihrer gleichgeschlechtlichen Neigung als Gottes Geschöpfe verstehen, verbietet sich von selbst.“ 92 Was die neuere Forschungsdiskussion zu Röm 13,1-7 betrifft, ist zunächst eine bemerkenswerte Auffälligkeit festzustellen: Nachdem im 20. Jahrhundert vor allem die protestantische deutschsprachige Forschung intensiv mit diesem Text gerungen hat, wird er hier seit der Jahrtausendwende kaum noch disku‐ tiert, wobei die Studien von Stefan Krauter eine wichtige Ausnahme bilden. 93 Insgesamt zeigt sich an dieser Stelle ein auffälliger Kontrast zwischen der deutschsprachigen Forschung und der weiteren internationalen Forschung, in Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 24 Konrad Schwarz 94 Siehe dazu den Überblick von Tat-siong Benny Liew, The Roman Empire in Paul’s Letters, in: R. S. Sugirtharajah (Hg.), Oxford Handbook of Postcolonial Biblical Criticism, Oxford/ New York 2023, 190-212, sowie die Diskussion aktueller Forschungsliteratur bei Stefan Krauter, Paulus gegen das Imperium? , in: VuF-68 (2023), 31-42. 95 Scot McKnight, Reading Romans Backwards. A Gospel of Peace in the Midst of Empire, Waco, Texas 2019, 25. 96 Nanos, Römer (s.-Anm.-15), 335. 97 Vgl. die Übersicht bei Stefan Krauter, Auf dem Weg zu einer theologischen Würdigung von Röm-13,1-7, in: ZThK-109 (2012), 287-306, hier: 289-293. 98 Krauter, Auf dem Weg (s.-Anm.-97), 297. der dieser Text stark debattiert wird. Eine wichtige Rolle spielten zunächst so‐ zialgeschichtliche Zugänge, die nach der politisch-sozialen Situation des frühen Christentums fragten, während sich die gegenwärtige Forschung insbesondere auf Grundlage der postkolonialen Hermeneutik diesem Text zuwendet. 94 Ähnlich wie bei der bereits angesprochenen Frage, welche Gruppen mit den „Schwachen“ und „Starken“ (14,1-15,13) gemeint sind, werden differierende Ansätze vorgeschlagen, an wen sich Paulus in 13,1-7 richtet. So bezieht etwa Scot McKnight die Aussagen zu den „Schwachen“ in Kap. 14-15 auf jüdische Christusgläubige und argumentiert, dass sich Paulus auch in 13,1-7 an diese „Schwachen“ wendet, da sie aufgrund ihrer „zelotischen Tradition“ versucht sein könnten, die Steuerzahlung an den römischen Staat zu verweigern. 95 Laut Mark Nanos hingegen richtet sich Paulus hier - wie im gesamten Brief - an nichtjüdische Christusgläubige und fordert sie dazu auf, die „Oberen der Synagoge“ als „Autorität ihrer kommunalen Führung“ anzuerkennen, und da die nichtjüdischen Christusgläubigen als „vollwertige Mitglieder der jüdischen Gemeinden“ gelten sollen, seien sie auch zum Entrichten der Tempelsteuer verpflichtet. 96 Die meisten Forscherinnen und Forscher sehen jedoch weiterhin das Verhältnis der Adressatinnen und Adressaten des Briefs zu den römischen Machthabern und den staatlichen Institutionen als Leitthema des Textabschnitts an. Was die theologische Ebene von Röm 13,1-7 betrifft, wurde in der älteren Forschung vielfach bemängelt, dass Paulus nicht christologisch argumentiert. Daraufhin wurde oftmals in relativierender Weise erklärt, Paulus gebe hier im Wesentlichen traditionelle jüdische Ansichten wieder, und teilweise wurde sogar geschlussfolgert, der Textabschnitt stamme gar nicht von Paulus und sei von späterer Hand eingefügt worden. 97 Demgegenüber herrscht in der neueren Forschung die Einschätzung vor, dass Paulus hier ausgehend von seinem jüdischen Hintergrund einige sorgfältig formulierte Anmerkungen zum Verhalten gegenüber der politischen Herrschaft entwickelt, die bewusst „theo-logisch“ gestaltet sind. 98 Ebenso gehört zum Forschungskonsens, dass Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 Der Römerbrief in der neueren Forschungsdiskussion 25 99 Krauter, Auf dem Weg (s. Anm. 97), 305; zur Frage der Apokalyptik s. a. a. O., 300; ähnlich auch Wolter, Römer (s.-Anm.-3), Bd.-2, 326. 100 Campbell, Romans (s. Anm. 26), 350; als unterstützendes Argument verweist Campbell dabei auf die Rolle des Pharao als Herrscher in Röm-9,17 (a.-a.-O., 347). 101 So ausdrücklich Campbell, Romans (s.-Anm.-26), 347f. Paulus die herrschenden Institutionen als „Anordnung“ des Gottes Israels (V. 1f.) und als dessen „Diener“ (V. 4) versteht und damit den Abstand zu griechisch-römischen Herrscherkulten wahrt, in denen der Herrscher als „gött‐ lich“ gilt. Unterschiedliche Einschätzungen finden sich jedoch mit Blick auf die Frage, welche Rolle die Eschatologie an dieser Stelle spielt. So misst etwa Krauter der Eschatologie hier keine besondere Relevanz zu. Paulus lege den Christusgläubigen zwar untereinander ein verändertes Ethos nahe, jedoch empfehle er nach außen ein Verhalten, „sich in vorgegebene Strukturen zu fügen“, zumal dieses „zugleich gesellschaftskritische und gesellschaftskonforme Verhalten […] für eine Minderheitensituation typisch“ sei. 99 Demgegenüber sieht William Campbell in der Betonung, dass die politische Herrschaft von Gott angeordnet und ihm als „Diener“ untergeben ist, einen impliziten Hinweis darauf, dass dies nur für eine begrenzte Zeit gilt und die Adressatinnen und Adressaten sorgfältig abwägen sollten, wem tatsächlich „Furcht“ und „Ehre“ gebührt (V.-7). 100 Die erstgenannte Interpretation ist somit stärker am Wortlaut des Textes orientiert, während die zweite die „hidden transcripts“ 101 erkundet und damit gewissermaßen „zwischen den Zeilen“ zu lesen versucht. 4. Fazit Wie in der Darstellung dieser ausgewählten Themen der Forschungsdiskussion deutlich wird, sind in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Römerbrief in mehrfacher Hinsicht neue Ansätze und weiterführende Perspek‐ tiven festzustellen. Dabei richtet sich der Blick zum einen auf Paulus als Jude, der an Christus glaubt und sich als Missionar der nichtjüdischen Völker versteht, und auch die Debatte über die intendierten Adressatinnen und Adressaten des Römerbriefs geht neue Wege. Dass sich die differenzierte Beantwortung dieser grundlegenden Fragestellungen in vielfältiger Weise auf die Interpretation des Briefs auswirkt und von da aus wiederum auf die grundlegenden Fragen zurückwirkt, konnte hier nur mit Blick auf einige ausgewählte Textbereiche erläutert werden. Angesichts der angeregten gegenwärtigen Diskussionslage ist dabei kaum zu erwarten, dass das Forschungsinteresse am Römerbrief in den kommenden Jahren abnimmt. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 26 Konrad Schwarz Dr. Konrad Schwarz studierte Evangelische Theologie in Berlin und Pietermaritzburg (Südafrika). Seit 2013 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Schwer‐ punkte seiner Forschung sind das Thomasevangelium, die Gleichnisse und Parabeln Jesu und die Ethik des Paulus im Römerbrief. Derzeit arbeitet er zusammen mit Andreas Lindemann und Jens Schröter an der Neuauflage des „Arbeits‐ buchs zum Neuen Testament“. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 Der Römerbrief in der neueren Forschungsdiskussion 27 1 F.-M. Abel, Grammaire du Grec biblique, Paris 1927, 359; zitiert nach Marius Reiser, Sprache und literarische Formen des Neuen Testaments, Paderborn u.-a. 2001, 73. Zum Thema Philologisch-kritische Beobachtungen zur sprachlichen Gestaltung des Römerbriefes Stefan Alkier und Thomas Paulsen (14) Deshalb, Geliebte, bemüht euch dieses erwartend, unbefleckt und untadelig vor Ihm gefunden zu werden in Frieden, (15) und haltet die Langmut unseres Herrn für Rettung, wie auch unser geliebter Bruder Paulus gemäß der ihm gegebenen Weisheit euch geschrieben hat (16) wie auch in allen Briefen, redend in ihnen über diese Dinge, in denen manches schwer zu Erkennende ist, das die Ungebildeten und Ungefestigten verdrehen werden wie auch die übrigen Schriften - zu ihrem eigenen Verderben. (2Petr 3,14-16, Übersetzung Stefan Alkier/ Thomas Paulsen, FNT 6 [in Vorbereitung]) Die Perioden, zu denen der heilige Paulus ansetzt, werden selten glücklich zu Ende geführt. Nicht, daß er die Regeln der Grammatik verachtete, aber er vergißt sie einfach (…) und (…) läßt sich (…) fortreißen vom ungestümen Schwall seines Gedankens in unvermittelte Abschweifungen, in Parenthesen, Anakoluthe und häufige Ausflüge ins Unerwartete. (…) der Stil der paulinischen Briefe [ist] voller Irregularitäten und Härten, über die hinweg sich der Faden der Argumentation fortspinnt unter großem Aufwand an Partikeln und Partizipien, die einen Ausgleich bieten für die Lücken des Diskurses. (F.-M.-Abel) 1 1. Eine kurze Vorbemerkung zum Problem der Übersetzung und des Verstehens Übersetzen stellt vor große Herausforderungen. Wir, der Neutestamentler Stefan Alkier und der Gräzist Thomas Paulsen, möchten mit unserer phi‐ lologisch-kritischen Neuübersetzung aller neutestamentlichen Schriften im 2 Bisher erschienen sind: Stefan Alkier/ Thomas Paulsen, Die Apokalypse des Johannes. Neu übersetzt und mit Einleitung, Epilog und Glossar (FNT 1), Paderborn 2020; dies., Die Evangelien nach Markus und Matthäus. Neu übersetzt und mit Überlegungen zur Sprache des Neuen Testaments, zur Gattung der Evangelien und zur intertextu‐ ellen Schreibweise sowie mit einem Glossar (FNT 2), Paderborn 2021; dies., Das Evangelium nach Johannes und die drei Johannesbriefe. Neu übersetzt und mit Überlegungen zu Sprache, Kosmologie und Theologie im Corpus Johanneum sowie einem Glossar (FNT 3), Paderborn 2022; dies., Das Evangelium nach Lukas und die Taten der Abgesandten. Neu übersetzt (FNT 4), Paderborn 2023. FNT 5 wird 2025 erscheinen und die sieben unbestrittenen Paulusbriefe in neuer Übersetzung bieten. FNT 6 mit der Neuübersetzung der übrigen Briefliteratur soll 2026 erscheinen. Als Abschluss wird es dann noch eine Studienausgabe mit den Studienfassungen aller neutestamentlichen Texte geben. 3 Vgl. Martin Rösel/ Hannelore Jahr, „Eine kleine Biblia“. Die Beigaben zur Lutherbibel, in: Margot Käßmann/ Martin Rösel (Hg.), Die Bibel Martin Luthers. Ein Buch und seine Geschichte, Leipzig 2016, 94-116, hier: 96. Vgl. auch Stefan Alkier, Luthers Bibel. Das Septembertestament als Bannbulle der Johannesapokalypse, in: Stefan Alkier/ Thomas Paulsen (Hg.), unter Mitarbeit von Simon Dittmann, Apocalypse Now? Studien zur Intertextualität und Intermedialität der Johannesapokalypse von Dante bis Darksiders (Kleine Schriften des Fachbereichs Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main-13), Leipzig 2022, 69-92. Rahmen des Koine-Griechisch ihrer Entstehungszeit die sprachliche Gestal‐ tung dieser Texte im Griechischen so weit wie im Deutschen möglich nach‐ ahmen. 2 Wir wollen diese Texte deshalb auch nicht verständlicher machen, als sie im Griechischen sind. Das aber war und ist das Programm der Lutherbibel und anderer deutschsprachiger Bibelversionen, insbesondere derjenigen, die überwiegend von Kirchenleitungen herausgegeben werden: Durch Verein‐ deutigungen mehrdeutiger Passagen, Weglassen sperriger Formulierungen, erläuternde Ergänzungen und Paraphrasierungen und nicht zuletzt durch Absatzziehungen, Überschriften und erklärende Randbeigaben im Sinne der jeweiligen theologischen Überzeugung werden die Bibelübersetzungen im eigentlichen Sinn zum Buch der jeweiligen Kirche. Auch Luther wollte biblische Schriften nicht primär philologisch-kritisch verständlich machen, sondern theologisch und zwar in dem Sinn, wie er die Bibel verstand. Martin Luther benutzte von Anfang an seine Bibel, um seine Theologie zu verbreiten, 3 was ja auch bewundernswert und sehr erfolgreich gelungen ist. Dabei blieb das Bibelverständnis Luthers weitgehend von der lateinischen Fassung, der Vulgata, geprägt, und wegen des konfessionsübergreifenden Erfolges der Lu‐ therbibel über die Jahrhunderte hinweg ist die Perspektive auch evangelischer Theologien weitgehend von der Vulgata geprägt, die erhebliche theologische Differenzen zu den griechischen Fassungen aufweist. Das Frankfurter Neue Testament dagegen ignoriert die Vulgata methodisch und mit ihr spätere Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 30 Stefan Alkier und Thomas Paulsen 4 Vgl. dazu Stefan Alkier, Hölle, in: WiBiLex 2021 (https: / / bibelwissenschaft.de/ stichwort/ 52058/ ; letzter Zugriff am 09.01.2024); ders., Spiel mit dem Feuer - oder: Warum es (nicht nur) im Matthäusevangelium keine Hölle gibt, in: JBTh-36 (2021), 73-101. 5 Tobias Nicklas, Neutestamentlicher Kanon und christliche Apokryphen. Trends, Themen und Thesen, in: ZNT-51 (2023), 5-26. theologische Entwicklungen, die eine christlich-religiöse Sondersprache her‐ vorbrachten und die etwa zum Komplex der Sünden-Buße-Höllentheologie führten, von denen die biblischen Texte in ihren ausgangssprachlichen Ver‐ sionen nichts wissen. 4 Die lateinischen, römisch-katholischen Traditionen aber haben „mentale Bibeln“ (Tobias Nicklas), 5 also die Überzeugungen davon, was so alles in der Bibel steht, bis heute weit mehr geprägt als die hebräischen, aramäischen und griechischen Fassungen der alttestamentlichen Schriften und die griechischen Fassungen der neutestamentlichen Schriften. Das Frank‐ furter Neue Testament will demgegenüber neu ins Spiel bringen, was die griechischen Fassungen sagen und was nicht. Wir sind selbst überrascht darüber, wie wenig religiöse oder gar theologische Sondersprache die neu‐ testamentlichen griechischen Texte verwenden. Sie bleiben weitgehend im Rahmen des alltäglichen, allgemein verständlichen Koine-Griechisch. Deshalb theologisieren wir diese Texte in unserer mimetischen Bemühung nicht, vereinfachen und vereindeutigen sie auch nicht und übersetzen daher proble‐ matisches, anstößiges oder gar fehlerhaftes Griechisch mit problematischem, anstößigem oder gar fehlerhaftem Deutsch, soweit sich das nachahmen lässt. Leicht zu übersetzende Passagen wechseln in den griechischen Fassungen häufig mit sehr schwierigen und mehrdeutigen Passagen ab, was manchmal an der grundsätzlichen Problematik liegt, dass Ausgangs- und Zielsprache unterschiedlich arbeiten und so manches kaum adäquat in der Zielsprache nachgeahmt werden kann. Manche Schwierigkeiten sind aber auch vom Sprachstil des Verfassers und seiner ganz spezifischen Ausdrucksweise ver‐ ursacht, die es auch schon den Leserinnen und Lesern seiner eigenen Zeit schwer gemacht haben wird, die Aussagen zu verstehen. Die Charakterisierung der Satzperioden in paulinischen Briefen durch F.-M. Abel könnte man beinahe als eine Erläuterung der eingeräumten Schwierig‐ keiten lesen, die Schreiben des Paulus zu verstehen, die schon der 2Petr beklagt und damit zugleich einen sehr frühen Hinweis auf die Sammlung dieser Briefe (und auch anderer Schriften) und Streitigkeiten um ihr Verständnis gibt. Aber welchen Anteil daran haben Sprache, Stil und Schreibweise des Apostels und was hat dann trotz sprachlicher Hürden zu dem enormen Rezeptionserfolg geführt, der nicht nur zu Sammlungen seiner Briefe führte, sondern das Corpus Paulinum zum umfangreichsten Teil der neutestamentlichen Schriftensamm‐ Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 Philologisch-kritische Beobachtungen zur sprachlichen Gestaltung des Römerbriefes 31 6 Marius Reiser, Sprache und literarische Formen des Neuen Testaments, Stuttgart 2001, 77. lung werden ließ? Letzteres trifft sogar schon für den Gesamtumfang der sieben Briefe zu, die weitgehend als authentisch gelten, nämlich Röm, 1 u. 2Kor, Gal, Phil, 1Thess, Phlm. Liest man aber deutsche Übersetzungen von Luther über die Zürcher Bibel bis zur Bibel in gerechter Sprache und der Einheitsübersetzung, so kommt Paulus doch in einem weitgehend wohl gegliederten, gelehrt temperierten und weitgehend nachvollziehbaren Sprachduktus herüber. Auch wenn manche Gedankenführungen schwer zu verstehen sind und Anlass zu unterschiedlichen Interpretationen geben, so scheint das doch nicht an der Sprache der Paulus‐ briefe zu liegen, die in den deutschen Übersetzungen den Eindruck hinterlassen, dass der gelehrte Verfasser dieser Briefe sich in aller Seelenruhe gemütlich mit einem Getränk seiner Wahl hingesetzt und wohltemperiert und überwiegend eindeutig verständlich geschrieben bzw. diktiert hat. Folgt man den genannten Übersetzungen, bildet der „deutsche Paulus“ keine zu langen Sätze, die Verhält‐ nisse der Satzteile sind klar und stimmig konstruiert und reißen auch nicht plötzlich ab, und die Wortwahl ist ebenfalls auf unanstößige Verständlichkeit hin angelegt. Hat Abel übertrieben? Nein, hat er nicht. Vielmehr trifft zu, was Marius Reiser in seiner Monographie Sprache und literarische Formen des Neuen Testaments dazu schrieb: „In den modernen Übersetzungen ist der Stil des Paulus leider allzu sehr domestiziert und ‚in Ordnung‘ gebracht, so daß in ihnen sein ‚Donner‘ nur noch von ferne hörbar ist und die Blitze merklich an Schein verloren haben.“ 6 Eine Gegenüberstellung von Röm 1,1-7 in der Lutherübersetzung und in der Übersetzung, die wir für den im Entstehen begriffenen fünften Band des Frankfurter Neuen Testaments angefertigt haben, soll davon einen ersten Eindruck geben. Die Lutherübersetzung zerlegt den sich über sieben Verse erstreckenden ersten Satz des Römerbriefes und bildet in Abweichung vom griechischen Text daraus drei Sätze. Damit ermöglicht sie den Lesenden Atem‐ pausen, die der griechische Text aber nicht vorsieht, und raubt ihm so den blitzartigen Einsatz einer atemlosen Satzperiode als donnernde Brieferöffnung. Die philologisch-kritische Neuübersetzung des Frankfurter Neuen Testaments dagegen bemüht sich darum, die griechische Vorlage in ihrer Geschwindigkeit und rastlosen Komplexität nachzuahmen, soweit es die deutsche Grammatik erlaubt, und konstruiert dem griechischen Römerbrief entsprechend einen einzigen Satz: Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 32 Stefan Alkier und Thomas Paulsen Luther 2017: 1,1 Paulus, ein Knecht Christi Jesu, berufen zum Apostel, ausgesondert zu predigen das Evangelium Gottes, (2) das er zuvor verheißen hat durch seine Propheten in der Heiligen Schrift, (3) von seinem Sohn, der geboren ist aus dem Geschlecht Davids nach dem Fleisch, (4) der eingesetzt ist als Sohn Gottes in Kraft nach dem Geist, der da heiligt, durch die Auferstehung von den Toten - Jesus Christus, unserm Herrn. (5) Durch ihn haben wir empfangen Gnade und Apostelamt, den Gehorsam des Glaubens um seines Namens willen aufzurichten unter allen Heiden, (6) zu denen auch ihr gehört, die ihr berufen seid von Jesus Christus. (7) An alle Geliebten Gottes und berufenen Heiligen in Rom: Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus! FNT 5: 1,1 Paulus, Knecht Christi Jesu, berufener Abgesandter, abgesondert zur Frohbotschaft Gottes, (2) die Er vorangekündigt hat durch seine Propheten in heiligen Schriften (3) über seinen Sohn, den Gewordenen aus Samen Davids dem Fleisch nach, (4) den zum Sohn Gottes Bestimmten in Macht dem Geist der Heiligung nach seit der Auferstehung von Toten, Jesus Christus, unseren Herrn, (5) durch den wir Gunst empfangen haben und Abgesandtschaft im Gehorsam des Vertrauens bei allen Völkerschaften für seinen Namen, (6) unter denen auch ihr Berufene Jesu Christi seid, (7) allen in Rom seienden Geliebten Gottes, berufenen Heiligen, Gunst euch und Frieden von Gott, unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Noch problematischer ist die Zerstückelung von Röm 1,14-16, die sogar noch durch eine Absatzziehung nach 1,15 und eine eigene Überschrift vor 1,16 zementiert wird und es so verunmöglicht, den inhaltlichen Zusammenhang dieser Satzkonstruktion zu begreifen. Luther 2017: 1,14 Griechen und Nichtgriechen, Weisen und Nichtweisen bin ich es schuldig; (15) darum, soviel an mir liegt, bin ich willens, auch euch in Rom das Evangelium zu predigen. Das Evangelium als Kraft Gottes (16) Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die glauben, die Juden zuerst und ebenso die Griechen. FNT 5: 1,14: Sowohl Griechen als auch Anderssprachigen, sowohl Weisen als auch Unverständigen bin ich Schuldner, (15) so die Bereitschaft meinerseits auch euch, denen in Rom, froh zu verkünden, (16) denn nicht schäme ich mich der Frohbotschaft: Eine Kraft Gottes nämlich ist sie zur Rettung für jeden Vertrauenden, sowohl Jude zuerst als auch Grieche. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 Philologisch-kritische Beobachtungen zur sprachlichen Gestaltung des Römerbriefes 33 7 In diesem Zusammenhang wird auch der ideologisch hoch belastete Terminus „Ur‐ christentum“ erfunden. Vgl. dazu Stefan Alkier, Urchristentum. Zur Geschichte und Theologie einer exegetischen Disziplin (BHTh-83), Tübingen 1993. Nur wenn man den griechischen Satzzusammenhang von 1,14-16 respektiert und ihn im Deutschen nachahmt, wird verständlich, dass 1,16 erläutert, dass Paulus mit seiner Verkündigung in Rom seine Schuldigkeit zu erfüllen bereit ist, auch wenn dies gefährlich ist. Aus römischer Perspektive ist die Nachricht von einem Gekreuzigten eine von Schimpf und Schande und einen Gekreuzigten zu verkünden stellt sogar einen Rechtsbruch dar. Den ist Paulus aber bereit einzu‐ gehen, denn er schämt sich dieser Geschichte nicht, vielmehr betrachtet er sie als Evangelium, als gute Nachricht, als Frohbotschaft, die selbst eine Kraft Gottes ist, und setzt damit das theologische Grundanliegen des Schreibens in einem Atemzug in den Zusammenhang seiner Reisepläne. Dieser bedeutungsvolle syntaktische Zusammenhang wird mit der Lutherbibel ohne übersetzerische Not unkenntlich gemacht. 2. Das Koine-Griechisch der Paulusbriefe Paulus schreibt wie alle anderen Autoren der neutestamentlichen Schriften‐ sammlung das Koine-Griechisch seiner Zeit. Dieses steht in weitgehender Kontinuität zum seit dem 19. Jahrhundert so genannten „Klassischen Grie‐ chisch“. Als „Klassiker“ galten insbesondere Homer, der im ionischen Dialekt schrieb, und die attisch schreibenden Dramatiker Aischylos, Sophokles, Euri‐ pides und Aristophanes sowie die Philosophen Platon und Aristoteles und die Geschichtsschreiber Thukydides und Xenophon. Die Bezeichnung „Klassisches Griechisch“ hat im Zusammenhang des zwischen 1770 und 1830 explodierenden Ursprungsdenkens 7 dazu beigetragen, dass spätere sprachliche Entwicklungen als minderwertig betrachtet wurden und die als Koine bezeichnete Verkehrs‐ sprache fälschlicherweise in den Geruch kam, „schlechtes“ Griechisch zu sein. Absurderweise wurde dann auch noch die Chimäre eines „neutestamentlichen Griechisch“ davon unterschieden, wohl nicht zuletzt deshalb, weil in die Übersetzung der griechischen neutestamentlichen Schriften zahlreiche Vulga‐ tismen einflossen und so aus dem allgemeinverständlichen Koine-Griechisch der neutestamentlichen Literatur anachronistisch ein katholisch-lateinisches Theologengriechisch mit zahlreichen Sonderbedeutungen gemacht wurde, wie es bis heute durch die gängigen Wörterbücher unsachgemäß verbreitet wird. Der Begriff Koine (mit langem ‚e‘; auf der zweiten Silbe zu betonen; griechisch κοινή, eigentlich κοινὴ διάλεκτος (koinē dialektos-=-„gemeinsame Sprache“) bezeichnet die‐ Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 34 Stefan Alkier und Thomas Paulsen 8 Stefan Alkier/ Thomas Paulsen, Neutestamentliches Griechisch? Notwendige philolo‐ gische Bemerkungen zu einer exegetischen Chimäre und zur Koine der Evangelien nach Markus und Matthäus, in: dies., Die Evangelien nach Markus und Matthäus (s. Anm. 2), 1-36, hier: -3. 9 Stefan Alkier/ Thomas Paulsen, Neutestamentliches Griechisch? (s.-Anm.-8), 4. 10 Vgl. Thomas Paulsen, Koine, in: WiBiLex 2020 (https: / / bibelwissenschaft.de/ stichwort/ 200473/ ; letzter Zugriff am 09.01.2024). 11 Vgl. Robert Morgenthaler, Statistik des Neutestamentlichen Wortschatzes, Zürich 4 1992, 164. jenige weitgehend einheitliche Sprachform des Griechischen, die sich im griechischen Mutterland ab der zweiten Hälfte des 4. Jh. v. Chr. etablierte und sich in Folge der Eroberungen Alexanders III. von Makedonien (des so genannten Großen, reg. 336- 323 v. Chr.) binnen weniger Jahrzehnte im gesamten östlichen Mittelmeerraum und den anschließenden Gebieten (in modernen Termini: Türkei, Syrien, Israel, Irak, Iran, Saudi-Arabien und Ägypten) ausbreitete. Sie fungierte bis ins 6. Jh. n. Chr. als übliche Verkehrssprache der genannten Regionen. 8 Da im 4. Jh. v. Chr. Athen das konkurrenzlose Kulturzentrum der griechischsprachigen Welt darstellte und das dort gesprochene Attisch auch im philhellenischen Makedo‐ nien Philipps II. und seines Sohnes Alexanders III. Amtssprache war, wurde die sich neu entwickelnde Gemeinsprache im Wesentlichen durch das attische Griechisch geprägt. Größere Bedeutung kommt darüber hinaus für die Koine nur noch dem Ionischen zu, dorische Elemente sind spärlich, Einflüsse anderer Dialekte wie etwa des Arkadischen marginal. 9 Zum Koine-Griechisch sind auch die griechischen Versionen der Schriften Israels zu zählen, 10 also die sogenannte Septuaginta (LXX), so dass auch die Septuagintismen in den Paulusbriefen im Rahmen des Koine-Griechisch anzu‐ siedeln sind und nur in sehr wenigen Fällen echte Hebraismen konstatiert werden müssen. 3. Wortschatz der paulinischen Briefliteratur Der Wortschatz der paulinischen Briefe ist zwar mit 2648 Wörtern in absoluten Zahlen der umfangreichste (es folgen Lk: 2055, Apg: 2038). Da das Textcorpus der Paulusbriefe aber auch mit Abstand das umfangreichste ist (einbezogen sind hier nur Röm, 1Kor, 2Kor, Gal, Phil, 1Thess, Phlm), relativiert sich diese Zahl stark, wenn man den Quotienten aus Gesamtwörterzahl und Zahl der verschiedenen Wörter betrachtet (je höher der Quotient, desto geringer der Wortschatz). Die folgende Statistik baut auf Morgenthaler 11 auf, allerdings bereinigt um die nicht sicher echten Paulusbriefe. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 Philologisch-kritische Beobachtungen zur sprachlichen Gestaltung des Römerbriefes 35 Paulus 24053 Wörter insg. 2132 versch. Quotient: 11,28 z. Vgl.: Mt 18305 - 1691 - 10,82 - Mk 11242 - 1345 - 8,36 - Lk 19428 - 2055 - 9,45 - Joh 15416 - 1011 - 15,25 - Apg 18382 - 2038 - 9,02 - Apk 9834 - 916 - 10,74 - Der paulinische Wortschatz ist damit relativ geringer als der aller narrativen Texte des Neuen Testaments außer Joh. Der Verfasser mit dem größten Wort‐ schatz neutestamentlicher Schriften ist Markus! Natürlich ist ein direkter Vergleich wegen der unterschiedlichen Textgattungen schwierig: In argumen‐ tativen Texten ist grundsätzlich geringerer Wortschatz zu erwarten als in narrativen. Sonderbedeutungen der verwendeten Worte sind nicht zu konsta‐ tieren. Die Semantik der neutestamentlichen Schriften - und das gilt auch für die paulinischen Briefe - wird aus dem Koine-Griechisch verständlich. Das gilt auch für Neologismen, z. B. νέκρωσις (nekrōsis, Absterben, Röm 4,19), προστάτις (prostatis, Vertreterin, Röm 16,2), προσωπολημψία (prosōpolēmpsia, Ansehensvorzug, Röm 2,11), die wohl Paulus prägt, eine Annahme, die unter dem Vorbehalt steht, dass wir nur einen Bruchteil - die Schätzungen liegen zwischen 3-und-10% - der antiken griechischen Literatur kennen. Bei den Lieblingswörtern der paulinischen Briefe ist nicht nur auf ihre absolute Häufigkeit zu achten, sondern auch auf ihre relative gegenüber der sonstigen Verwendung in neutestamentlichen Schriften. Wir verzichten hier aus Raumgründen auf eine weitere Ausdifferenzierung und Kommentie‐ rung, welche die Verwendung auf die jeweiligen anderen neutestamentlichen Schriften darstellen und erläutern müsste. Wie wichtig das aber ist, zeigt etwa, dass das Wort ἐλπίς (elpis, Hoffnung) bei Paulus 25mal zu finden ist, aber in allen Evangelien fehlt. ἀγάπη agapē, Liebe 47 NT sonst: 69 ἀδελφός adelphos, Bruder, Pl. Brüder, Geschwister 113 - 230 ἀκροβυστία akrobystia, Vorhaut 16 - 4 ἐλπίς elpis, Hoffnung 25 - 28 Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 36 Stefan Alkier und Thomas Paulsen καυχᾶσϑαι kauchasthai, sich rühmen 34 3 λογίζεσϑαι logizesthai, anrechnen, berechnen, bedenken 33 - 7 νόμος nomos, Gesetz 116 - 75 περιτομή peritomē, Beschneidung 24 - 11 πίστις pistis, Vertrauen 91 - 152 σάρξ sarx, Fleisch 72 - 75 συνείδησις syneidēsis, Gewissen 14 - 16 σῶμα sōma, Körper, Leib 74 - 68 χάρις charis, Gunst 68 - 87 χάρισμα charisma, Gunsterweis 14 - 3 4. Zur Syntax der paulinischen Briefe Paulus schreibt wie alle Autoren der im Neuen Testament gesammelten Schriften überwiegend parataktisch, Hypotaxen umfassen selten mehr als einen Nebensatz I. Ordnung. Seine Syntax ist am ehesten mit der von Lk und Apg vergleichbar: Die Sätze sind wie bei ihnen im Durchschnitt länger als bei Mt, Mk, Joh u. Apk. Sehr lange Perioden sind aber auch in den paulinischen Briefen eher selten und meist an herausgehobenen Stellen zu finden wie am Beginn des Röm: Der erste Satz-(1,1-7) ist zugleich mit 93-Wörtern der längste im Röm. Neben Lk u. Apg orientiert sich Paulus am stärksten an der klassischen Syntax, so insbesondere in der Vorliebe für substantivierte Infinitive und AcIs (z.-B. Röm-1,11.20.24; 4,13.16.18; 12,2; 13,8; 14,13). Singulär im NT ist seine Vorliebe für die Substantivierung des Neutrums von Adjektiven (z. B. Röm 1,19f.), das im klassischen Griechisch häufiger zu beobachten ist (besonders typisch für den späten Platon). In seinem Hang, Satzprädikate wegzulassen (z. B. Röm 2,8-10; 10,1.4.17; 11,11.12.28.29; 12,9) ist er am ehesten mit Apk vergleichbar. Auch hier sei ein Beispiel angeführt. Die Satzperiode Röm 12,9-13 enthält kein Prädikat und ist zudem ein sehr gutes Beispiel für den intensiven Gebrauch von Partizipien. FNT 5: 12,9 Die Liebe ohne Angeberei, verabscheuend das Schlechte, sich anheftend an das Gute, (10) in Geschwisterliebe zueinander herzlich liebend, in der Ehrerbietung einander vorausgehend, (11) im Eifer nicht zögerlich, im Geist brennend, dem Herrn dienend, (12) in der Hoffnung sich freuend, in der Bedrängnis ausharrend, im Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 Philologisch-kritische Beobachtungen zur sprachlichen Gestaltung des Römerbriefes 37 Gebet standhaltend, (13): an den Bedürfnissen der Heiligen Anteil nehmend, die Fremdenfreundlichkeit verfolgend. Demgegenüber ergänzt die Lutherbibel 2017 nicht nur das Prädikat in 12,9a, sondern löst die ganze Satzperiode in mehrere kurze Sätze auf, indem sie, die Partizipien des griechischen Paulus ignorierend, eine Reihung von Imperativen an ihre Stelle setzt, die einen ganz anderen Sinneffekt erzeugen. Aus den erläuternden und Möglichkeiten einer „Liebe ohne Angeberei“ aufzeigenden Partizipialkonstruktionen der griechischen Satzperiode, die den prädikatlosen Slogan „Liebe ohne Angeberei“ und seine pragmatische Wucht konkretisieren, werden in der Lutherübersetzung separate moralistische Imperative geformt, die zwar gut zu einem lutherischen Obrigkeitsdenken passen, sich aber weit von der gleichermaßen indikativischen wie appellativen Rhetorik der griechi‐ schen Satzperiode entfernen, weil sie den erläuternden Charakter von 12,9b-13 in Relation zu 12,9a ignorieren und ihn für deutsche Leserinnen und Leser unkenntlich machen: Luther-2017: 12,9-Die Liebe sei ohne Falsch. Hasst das Böse, hängt dem Guten an. (10)-Die brüderliche Liebe untereinander sei herzlich. Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor. (11)-Seid nicht träge in dem, was ihr tun sollt. Seid brennend im Geist. Dient dem Herrn. (12)-Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet. (13)-Nehmt euch der Nöte der Heiligen an. Übt Gastfreundschaft. 5. Stil und Stilmittel der paulinischen Briefe 5.1 Stil Die Satzperiode 12,9-13 ist auch ein gutes Beispiel für den Stil der Paulusbriefe, der darauf schließen lässt, dass sie nicht als Leseliteratur, sondern primär für den mündlichen Vortrag konzipiert wurden. Dadurch lassen sich viele syntaktische Irregularitäten, die aber typisch für gesprochene Sprache sind, erklären. Manche Unklarheiten, die im stillen individuellen Lesen entstehen, lösen sich beim Vor‐ trag auf. Fehlende Prädikate und Anhäufungen von Partizipien erzeugen beim lauten Lesen eine appellative Intensität, die eine Anhäufung von Imperativen nicht erreichen kann. Solche Stilmittel wirken umso mehr, als Paulus immer wieder zwischen Nominal- und Verbalstil wechselt. Diesbezüglich liegt er im Mittelfeld neutestamentlicher Schriften: Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 38 Stefan Alkier und Thomas Paulsen 12 Vgl. dazu Reiser, Sprache (s.-Anm.-6), 74f. am stärksten nominal: Apk Subst. 34,5% Verben: 33,9% - Paulus - 33,7% - 35,8% am stärksten verbal: Lk - 32,8% - 38,9% Die Argumentationsgänge der paulinischen Schriften sind stark durch Paralle‐ lismen und Antithesen geprägt. Viele Passagen sind rhetorisch durchgefeilt, aber nicht immer auf dieselbe Weise: Ganz im Sinne klassischer Rhetorik mit paralleler Syntax- und Gedankenführung sind z. B. das „Hohelied der Liebe“ in 1Kor 13 und die Schilderung der leiblichen Auferstehung in 1Kor 15,42- 44 geprägt. 12 Regelrecht „klassisch“ formuliert ist Röm 2,12f. mit Antithese, Parallelismus, Polyptoton, Geminatio, Anapher. Typisch aber für Paulus ist eine sukzessive und assoziative Denkweise mit Gedankensprüngen, verkürzten Formulierungen, Ellipsen, Parenthesen und Anakoluthen, die das Verständnis manchmal sehr erschweren (vgl. z. B. Röm 2,14-16; 11,17-24). Oft kreisen die Gedanken lange und wiederholungs‐ reich um ein Thema (vgl. z.-B. Röm-2,25-29). Es finden sich auch Elemente der Diatribe: häufige Fragen (für die man sich oft einen fictus interlocutor vorstellen kann, dies besonders deutlich Röm-9,19), die unmittelbar beantwortet werden (z. B. Röm 8,31-35; 9,30.32; 11,4.7). Häufig sind paradox anmutende Fragen, deren Beantwortung mit μὴ γένοιτο (mē genoito, das geschehe nicht) eingeleitet wird (z.-B. Röm-6,15; 11,1.11). Die paulinischen Briefe arbeiten häufig mit Metaphern, die z. T. kühn und schwer verständlich sind, gerne auch, indem ein konkreter Begriff durch einen abstrakten ersetzt wird. Ein krasses Beispiel bietet Röm 2,25-28, wo „Vorhaut“ metonymisch für die nicht Beschnittenen, „Beschneidung“ als abstractum pro concreto für die Beschnittenen verwendet wird: Wir stellen auch hier noch einmal unsere Übersetzung der glättenden Übersetzung der Lutherbibel gegen‐ über: FNT 5: 2,25 Beschneidung nämlich nützt, wenn du das Gesetz ausführst. Wenn du aber ein Überschreiter des Gesetzes bist, ist deine Beschneidung zur Vorhaut geworden. (26) Wenn nun die Vorhaut die Rechtssätze des Gesetzes bewahrt, wird nicht seine Vorhaut als Beschneidung angerechnet werden? (27) Und richten wird dich die das Gesetz aus Natur erfüllende Vorhaut, der du durch Schrift und Beschneidung ein Übertreter des Gesetzes bist. (28) Nicht nämlich ist der im Offensichtlichen Jude und nicht die Beschneidung im Offensichtlichen, im Fleisch-[…]. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 Philologisch-kritische Beobachtungen zur sprachlichen Gestaltung des Römerbriefes 39 13 Vgl. dazu Reiser, Sprache (s.-Anm.-6), 76. Luther 2017: 2,25 Die Beschneidung nützt etwas, wenn du das Gesetz hältst; hältst du aber das Gesetz nicht, so bist du aus einem Beschnittenen schon ein Unbeschnittener geworden. (26) Wenn nun der Unbeschnittene hält, was nach dem Gesetz recht ist, meinst du nicht, dass dann der Unbeschnittene vor Gott als Beschnittener gilt? (27) Und so wird der, der von Natur aus unbeschnitten ist und das Gesetz hält und das Gesetz erfüllt, dir ein Richter sein, der du unter dem Buchstaben stehst und beschnitten bist und das Gesetz übertrittst. (28) Denn nicht der ist ein Jude, der es äußerlich ist, auch ist nicht das die Beschneidung, die äußerlich am Fleisch geschieht-[…] Gelegentlich werden in den paulinischen Briefen auch Gleichnisse verwendet, die Paulus allerdings kaum als großen Gleichniserzähler erkennen lassen, nach Reiser sogar meist misslingen: Töpfergleichnis (Röm 9,21f.); Gleichnis vom gepfropften Ölbaum (Röm-11,17-24); Glieder des Körpers (Röm-12,4-8). 13 5.2 Stilmittel Wie sehr die paulinischen Briefe sprachlich in der griechisch-römischen Kultur beheimatet sind, zeigt sich nicht zuletzt an ihren Stilmitteln, die in antiken Texten aller Zeiten, griechischen wie lateinischen, gängig sind. Mehrfach finden sich asyndetische (ohne Konnektor) oder polysyndetische (durchgehend mit Konnektoren) Aufzählungen, in denen oft eine assoziative Aneinanderreihung herrscht, in der die Glieder oft nur teilweise zueinander passen. Bestes Beispiel dafür ist eine asyndetische Aufzählung in Röm 1,29-31, die insgesamt 21 Glieder umfasst. Diese sind in drei Gruppen unterteilt. Hierbei finden sich auch zwei Paronomasien, also Wortspiele mit ähnlich klingenden Begriffen, die wir durch Fettdruck hervorheben: 1. vier instrumentale Dative, die als feminine sich reimende Substantive ein Homoioteleuton ergeben, abhängig von dem Partizip πεπληρωμένους: πάσῃ ἀδικίᾳ, πονηρίᾳ, πλεονεξίᾳ, κακίᾳ (peplērōmenous: pasē adikia, ponēria, pleonexia, kakia; angefüllt mit jeglicher Ungerechtigkeit, Bosheit, Habgier, Schlechtigkeit) 2. fünf Genitivattribute, abhängig von dem Adjektiv μεστούς: φϑόνου, φόνου, ἔριδος, δόλου, κακοηϑείας (mestous, phthonou, phonou, eridos, dolou, kakoētheias; voll von Mißgunst, Mord, Streit, List, schlechtem Charakter) 3. zwölf Substantive oder substantivierte Adjektive, deren letzte vier alliterieren: ψιϑυριστάς, καταλάλους, ϑεοστυγεῖς, ὑβριστάς, ὑπερηφάνους, Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 40 Stefan Alkier und Thomas Paulsen ἀλαζόνας, ἐφευρετὰς κακῶν, γονεῦσιν ἀπειϑεῖς, ἀσυνέτους, ἀσυνϑέτους, ἀστόργους, ἀνελεήμονας (psithyristas, katalalous, theo‐ stygeis, hybristas, hyperēphanous, alazonas, epheuretas kakōn, goneusin apeitheis, asynetous, asynthetous, astorgous, aneleēmonas; Gerüchtema‐ cher, Verleumder, Gotthasser, Frevler, Hochmütige, Aufschneider, Erfinder von Schlechtem, den Eltern Ungehorsame, Unverständige, Wortbrü‐ chige, Lieblose, Unbarmherzige). Ein markantes Beispiel für eine polysyndetische Aufzählung bietet Röm 8,38f. Diese zehngliedrige Aufzählung besteht zum Teil aus Gegensatzpaaren (fett markiert), zum Teil aber auch aus einer locker assoziativ wirkenden Reihung: οὔτε ϑάνατος οὔτε ζωὴ οὔτε ἄγγελοι οὔτε ἀρχαὶ οὔτε ἐνεστῶτα οὔτε μέλλοντα οὔτε δυνάμεις (39) οὔτε ὕψωμα οὔτε βάϑος οὔτε τις κτίσις ἑτέρα […] (oute thanatos oute zōē oute angeloi oute archai oute enhestōta oute mellonta oute dynameis oute hypsōma oute bathos oute tis ktisis hetera; weder Tod noch Leben noch Engel noch Herrschaften noch Bestehendes noch Künftiges noch Mächte noch Höhe noch Tiefe noch irgendein anderes Geschöpf) Der nachdrücklichen Betonung einzelner Wörter dienen Anadiplose (unmittel‐ bare Wiederholung eines Wortes vom Ende eines Satzes oder Teilsatzes am Beginn des Folgenden) und Epanalepse (Wiederholung eines Wortes mit einem oder mehreren Wörtern dazwischen), beide Stilmittel kombiniert in Röm-9,30: ἔϑνη τὰ μὴ διώκοντα δικαιοσύνην κατέλαβεν δικαιοσύνην, δικαιοσύνην δὲ τὴν ἐκ πίστεως […] (ethnē ta mē diōkonta dikaiosynēn katelaben dikaiosynēn, dikai‐ osynēn de tēn ek pisteōs; dass Völkerschaften, die nicht Gerechtigkeit verfolgen, Gerechtigkeit empfangen haben, Gerechtigkeit aber aus Vertrauen) sowie die Repetitio (unmittelbare Wiederholung einer Wortgruppe, hier fett markiert) und die Anapher (Wiederholung eines Wortes jeweils am Beginn des folgenden Satzes oder Teilsatzes, hier unterstrichen) in Röm 13,7: ἀπόδοτε πᾶσιν τὰς ὀφειλάς, τῷ τὸν φόρον τὸν φόρον, τῷ τὸ τέλος τὸ τέλος, τῷ τὸν φόβον τὸν φόβον, τῷ τὴν τιμὴν τὴν τιμήν (apodote pasin tas opheilas, tō ton phoron ton phoron, tō to telos to telos, tō ton phobon ton phobon, tō tēn timēn tēn timēn; gebt allen das Geschuldete hin, dem die Abgabe die Abgabe, dem die Steuer die Steuer, dem die Furcht die Furcht, dem die Ehre die Ehre.). Eines der gebräuchlichsten Stilmittel antiker Literatur ist das bei Paulus eben‐ falls häufige Polyptoton, im engeren Sinne die Aufeinanderfolge verschiedener Formen desselben Wortes (nicht notwendig unmittelbar hintereinander), z. B. Röm-2,12-14: Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 Philologisch-kritische Beobachtungen zur sprachlichen Gestaltung des Römerbriefes 41 ὅσοι ἐν νόμῳ ἥμαρτον, διὰ νόμου κριϑήσονται· (13) οὐ γὰρ οἱ ἀκροαταὶ νόμου δίκαιοι παρὰ τῷ Θεῷ, ἀλλʼ οἱ ποιηταὶ νόμου δικαιωϑήσονται. (14) ὅταν γὰρ ἔϑνη τὰ μὴ νόμον ἔχοντα φύσει τὰ τοῦ νόμου ποιῶσιν, οὗτοι νόμον μὴ ἔχοντες ἑαυτοῖς εἰσιν νόμος (hosoi en nomō hēmarton, dia nomou krithēsontai; ou gar hoi akroatai nomou dikaioi para tō Theō, all‘ hoi poiētai nomou dikaiōthēsontai. hotan gar ethnē ta mē nomon echonta physei ta tou nomou poiōsin, houtoi nomon mē echontes heautois eisin nomos; wie viele sich im Gesetz verfehlt haben, durch das Gesetz werden sie gerichtet werden. Denn nicht die Hörer des Gesetzes: Gerechte bei Gott, sondern die Täter des Gesetzes werden für gerecht erklärt werden. Wenn nämlich Völkerschaften, die das Gesetz nicht haben, von Natur aus das des Gesetzes tun, sind diese, das Gesetz nicht Habenden, sich selbst Gesetz). Ein Polyptoton im weiteren Sinne als Folge verschiedener Formen von Wörtern desselben Wortstammes enthält z. B. Röm 2,1-3 mit dem Wortstamm κρίν- (krin-): διὸ ἀναπολόγητος εἶ, ὦ ἄνϑρωπε, πᾶς ὁ κρίνων· ἐν ᾧ γὰρ κρίνεις τὸν ἕτερον, σεαυτὸν κατακρίνεις, τὰ γὰρ αὐτὰ πράσσεις ὁ κρίνων. (2) οἴδαμεν δέ, ὅτι τὸ κρίμα τοῦ Θεοῦ ἐστιν […]. (3) λογίζῃ δὲ τοῦτο, ὦ ἄνϑρωπε ὁ κρίνων […], ὅτι σὺ ἐκφεύξῃ τὸ κρίμα τοῦ Θεοῦ; (dio anapologētos ei, ō anthrōpe, pas ho krinōn; en hō gar krineis ton heteron, seauton katakrineis, ta gar auta prasseis ho krínōn. oidamen de, hoti to krima tou Theou estin […] logizē de touto, ō anthrōpe ho krinōn […], hoti sy ekpheuxē to krima tou Theou? ; deshalb bist du unentschuldbar, Mensch, jeder Beurteilende. Worin du nämlich den anderen beurteilst, verurteilst du dich selbst, denn dasselbe tust du, Beurteilender. Wir wissen aber, dass das Urteil Gottes ist. Rechnest du aber damit, Mensch, der die solches Tuenden Beurteilende und es Machende, dass du dem Urteil Gottes entrinnen wirst? ). Folgen die Begriffe kurz aufeinander, entsteht eine staccato-artige Klangwir‐ kung, z.-B. Röm-12,3: λέγω γὰρ […] ἐν ὑμῖν μἠ ὑπερφρονεῖν, παρʼ ὃ δεῖ φρονεῖν, ἀλλὰ φρονεῖν εἰς τὸ σωφρονεῖν […] (legō gar […] en hymin mē hyperphronein, par’ ho dei phronein, alla phronein eis to sōphronein […]; ich sage nämlich unter euch nicht hochmütig gesinnt zu sein in Anbetracht dessen, wie man gesinnt sein muss, sondern gesinnt zu sein mit Blick auf das besonnen gesinnt Sein). Ein besonders wirkungsvolles Polyptoton, das auch als Paronomasie bezeichnet werden kann, ist die unmittelbare Aufeinanderfolge von Worten desselben Wortstammes, z.-B. in Röm-2,21f.: Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 42 Stefan Alkier und Thomas Paulsen ὁ κηρύσσων μὴ κλέπτειν κλέπτεις; (22)-ὁ λέγων μἠ μοιχεύειν μοιχεύεις; (ho kēryssōn mē kleptein klepteis? ho legōn mē moicheuein moicheueis? ; der du nun einen anderen lehrst, belehrst dich selbst nicht? Der du verkündest nicht zu stehlen, stiehlst? Der du sagst nicht ehezubrechen brichst die Ehe? ) Mehrfach findet sich eine Form der Klimax (Steigerung), bei welcher der zweite Begriff des vorangehenden zugleich der erste des folgenden Gliedes ist, z. B. Röm-8,30 (andere Bsp. Röm-5,3-5; 10,14f.): οὓς δὲ προώρισεν, τούτους καὶ ἐκάλεσεν· καὶ οὓς ἐκάλεσεν, τούτους καὶ ἐδικαίωσεν· οὓς δὲ ἐδικαίωσεν, τούτους καὶ ἐδόξασεν (hous de proōrisen, toutous kai ekalesen; kai hous ekalesen, toutous kai edikaiōsen; hous de edikaiōsen, toutous kai edoxasen; die er aber vorherbestimmt hat, diese hat er auch gerufen, und die er gerufen hat, diese hat er auch für gerecht erklärt. Die er aber für gerecht erklärt hat, diese hat er auch verherrlicht.). Manche Passagen enden mit einer feierlichen Klausel, z.-B. Röm-1,25 u.-9,5: εὐλογητὸς εἰς τοὺς αἰῶνας, ἀμήν (eulogētos eis tous aiōnas, amēn; gepriesen in die Zeitalter hinein, ja wirklich! ). Schließlich sei noch ein Beispiel für ein „Stilmittelcluster“ in Röm 12,9-15 angeführt: (9)-ἡ ἀγάπη ἀνυπόκριτος (hē agapē anhypokritos; die Liebe ohne Angeberei). (Alliteration) ἀποστυγοῦντες τὸ πονηρόν (apostygountes to ponēron; verabscheuend das Schlechte), κολλώμενοι τῷ ἀγαϑῷ (kollōmenoi tō agathō; sich anheftend an das Gute), (Parallelismus der Konstruktion, Antithese) (10) τῇ φιλαδελφίᾳ εἰς ἀλλήλους φιλόστοργοι (tē philadelphia eis allēlous philostorgoi; in Geschwisterliebe zueinander herzlich liebend), (Chiasmus: dieselbe Konstruktion, Reihenfolge umgekehrt) τῇ τιμῇ ἀλλήλους προηγούμενοι (tē timē allēlus prohēgoumenoi; in der Ehrerbietung einander vorausgehend), (11)-τῇ σπουδῇ μὴ ὀκνηροί (tē spoudē mē oknēroi; im Eifer nicht zögerlich), (Parallelismus mit Anapher der femininen Artikel) τῷ πνεύματι ζέοντες (tō pneumati zeontes; im Geist brennend), (Parallelismus mit Anapher des maskulinen Artikels) τῷ Κυρίῳ δουλεύοντες (tō Kyriō douleuontes; dem Herrn dienend), (12)-τῇ ἐλπίδι χαίροντες (tē elpidi chairontes; in der Hoffnung sich freuend), (Parallelismus mit Anapher der femininen Artikel) Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 Philologisch-kritische Beobachtungen zur sprachlichen Gestaltung des Römerbriefes 43 14 Hans Dieter Betz, Der Galaterbrief. Ein Kommentar zum Brief des Apostels Paulus an die Gemeinden in Galatien, aus dem Amerik. übers. u. für die dt. Ausg. red. Bearb. v.-Sibylle Ann, München 1988. 15 Stefan Alkier, Neues Testament (UTB-Basics-3404), Tübingen 2010, 273. τῇ ϑλίψει ὑπομένοντες (tē thlipsei hypomenontes; in der Bedrängnis ausharrend), τῇ προσευχῇ προσκαρτεροῦντες (tē proseuchē proskarterountes; im Gebet standhal‐ tend), (bei gleicher Wortzahl wachsende Länge der Glieder) (13) ταῖς χρείαις τῶν ἁγίων κοινωνοῦντες (tais chreiais tōn hagiōn koinōnountes; an den Bedürfnissen der Heiligen Anteil nehmend), τὴν φιλοξενίαν διώκοντες (tēn philoxenian diōkontes; die Fremdenfreundlichkeit verfolgend). (7-aufeinanderfolgende Partizipien mit derselben Endung) (14)-εὐλογεῖτε τοὺς διώκοντας ὑμᾶς (eulogeite tous diōkontas hymas; segnet die euch Verfolgenden), εὐλογεῖτε καὶ μὴ καταρᾶσϑε (eulogeite kai mē katarasthe; segnet und verflucht sie nicht! ). (Anapher und Antithese) (15) χαίρειν μετὰ χαιρόντων, κλαίειν μετὰ κλαίοντων (chairein meti chairontōn, klaiein meta klaiontōn; sich freuen mit sich Freuenden, weinen mit Weinenden). (Polyptoton in Kombination mit Parallelismus, Antithese und Homoioteleuton) 6. Makrosyntax des Röm So sehr die Diktion der Mikrosyntax eine Schreibweise aufweist, die zuweilen spontan, rastlos und experimentell wirkt, so sehr zeigt eine rhetorische Analyse einen nachvollziehbaren Aufbau des Schreibens, der um die in Röm 1,16f. for‐ mulierte Kernthese zur Bestimmung des Evangeliums als einer wirkmächtigen Kraft Gottes kreist. Hans Dieter Betz 14 hat mit seiner minutiösen rhetorischen Analyse des Gal gezeigt, wie ertragreich es ist, diese nicht nur auf die Mikro‐ syntax, sondern gerade auch auf die Makrosyntax, also auf die rhetorische Argumentationsstruktur des Gesamtschreibens zu beziehen. Hier können wir nur in aller Kürze eine rhetorische Gliederung vorstellen, die Stefan Alkier für sein Lehrbuch NT basics erarbeitet hat. 15 Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 44 Stefan Alkier und Thomas Paulsen 6.1 Rhetorische Gliederung des Römerbriefes Briefeingang (1,1-17) 1,1-7 Präskript (Orientalische Form) 1,1-7a superscriptio 1,1-6 intitulatio 1,7a adscriptio 1,7b salutatio 1,8 Proömium (Danksagung) 1,9-17 Selbstempfehlung 1,16f. propositio Briefkorpus (1,18-15,13) 1,18-3,26 Entfaltung der in der propositio implizierten Wirklichkeit mit Blick auf das Verhältnis Gott (Schöpfer) und Mensch (Geschöpf) 1,18-3,20 Vor dem/ ohne das Christusereignis 3,21-26 Seit/ durch das Christusereignis 3,27-31 Folgerung aus der propositio: Gerechtigkeit durch Glauben 4 Schriftbeweise: Zuschreibung der Gerechtigkeit aus Glauben für Abraham um unseretwillen 5-8 Folgen der in der propositio implizierten Verwandlung 5,1-11 Versöhnung („Was wurde bewirkt? “) Wir sind gerechtfer‐ tigt ➔ Frieden mit Gott, Liebe Gottes in unsere Herzen durch Hl. Geist 5,12-21 Adam/ Christus („Durch wen wurde es bewirkt? “) 6 Die sich aus der propositio ergebende Handlungsmaxime des neuen Le‐ bens: Orientierung an Tod und Auferweckung Jesu Christi (Taufe in den Tod Jesu Christi) 7 Das sich aus der propositio ergebende Gesetzesverständnis 8,1-17 Das „Gesetz des Geistes“ - die sich aus der propositio ergebende präsenti‐ sche *Eschatologie 8,18-39 Die „Neue Schöpfung“ - die sich aus der propositio ergebende futurische Eschatologie 9-11 Folgen der propositio für Israel (10,9 *soteriologisches Glaubensbekentnis) Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 Philologisch-kritische Beobachtungen zur sprachlichen Gestaltung des Römerbriefes 45 12,1- 15,13 Konkretisierungen - Leben als „vernünftiger Gottesdienst“ (12-Geistesgaben; 13-Obrigkeit, Zehn Gebote, Naherwartung; 14-Götzen‐ opferfleisch; 15,1-12-Proexistenz; 15,13-Doxologie) Briefschluss (15,14-16,27) 15,14- 15,33 Schlussparänese (Beispiel des Apostels; Reisepläne Jerusalem/ Rom/ Spanien; Aufforderung zur Fürbitte für den Apostel) 16,1-24 Postskript 16,25-27 Schlussdoxologie 7. Zur intertextuellen Schreibweise der Paulusbriefe Eine philologisch-kritische Analyse endet aber nicht mit der Beschreibung der intratextuellen sprachlichen Gestaltung. Vielmehr sei hier abschließend darauf verwiesen, dass es sehr hilfreich ist, Stil und Schreibweise zu unterscheiden. Während der Stil eines Verfassers oder auch eines Autorenkollektivs eher einem Fingerabdruck vergleichbar ist, so nimmt das Konzept der Schreibweise die Wahlmöglichkeiten im Schreibprozess in den Blick. Stefan Alkier erläutert dazu: Fragt man nach der intertextuellen Schreibweise der Paulusbriefe, bewegt man sich vornehmlich auf dem Feld produktionsorientierter Intertextualität. Es geht bei dieser Fragestellung einer generativen Poetik nicht um die psychologische bzw. historische Rekonstruktion des inneren Schreibprozesses eines realen Autors. Es handelt sich auch nicht um Stilfragen oder um literarkritische bzw. redaktionsgeschichtliche For‐ schungen. Es geht vielmehr um eine Analyse der Textur als Sinn erzeugendes Gewebe von Zeichen, die auf andere Zeichen verweisen. Auf welche Art und Weise und mit welchen Sinneffekten und Pointen wurden die verwendeten und eingespielten Zeichen ausgewählt und verknüpft, so dass beim Lesen der Eindruck eines kohärenten Ganzen entstehen kann? Der Begriff der Schreibweise, wie ich ihn von Roland Barthes übernehme, betont den Aspekt der Wahl in einem Schreibprozess, der eben nicht alles miteinander verknüpfen kann, aber auch gar nicht alles miteinander verknüpfen will. Aufgrund der Ökonomie der Sprache bleibt jede intertextuelle Schreibweise immer eklektisch und daher positionell. Barthes schreibt: ‚Der Horizont der Sprache und die Vertikalität des Stils bezeichnen also für den Schriftsteller etwas Gegebenes, denn er wählt weder das eine noch das andere. […] In beiden Fällen handelt es sich um Gegebenheiten, um ein vertrautes gestuarium, ein Reservoir an Gesten und Gewohnheiten, in dem die Energie lediglich operativer Natur ist und einmal zur Aufzählung, ein andermal zur Umwandlung verwendet wird, niemals aber, um zu urteilen oder um eine Wahl Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 46 Stefan Alkier und Thomas Paulsen 16 Roland Barthes, Am Nullpunkt der Literatur, in: ders., Am Nullpunkt der Literatur. Literatur oder Geschichte. Kritik und Wahrheit, aus dem Frz. von Helmut Scheffel, Frankfurt am Main 2006, 7-69, hier: 17f.; vgl. dazu Stefan Alkier, Positionierung - Transpositionierung - Dialogizität. Zur aktuellen hermeneutischen Relevanz der paulinischen Schriftrezeption, in: Florian Wilk/ Markus Öhler (Hg.), Paulinische Schrift‐ rezeption. Grundlagen - Ausprägungen - Wirkungen - Wertungen (FRLANT 268), Göttingen 2017, 275-296, hier: -284. 17 Vgl. dazu ausführlicher Stefan Alkier, Positionierung (s.-Anm.-17). zu treffen. Jede Form ist aber auch Wert; deshalb besteht zwischen Sprache und Stil noch Raum für eine andere formale Realität: für die ‚Schreibweise‘. In jeder beliebigen literarischen Form findet sich die allgemeine Wahl eines Tones, oder wenn man so will: eines Ethos, und hier individualisiert sich ein Schriftsteller eindeutig, denn hier engagiert er sich.‘ 16 Die intertextuelle Schreibweise des Paulus zeigt sich nicht nur in der Wahl seiner intertextuellen Bezüge, doch schon diese erzeugt ein klares Statement. Sehr häufige Bezüge zu und Zitate aus den Schriften Israels, insbesondere in ihrer griechischen Fassung, der sogenannten Septuaginta (LXX), geben den autoritativen Denkhorizont des Paulus wieder, mit dem er Wirklichkeit erschließt. Dies wird umso augenfälliger, da sich referentielle intertextuelle Bezüge zu paganen Texten kaum finden, sondern diese eher texttypologisch eine Rolle spielen, wenn man etwa den Argumentationsstil der Paulusbriefe mit der Diatribe vergleicht oder antike rhetorische Stilmittel der Mikrosyntax und Modelle der Makrosyntax zur Analyse der Paulusbriefe nutzbar macht. Der Wahlaspekt des analytischen Konzepts der Schreibweise lenkt die Auf‐ merksamkeit darauf, dass keineswegs alle Schriften Israels in jeden Paulusbrief gleichermaßen eingespielt werden. Es finden sich in den Briefen mal mehr, mal weniger intertextuelle Bezugnahmen. Im Röm sind sie von besonderer Dichte. Die Schriften, die intertextuell in das Argumentationsnetz des jeweiligen Briefes eingewoben werden, werden zudem nicht in gleicher Intensität einge‐ bunden. Paulus konstruiert vielmehr mit seiner Auswahl und Frequenz der zitierten Schriften einen intertextuell erstellten Geltungszusammenhang, der wiederum seine eigenen Positionen legitimieren soll. Die notwendig eklektisch verfahrende intertextuelle Schreibweise wird somit als positionelle und damit auch als machtförmig kontingente Auswahl möglicher Schriften und Schriftbe‐ züge sichtbar. Der Machtaspekt der paulinischen intertextuellen Schreibweise gerät vollends in den Blick, wenn ihr monologischer Charakter in Betracht gezogen wird. Wir können das hier 17 nur an einem Beispiel verdeutlichen: Mit der Argumentation in Röm 4 möchte Paulus seine theologische Leitthese, wie er sie in Röm 1,17; 3,21.28 prägnant und variierend zugleich formulierte, Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 Philologisch-kritische Beobachtungen zur sprachlichen Gestaltung des Römerbriefes 47 18 Vgl. dazu Michael Rydryck, Paulus als kontroverser Mediator. Konfliktpraxeologische Beobachtungen im Corpus Paulinum, in: Stefan Alkier (Hg.), unter Mitarbeit von Dominic Blauth, Antagonismen in neutestamentlichen Schriften. Studien zur Neufor‐ mulierung der „Gegnerfrage“ jenseits des Historismus (Beyond Historicism - New Testament Studies Today-1), Paderborn 2021, 75-102. © Stefanie Alkier-Karweick mittels zweier Schriftzeugen beweisen. Konstruiert er die These in 1,17 durch die Zuordnung von Vertrauen (πίστις, pistis) und Gerechtigkeit Gottes, so entfaltet er sie im Argumentationsgang in 3,21-28 mittels der Opposition von Vertrauen und Werk. Mittels dieser von Paulus kreierten Opposition interpretiert er nicht nur Gen 15,6, sondern die Figurenzeichnung Abrahams insgesamt und ebenso auch Psalm 31 (LXX) und überschreibt damit ihre eigene Stimme, denn weder Psalm 31 noch die Abrahamserzählungen in Genesis kennen eine Opposition von Vertrauen und Werken. Man sollte Paulus nicht unterstellen, in unredlicher Absicht die Schriften Israels für seine Zwecke zu missbrauchen. Sein monologischer Schriftgebrauch lässt eher darauf schließen, dass Paulus davon ausging, dass sein Verständnis und seine Verwendung der Schrift übereinstimmen mit der Stimme der ge‐ brauchten Texte, ja, dass Gott, die zitierten Schriften und Paulus selbst wei‐ testgehend mit einer Stimme sprechen. Das dürfte nicht der geringste Anlass seiner Briefe gewesen sein, der antagonistische Streitigkeiten 18 schon in ihrer frühesten Rezeption ausgelöst hat. Stefan Alkier ist seit 2001 Professor für Neues Testa‐ ment und Geschichte der Alten Kirche am Fachbereich Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frank‐ furt/ Main. Er gibt den neutestamentlichen Teil des bi‐ belwissenschaftlichen Internetlexikons www.wibilex.de heraus. Zusammen mit dem Gräzisten Thomas Paulsen fertigt er eine philologisch-kritische Übersetzung aller neutestamentlichen Texte an; die Bände 1-4 des „Frank‐ furter Neuen Testaments“ sind bereits erschienen. In der von ihm begründeten Buchreihe „Biblische Argumente in öffentlichen Debatten“ hat er zuletzt zwei Bände zum Thema „Zuver‐ sichtsargumente - Biblische Perspektiven in Krisen und Ängsten unserer Zeit“ herausgegeben. Sein semiotisch-kritischer Ansatz vereint kritische philologische und historische Forschung mit Fragen der Gegenwartsrele‐ vanz biblischer Texte. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 48 Stefan Alkier und Thomas Paulsen Thomas Paulsen studierte Gräzistik und Latinistik in Konstanz, wurde 1992 in Bochum promoviert und habilitierte sich dort 1998. Seit 2005 ist er Professor für Klassische Philologie mit Schwerpunkt Gräzistik an der Goethe-Universität Frankfurt. Seine Forschungsschwer‐ punkte sind antiker Roman, Rhetorik und Tragödie, seit Neuerem insbesondere die Johannes-Apokalypse. Zusammen mit dem Theologen Stefan Alkier arbeitet er derzeit an einer vollständigen Neu-Übersetzung des Neuen Testaments, von der vier von sechs geplanten Bänden bereits erschienen sind. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 Philologisch-kritische Beobachtungen zur sprachlichen Gestaltung des Römerbriefes 49 1 Vgl. Jan Dochhorn, Der Adammythos bei Paulus und im hellenistischen Judentum Jerusalems. Eine theologische und religionsgeschichtliche Studie zu Röm 7,7-25 (WUNT-1/ 469), Tübingen 2021. Neue Erkundungen zum Werden und Wesen der Theologie des Paulus Ein Bericht aus eigener Forschung mit Fokus auf der Nomologie Jan Dochhorn 1. Anlass und Anliegen dieses Beitrags Die Redaktion der Zeitschrift für Neues Testament hat mich gebeten, einen Begleitartikel zu verfassen zu meiner Monographie über den Adammythos bei Paulus, die in der Hauptsache die Erzählung des von der Sünde übermannten und besessenen Ichs in Röm 7,7-25 exegesiert, religionsgeschichtlich herleitet und für eine Erschließung systematischer Grundzüge in der Theologie des Paulus auswertet. 1 Ich werde hier nun, diese Aufgabe dankbar annehmend, in Auswahl meine Thesen präsentieren; dies geschieht kompendienartig und leider weitgehend ohne Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur. Es wird in § 2 zunächst um den Traditionshintergrund (und damit das Werden) und dann in § 3-5 um Kernkomplexe (und damit das Wesen) paulinischer Theologie gehen (§-3: zur Hamartiologie; §-4: zur Anthropologie; §-5: zur Nomologie). Anschlie‐ ßend werde ich zur historisch-genetischen Rekonstruktion zurückkehren und umreißen, wie Paulus zu seiner Gesetzeslehre gekommen ist (§-6). 2. Zum religionsgeschichtlichen Kontext und zur Vorgeschichte der Theologie des Paulus Über das vorrabbinische Judentum wüssten wir gerne mehr - und dann speziell auch über das jüdische Milieu, dem Paulus entstammte. Zu diesen Fragen erschließt, so hoffe ich, meine Arbeit neue Aspekte. Den Angelpunkt bildet dabei die Entdeckung, dass Paulus von der Apokalypse des Mose (Apc Mos) abhängig 2 Vgl. Dochhorn, Adammythos (s.-Anm.-1), §-V (S.-319-365). 3 Vgl. Dochhorn, Adammythos (s.-Anm.-1), §-VI (S.-367-384). 4 Zu den Diasporarückwanderern in Jerusalem vgl. Dochhorn, Adammythos (s. Anm. 1), §-IX.1-3 (S.-547-594). 5 Zur Frühgeschichte des Paulus vgl. Dochhorn, Adammythos (s. Anm. 1), § IX.4 (S. 594- 620). ist. Ich identifiziere sechs gewichtige und sechs minder gewichtige Parallelen mit eindeutigem Gefälle von der Apc Mos zu Paulus, 2 und dazu vor allem: Ich leite die Erzählung über das der Sünde anheimgefallene und dann den Tod des Sündigenmüssens gestorbene Ich in Röm 7,7-25 von der Erzählung über die Verführung der Schlange, Evas und Adams durch den Teufel in Apc Mos 15-30 ab, erkläre sie als kreative Neugestaltung des in Apc Mos-15-30 Erzählten. 3 Es ergeben sich mit dieser Entdeckung historische Zusammenhänge, die für eine von mir geplante Gesamtdarstellung zur Religionsgeschichte des Urchris‐ tentums entscheidend relevant sein werden: 1. Die Verfasser der Adamdiegesen (der Apc Mos und der von ihr ausgehenden Vita Adae et Evae, die Paulus noch nicht vorliegen hatte) schreiben ihr Werk auf Griechisch und referieren auf die Septuaginta, arbeiten aber exegetisch hauptsächlich mit hebräischer Bibelüberlieferung, wobei sie auch aramäische Sprachkenntnis einbeziehen. Eine solche Konstellation kann man sich gut vorstellen in einem griechisch-jüdischen Milieu, das in Jerusalem zu lokalisieren ist: Dort gab es, wie etwa am Namen des Simon von Cyrene erkennbar (Mk 15,21 par), Diasporarückwanderer, die eine griechisch-jüdische Prägung aus der Diaspora mitbrachten; nicht wenige von ihnen, etwa die Verfasser der Adamdiegesen, dürften in Jerusalem mehr oder minder stark Anschluss gesucht haben an die alteingesessene hebräisch-aramäische Kultur, nicht zuletzt das Schriftgelehrtenmilieu, denn vielfach wird man gerade deswegen nach Jeru‐ salem umgezogen sein; es sind wohl hauptsächlich diese Diapsorarückwanderer, die Lukas mit dem Begriff „Hellenisten“ bezeichnet (Apg 9,29). 4 Auch Paulus war so ein Diasporarückwanderer: In seiner Jugend aus Tarsus in Kilikien kommend (Apg 22,3), fand er in Jerusalem vermutlich Rückhalt in der Synago‐ gengemeinschaft der Kilikier (vgl. Apg 6,9); zugleich dürfte er in Jerusalem etwas gelernt haben, das Lukas Hebräisch nennt (Apg 21,40; 22,2; 26,14; wohl das Judäisch-Aramäische); auch nahm er Unterricht bei Schriftgelehrten (in Apg 22,3 erscheint er als Schüler des Gamaliel). Mit den Verfassern der Apc Mos trat er meines Erachtens in persönlichen Kontakt 5 ; diese kommunizierten ihre exegetische Forschung (die vor allem Gen 3 betraf) nach außen, und in der Folge zeigen sich sowohl Paulus als auch die Rabbinen mit dem vertraut, was Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 52 Jan Dochhorn 6 Zu den rabbinischen Texten vgl. Dochhorn, Adammythos (s.-Anm.-1), 316. 7 Vgl. meine Darstellung zur Entstehung und zur Theologie der Apc Mos und der Vita Adae et Evae, Adammythos (s.-Anm.-1), §-IV (S.-247-317). 8 Zur Geschichte des Adammythos vgl. Dochhorn, Adammythos (s. Anm. 1), § VIII (S.-471-546). 9 Zur Hypostasis der Archonten vgl. Dochhorn, Adammythos (s.-Anm.-1), 538-539. 10 Vgl. Dochhorn, Adammythos (s. Anm. 1), 539, Anm. 122; Jüdisches im Schlussgebet des Poimandres vermutet Ola Wikander (siehe ibidem). 11 Vgl. Dochhorn, Adammythos (s.-Anm.-1), 220-224. der Apc Mos (und der Vita Adae et Evae) gedanklich an exegetischer Arbeit zugrundeliegt. 6 2. Die Apc Mos ist über mehrere Generationen in etwa 60 Jahren schich‐ tenweise gewachsen, und aus ihr entwickelte sich schließlich als Ausgabe letzter Hand die Vita Adae et Evae. Hierbei wurde aus einer Erzählung vom paradigmatischen Scheitern des Frommen (v. a. Evas) immer mehr eine Ätiologie der Unbill des Lebens, speziell des Todes - mit der Tendenz, Sünde als ein universales, mit Adam (und Eva) in die Welt gekommenes Phänomen zu sehen. 7 Diese Tendenz zu einer adamitischen Ätiologie des Bösen hat Paulus aufgegriffen und von daher seinen Adammythos entwickelt. Auch andere ließen sich inspirieren, was unter anderem deshalb möglich war, weil der Schulbetrieb, der die Adamdiegesen hervorbrachte, länger aktiv blieb, wohl über die Tempelzerstörung hinaus. Adam-Überlieferung, die zugleich Ätiologie des kosmisch und menschlich Bösen war, wirkte etwa auf die Esra- und Baruch- Literatur ein, die wohl ebenfalls - überwiegend nach der Tempelzerstörung - im griechisch-jüdischen Milieu Jerusalems zu verorten ist. Man kann insgesamt sagen, dass die Adamdiegesen ziemlich weitgehend der Ursprungsort der frühjüdischen und frühchristlichen Adammythologie sind - bis hin zum Mythos von der Erbsünde. 8 Dies betrifft auch die Gnosis. Wohl kaum zufällig etwa gibt es deutliche Berührungspunkte zwischen der Apc Mos und der Hypostase der Archonten (aus dem zweiten Kodex von Nag Hammadi): Beiden Schriften liegt Exegese an hebräischer Bibelüberlieferung zugrunde, beide Schriften enden mit einer trishagionbasierten Doxologie, 9 wie man sie übrigens auch als Endstück in der ältesten Überlieferung zum Testament Salomos und im hermetischen Traktat Poimandres findet. 10 Und wo wir schon einmal beim Poimandres sind: Was man dort liest über den Wesenhaften Menschen (ho ousiōdēs anthrōpos), erinnert nicht zufällig an den Inneren Menschen bei Paulus (Röm 7,22); es dürfte wie bei Paulus durch die Anthropologie der Apc Mos inspiriert sein. 11 Jüdisch-jerusalemitische Adammythologie hat abgestrahlt, auch nach Ägypten, auch zu heidnischen Ägyptern, die judentumsaffin und der aufkommenden Gnosis milieuverwandt gewesen sein dürften. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 Neue Erkundungen zum Werden und Wesen der Theologie des Paulus 53 12 Vgl. hierzu Dochhorn, Adammythos (s. Anm. 1), § IX,1 (S. 547-566); zur Baruch- und Esraliteratur vgl. ibidem, 532-535. Zu den Hintergründen der Paralipomena Jeremiou bereite ich eine Publikation vor. 3. Mit den Adamdiegesen sind andere Schriften verwandt, die ebenfalls im Milieu der Hellenisten entstanden sind: Das Testament Hiobs, die Assumptio Mosis, die Historia de Melchisedech, das Testament Abrahams, der Kernbestand der Apokalypse des Sedrach, der vierte Esra, der zweite Baruch, die Paralipomena Jeremiou. Alle diese Schriften sind Parabiblica, die christlich überliefert sind, aber von Juden stammen: von den Hellenisten Jerusalems. 12 Wir haben sie von den Christen, weil das Christentum in eben diesem Hellenisten-Milieu schon kurz nach dem Osterereignis Anhänger fand und theologisch weiterentwickelt wurde, bevor es sich - nicht zuletzt durch das Wirken des Paulus - in der Welt verbreitete. Christen haben diese Literatur aufgenommen, weil sie ihnen geis‐ tige Heimat war; sie ist, auch durch christliche Überformung, mit Christlichem verwechselbar und hat deswegen in der religionsgeschichtlichen Arbeit einen schlechten Ruf. Dieser ist ihr paradoxerweise gerade deswegen zugewachsen, weil sie eigentlich für dasjenige im Judentum steht, von dem her Christliches am allerehesten erklärt werden muss. 3. Teufel und Sünde bei Paulus Wir haben nun von meiner zentralen These zur Hamartiologie des Paulus zu reden: Wenn Paulus von der Sünde als Macht redet, dann liegt nicht Metaphorik vor, sondern er meint ganz konkret und erheblich mythologischer, als viele Neutestamentler erlauben, den Teufel als personale Macht, und zwar im Anschluss an die Apokalypse des Mose, speziell die Erzählung Evas vom Paradiesgeschehen in Apc Mos 15-30. So wie laut Apc Mos 15-30 der Teufel von außen in das Paradies hineinkam und von außen kommend zuerst in der Schlange, dann in Eva und dann in Adam einwohnte, um deren Handeln ganz und gar zu steuern, ihrem anfänglichen Widerwillen zuwider, so ist auch in Röm 7,7-25 die Sünde eine personale Macht, die, von außen kommend, die Kontrolle über ein als adamanalog zu verstehendes Ich übernimmt - mit der Folge, dass dieses Ich gegen seinen Willen und gegen sein besseres Wissen, gegen die Übereinstimmung seines Inneren Menschen mit dem Gesetz Gottes das Böse tun muss. Es scheint mir klar: Wir sollen in Röm 7,7-25 an den Teufel denken, und zwar so, wie er als der eigentliche Ausgangspunkt der Gebotsüber‐ tretung Adams und Evas in Apc Mos 15-30 dargestellt wird. Wir können es auch, denn Paulus hat schon seit Röm 5,12 immer wieder das der christlichen Erlösung vorausgehende tragische und alle umfassende Menschheitsergehen als Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 54 Jan Dochhorn 13 Vgl. zu dieser Herleitung der paulinischen Rede von der Sünde Dochhorn, Adammythos (s.-Anm.-1), 378-380. 14 Vgl. Hans Conzelmann: Grundriss der Theologie des Neuen Testaments (UTB 1446), Tübingen 4 1987, 218. ein Adamgeschehen vor Augen geführt, und schon in Röm 3,23 hat er Wissen aus Apc Mos-15-30 aktiviert (s.-u.). Alle haben gesündigt wie Adam; so erfahren wir es in Röm 5,12, und dieser Gedanke beherrscht die Szenerie bis Röm 8,1. Daraus ergibt sich für Röm 7,7-25: Das dort vor Augen geführte adamitische Ich steht für alle Menschen; alle haben gesündigt wie dieses Ich. Diese Adam-Analogie gilt freilich in einer entscheidenden Hinsicht nur für den jüdischen Menschen: Nur dieser ist - wie in Röm 7,7-25 über das Ich und implizit auch über Adam erzählt - bei dem Übermanntwerden durch die Sünde mit dem Gesetz konfrontiert. Aber das Übermanntwerden von der Sünde ist nicht nur ein jüdisches Widerfahrnis, auch bei den Heiden findet es statt, und zwar ausnahmslos, ohne dass wir allerdings genau erfahren, wie es ohne Gesetz vor sich geht (Andeutungen finden sich in Röm-5,13-14). Warum spricht Paulus nun aber nicht vom Teufel, wenn er so von der Sünde als diabolischer Macht spricht? Er kennt ja den Teufel, für den er freilich durchgängig den Titel „Satan“ (satanas) verwendet, vgl. etwa Röm 16,20. Der Grund ist ein exegetischer: Sünde nennt Paulus den Teufel, wenn es ihm um die externe Macht geht, die von außen kommend den Menschen unter ihre Kontrolle bringt, und Paulus tut dies, inspiriert übrigens durch die Apc Mos 15- 30 zugrundeliegende exegetische Arbeit, aufgrund des hebräischen (! ) Textes von Gen 4,7, wo Kain mit der Sünde als jemandem konfrontiert ist, der außen vor seinen Toren lagert. 13 Kain soll ausweislich der Worte Gottes in Gen 4,7 über die Sünde herrschen, wird aber, wie wir wissen, das nicht schaffen, wird vielmehr seinen Bruder töten. Kain wurde, so können wir im Sinne des Paulus sagen, zuerst von der Sünde übermannt, und dann sündigte er. Es ist verfehlt, wenn Conzelmann unter Verweis auf Bultmann die Auskunft gibt, bei Paulus komme die Sünde vom Sündigen. 14 Es muss also gelten: Von der Sünde kommt das Sündigen, nicht umgekehrt. Sündigen ist nicht anthropogen, ist ja auch nicht dem Menschen gemäß, sondern ihm zuwider, und zwar dahingehend, dass es Folge einer Niederlage gegen einen Feind ist: Der Mensch sündigt, weil er vorher von seinem Feind, der Sünde, überwältigt und seiner Willensfreiheit beraubt worden ist, so dass nun der Teufel, alias „die Sünde“, wie ein Dämon über ihn herrscht, als ein fremder Bewohner in seinem Fleisch (vgl. Röm 7,18.20). Dieser Zustand des Beherrschtwerdens vom fremden Bewohner ist es, den das Ich in Röm-7,7-25 vor allem beklagt. Es ist ein zwanghaftes Sündigenmüssen. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 Neue Erkundungen zum Werden und Wesen der Theologie des Paulus 55 15 Der Zustand Adams nach dem Fall jedenfalls ist analog zu dem Evas in einer entschei‐ denden Hinsicht: In ihm ist ein Krieg, den „der Feind“ (der Teufel) in ihn hineingelegt hat (Apc Mos-28,4); in Eva hat „der Feind“ Feindschaft gelegt (Apc Mos-25,4). 16 Zur Ineinssetzung von Tod und Gericht bei Paulus vgl. zahlreiche, mit Erläuterung versehene Hinweise im Register bei Dochhorn, Adammythos (s. Anm. 1), s. v. Tod (S.-720-721). Bis in Einzelheiten entspricht dabei dieser Menschen-Zustand der Situation Adams mit und nach dem Fall, wie sie in Apc Mos 20-21 vor Augen geführt wird, nur dass Paulus diese Situation versteht als ein auf Dauer gestelltes traumatisches Geschehen. Während Adam und Eva das Gebot übertreten, sind sie besessen vom Teufel. Aus Eva etwa, so erfahren wir in Apc Mos 21,3, sprach der Teufel, als sie Adam verführte. Wir können Analoges auch für Adam vermuten: Auch in ihm ist mit dem Sündigen der Teufel drin. 15 Und so ist eben auch bei Paulus mit der Gebotsübertretung der Mensch besessen - von der Sünde, nur dass dies nun ein Dauerzustand ist. Und noch eine weitere Parallele ist zu konstatieren: Laut Apc Mos 20-21 bestand die aus Gen 3,7 bekannte Entdeckung der Nacktheit darin, dass Adam und Eva den Verlust ihrer Herrlichkeit bzw. der Herrlichkeit Gottes feststellten, die sie umgeben hatte wie ein Gewand. Entsprechend ist für Paulus der sündige Mensch der Herrlichkeit Gottes entbehrend (= entledigt), vgl. Röm 3,23. Und das wiederum heißt: Der Mensch ist nackt, und Nacktsein ist für Paulus identisch mit Tod (2Kor 5,3). Die Situation ist peinlich, zum Sterben peinlich, zum Gestorbensein peinlich, und so hat denn auch der Mensch etwas zu erwarten, das dem Tod entspricht: das Gericht Gottes (es kommt in Apc Mos 22-29; es ist auch nach Paulus zu erwarten, vgl. Röm-2,1-11). 16 Nur ist eben dies alles auf Dauer gestellt: Dauernd sind wir nackt, gestorben, vom Teufel besessen wie Adam (und Eva). Und folglich ist jetzt schon der Mensch unausgesetzt eine Leiche; sein Körper ist ein Körper des Todes (Röm 7,24), in dem er gefangengehalten wird (7,23), was durchaus räumlich zu verstehen ist: In mir drin ist der Innere Mensch, der etwas Gutes will, aber nicht kann (Röm 7,22), und etwas weiter draußen, in meinem Fleisch, wohnt die Sünde (7,18); in meinen Gliedern wohnt sie als einer, dessen von ihm manipuliertes Gesetz als Gesetz der Sünde mich gefangennimmt (7,23). Mein Körper ist ein Todes-Gefängnis; der Gedanke vom Körper als Grab (sōma als sēma), bekannt aus griechischer Tradition, liegt hier gar nicht fern. Hinzu kommt ein Weiteres: Mit der Gebotsübertretung ist dem Menschen etwas zugewachsen, das er vorher gar nicht hatte, nämlich Begierde, näherhin die Begierde, alles mögliche Böse zu tun. In Apc Mos 19 erfahren wir, dass die Schlange (bewohnt vom Teufel), die von ihr Eva zugereichte Frucht mit dem Gift der Begierde „nach jeglicher Sünde“ versetzte; in Röm 7,8 erfahren Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 56 Jan Dochhorn 17 Vgl. Apc Mos 19,4: tote ēlthe kai etheto epi ton karpon, hon edōke moi phagein, ton ion tēs kakias autou, tout’ esti tēs hamartias, epithumia gar esti pasēs hamartias und Röm 7,8: kateirgasato en emoi pasan epithumian. Die Übereinstimmungen in der Begierde-Terminologie sind frappant. 18 Zur Lehre des Tridentinums vom peccatum und dem fomes peccati vgl. Dochhorn, Adammythos (s.-Anm.-1), 128 f; 443 Anm.-1. 19 Dass Röm 7,7-25 nicht im Sinne des simul iustus et peccator zu lesen ist, hat schon der altorthodoxe Lutheraner Affelmann gesehen, ebenso Francke, Tholuck, Kümmel, um nur ein paar Namen zu nennen für eine wohl immer noch majoritäre Position. Aber hat man immer hinreichend die Konsequenzen gezogen für die Rekonstruktion der Theologie des Paulus und die systematische Theologie? Immer noch anregend ist hier Paul Althaus, Paulus und Luther über den Menschen. Ein Vergleich (Studien der Luther-Akademie 14), Gütersloh 3 1958. Vgl. Dochhorn, Adammythos (s. Anm. 1), 133-136; 138-143. wir dementsprechend, dass die Sünde im Ich „jegliche Begierde“ erzeugte. 17 Begierde gehört eigentlich nicht dem Menschen an; sie kommt ihm sekundär zu, ist akzidentiell. Sie bleibt bei Paulus übrigens dem Menschen auch nach der Erlösung erhalten (Röm 6,12); sie ist ein Residuum der Sünde im Christen, ohne dass mit diesem Residuum Sündunterworfenheit verbunden wäre. Dass in uns Christen etwas ist, was nicht zu uns und Gottes Willen passt, ist für Paulus eine Tatsache, mit der man umgehen kann; erforderlich ist für Christen eine „Abtötung“ der „Praktiken des Leibes“ (Röm 8,13), womit wohl die Begierde gemeint ist, die sich im Körper regt und offenbar als ein Körper-Phänomen gesehen wird, als ein den Körper entscheidend bestimmendes Phänomen. Erst bei den Reformatoren ist dieses Etwas in uns die eigentliche Sünde und damit dasjenige, was uns unweigerlich von Gott trennt. Diese Lehre ist nicht paulinisch, während es Paulus eher entspricht, mit dem Tridentinum von der Begierde als einem fomes peccati zu reden (als einem Zunder der Sünde, der von der Sünde herkommt und nicht Sünde ist, es sei denn, er wird aktiviert bzw. in Brand gesteckt). 18 Für reformatorisch grundierte Theologie ist damit ein erheblicher Anstoß gegeben; es muss geklärt werden, wie damit umzugehen ist. 19 4. Anthropologische Sondierungen und Rückkehr zur Metaphysik Was vorhergehend zur Hamartiologie des Paulus festgestellt wurde, hat an‐ thropologische Implikationen, aufgrund derer eine monanthropologische Rede vom Menschen für die Beschreibung paulinischer Theologie (und meines Erachtens auch theologisch-systematisch) nicht mehr festgehalten werden kann. Abstand zu nehmen ist auch von der im Luthertum tief verwurzelten Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 Neue Erkundungen zum Werden und Wesen der Theologie des Paulus 57 20 Vgl. hierzu Hinweise auf Luther, Calov und Bultmann bei Dochhorn, Adammythos (s.-Anm.-1), 228 f., Anm.-263. 21 Ich lasse Kirchenväterexegese und altprotestantische Orthodoxie und gerne auch den katholischen Exegeten Wilhelm Estius (wirkend um 1600) in meiner Arbeit vielfach zu Wort kommen; vgl. auch den Überblick zur Auslegungsgeschichte in Dochhorn, Adammythos (s.-Anm.-1), §-III.2 (S.-93-147). 22 Vgl. hierzu die Distinktion zwischen positivum metaphysicum & morale bei David Hollatz, Examen Theologicum Acroamaticum, Darmstadt 1971 (Stargard 1707), I, Pars II, 131. Ansicht, Fleisch sei nicht primär körperlich zu verstehen, sondern sogar noch eher als etwas Seelisches, gar Spirituelles. 20 Es ist mit dem verbunden eine Reaktivierung der Unterscheidung von Substanz und Akzidenz hinsichtlich des Menschlich-Bösen für eine Abbildung paulinischer Konzepte in eigenen, verdeutlichenden Worten (in emischer Deskription). Es lohnt sich, ontologische und überhaupt metaphysische Tradition fruchtbar zu machen für exegetische - und dann auch theologische - Forschung. Dafür gibt es Präzedentien in der Kirchenväterexegese, und behilflich kann auch sein, was wir etwa in der Sündenlehre der Konkordienformel und der altlutherischen Orthodoxie vorfinden. 21 Dieser Zusammenhang ist hier in vier Thesen anzudeuten: 1.-Sündersein ist dem (natürlichen, vorchristlichen) Menschen nicht wesenhaft, sondern akzidentiell: Die Geschichte von der Übermannung des Menschen durch die Sünde impliziert, dass der Mensch Sünder nicht herkömmlich ist, sondern geworden ist - durch etwas, das von außen her ihm zugestoßen ist (quod accedit ei et fecit eum peccatorem per accidens). Zu behaupten ist damit für den sündigen Menschen ein Dualismus von Substanz und Akzidens; substantialiter ist der Mensch gut, und er kannte keine Sünde vor der Begegnung mit der Sünde (Röm 7,7), accidentaliter ist er böse. Dies gilt unangesehen der bei Paulus klar herausgestellten Tatsache, dass der sündige, sündunterworfene Mensch Gutes nicht tut; wir haben es mit einer totalen Verderbnis zu tun, aber eben mit einer Verderbnis, also etwas, das geschehen ist an einem, das der Verderbnis gegen‐ teilig ist, nämlich vollkommen dem Wesen nach. Mit altlutherischer Theologie kann man sagen, im Sinne des Paulus sagen: Ethisch ist der (natürliche) Mensch böse, metaphysisch ist er gut. 22 Kirchliche Verkündigung muss sich mit Paulus (und Augustin, der Formula Concordiae etc.) davor warnen lassen, Sündlichkeit und Geschöpflichkeit miteinander zu assoziieren. Es ist dabei hervorzuheben, dass die vorhergehende Beschreibung des Men‐ schen ausschließlich dem natürlichen Menschen gilt, dem Menschen vor der Erlösung durch Jesus Christus. Christen sind für Paulus nicht sündunterworfen; die Sünde im Fleisch, in ihrem Fleisch, ist Röm 8,3 zufolge durch Christus zum Tode verurteilt (was bedeutet: Sie ist getötet, was wiederum bedeutet: Sie ist Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 58 Jan Dochhorn 23 Zum Machtaspekt und zur erweiterten Bedeutung von Tod und Leben bei Paulus vgl. Dochhorn, Adammythos (s.-Anm.-1), 420-422 (dort hinauslaufend auf die Kurzformel: „Tod ist ein Leben, das man nicht führen will“); 435-438 (ein Porträt, eine Lebens-/ To‐ desgeschichte der Sünde). 24 Vgl. August Tholuck, Commentar zum Brief an die Römer, Halle 5 1856, 369. entmachtet, dem Menschen wieder extern und prinzipiell so machtlos, wie der Teufel eben machtlos ist, wenn er des Menschen nicht Herr wird). 23 Christen sind nicht simul iusti et peccatores; sie haben aber mit der Begierde zu bösem Tun als einem Residuum der Sünde in ihrem Leibe zu schaffen (weswegen Paulus den Leib der Christen auch in Röm 8,10 als tot wegen der Sünde bezeichnen kann, als Immer-Noch-Leiche, die aber nicht wie das adamitische Ich eine Leiche ist, die durch Sündigen anderen schadet). 2. Das Fleisch ist nicht an sich böse: „Was ist gegen das Haus zu sagen, wenn ein Räuber es bewohnt? “ (ti para ton oikon, ei lēstēs en autō tis katoikei; ) soll Chrysostomus Tholuck zufolge über das Fleisch gesagt haben, 24 und das entspricht ganz gut dem, was auch von Paulus her über das Fleisch zu sagen ist. Gewiss redet Paulus von einem Fleisch der Sünde (Röm-8,3), aber danach redet er von einer Sünde im Fleisch, von der wir aus Röm 7,7-25 wissen, dass sie eine ins Fleisch hineingekommene Sünde ist. Gewiss sagt Paulus auch, das Fleisch sei feindlich gesinnt gegen Gott (Röm 8,7), aber dahinter steckt die genannte Ge‐ schichte: Das Fleisch ist feindlich, weil etwas in ihm wirkt, durch das es feindlich geworden ist; nicht selten redet Paulus ohne Nuancen negativ vom Fleisch und von Fleischlichkeit, und dann liegen Abbreviaturen für den komplexeren Hintergrundzusammenhang vor, wie wir ihn in Röm 7,7-25 kennenlernen. Ist nicht das Fleisch an sich böse, so wird besser verständlich, warum Paulus vom Fleisch auch reden kann, ohne dass dabei ein moralisches Negativum mitschwänge: Abraham ist „unser Vater dem Fleische nach“ (Röm 4,1); das Fleisch des Paulus bedarf der Ruhe (2Kor 7,5), wie übrigens auch sein Geist (2Kor 2,13). Des Fleisches Waffen, mit denen Paulus nicht kämpft, stehen im Gegensatz zu den „mächtigen“ Waffen Gottes, mit denen Paulus Festungen stürmt (2Kor 10,4), und die man wohl mit dem Geist assoziieren darf (vgl. Gal 3,4, wo „Machttaten“ mit dem Geist im Gegensatz zum Fleisch assoziiert sind). In seiner Beschaffenheit sollten wir uns das Fleisch als weich denken und den Geist als hart; passend dazu kann das Fleischerne auch im Gegensatz zum Steinernen stehen - und dann etwas Gutes bedeuten: Die fleischernen Tafeln des Herzens sind gut im Unterschied zu den steinernen des Gesetzes (2Kor 3,3ff.). Wenn man eine Kurzformel braucht für das, was Fleisch nach Paulus sein soll, eignet sich am besten die Folgende: Es entspricht dem, was bei ihm der äußere Mensch ist (2Kor 4,16), die Außensphäre des Menschen: Diese ist weich, korrosionsanfällig, Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 Neue Erkundungen zum Werden und Wesen der Theologie des Paulus 59 25 Vgl. hierzu die Dokumentation bei Jan Dochhorn, Persönlichkeit, Auktorialität und Wissenschaftsfreiheit. Über die Neugründung eines Persönlichkeitsideals als Voraus‐ setzung für eine Kultur der Wissenschaftsfreiheit, Endnote 15 (im Druck). für äußere Einwirkungen anfällig, und eine dieser Einwirkungen, eine ziemlich wichtige, ist die Sünde, die von außen in das Fleisch eindringt und dann darin wohnt. Es hat den Anschein, dass für Paulus der Mensch als ein Raumwesen dem Bösen ausgesetzt ist und gegen dieses sein Territorium, den Körper, zu sichern hat, gewöhnlich ohne Erfolg. 3.-Ich bin nicht mein Körper: Was über Sünde und Fleisch festgestellt wurde, deutet auf ein Bild von mir als Subjekt, das klar einen Unterschied zwischen Innen und Außen, zwischen Eigentlich-Persönlichen und Körpersphäre er‐ kennen lässt. Ich bin ich seit je, schon vor dem Übermanntwerden durch die Sünde; ich stimme dem Gesetz zu, dass es gut sei (Röm 7,16), und so will ich das Gute, das ich nicht tun kann wegen der mir einwohnenden Sünde (7,15-20). Ich habe Freude am Gesetz Gottes nach dem Inneren Menschen (Röm 7,22), das deswegen auch das Gesetz meiner Vernunft ist (Röm 7,23). Ich, mein Wollen, mein Innerer Mensch, meine Vernunft: Das ist die Innensphäre. Diese umgibt mein Fleisch, in dem die Sünde wohnt, umgeben meine Glieder, in denen „ein anderes Gesetz“ (hetero[s] nomo[s]) wohnt, welches mich zu einem Gefangenen des Gesetzes der Sünde (7,23) macht, so dass ich verzweifelt fragen muss: Wer erlöst mich aus dem Leib dieses Todes (7,24)? Will ich herauskommen aus mir? Nein, ich will erlöst werden von einem Körper-Gefängnis, und dies geschieht auch dank Jesu Christi. Freilich habe ich auch danach den Körper - als eine Leiche: Er ist tot um der Sünde willen (8,10), aber es gibt das Leben im Geiste (ibidem und überhaupt Röm-8,5-17). 4. Selberseinwollen ist nicht Sünde: Mit dem Abschied von monistischer An‐ thropologie entfällt für die Theologie des Paulus ein hamartiologisches Konzept, das von der deutschen Mystik (Theologia deutsch) sowie der reformatorischen Theologie herkommt und in moderner Paulusexegese eine beträchtliche Rolle gespielt hat (etwa bei Althaus, Bultmann, Bornkamm): Die Rede vom Selber‐ seinwollen des Subjekts als der Ursünde, 25 die vermutlich durch monistische Anthropologie mindestens begünstigt ist, insofern hier das Subjekt als eine Einheit mit einer Gesamtausrichtung verstanden wird, die im gegebenen Falle verkehrt ist. Die Verkehrtheit besteht nach dieser Sicht darin, dass sich das Subjekt nicht Gott verdanken will, sondern sich selbst. In stärker ontologischer Rede könnte man auch sagen, wohl im Sinne der Theologia deutsch: Das Subjekt will Gott in seinem Gott-Sein und das heißt: in seiner ausschließlichen Seinshaftigkeit nicht gelten lassen, indem es ein Selbersein für sich in Anspruch nimmt, indem es neben dem kausierenden Sein Gottes auch für das von Gott Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 60 Jan Dochhorn Kausierte Seinshaftigkeit geltend machen will. Speziell in dieser ontologischen Wendung scheint dieses Konzept genau die Präzision zu gewinnen, die man braucht, um seinen Schwachpunkt aufzuzeigen: Soll ich etwa sagen: Deus non creat entia? Das sagt man gewöhnlich über den Teufel. Schafft aber Gott Seiendes, warum soll das Seiende sich dann nicht als das wollen, als was Gott es erschaffen hat, nämlich als Seiendes? So wird man argumentieren können, etwas von Paulus abhebend, aber doch nicht allzu weit von ihm entfernt, konnte doch immerhin der Autor des Epheserbriefs, der ihm sehr ähnlich ist, Selbstliebe und die Liebe zum eigenen Fleisch (! ) als etwas völlig Natürliches darstellen, über das man gar nicht erst diskutieren muss (Eph 5,26-27). Mehr noch, mit Paulus wage ich das Folgende zu sagen: Nicht zu viel Ich ist Sünde, sondern zu wenig: Das von der Sünde gefangene Ich ist in seinem Tun nicht es selber, will es aber sein. Diesem Willen entsprechend soll es befreit werden durch Jesus Christus. Erlösung ist Selbstwerdung, etwas, das man mit C. G. Jung als Individuation bezeichnen kann. 5. Das Gesetz Eher en passant kam bisher das Gesetz zur Sprache, als ein Faktor in der Sündengeschichte Adams und in der Sündengeschichte des - aufgrund des Gesetzeskontakts - adamanalogen jüdischen Menschen, wie in er in Röm 7,7-25 vorgestellt wird (hier einmal alle Menschen vertretend, wiewohl es bei den Heiden ohne Gesetz gehen muss). Auf Dauer können wir aber das Gesetz nicht einfach nur en passant behandeln; dafür ist es bei Paulus zu wichtig. In zwei Schritten ist nun die Nomologie des Paulus zu umreißen (ohne Anspruch auf Vollständigkeit): 1.-Das Gesetz ist Instrument der Sünde; vermittels des Gesetzes wird gesündigt: Des Gesetzes bedient sich die Sünde als eines Anlasses (aphormē), um im Menschen „jegliche Begierde“ zu erwecken; das Gesetz wird von der Sünde instrumentalisiert, um den Menschen zur Sünde anzuregen. Dies ist es, was in Röm 7,7-13 das Bild des Gesetzes bestimmt, soweit es um das faktisch Geschehende geht, denn wesensmäßig - und im gegebenen Zusammenhang nicht faktisch - ist das Gesetz gut (vgl. Röm 7,10.12). Es passiert bei diesem Faktischen etwas mit dem Gesetz; es ist passiv; es fällt ihm eine Rolle zu (als etwas Akzidentielles, nicht Wesensmäßiges); mit beidem ist das Gesetz dem Ich analog, das auch eine Passivrolle einnimmt und dem auch etwas zufällt, nämlich das Sündersein. Es ist diese für die Sünde instrumentelle Funktion des Gesetzes, die in Röm 7,7-13 zu identifizieren ist; heißt es in Röm 7,7, dass durch das Gesetz das Subjekt die Sünde erkenne, so darf dies nicht im Sinne eines usus elenchticus Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 Neue Erkundungen zum Werden und Wesen der Theologie des Paulus 61 legis verstanden werden, also dahingehend, dass durch das Gesetz das Subjekt nur unterrichtet würde darüber, was als Sünde zu gelten habe; die Erkenntnis der Sünde ist Tat-Erkenntnis, Sünden-Erfahrung des tätigen Sünders. Exegeten müssen es entschieden vermeiden, Röm 7,7-13 im Sinne eines usus elenchticus legis zu lesen; wo es geschieht, ist es aus altprotestantischer Nomologie ein‐ getragen, der sich neuprotestantische Exegese im gegebenen Falle deshalb anschließen mag, weil das, was bei Paulus faktisch vorliegt, kontraintuitiv ist, paradoxal, den Verstand belastend und daher bei oberflächlicher Betrachtung vernunftwidrig (mit einem Rekurs auf die Vernunft geht Oberflächlichkeit nicht selten einher, freilich nicht als etwas ihm Wesensmäßiges). Das Gesetz als Instrument der Sünde: So widersinnig das scheint, es dominiert diese Funktion des Gesetzes in der Nomologie des Paulus geradezu. Sie kann sich in Kurzformeln ausdrücken, wenn etwa Paulus sagt, dass der Buchstabe des Gesetzes töte (2Kor 3,6), wo wie bei der Rede vom gottesfeindlich gesinnten Fleisch die Hintergrundgeschichte überbrückt ist: Man könnte meinen, das Gesetz sei ein Mörder, es ist aber ein Mordinstrument und damit ganz etwas anderes als ein Mörder. Noch etwas mehr sieht man, wenn Paulus redet von den „Sünden-Leidenschaften, die durch das Gesetz [gewirkt werden]“ (ta pathēmata tōn hamartiōn ta dia tou nomou); hier zeigt wenigstens die Präposition dia, dass wir das Gesetz nicht als das Agens des Bewirkens der Sünden-Leidenschaften sehen müssen (dann würde hupo verwendet), sondern als das für den Vorgang Instrumentale. Nicht ausdrücklich genug kann gesagt werden: Es hat diese Rolle des Gesetzes zur Folge, dass nicht die Forderungen des Gesetzes die Menschen realisieren, sondern deren Gegenteil; faktisch wird das Gesetz nicht erfüllt, sondern wird aufgrund des Gesetzes gesündigt. Dies ist für Paulus empirische Realität, wie wir speziell in Röm 2 sehen, wo Paulus gar nicht erst nachweist, sondern selbstverständlich voraussetzt, dass die Juden das Gesetz zwar haben, aber faktisch Sünder sind (die Heiden sündigen sowieso - und kennen dabei als ein Gesetzesanalogon die Rechtsforderung des Gesetzes, die sie willkürlich missachten; Röm-1,32). Es ist hier auch der Grund zu sehen, warum das Gesetz nicht Rechtfertigung wirkt (3,20): Es wird nicht verwirklicht, und stattdessen kommt mit ihm Erkenntnis der Sünde (ebenda), was wir wohl mit Röm 7,7-13 dahingehend verstehen müssen, dass mit dem Gesetz die Menschen sündener‐ fahrene Verbrecher werden. Soweit zum nahezu dominanten Brauch des Gesetzes bei Paulus. Die lutheri‐ sche Tradition, die uns so viele gut hantierbare Begriffe zur Verfügung stellt und herkömmlich drei Bräuche des Gesetzes unterscheidet, kennt diesen Gebrauch des Gesetzes nicht. Eine lateinische Bezeichnung müsste erfunden werden; Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 62 Jan Dochhorn am besten gefällt mir gegenwärtig der Begriff usus catachreticus legis, „der missbräuchliche Brauch des Gesetzes“, da mit diesem Terminus das Paradoxale dieses Brauches gut zum Ausdruck kommt; der missbräuchliche Brauch des Gesetzes ist seinem eigentlichen Wesen zuwider. Ist das Wesen des Gesetzes ein anderes (sein Gebot ist „zum Zwecke des Lebens“/ eis zōēn, Röm 7,10; „es ist heilig, und das Gebot ist gut und gerecht“, Röm 7,12), so wird man zu fragen haben, ob denn sein wesenswidriger Gebrauch durch die Sünde einfach so, ohne den Willen Gottes oder gar gegen den Willen Gottes, erfolgt oder ob es nicht vielmehr auch zum Wesenswidrigen durch Gott bestimmt wurde. Letzteres ist bei Paulus der Fall. In Röm 7,13 heißt es: Das Gesetz, obwohl gut, wird dem Menschen Tod, damit - und das ist hier entscheidend - die Sünde als Sünde manifest werde, damit sie Sünde im Übermaß werde. In Röm 5,20 heißt es passend dazu, das Gesetz sei „zwischen‐ hineingekommen“, damit die Sünde übermäßig werde (das Wort „zwischenhi‐ neingekommen“/ pareisēlthen reflektiert die Tatsache, dass weltgeschichtlich die Thora etwas Sekundäres ist als Folge des Sinaiereignisses, wiewohl schon Adam mit ihr konfrontiert war). Es sind mit dem Gesetz Zielbestimmungen verbunden: Es soll der Sündenmehrung, dem übermächtigen Sichtbarwerden der Sünde dienen. Man wird Gott als das ungenannte Subjekt hinter diesen Zielbestimmungen annehmen dürfen. Dementsprechend soll das Gesetz auch nicht die Rechtfertigung wirken, die der Glaube wirkt (Gal 3,21); Rechtfertigung soll mit Gottes Wille nicht vom Gesetz her kommen, sondern vom Glauben. 2. Das Gesetz ist dem Wesen nach gut, es soll erfüllt werden, denjenigen zum Leben, die es tun: Eigentlich ist das Gesetz gut, und das ist schon zur Sprache gekommen. Es wird daher in Röm 7,22; 8,7 als Gesetz Gottes bezeichnet (wenn Paulus es in Gal 3,20 als durch Engel vermittelt darstellt, steht das dem nicht entgegen, wiewohl damit eine Akzentsetzung vorliegt, die im Römerbrief unterbleibt). All dieses freilich, das so über das Gesetz gesagt wird, erscheint in Röm 7,7-25 als faktisch irrelevant, als Theorie (was nicht wenig sein müsste; Theorie sollte nicht unterschätzt werden, zumal, wenn sie zutreffende Wesens‐ bestimmung ist). Aber es ist eben auch faktisch mehr der Fall: Das Gesetz kann erfüllt werden, wird auch erfüllt: Von Christen wird die „Rechtsforderung des Gesetzes“ erfüllt (Röm 8,4). So durch Christen verwirklicht, heißt das Gesetz „das Gesetz des Geistes des Lebens“ (Röm 8,2); im Geistes-Kontext ist es Geistes-Gesetz, wie es übrigens zuvor im Sünden-Kontext Sünden-Gesetz war (Röm 7,23); das Gesetz, wesensmäßig gut, ist faktisch, was ihm von seinem Kontext her zukommt, und ändert entsprechend seinen Namen. Es sind sind hinsichtlich der Gesetzeserfüllung der Christen drei Spezifika‐ tionen vonnöten: Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 Neue Erkundungen zum Werden und Wesen der Theologie des Paulus 63 a. Christen erfüllen das Gesetz nicht komplett, sondern in seinem Wesensgehalt: Paulus wendet sich mit beträchtlicher Polemik gegen Christen, denen die Beschneidung als eine Vorbedingung für das Christsein auch der Heidenchristen gilt. Die Beschneidung ist von der Thora geboten, und schon hier zeigt sich: Die Erfüllung aller Einzelbestimmungen der Thora ist offenbar nicht gemeint, wenn Paulus von einer Gesetzeserfüllung der Christen redet. Konzeptuell, wenn auch nur implizit konzeptuell, manifestiert sich dies in Gal 5,3, wo Paulus den Beschneidungswilligen entgegenhält, dass ein Beschnittener schuldig sei, das ganze Gesetz zu erfüllen. Vorausgesetzt scheint hier, dass eine komplette Gesetzeserfüllung für Christen unüblich ist. Es passt hierzu ein ins Holistische gehender Sprachgebrauch hinsichtlich des Gesetzes, der bei Paulus mit dessen Erfüllung durch Christen verbunden ist: Paulus spricht von „Tätern des Ge‐ setzes“, die gerechtfertigt werden (hoi poiētai nomou; Röm 2,13); er spricht von Heiden, die von Natur aus „die Sache des Gesetzes“ tun (ta tou nomou, wörtlich: „dasjenige des Gesetzes“; Röm 2,14); er attestiert diesen Heiden, das „Werk des Gesetzes“ sei eingeschrieben in ihren Herzen (to ergon tou nomou; Röm 2,15); er sagt über die von Christus von der Sündenherrschaft befreiten Christen, dass in ihnen die „Rechtsforderung des Gesetzes“ erfüllt werde (to dikaiōma tou nomou; Röm 8,4); er bezeichnet die von den Christen eingeforderte Nächstenliebe als „Erfüllung des Gesetzes“ (plērōma tou nomou; Röm 13,10) und identifiziert diese Liebe als Summe dessen, was die zweite Tafel des Dekalogs fordert (Röm 13,9). Dieser Sprachgebrauch läuft darauf hinaus, dass mit der Erfüllung des Gesetzes ein Kerngehalt des Gesetzes praktisch realisiert wird. Er besteht in der Nächstenliebe. Terminologisch überschneidet er sich an einer Stelle mit dem, was auch Heiden an normativem Wissen haben: Die „Rechtsforderung des Gesetzes“, die Christen laut Röm 8,4 erfüllen, ähnelt sprachlich der „Rechtsforderung Gottes“ (to dikaiōma tou theou) in Röm 1,32, die den Heiden bekannt ist, von ihnen aber mit ihrem schändlichen Tun ignoriert wird. Es ergibt sich damit eine Nähe zwischen dem Kerngehalt des Gesetzes und dem, was wir im Abendland als Naturrecht/ lex naturalis kennen. Wichtig ist dabei ein ontologischer Sachverhalt: Der Kerngehalt des Gesetzes hat mit seinen Einzelbestimmungen zu tun, ist mit diesen aber nicht erfasst, so wie der Wald aus Bäumen besteht, man aber den Wald nicht erfasst mit jedem einzelnen Baum. Orientierung am Kerngehalt macht frei von den Einzelbestimmungen, ähnlich wie der Rekurs auf Naturrecht das Gewissen frei machen kann von positiven Gesetzesbestimmungen. Suche nach Wesen, ontologisches Fragen bewirkt Freiheit. So hat auch christliche Freiheit etwas zu tun mit der Suche nach Wesen, die frei macht; in ihr wird real eine Freiheit der Christenmenschen vom Gesetz (und mit dem Gesetz). Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 64 Jan Dochhorn b. Christen erfüllen das Gesetz unabhängig davon, ob sie es haben oder nicht haben: Paulus weiß von einer Erfüllung des Gesetzes durch Heiden (-Christen), die das Gesetz gar nicht „haben“ (Röm 2,14-15), und er weiß in Röm 8,4 von der Erfüllung des Gesetzes „in uns“ (den Christen), die sich an die Erlösung des sünd‐ unterworfenen adamitisch-jüdischen Ichs anschließt und damit (mindestens auch) eine Angelegenheit der Gesetzes-Besitzer, eine Judenangelegenheit, eine Judenchristenangelegenheit ist (es ist ja auch vom Gesetz des Geistes des Lebens die Rede, durch welches das Ich befreit wurde, vgl. Röm 8,2). Offensichtlich ist es gleichgültig, ob Christen das Gesetz haben oder nicht; es wird von ihnen sowieso erfüllt (in seinem Kerngehalt, durch Liebe). „Das Gesetz Haben“ dürfte dabei ausweislich Röm 2,25-29 bedeuten, dass man auf das Gesetz stolz sein kann als etwas, mit dem Identität begründet wird, dass man also Jude ist. Das fehlt Heiden (-Christen), aber auch die Heidenchristen tun ja das Gesetz, und allein das zählt vor Gott. c. Christen werden gerechtfertigt durch das Tun des Gesetzes: Es ist schon mehrfach angeklungen und muss hier nun in aller Härte vor Augen geführt werden: Paulus sagt: „Die Täter des Gesetzes werden gerechtfertigt werden“ (Röm 2,13), und er datiert dieses Rechtfertigungsgeschehen auf den Tag des endzeitlichen Gottesgerichts (Röm 2,16). Nichts deutet an, dass dieser Satz nicht gälte, sondern bloß hypothetisch gelten würde, wenn nicht etwas anderes gälte, etwa die Aussage, dass nur der Glaube Rechtfertigung brächte, das sittliche Tun aber nicht. Passend dazu spricht Paulus ja auch von einem Gottesgericht für die Christen (Röm 14,12) und einem Christusgericht für die Christen (2Kor 5,10), bei dem jeder seinem Tun entsprechend empfangen wird (also belohnt oder bestraft wird), und damit wiederum harmoniert sein Wissen um einen unterschiedlichen Ausgang des Gerichts für unterschiedliche Christen, wie es in 1Kor 4 zum Ausdruck kommt (wobei freilich keiner umkommen wird). Entscheidend ist für Paulus dabei: Es zählt das Tun, nicht der Status: Ob man das Gesetz hat oder nicht, spielt überhaupt keine Rolle (Röm 2,12). Ein Vulgärprotestantismus, der sich auf den Status des Getauftseins beriefe, entspräche damit in seiner Struktur dem Gegenteil dessen, was Paulus vermitteln will. Für das Tun, aufgrund dessen Rechtfertigung erfolgt, verwendet Paulus unter anderem den Begriff to ergon tou nomou („das Werk des Gesetzes“, vgl. Röm 2,15). Dieser Begriff erinnert auf geradezu schon ärgerliche Weise an die „Werke des Gesetzes“ (ta erga tou nomou), aufgrund derer sich Rechtfertigung gerade nicht ergibt (Röm 3,20 etc.). Wahrscheinlich liegt ein Vexierspiel zugrunde, das Paulus in mündlicher Lehre stärker entfaltet hat und mit dem er einen soteriologischen Sachverhalt plastisch vor Augen führen will, den man folgen‐ dermaßen wiedergeben kann: Das Gesetz kann mit „seinen Werken“ = „seinen Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 Neue Erkundungen zum Werden und Wesen der Theologie des Paulus 65 26 Zur Interpretation von erga nomou vgl. Dochhorn, Adammythos (s.-Anm.-1), 39 f. Ent‐ scheidend ist eine Parallele in 4Q MMT, die James D. G. Dunn ins Forschungsgespräch eingebracht hat. 27 Vgl. Dochhorn, Adammythos (s. Anm. 1), 375-378. Apc Mos 19,4 enthält eine Allusion an das zehnte Gebot und fasst dieses als Summe aller Gebote auf - wie dann auch Paulus. 28 Einschlägig ist hier Stefan Krauter: „Wenn das Gesetz nicht gesagt hätte, …“. Röm-7,7b und antike Äußerungen zu paradoxen Wirkungen von Gesetzen, in: ZThK 108 (2011), 1-15. Einzelbestimmungen“ 26 keine Rechtfertigung erwirken, solange es „Gesetz der Sünde“ ist, solange es also Gesetz ist außerhalb des (Christus-) Glaubens. Erst mit Christus ist es Gesetz des Geistes des Lebens, erst mit Christus können wir Christusgläubige werden und als solche im Geist wandelnde Gerechte, die das Gesetz in seinem Kerngehalt realisieren: Dieses in der Tat Realisierte nun ist das Werk des Gesetzes (das in die Tat umgesetzte Wesentliche des Gesetzes), aufgrund dessen Rechtfertigung vor dem Gottesgericht erfolgen wird. Es zählt das Werk. Theoretisch gilt dies für alle (Röm 2,12), praktisch für die Christen, die es wirklich tun (Röm-2,14-15; 8,4). 6. Zu den Hintergründen der Gesetzeslehre des Paulus Es fällt schon schwer genug, die Gesetzeslehre des Paulus zu rekonstruieren, und dann muss man sich auch noch darüber wundern, dass es so etwas überhaupt gibt. Wie fällt es dem Juden Paulus ein, das schöne Mosegesetz als etwas darzustellen, das faktisch Böses bewirkt, nämlich böses Tun der Menschen? Äußert sich hier jemand, der als vorchristlicher Jude Frust hatte mit dem Gesetz, der diesen Frust verdrängte und deswegen erst einmal zum Christenverfolger wurde? Ich lasse es jetzt einmal dahingestellt, ob man Frust braucht, um zum Verfolger zu werden, und stelle lieber vorläufig dar, wie Paulus auf diese Lehre gekommen ist: 1. Paulus wusste aufgrund seiner Kenntnis um die exegetischen Grundlagen von Apc Mos 19,4 (die Vergiftung der verbotenen Frucht mit dem Gift der Begierde), dass Adam im Paradies mit dem Begierdeverbot des Gesetzes (dem 10. Gebot) konfrontiert war. 27 Er kannte auch griechisch-römische Theorien von einer paradoxalen Wirkung von Normativität (Gesetze regen - mitunter - zu bösem Tun an); 28 er sah diese Wirkung durchgängig gegeben. 2. Paulus wusste ausweislich seiner Aussagen von neuem Bund, Herzens‐ beschneidung, Geistverleihung und natürlicher Gesetzeserfüllung in Röm 2 und 2Kor 3 um die biblische Verheißung des neuen Bundes. Er kannte sie wahrscheinlich zudem aus dem Jubiläenbuch (Jubiläenbuch 1) und noch mehr Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 66 Jan Dochhorn 29 Vgl. hierzu Dochhorn, Adammythos (s.-Anm.-1), 321-334. 30 Vgl. hierzu Dochhorn, Adammythos (s.-Anm.-1), 334. aus der Apokalypse des Mose (Apc Mos 13,2-6). 29 Letzterem Text konnte er zudem entnehmen, dass ein neues Herz, geeignet zum Tun des Guten, die Sache eines endzeitlichen Gottesvolkes sein werde, das identisch ist mit der gesamten Menschheit. Eine heilsuniversalistische Hoffnung dürfte Paulus schon als Jude gehabt haben 30 ; er musste nur noch warten auf etwas, mit dem sie erfüllt schien, und da bot sich ihm der Christusglaube an, den er nach heftigem Widerstreben übernahm. Danach dürfte sich ihm eine Implikation der biblischen Weissagung vom neuen Bund ergeben haben: Er sah nun mit ihr vorausgesetzt, dass die bisher Israel gegebenen steinernen Tafeln des Gesetzes gar nicht ausrichten können, was erst als endzeitlich verheißen ist, nämlich eine praktische Realisie‐ rung des Gesetzes aufgrund einer neugeschaffenen Herzens-Natur. 3. Wie konnte Paulus darauf kommen, dass mit Christus der neue Bund realisiert sei? Er kannte die von ihm in 1Kor 11,23-26 als Tradition zitierte Abendmahlsüberlieferung. Auf ihr beruht meines Erachtens in ihrem Kernge‐ halt die paulinische Ekklesiologie, die wiederum fundamental ist für sein ganzes System: Leib Christi ist die Kirche, weil sie die durch Christi Todesopfer kon‐ stituierte Gemeinschaft und so mit Christus identisch ist (vgl. 1Kor 10,16-17; in 1Kor 12,12 heißt der Kirchen-/ Christusleib einfach ho christos = „der Christus“); eine der todbringenden Adam-Sphäre gegenüberstehende Geist-Sphäre ist sie aufgrund des mit dem Blut Christi eingeweihten neuen Bundes. Wir haben hier eine Ekklesiologie vorliegen, die zugleich sakramentale Erlösungslehre und physische Erlösungslehre ist. Ihr ruht auf eine juridische Erlösungslehre, die mit ihr harmoniert: Als der Kirche angehörend tun aufgrund ihrer Geist-Natur die Christen das Gute und werden dadurch gerechtfertigt; sie sind lebendes, fleischernes Gesetz und bringen damit das vor diesem Heilsgeschehen wir‐ kungslose, ja tötende Gesetz zu seiner Bestimmung, die im real statthabenden Liebeshandeln besteht. Es ist für mich nicht absehbar, inwieweit meine Thesen Aufnahme finden werden. Im Erfolgsfalle wird die Judaistik für sich die Aufgabe wahrnehmen, meine Impulse für die Rekonstruktion von Literatur und Theologie der Helle‐ nisten Jerusalems fortzuführen (unter anderem durch editorische Arbeit, etwa am Testament Hiobs oder an den Paralipomena Jeremiou). Für die Paulusfor‐ schung und dann die systematische Theologie kann sich ergeben, dass man neue Potentiale entdeckt in einer remythologisierenden Rede von der Sünde, in einer durch Terminologie der vorkantianischen Metaphysik präzisierten Rede von der Sünde, in einer Rückkehr zu anthropologischem Dualismus und in Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 Neue Erkundungen zum Werden und Wesen der Theologie des Paulus 67 einer Gesetzes- und Rechtfertigungslehre, die etwas von der Tragik moralischer Normativität einerseits und andererseits vom Lohn für gute Werke weiß und damit einer praxis pietatis zugute kommen kann. Jan Dochhorn studierte Theologie in Münster und Tübingen (1989-1996). Er lehrt als Associate Professor Neues Testament und Judaistik an der Universität Durham. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Johan‐ nesapokalypse, Paulus und jüdische wie christlich-ori‐ entalische Parabiblica. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 68 Jan Dochhorn Paulus, Apostel der Völker Der Römerbrief als Zeugnis apostolischen Selbstverständnisses im Vergleich mit den johanneischen Schriften Nadine Ueberschaer Der Römerbrief als später Paulusbrief gibt einen tiefgehenden Einblick in die Theologie und das Selbstverständnis des Paulus als Apostel der Völker. Das zeigt ein Vergleich mit dem Galaterbrief, mit dem der Römerbrief wesent‐ liche Themen teilt. Doch während dort der Ton von einem Konflikt geprägt ist, den Paulus um das Verständnis seines Evangeliums austrägt, wirbt er bei den Christusglaubenden in der Hauptstadt des Imperium Romanum um die Zustimmung zu seiner Lehre. Daher stellt er sie im Römerbrief sachlich argumentativ und ohne polemische Untertöne dar. Der entscheidende Grund hierfür ist, dass Paulus die Gemeinden in Rom nicht selbst gegründet hat und seinen Adressaten daher bislang persönlich unbekannt ist. Beides, der Vergleich mit dem inhaltlich ähnlichen Galaterbrief sowie die Tatsache, dass Paulus im Römerbrief gezwungen ist, den Inhalt seiner Verkündigung zu erklären, macht den Römerbrief zu einem wertvollen Zeugen für die Theologie und das Selbstverständnis des Apostels. Im Römerbrief wird deutlich, dass Paulus seine Theologie als eine Theologie des Lebens konzipiert. So verwendet Paulus das Zitat von Hab 2,4 in Röm 1,18 und die Argumentation mit den Erzeltern Abraham und Sarah (Röm 4) (vgl. für beides Gal 3) ebenso wie die Gegenüberstellung von Adam und Christus (Röm 5) dazu, um Jesu Tod und Auferstehung in ihrer soterischen Bedeutung für die Glaubenden deutlich zu machen. Denn so wie Gott Jesus aus Toten auferweckt hat, so beschenkt er die Glaubenden mit der Gabe des Lebens (vgl. Röm 4,24; Röm-6). Diese Theologie des Lebens findet sich zwar auch in anderen Paulusbriefen, wie dem 1 Thess, dem 2 Kor und dem Gal, ist aber im Röm besonders umfang‐ 1 Vgl. zum Lebensbegriff im Röm Christof Landmesser, Der Vorrang des Lebens. Zur Unterscheidung der anthropologischen und soteriologischen Kategorien Tod und Leben in der Theologie des Paulus im Anschluss an Röm 5f, in: Petra Bahr/ Stephan Schaede (Hg.), Das Leben, Bd. 1: Historisch-systematische Studien zur Geschichte eines Begriffs (Protestantismus und Kultur 2), Tübingen 2009; Christiane Zimmermann, Leben aus dem Tod. Ein Spezifikum in der Gottesrede des Römerbriefs, in: Udo Schnelle (Hg.), The Letter to the Romans (BEThL-226), Leuven 2009, 503-520. 2 Vgl. zur Theologie des Lebens bei Paulus und Johannes sowie deren traditionsgeschicht‐ lichen Voraussetzungen Nadine Ueberschaer, Theologie des Lebens bei Paulus und Johannes. Ein theologisch-konzeptioneller Vergleich des Zusammenhangs von Glaube und Leben auf dem Hintergrund ihrer Glaubenssummarien (WUNT I/ 389), Tübingen 2017. Paulus und Johannes bilden ihre Theologie des Lebens auf der Grundlage vorpaulinischer Glaubenssummarien aus. Diese bzw. Elemente und Traditionssplitter von ihnen finden sich in 1 Thess 4,14; 1 Kor 15,3-5; 2 Kor 5,15; Röm 6,3-8; 14,9. Dass auch Joh vorpaulinische Glaubenssummarien kennt, belegt die geprägte Sprache in Joh 2,22; 12,1.9, während es sich bei Joh 11,25f. um eine narrative Ausgestaltung eines vorpaulinischen Glaubenssummariums handelt. reich entfaltet. 1 Darüber hinaus stellt sie eine zentrale Analogie zum Johannes‐ evangelium dar, das ebenfalls das ewige Leben als gegenwärtige soteriologische Gabe, die als inauguriertes Auferstehungsleben über den Tod hinaus besteht, mit dem Tod und der Auferstehung Jesu begründet. Doch wie lassen sich diese Übereinstimmungen zwischen Paulus und Johannes erklären, vor allem, wenn eine literarische Abhängigkeit des Johannes von Paulus nicht nachweisbar ist? Ein genauerer Blick auf die Texte zeigt, dass Paulus und Johannes für ihre Theologie des Lebens unabhängig voneinander schon ältere, vorpaulinische Traditionen rezipiert und diese deutend fortgeschrieben haben. 2 Das Verhältnis beider Entwürfe ist also eher traditionsgeschichtlich zu erklären, auch wenn sie beide voneinander unabhängig sind. Eine weitere Analogie, die sich ebenfalls durch die Verarbeitung frühchrist‐ licher Traditionen erklären lässt, stellt das „apostolische“ Selbstverständnis des Paulus und der johanneischen Gemeinde, die sich als gesandt versteht, dar. Erneut kommt dabei dem Römerbrief eine besondere Bedeutung zu, da Paulus sich im Präskript des Röm ausführlich mit seinem Selbstverständnis als Apostel vorstellt. Darüber hinaus bietet er in Röm 8,3-4 vorpaulinische Traditionen zur Sendung Jesu. Betrachtet man Röm 1 und Röm 8 zusammen, dann legen textliche Berührungen nahe, dass Paulus sein Selbstverständnis als Apostel auf der Grundlage einer vorpaulinischen Sendungssoteriologie in Röm-8 entfaltet. Ebendiese vorpaulinische Tradition bezeugt auch das Johannesevangelium sowie der 1. Johannesbrief. Hier ist es jedoch nicht eine Person, sondern die Gemeinde als Ganze, die sich als Gesandte versteht. Interessanterweise führt dabei die Rezeption derselben vorpaulinischen Tradition zu zahlreichen Analo‐ Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0004 70 Nadine Ueberschaer 3 Eine Rekonstruktion, wie, wo und warum der Apostel-Begriff vor allem bei Paulus und in der Apg des Lk, die gemeinsam die meisten Vorkommen aufweisen, die prominente Stellung bekommen hat, lässt sich aufgrund mangelnder Quellen nicht mit Sicherheit vornehmen. Vgl. hierzu ausführlich Jörg Frey, Paulus und die Apostel, in: ders., Von Jesus zur neutestamentlichen Theologie, hg. v. Benjamin Schliesser (WUNT I/ 368), Tübingen 2016, 361-398. Der Begriff Apostel umfasst im allgemeinen Sprachgebrauch ein weites Bedeutungsspektrum und dient zumeist zur Bezeichnung von Gegenständen. Erst im frühen Christentum avanciert er zur Bezeichnung von Gesandten. Vgl. Jörg Frey, Apostelbegriff, Apostelamt und Apostolizität. Neutestamentliche Perspektiven zur Frage nach der ‚Apostolizität’ der Kirche und der ‚apostolischen Sukzession’, in: ders., Von Jesus zur neutestamentlichen Theologie, 677-778, hier 697; Christine Gerber, Paulus, Apostolat und Autorität, oder Vom Lesen fremder Briefe (ThSt.NF 6), Zürich 2012, 37. gien zwischen dem paulinischen und dem johanneischen Sendungsverständnis. Sie werden im Folgenden nachgezeichnet werden. Ausgangspunkt hierfür sind die vorpaulinischen Traditionen in Röm-8,3-4; Gal-4,4-6; 1-Joh-4,9; Joh-3,17. 1. Vorpaulinische Sendungssoteriologie Paulus ist als „der“ Apostel in die Wirkungsgeschichte eingegangen. Das verdankt sich seiner Selbstbezeichnung als apostolos in den Präskripten seiner Briefe. 3 Doch diese Präskripte sind nicht denkbar ohne ihre gedankliche Vorausset‐ zung in der Sendungssoteriologie, die Paulus in Gal 4,4-6 und Röm 8,3-4 aufgreift und ihr dort jeweils ihr eigenes Gepräge gibt. In Gal-4,4-6 heißt es: Gal-4,4-6 - 4-… ἐξαπέστειλεν ὁ θεὸς τὸν υἱὸν αὐτοῦ γενόμενον ἐκ γυναικός γενόμενον ὑπὸ νόμον 5 ἵνα τοὺς ὑπὸ νόμον ἐξαγοράσῃ, ἵνα τὴν υἱοθεσίαν ἀπολάβωμεν. 6 Ὅτι δέ ἐστε υἱοί, ἐξαπέστειλεν ὁ θεὸς τὸ πνεῦμα τοῦ υἱοῦ αὐτοῦ εἰς τὰς καρδίας ἡμῶν κρᾶζον· αββα ὁ πατήρ. 4 Gott sandte seinen Sohn, geworden aus einer Frau, geworden unter das Gesetz, 5 damit er die unter dem Gesetz loskaufe, damit sie die Kindschaft empfingen. 6 Weil ihr aber Kinder seid, sandte Gott den Geist seines Sohnes in eure Herzen, der ruft: Abba, Vater. Ein Vergleich mit 1 Joh 4,9 und Joh 3,17 zeigt, dass es sich hierbei um eine von Paulus rezipierte Tradition handelt. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0004 Paulus, Apostel der Völker 71 4 Werner Kramer, Christos, Kyrios, Gottessohn. Untersuchungen zu Gebrauch und Bedeutung der christologischen Bezeichnungen bei Paulus und den vorpaulinischen Gemeinden (AThANT-44), Zürich/ Stuttgart 1963, 109. 1-Joh-4,9 ἐν τούτῳ ἐφανερώθη ἡ ἀγάπη τοῦ θεοῦ ἐν ἡμῖν, ὅτι τὸν υἱὸν αὐτοῦ τὸν μονογενῆ ἀπέσταλκεν ὁ θεὸς εἰς τὸν κόσμον ἵνα ζήσωμεν δι’ αὐτοῦ. Darin ist die Liebe Gottes unter uns er‐ schienen, dass Gott seinen einzigen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn leben. Joh-3,17 - οὐ γὰρ ἀπέστειλεν ὁ θεὸς τὸν υἱὸν εἰς τὸν κόσμον ἵνα κρίνῃ τὸν κόσμον, ἀλλ’ ἵνα σωθῇ ὁ κόσμος δι’ αὐτοῦ. Denn nicht sandte Gott den Sohn in die Welt, damit er sie richte, sondern damit die Welt gerettet werde durch ihn. Alle diese Stellen weisen eine gemeinsame sprachliche Struktur auf, indem sie Gott als Subjekt der Sendung Jesu nennen und diesen als Sohn bezeichnen. Die Sendung selbst wird mit einer Form des Verbes ἀποστέλλω (apostéllo/ senden) ausgedrückt. Und der daran anschließende Finalsatz deutet das Ziel der Sendung Jesu in seiner Bedeutung für die Glaubenden. Eine Variante dieser Tradition bietet Röm 8,3, denn statt [ex]apostellō/ [aus]senden) bietet Röm 8,3 pempō/ senden und damit ein Verb, das in den neutestamentlichen Schriften außer bei Paulus nur bei Joh verwendet wird, um die Sendung Jesu auszudrücken. Röm-8,3-4 - 3-… ὁ θεὸς τὸν ἑαυτοῦ υἱὸν πέμψας ἐν ὁμοιώματι σαρκὸς ἁμαρτίας καὶ περὶ ἁμαρτίας κατέκρινεν τὴν ἁμαρτίαν ἐν τῇ σαρκί 4 ἵνα τὸ δικαίωμα τοῦ νόμου πληρωθῇ ἐν ἡμῖν τοῖς μὴ κατὰ σάρκα περιπατοῦσιν ἀλλὰ κατὰ πνεῦμα. 3 … Gott sandte seinen Sohn in der Gleich‐ heit des Fleisches der Sünde - und wegen der Sünde verurteilte er die Sünde im Fleisch -, 4 damit die Rechtsforderung des Gesetzes unter uns erfüllt würde, die wir nicht nach dem Fleisch wandeln, sondern nach dem Geist. Die sprachlich-strukturelle sowie inhaltliche Übereinstimmung der genannten Stellen legt die Vermutung nahe, dass es sich hierbei um eine Tradition han‐ delt, die Paulus und Johannes rezipieren. Kramer spricht daher in Bezug auf die genannten Stellen von einer „Sendungsformel“ 4 , während Mußner sie als Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0004 72 Nadine Ueberschaer 5 Franz Mußner, Der Galaterbrief (HThKNT-9), Freiburg/ Basel/ Wien 2002, 272. 6 Das Adjektiv soterisch wird verwendet, wenn die heilvolle Wirkung der Sendung Jesu für die Glaubenden zum Ausdruck gebracht werden soll. Von Soteriologie wird hingegen gesprochen, wenn die paulinische und johanneische Konzeption sowie die von ihnen rezipierte Tradition bezeichnet wird. 7 Der vorliegende Artikel plädiert aufgrund von Textbeobachtungen dafür, das paulini‐ sche und johanneische apostolische Selbstverständnis auf der Grundlage der von beiden rezipierten vorpaulinischen Sendungssoteriologie zu verstehen. Damit werden keine Aussagen über den Apostel-Begriff in der Apg gemacht, dessen Bedeutung sich der spezifischen Intention des Lukas bzw. der von ihm rezipierten Quellen verdankt. Vgl. zum unterschiedlichen Apostolatsverständnis in den Schriften des Neuen Testaments auch Andrea Taschl-Erber, “Ich habe den Herrn gesehen“ ( Joh 20,18): ein geschlechts‐ spezifisches Apostolatskriterium? , in: PzB-14 (2005), 103-131. „vorpaulinisches Verkündigungsschema“ 5 bezeichnet. Da m. E. der Akzent auf der Sendung des Sohnes durch Gott in ihrer soterischen Wirkung für die Glau‐ benden liegt - darauf verweist der angeschlossene Finalsatz -, bezeichne ich die vorpaulinische Tradition als Sendungssoteriologie. 6 Diese vorpaulinische Sen‐ dungssoteriologie rezipieren Paulus und Johannes unabhängig voneinander und machen sie zum Ausgangspunkt ihres „apostolischen“ Selbstverständnisses. 7 2. Apostolischer Anspruch und Selbstverständnis bei Paulus In Röm 8 rezipiert Paulus die Sendungssoteriologie und verleiht ihr durch die Verwendung von „Fleisch“ und „Geist“ eine spezifische Interpretation, die sich vom unmittelbaren Kontext her erschließt. Denn in Röm 8,2 kontrastiert Paulus das Gesetz des Geistes, der in Christus Jesus Leben bedeutet, dem Gesetz der Sünde und des Todes. Was das meint, hatte Paulus in Röm 5-7 entfaltet. Der Mensch ist aufgrund seines Sünderseins unfähig, Gottes gutes, heiliges und gerechtes Gesetz zu erfüllen (Röm 7,12). Das Gesetz macht die Übertretungen des Menschen anrechenbar (vgl. Röm 5,13; 7,7-13). Indem der Mensch an Jesu Tod partizipiert, der die Sünde überwindet, stirbt er gegenüber der Sünde (vgl. Röm 6,2-11). Wie Jesus auferstanden ist, so lebt der Mensch in der Neuheit des Lebens (Röm 6,4), die ihm in der Gabe des Geistes zuteil wird (vgl. Röm 7,4). Paulus nutzt die vorpaulinische Sendungssoteriologie in Röm 8 dazu, zu sagen, dass Gott seinen Sohn in der Gleichgestalt des Sündenfleisches gesandt hat (Röm 8,3), damit der Rechtsanspruch des Gesetzes unter denen erfüllt sei, die nach dem Geist leben. Der Geist ist fortan das bestimmende Prinzip für das Leben und Handeln der Glaubenden. Er „treibt“ sie (Röm 8,14), so dass sich die Erfüllung des Gesetzes im Halten des Liebesgebotes realisiert (vgl. Röm 13,8-10). Wie im Gal zeichnet das Pneuma die Glaubenden als Kinder Gottes aus (Röm 8,14-17), was sich ihrer Teilhabe am Schicksal Jesu Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0004 Paulus, Apostel der Völker 73 8 Des Öfteren wird aufgrund des inneren Zusammenhangs zwischen dem Präskript des Röm und Röm 15 das apostolische Selbstverständnis des Paulus hieraus zu rekonstru‐ ieren versucht. Einen Überblick über verschiedene Forschungspositionen sowie im Anschluss daran einen eigenen Ansatz bietet Friedrich W. Horn, Das apostolische Selbstverständnis des Paulus nach Röm 15, in: ders., Paulusstudien (NET 22), Tübingen 2017, 249-270. verdankt. Denn schließlich ist auch Christus seit der Auferstehung der Toten nach dem Geist der Heiligkeit zum Sohn Gottes eingesetzt (Röm 1,4). Daher spricht Paulus in Röm 8,15 auch vom „Geist der Kindschaft“ und bezeichnet den Geist, der in den Glaubenden wohnt (Röm 8,9), als Pneuma dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat (Röm 8,11). Dem Geist kommt damit die Funktion zu, Gottes schöpferisches Handeln in der Auferweckung Jesu ebenso an den Glaubenden zu verwirklichen. Besonders deutlich wird dies in den Vv. 10 und 11. Sie sagen die gegenwärtige und zukünftige Funktion des Geistes aus: Gegenwärtig ist er Leben, d. h. das inaugurierte Auferstehungsleben der Glaubenden, von dem Paulus bereits in Röm 6 gesprochen hatte, während der Geist für das Eschaton die erwartete Auferstehung von den Toten verbürgt. Die Sendungssoteriologie nutzt Paulus also in Röm 8 dazu, die Partizipation der Glaubenden am soterischen Effekt des Todes und der Auferstehung Jesu zu verdeutlichen, indem er das Leben nach dem Fleisch dem Leben nach dem Geist gegenüberstellt. Aus dieser Sendungssoteriologie bzw. aus seinem Verständnis derselben leitet Paulus im Römerbrief sein Apostel-Sein ab. Das zeigt ein Blick auf Röm-1,1-5. 8 Auch hier verwendet er die Gegenüberstellung von „Fleisch“ und „Geist“ und bezeichnet sich als berufenen Apostel, der zum Evangelium ausgesondert ist, und zwar zu dem Evangelium über den Sohn, der nach dem Fleisch, also als Mensch, aus dem Samen Davids stammt, nach dem lebendig machenden Geist aufgrund seiner Auferstehung zum Sohn Gottes bestimmt ist. Paulus nimmt also eine Verhältnisbestimmung zwischen dem irdischen Jesus und dem Auferstandenen vor. Dazu trägt er in die in den Vv. 3-4 rezipierte Tradition die für ihn typische Formulierung „nach dem Fleisch“ und „nach dem Geist“ ein und damit dieselben Kategorien, mit der er die Sendungssoteriologie in Röm 8 interpretiert hatte. Wenn er in V. 5 dann im apostolischen Plural formuliert: „durch diesen Jesus empfingen wir Gnade und Apostolat“, dann ist das ein deutliches Indiz dafür, dass Paulus sein Selbstverständnis als Gesandter auf die Sendung Jesu durch Gott zurückführt, wie er sie in Röm 8 mit Hilfe der Sendungssoteriologie darlegt. Paulus versteht sich also als Gesandter des in die Welt gesandten Sohnes, an dessen soterischer Wirkung er als Kind Gottes durch die Gabe des Geistes teilhat. Als Kind Gottes ist er zugleich Sklave Christi Jesu, Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0004 74 Nadine Ueberschaer 9 Vgl. hierzu exemplarisch Michael Wolter, Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, Neukirchen-Vluyn 2011. wie es in Röm 1,1 heißt. Was das bedeutet, entfaltet Paulus in einem großen argumentativen Spannungsbogen von Röm 5,11-8,17: Er ist befreit aus der Sklaverei der Sünde und „in Christus“ dazu befähigt, sein Leben in den Dienst der Gerechtigkeit zu stellen. Auch in Gal 4,4-6 rezipiert Paulus die Sendungssoteriologie, um die Kind‐ schaft der Glaubenden zu begründen. Der soteriologische Zielpunkt der Sen‐ dung des Sohnes besteht also in der Aufnahme der Glaubenden in die Beziehung von Vater und Sohn. Weil sie Kinder Gottes sind, hat Gott den Geist seines Sohnes in die Herzen der Glaubenden gesandt. Deshalb rufen sie Gott als Vater an. Wenn nun Paulus in Gal 1,1 sagt, dass er Apostel durch Jesus Christus und Gott den Vater sei, dann wendet er die in der Sendungssoterio‐ logie vorausgesetzte Vater-Sohn-Relation als Sender und Gesandter auf sein Selbstverständnis an und bezeichnet sich als Gesandter von beiden. Damit bildet die Sendungssoteriologie wie im Röm so auch im Gal die Grundlage für das apostolische Selbstverständnis des Paulus. Deshalb kann Paulus auch sagen, er sei Apostel Christi Jesu durch den Willen Gottes (1 Kor 1,1; 2 Kor 1,1). Denn bei dem Syntagma apostolos Christou Jesu/ Apostel Christi Jesu handelt es sich wie bei dem Syntagma pistis (Jesu) Christou/ Christusglaube um einen Genitivus qualitatis, also um eine Kurzzu‐ sammenfassung für Jesu Sterben und Auferstehen und damit zugleich für die Sendung Jesu, wie sie die vorpaulinische Sendungssoteriologie thematisiert. 9 Deutlich sichtbar wird dies daran, dass Paulus das Syntagma „Apostel Christi“ Jesu in Röm 1,1 zugunsten der Formulierung „Apostel, ausgesondert für das Evangelium Gottes“, das Jesu Tod und Auferweckung zum Inhalt hat, auflöst. Damit gibt Paulus im Galater- und Römerbrief Einblick in sein Selbstver‐ ständnis als Apostel. Er selbst fühlt sich als Gesandter des von Gott gesandten Sohnes, der durch sein Tun Anteil hat an dem, was in den vorpaulinischen sendungssoteriologischen Formeln in dem Finalsatz ausgedrückt ist. Nun weiß Paulus auch, dass es noch weitere Apostelinnen und Apostel gibt, wie es auch die pluralische Formulierung in Röm 1,5 zeigt. Daher erwähnt er in seinen Briefen selbstverständlich Frauen und Männer, die er als Apostel be‐ zeichnet (vgl. 1 Kor 12,28), wie beispielsweise Junia und Andronikus (Röm 16,7) oder den Herrenbruder Jakobus (Gal 1,19). Aus seiner Verwendung geht damit auch hervor, dass es sich um keinen fest definierten Amtsbegriff handelt und Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0004 Paulus, Apostel der Völker 75 10 Vgl. dazu auch Jörg Frey, Das Selbstverständnis des Paulus als Apostel, in: Jens Schröter/ Simon Butticaz/ Andreas Dettwiler (Hg.), Receptions of Paul in Early Christianity. The Person of Paul and His Writings through the Eyes of His Early Interpreters (BZNW 237), Berlin/ Boston 2018, 115-142, hier 122f. kein fest definierter Personenkreis bezeichnet wird. Paulus versteht sich also als einer unter mehreren Aposteln. 10 Zum Problem wird dies erst, wenn er die Wahrheit des Evangeliums in Gefahr sieht. Das zeigt deutlich 2 Kor 11,4. Dort kritisiert er seine Adressaten, wenn er ironisierend sagt: Denn wenn einer kommt und einen anderen Jesus verkündigt, den wir nicht verkün‐ digten, oder ihr einen anderen Geist empfangt, den ihr nicht empfangen habt, oder ein anderes Evangelium, das ihr nicht aufgenommen habt, ertragt ihr das gut. Diejenigen, die einen anderen Jesus, einen anderen Geist und damit ein anderes Evangelium verkündigen, bezeichnet Paulus als Lügenapostel. Interessant ist dabei die Reihenfolge Jesus-Geist-Evangelium. Sie verweist zurück auf die Sendungssoteriologie. Denn wenn Paulus hier von Jesus ohne weitere christo‐ logische Hoheitstitel spricht, drückt er die Identität des Irdischen mit dem Auferstandenen aus, die auch für die Sendungssoteriologie zentral ist, und mit der Rede vom Geist deutete er die Tradition in Gal-4 und Röm-8 aus. Dabei dient insbesondere Röm 1 als Verstehenshintergrund und -hilfe. Denn so, wie dort die Auferstehung Jesu auf den Geist zurückgeführt wird, dient der Geist in der Ausdeutung der Sendungssoteriologie in Röm 8 dazu, das gegenwärtige und über den Tod hinaus bestehende Leben der Glaubenden zu begründen. Die Glaubenden haben folglich Anteil an der Sendung Jesu sowie dem aus seiner Auferstehung resultierenden Leben. Wird dieser Inhalt des Evangeliums seines Erachtens verfälscht, dann distanziert sich Paulus von anderen Apostelinnen und Aposteln. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch, weshalb Paulus die Galater daran erinnert, dass sie den Geist aus seiner Verkündigung empfangen haben (Gal 3,3.5). Der Hinweis auf den Geist-Empfang dient der Beglaubigung seiner Verkündigung als Gesandter, aber natürlich ebenso auch zur Beglaubigung seines apostolischen Selbstverständnisses. Denn schließlich ist es der Geist, den die Glaubenden als soteriologische Gabe aus der Sendung Jesu erhalten (Gal 4; Röm-8). Und noch etwas lässt sich aus der Verwendung der Sendungssoteriologie für das Apostel-Verständnis des Paulus ablesen. Paulus leitet sein Selbstverständnis als Apostel aus der Sendung Jesu ab, wie sie in der vorpaulinischen Sendungs‐ soteriologie vorliegt. Sein apostolischer Anspruch besteht darin, den soterischen Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0004 76 Nadine Ueberschaer 11 Vgl. Bernd Kollmann, B. Person, III. Die Berufung und Bekehrung zum Heidenmissionar, in: Friedrich W. Horn (Hg.), Paulus Handbuch, Tübingen 2013, 80-91, hier 83. Vgl. auch das Zitat von Jes-52,15 in Röm-15,20f. 12 Treffend formuliert Christine Gerber, C. Werk, III. Theologische Themen, 5.2.3 Das Apostolatsverständnis und die Beziehung von Apostel und Gemeinden zueinander, in: Horn (Hg.), Paulus Handbuch (s. Anm. 11), 416-420, hier 416: „Der Apostolat des Paulus ist begründet in seiner besonderen Berufung, und auch die Rolle, die er in den Gemeinden beansprucht, hängt an seiner Person. Ein allgemeines ‚Amtsverständnis‘ ist daraus nicht abzuleiten.“ Vgl. auch J. Frey, Das Selbstverständnis des Paulus (s. Anm. 10). Effekt der Sendung Jesu zu verkündigen, dem er seinem Selbstverständnis nach auch sein eigenes Apostel-Sein verdankt. Damit übernimmt Paulus als Apostel eine bestimmte Funktion, deren soteriologische Voraussetzung jedoch für alle Glaubenden gilt. Denn prinzipiell partizipieren alle Glaubenden an der soterischen Wirkung der Sendung des Sohnes. Das zeigt sich in Röm 8 daran, dass Paulus zwar einerseits seine Adressaten in der 2. Person Singular sowie in der 2. Person Plural direkt anspricht, andererseits jedoch in Röm 8,4 die Wirkung der Sendung des Sohnes auf für eine ihn als Apostel und seine Adressaten umfassende 1. Person Plural bezieht. Dasselbe lässt sich an Röm 1 beobachten. Denn obwohl Paulus sich selbst als Apostel „berufen“ und „ausgesondert“ für die Verkündigung unter den Völkern weiß und damit sein Apostel-Sein in Anleh‐ nung an die Sendung des Gottesknechts zu den Völkern und der Berufung eines Propheten darstellt, 11 ist er überzeugt, dass auch seine Adressaten „Berufene Jesu Christi“ (Röm-1,6) sind. 12 Es ist sicherlich kein Zufall, dass es ausgerechnet der Galater- und der Römerbrief sind, in denen Paulus einen Einblick in sein Selbstverständnis als Apostel bietet. Denn im Galaterbrief muss er sein Apostolat verteidigen und sich im Römerbrief als Apostel vorstellen. Ganz offensichtlich war die Sendungssoteriologie dabei eine für ihn tragende Grundlage. 3. Apostolischer Anspruch und Selbstverständnis bei Joh Auch die johanneischen Schriften bezeugen die vorpaulinische Tradition der Sendungssoteriologie. Dies zeigen vor allem Joh-3,17 und 1-Joh-4,9. In der Sendung Jesu erweist Gott seinen Heilswillen, den die johanneischen Schriften universal verstehen und zugleich in seiner Bedeutung für jeden einzelnen Glaubenden entfalten. Dazu wird sowohl im 1. Johannesbrief als auch im Evangelium die Lebensterminologie verwendet. Interessant ist dabei, dass die johanneischen Schriften wie Paulus für die Gabe des Lebens die Teilhabe der Glaubenden an Jesu Tod und Auferstehung voraussetzen. Deutlich wird dies in Joh 3,14f., wonach aus Jesu Hingabe in den Tod und seiner Erhöhung - in Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0004 Paulus, Apostel der Völker 77 13 Vgl. Gabi Kern, Größenwahn! ? (Vom Schüler und Lehrer) Q 6,40 (Mt 10,24- 25a/ Lk 6,40/ Joh 13,16; 15,20), in: Ruben Zimmermann (Hg.), Kompendium der Gleich‐ nisse Jesu, Gütersloh 2007, 68-75. 14 Zur Bedeutung der Sendung in Joh 13 vgl. Anni Hentschel, Die Weinstockrede Jesu und die missionstheologische Relevanz der gegenseitigen Liebe ( Joh 15.1-17), in: NTS 68 (2022), 392-406. 15 Vgl. zum Gebrauch des Verbes pempō Joh 4,34; 5,24.30.37; 6,38f.; 7,18.28; 8,18.26; 9,4; 12,44f.49; 13,20; 14,24. Joh das Synonym für seinen Kreuzestod und seine Auferstehung - die Gabe des Lebens in Christus resultiert ( Joh-3,15). Eine weitere Parallele zu Paulus besteht in Joh 3 darin, dass auch Joh die Antithese von Fleisch und Geist verwendet, um damit das kreatürliche Sein des Menschen mit einem pneumatischen Sein zu kontrastieren. Letzteres ist der Mensch infolge der Gabe des ewigen Lebens, die ihm in einem Akt der Neuschöpfung zuteil wird. Damit partizipieren auch nach Joh die Glaubenden am soterischen Effekt der Sendung Jesu, so dass es plausibel erscheint, dass auch für das vierte Evangelium die Sendungssoteriologie die Grundlage dafür bildet, dass sich die Glaubenden als Gesandte verstanden. Narrativ inszeniert das vierte Evangelium dies in besonderer Weise dadurch, dass so herausragende Zeugen wie Johannes der Täufer oder die Samaritanerin als „Apostel“ dargestellt werden. So heißt es von Johannes dem Täufer, dass er gesandt ist ( Joh 1,6.33; 3,28), und die Samaritanerin ist mit den zur Ernte ausgesandten Arbeitern in Joh-4,35f. zu identifizieren. Einen Einblick in das johanneische Selbstverständnis als Apostel gibt auch die Verwendung des Begriffs in Joh 13,16. Im Kontext der Erzählung von der Fußwaschung heißt es dort: „Ein Knecht ist nicht größer als sein Herr, und ein Apostel nicht größer als der, der ihn gesandt hat.“ Im Unterschied zur synoptischen Tradition (vgl. Lk 6,40/ / Mt 10,24) spricht Joh von einem Apostel und dem, der ihn sendet. 13 Noch eine weitere Differenz zur synoptischen Tradi‐ tion offenbart das johanneische „Sendungsbewusstsein“. In Joh 13,20 formuliert Joh im Unterschied zu Mk 9,37/ / Lk 9,48, dass wer den aufnimmt, den Jesus sendet, Jesus selbst aufnimmt, und wer Jesus aufnimmt, Gott als denjenigen, der ihn gesandt habe, aufnimmt. Nach Joh sind also sowohl Jesus als auch die Glaubenden Gesandte. Die johanneischen Glaubenden verstanden sich also selbst als Gesandte des Gesandten, in deren Wirken sich die Sendung Jesu fortsetzte ( Joh 13,15.17). Damit liegt eine weitere Analogie zum paulinischen Selbstverständnis als Apostel vor. 14 Erstmals verwendet Joh hier das Verb pempō/ senden mit Jesus als Subjekt, während er es ansonsten ausschließlich für Gott als Sendenden benutzte. 15 Das Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0004 78 Nadine Ueberschaer 16 Vgl. zum Verb apostellō Joh-3,34; 5,36; 7,29; 11,42. 17 Vgl. Joh-15,26; 16,7. 18 Taschl-Erber, „Ich habe den Herrn gesehen“ (s.-Anm.-7). Verb apostellō/ senden 16 hingegen dient Joh dazu, christologische Aussagen zu formulieren, die die aus Jesu Verhältnis zum Vater resultierende soteriologische Bedeutung des Sohnes beschreiben. In Joh 13, dem Auftakt zu den Abschiedsreden, die die nachösterliche Zeit der Glaubenden in besonderer Weise reflektieren, fungiert Jesus als Subjekt des Verbes pempō ebenso wie in den Parakletsprüchen. 17 Das ist ein Hinweis darauf, dass das Apostel-Sein der Glaubenden in Jesu eigener Sendung begründet ist und der Geist nachösterlich zum Merkmal ihres Dienstes als Gesandte wird. In Joh 20 sagt der Auferstandene zu seinen Schülerinnen und Schülern: „Wie mich der Vater gesandt hat, so sende auch ich euch“ ( Joh 20,21). Damit werden die Schülerinnen und Schüler zu ihrem Dienst autorisiert. Erneut lassen sich hier Parallelen zu Paulus beobachten. Dazu gehört zum einen das Motiv des Sehens ( Joh 20,20), mit dem Joh einen erzählerischen Rückbezug zum Bekenntnis der Maria von Magdala in Joh-20,18 herstellt. Dass ein Sehen des Herrn konstitutiv für das Verständnis der Sendung war, belegt sowohl die Tradition in 1 Kor 15 als auch die Aussage des Paulus in 1 Kor 9,1, mit der er um die Anerkennung seines Apostel-Seins wirbt. In 1 Kor 9,1 schreibt er: „Bin ich nicht Apostel? Habe ich nicht Jesus, unseren Herrn, gesehen? “ In 1 Kor 15 betont er das Sehen des Herrn als Legitimation und Autorisierung seines Apostel-Seins vor dem Hintergrund einer Tradition, die Kephas und den Zwölfen eine Erscheinung des Herrn attestiert. Paulus ergänzt sie um weitere Auferstehungszeugen und beschließt sie mit der Aussage „dann wurde er von allen Aposteln gesehen. Zuletzt aber von allen, wie einer Fehlgeburt, wurde er auch von mir gesehen“ (1 Kor 15,7f.). Paulus beansprucht damit, dass sein Apostel-Sein ebenso legitim und autorisiert ist, wie das der ersten Auferstehungszeugen. Indem Paulus die Tradition um weitere Apostel ergänzt und sich selbst hineinschreibt, argumentiert er dafür, dass Apostel-Sein auch denen möglich ist, die nicht zu den ersten Auferstehungszeugen zählen. Pointiert kommt dies in der Gegenüberstellung von „zuletzt“ und der Selbstbe‐ zeichnung des Paulus als Fehlgeburt (ektrōma) zum Ausdruck (V. 8). Denn was zumeist als Fehlgeburt bezeichnet wird, ist eigentlich eine Frühgeburt: Obwohl der Verfolger Paulus als Frühgeburt aus sich selbst heraus nicht lebensfähig gewesen wäre, befähigte Gott ihn aus Gnade zum Dienst als Apostel (Vv.-9f.). Es liegt daher nahe, dass Joh Maria von Magdala mit dem Motiv des Sehens als Apostelin 18 darstellt und im Anschluss an sie auch die übrigen Schüler. Das zeigt erneut ein Vergleich mit der synoptischen Tradition, in deren Ostererzählungen Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0004 Paulus, Apostel der Völker 79 das Sehen keine Rolle spielt. Allerdings ersetzt Joh das Kriterium des Sehens als apostolische Legitimierung durch das Glauben, wie die Seligpreisung derer zeigt, die glauben, ohne zu sehen ( Joh 20,29). Joh gibt damit Einblick in seine Entstehungszeit. Zum anderen zeigt die Rede vom Geistempfang ( Joh 20,22), dass das Wirken der Apostelinnen und Apostel im Geist ergeht, wie es sich bereits in Joh 13 beobachten ließ und eine Parallele zu Paulus darstellte. Weiter verdient die Verwendung der Verben Aufmerksamkeit. Denn während Jesu Sendung mit apostellō/ senden ausgedrückt wird, wird die Sendung der Glauben mit dem Verb pempō/ senden formuliert. Vor dem Hintergrund der Textbeobachtungen zur Verwendung der beiden Verben im Joh kann daher gesagt werden, dass hier in Joh 20 durch die differenzierte Verwendung der Verben das Zusammenwirken von Vater und Sohn bei der Sendung der Glaubenden ausgesagt wird, die wiederum die Sendung Jesu mit all ihren christologischen Implikationen zur Voraussetzung hat. Der Inhalt des apostolischen Wirkens erschließt sich aus Joh 17. Auch im Abschiedsgebet Jesu ist die Vorstellung der Sendung Jesu und der Glaubenden präsent. Der johanneische Jesus betet: „Wie du mich in die Welt sandtest, so sandte auch ich sie in die Welt“ ( Joh 17,18). Worin die Sendung Jesu besteht, erläutert Joh 17 mit der Rede vom ewigen Leben als Erkenntnis des einen und wahrhaftigen Gottes und seines Gesandten Jesus Christus (17,3). Dieses ewige Leben hat der Sohn vom Vater empfangen und an die Menschen weitergegeben. Interessant ist nun, dass in V. 8 an die Stelle der Rede vom ewigen Leben die Rede von den Worten Gottes tritt. Denn dort wird erneut das Verb „geben“ verwendet, nun aber nicht mehr in Bezug auf das Leben wie in V. 2, sondern auf die Worte Gottes. Das heißt, dass die Gabe des ewigen Lebens als Ziel der Sendung Jesu, mit den Worten Gottes identifiziert wird. Wenn nun die Glaubenden gesandt sind, so wie Jesus gesandt wurde, dann verwirklicht sich ihre Sendung, von der V. 18 spricht, in der Weitergabe des Wortes Gottes. Wie schon die Ablösung des Motivs vom Sehen als Kriterium apostolischer Legitimierung hin zum Glauben, so stellt auch die Konzentration auf die Worte Gottes als Inhalt des Gesandtseins eine Reaktion auf die nachösterliche Zeit dar. Die soterische Wirkung der Sendung Jesu verwirklicht sich nach Ostern in der Wortüberlieferung. Erneut besteht eine Analogie zu Paulus, der sich nach Röm 1 als ausgesondert zur Verkündigung des Evangeliums versteht. So wie Paulus damit das Hören des Glaubens bzw. den Glaubensgehorsam beabsichtigt (Röm 1,5), zeigt die Bitte in Joh-17 für diejenigen, die durch das Wort der johanneischen Apostelinnen und Apostel glauben, dass auch nach Joh die apostolische Verkündigung darauf zielt, Glauben hervorzurufen (vgl. Joh-17,20f.). Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0004 80 Nadine Ueberschaer 4. Fazit Der Römerbrief gibt das apostolische Selbstverständnis des Paulus zu erkennen, weil die innere Korrelation zwischen der vorpaulinischen Sendungssoteriologie in Röm 8,3-4 und der Selbstvorstellung des Apostels in Röm 1,1-7 erlaubt, eine traditionsgeschichtliche Herleitung und die daraus resultierende Verwendung und inhaltliche Füllung des Apostel-Begriffs bei Paulus aus der Sendungsso‐ teriologie heraus zu erklären. Dabei fungieren sowohl der Gal als auch die johanneischen Schriften als bekräftigende Argumente für diese Annahme. Denn der Gal weist die Sendungssoteriologie gleichermaßen auf, und auch hier zeigt sich eine inhaltliche Korrelation zum in Gal 1 formulierten Selbstverständnis des Paulus als Apostel. Der 1 Joh und das Joh wiederum bieten ebenfalls die Sendungssoteriologie und machen sie wiederum zum Ausgangspunkt des Selbstverständnisses der Glaubenden als Gesandte, indem sie die eigene Sen‐ dung in Analogie zur Sendung Jesu verstehen. Paulus und Joh geben damit einen Einblick in die frühchristliche Theologiegeschichte und geben zu erkennen, wie sich der Begriff Apostel im frühen Christentum etablieren konnte. Sie zeigen, dass die Ausdrücke apostolos (Apostel) bzw. apostolē (das Apostolat) keine „Amtsbezeichnungen“ sind, sondern offene Begriffe, die sich aus der Sendung des Gesandten herleiten. Daher findet sich die Bezeichnung Apostel auch bei den Synoptikern, auch wenn er dort andere Aspekte umfasst. Nadine Ueberschaer studierte Evangelische Theologie in München und Tübingen. Sie wurde an der UZH Zürich promoviert. Nach Vikariat und Probedienst in der Evangelischen Landeskirche in Baden war sie von 2020-2023 Juniorprofessorin an der Eberhard Karls-Uni‐ versität Tübingen. Seit Sommersemester 2023 ist sie Ju‐ niorprofessorin für Neues Testament an der Universität Greifswald. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Paulus, Johannes und die Synoptiker. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0004 Paulus, Apostel der Völker 81 Kontroverse Enthält Röm-1-3 paulinische Theologie? Zur Beurteilung des Beginns des Römerbriefes als schlechte Theologie Einführung in die Kontroverse Jan Heilmann Die Kontroverse zwischen dem Jenaer Neutestamentler Manuel Vogel und Douglas Campbell von der Duke Divinity School entzündet sich an Campbells Beurteilung von Röm 1,18-3,20 als schlechte Theologie („bad theology“). Camp‐ bells Beurteilung nimmt ihren Ausgangspunkt in der Beobachtung, dass „natür‐ licher Theologie“ in Röm 1,19-21 eine begründende Funktion zukomme und der Bekenntnisaussage in 1Kor 1,17-2,16 zu Jesus als dem Herrn widerspreche, da hier in Röm 1 eine Zugänglichkeit Gottes „vom Standpunkt der rationalen Betrachtung des Kosmos“ behauptet und eine von der Offenbarungswahrheit Christi unabhängige Wahrheitsquelle postuliert würde. Gott werde aus dieser rationalistischen Betrachtungsweise von Röm 1 zu einem Gott, der politisch handelt und dessen Beziehung zu den Menschen rechtlich, also durch Gesetz und Werke bestimmt ist. Für die Christologie folge daraus eine problematische Engführung des Kreuzes als exekutiven Akt Gottes. Diese Theologie habe nicht zuletzt durch ihre Wirkungsgeschichte ihren Charakter als „bad theology“ er‐ wiesen, und zwar dann, wenn die Kirche „in vielen der traurigsten Augenblicke ihrer Geschichte den Willen Gottes mit dem Willen eines einzelnen Staates (oder Stammes oder Königtums) identifiziert.“ Die Pointe von Campbells Portrait der Theologie von Röm 1-3 folgt in einer Fußnote. Sie stammt nicht im eigentlichen Sinne von Paulus, sondern ist als Negativbeispiel einer schlechten Theologie zu verstehen, die der Theologie eines legalistischen Gegners entspricht, von der Paulus sich abgrenzt und vor deren Hintergrund er seine eigene im Folgenden des Römerbriefes entwickeln wird. Diese Position hat Campbell in seinem 2009 erschienen Buch “The Deliverance of God: An Apocalyptic Rereading of Justification in Paul” ausführlich dargelegt. Die Vorlage der Kontroverse lautet also: Enthält Röm 1-3 überhaupt paulinische Theologie? Manuel Vogel bejaht diese Frage und liest den gesamten Römerbrief inklu‐ sive Kapitel 1-3 als ipsissima vox des Paulus. Zwar konzediert auch Vogel Widersprüche in den ersten drei Kapiteln des Römerbriefes. Er argumentiert aber, dass diese sich vor dem Hintergrund der Theologie des Paulus dialektisch plausibilisieren ließen. Wir wünschen den Leserinnen und Lesern eine spannende Lektüre von zwei zugespitzten Kontroversbeiträgen, die Röm 1-3 nicht nur mit Martin Luther und Karl Barth lesen und die paulinische Argumentation mit einem Magnet und Eisenspänen erklären, sondern auch interessante (und seltene) Einblicke in die Examenserfahrungen eines der beiden Kontroverspartner geben. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0005 84 Jan Heilmann 1 Deutsche Übersetzung aus: Horst Beintker/ Helmar Junghans/ Hubert Kirchner (Hg.), Martin Luther Taschenbuchausgabe. Auswahl in fünf Bänden, Bd. 1: Die Botschaft des Kreuzes. Bearbeitet von Horst Beintker, Berlin 1981, 20-38. 2 Insbesondere mit denjenigen Schriften, die er nach seiner wichtigen Wende ab 1932 verfasste; vgl. hierzu Christoph Schwöbel, Art. Theology, in: John Webster (Hg.), The Cambridge Companion to Karl Barth, Cambridge 2000, 17-36, v.-a.-28f. 3 Tatsächlich hat Paulus in praktischer Absicht höchst situationsbezogene Briefe ge‐ schrieben. Er hat seine Theologie niemals für den kirchlichen Gebrauch systematisch dargelegt. Dies namentlich für Röm-1-3 anzunehmen, wäre anachronistisch. Warum Röm 1-3 schlechte Theologie ist Douglas A. Campbell In der Heidelberger Disputation, Thesen 19-21, hat Luther zwei Arten von Theologie unterschieden, eine theologia gloriae und eine theologia crucis: 19. Der ist es nicht wert, ein Theologe genannt zu werden, der Gottes ,unsichtbaresʻ Wesen ,durch seine Werke erkennt und verstehtʻ (Röm-1,20; vgl. 1Kor-1, 21-25). 1 20. Aber der (verdient ein rechter Theologe genannt zu werden), der das, was von Gottes Wesen sichtbar und der Welt zugewandt ist, als in Leiden und Kreuz sichtbar gemacht begreift. 21. Der Theologe der Herrlichkeit nennt das Schlechte gut und das Gute schlecht. Der Theologe des Kreuzes nennt die Dinge, wie sie wirklich sind. Röm 1-3 wird - jedenfalls nach einer weit verbreiteten Interpretation - als eine theologia gloriae gelesen. Es ist lohnend, dass wir uns klar machen, wie dies genau geschieht, denn der Charakter dieser Interpretation als theologia gloriae wird weithin überhaupt nicht gesehen. Hierbei kommt uns Karl Barth zur Hilfe 2 und ebenso Martin Luther. Mit einer Lektüre von Röm 1-3 als einem Stück systematischer Theologie von des Paulus eigener Hand handeln wir und drei Bündel an Problemen ein: 3 4 Barth wird in diesem Punkt häufig missverstanden. Er hat nichts gegen den Rückgriff auf natürliche Theologie, solange ihr keine fundamentaltheologische Qualität zuge‐ schrieben wird, wenngleich er ihren Nutzen für begrenzt ansieht. Was er allerdings ablehnt, ist ihre Begründungsfunktion. 5 Barth hat dies in KD II/ 1,1ff. pointiert ausgeführt. 1. Probleme aufgrund einer Lektüre von Röm 1 als selbstevidenter theologischer Ausgangspunkt Theologie ist im Wesentlichen schlicht Rede über Gott oder „Gottesgespräch“. Als solche hat sie akkurat zu sein. Wahre Sätze über Gott zu bilden, ist außerordentlich wichtig. Und Röm 1-3 gründet sein Gottesgespräch in einer selbstevidenten Wahrnehmung von Gottes Existenz und seiner Natur aufgrund des Nachdenkens über den Kosmos (1,19-21). „Natürliche Theologie“ hat hier eine begründende Funktion. 4 Hieraus ergeben sich einige zumeist unbemerkte, jedoch äußerst problematische Folgerungen: Erstens wird die Wahrheit der Aussage „Jesus ist Herr“ zurückgewiesen, marginalisiert und untergraben. Wie Barth sehr deutlich gezeigt hat, muss die Wahrheit des Satzes, dass Jesus Herr ist, in der Hand des Herrn liegen. Zu seinem Anspruch Herr zu sein, gehört auch der Anspruch, dass er die Wahrheit ist und Herr über jedwede andere, davon abgeleitete Wahrheit. Also kann der Anspruch, dass Jesus der Herr ist - womit die Kirche steht und fällt - nur wahr sein, wenn der Herr offenbart hat, dass sich dies so verhält. Und er hat es offenbart! Die heilige Geistkraft hat ihr Volk angerührt und die Wahrheit des auferweckten Sohnes offenbart, der zur Rechten Gottes ist, und hat uns in ihre Gegenwart eingeladen. Dieser Anspruch ist also keine Abstraktion. Er ist Tatsache. Und jedes wahre, daran anschließende Gottesgespräch ergibt sich daraus, dass wir unser Bekenntnis zu Jesus als dem Herrn gedanklich durchdringen und die Struktur seiner inneren Wahrheit als trinitarisches Offenbarungsgeschehen verstehen. 5 Paulus war sich dessen seinerseits sehr bewusst. Die in 1Kor 1,17-2,16 formulierte Wahrheit des paulinischen Evangeliums macht dies hinreichend deutlich. Im Lichte dieser fundamentalen Bekenntnisaussagen wird ersichtlich, dass der Ausgangspunkt des Gottesgesprächs in Röm-1 sich hiervon auf fatale Weise unterscheidet. Wird behauptet, dass die elementaren Wahrheiten über Gott von einem anderen Standpunkt aus zugänglich sind, nämlich vom Standpunkt der ratio‐ nalen Betrachtung des Kosmos, dann wird das Ensemble der entscheidenden Wahrheitskriterien, ja, die Wahrheit selbst, in das Urteilsvermögen dieses rationalen Betrachters verlegt. Dieser ist es nun, der über die Wahrheit Gottes entscheidet. Diese Wahrheit liegt nun in den Händen dieses Betrachters, der uns in einem philosophischen Habitus entgegentritt. Christus ist dann nicht Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0006 86 Douglas A. Campbell 6 Vgl. Thomas F.-Torrance, Space, Time, and Resurrection, Edinburgh 1976, v.-a.-64. 7 Vgl. hierzu nochmals Schwöbel, Theology (s.-Anm.-2). 8 Das Wirken des Bösen besteht nicht zuletzt in der Manipulation unserer armseligen Ur‐ teile, mit den entsprechenden schrecklichen Konsequenzen, etwas, das Paulus „Satan“ und „die Mächte“ nennt; vgl. etwa 2Kor-11,3. 9 Röm-10,3f. länger die Wahrheit bzw. Herr der Wahrheit. Das Herrsein Christi wird damit bestritten. In der Konsequenz wird ein Bereich von Wahrheitsbehauptungen über Gott vor und unabhängig von der durch Christus offenbarten Wahrheit über Gott etabliert. Die Rolle Christi wird marginalisiert. Er ist dann nicht länger Herr (Der rationale Betrachter gerät damit in die Position eines „funktionalen Markionismus“ 6 ). Innerhalb dieses begrenzten Bereichs wird Christus außerdem vorgängigen Wahrheitsurteilen untergeordnet. Er wird einer Kontrolle unter‐ worfen und seine Offenbarung der göttlichen Natur wird auf diese Weise unterlaufen (und wir werden gleich verdeutlichen, wie dies unser Verständnis von Röm-1 beeinträchtigt). Der theologische Modus zu Beginn von Röm 1 beraubt die Offenbarung ihrer ursprünglichen Stellung zugunsten einer anthropozentrischen, rationalen Betrachtung. Die ganze Bewegungsrichtung der Wahrheit Gottes, wie sie uns aus der Bibel geläufig ist, wird in der Weise umgekehrt, dass nun menschliche Wesen zu Gott hin fortschreiten und nicht mehr Gott sich zur Menschheit hinneigt (diese Umkehrung ist freilich der aufgeklärten Moderne sehr vertraut 7 ). Machen wir uns klar, wohin wir gelangt sind: Alle Aussagen über Gott im Gefolge des in Röm 1 markierten Ausgangspunktes unterliegen nicht der Erkenntnis, die uns durch Jesus, in dem Gott in Person unter uns weilte, eröffnet wurde. Vielmehr wurde diese Erkenntnis geleugnet, marginalisiert und unterlaufen. Das christologische Kriterium unseres Gottesgesprächs ist uns abhandengekommen. Wenn wir aber Gottes ultimative Selbstkundgabe über sein eigentliches Wesen zurückweisen und die Formulierung von Aussagen über das Wesen und Wirken Gottes selbst in die Hand nehmen, dann machen wir uns selbst zu den Urhebern und Autoren dieser Aussagen (gewiss nicht ohne ein Mitwirken böser Mächte, wie Paulus ergänzen würde 8 ). 9 Wir sind, kurz gesagt, dem Götzendienst anheimgefallen. Und dieser Götze wird jedwedes weitere Gottesgespräch kontrollieren, einschließlich der Ekklesiologie, Ethik und Politik, wo sich der entstandene Schaden üblicherweise zuerst bemerkbar macht. Wir haben dann den Gott der Selbstoffenbarung Gottes gegen einen Gott aus eigener Fertigung eingetauscht. Die Frage lautet nun: Was für einen Gott finden die Betrachter von Röm-1 im Kosmos vor? Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0006 Warum Röm 1-3 schlechte Theologie ist 87 10 Diese Attribute sind nicht notwendigerweise falsch. Problematisch ist aber ihre Funk‐ tion in dieser fundamentalen Position. Und sie bedürfen der christologischen Neufas‐ sung. Besonders der Gerechtigkeitsbegriff ist konsequent von der Christusoffenbarung her zu erschließen. 11 Politische Bildspender sind in biblischen Aussagen über Gott geläufig, die Frage ist aber, ob es sich hierbei um eine Leitmetapher handelt, die alle anderen Bildelemente determinieren darf. Vom Standpunkt der Christusoffenbarung aus ist diese Frage vehement zu verneinen. 12 Liebe ist nicht an Bedingungen geknüpft, ebenso wenig der (richtig verstandene) bibli‐ sche „Bund“; vgl. James B. Torrance, Covenant or Contract. A Study of the Theological Background of Worship in Seventeenth-Century Scotland, in: SJT 23 (1970), 51-76. Stellt man dies in Rechnung, ergeben sich für die Auslegung erhebliche Spannungen zwischen Röm-1-3 und Röm-5ff. 13 Die hier maßgebliche Ethik ist primär deontologisch und regelbasiert. 2. Probleme, die sich aus diesem Ausgangspunkt in Röm-1 ergeben Röm 1 stellt klar, dass jeder, der den Kosmos zum Gegenstand einer rationalen Betrachtung macht, auf eine Gottheit stößt, die fünf Eigenschaften und mo‐ ralische Belange aufweist: (1) Allmacht, (2) Unsichtbarkeit, verbunden mit der Verpflichtung zur bildlosen Anbetung, (3) retributive Gerechtigkeit, (4) He‐ teronormativität und (5) generell positive Beziehungen bzw. Prosozialität. 10 Offenkundig wird Gott hier als Gesetzgeber und Gesetzeshüter gesehen, als Herrscher und als Richter der Vergeltung, ganz so wie in prämodernen Staaten Monarchen exekutive und legislative Vollmachten in ihrer Person vereinten. Der rationale Betrachter von Röm 1 findet einen essentiell politischen Gott, der in Analogie zu staatlichem Handeln verstanden wird. 11 Daraus folgt, dass die Beziehung zwischen Gott und der Menschheit wesent‐ lich rechtlich bestimmt ist. Die Menschheit wird regiert nach der vertraglichen Maßgabe von Gesetzen und Werken, was bedeutet, dass diese Beziehung nicht mehr als liebevolles Bundesverhältnis aufgefasst werden kann. 12 Wenn bestimmte Vertragsbedingungen sorgfältig erfüllt sind, obliegt es Gott, diesen Gehorsam mit Leben zu belohnen. Werden sie dagegen missachtet, wird Gott dies bestrafen, gegebenenfalls mit dem Tod (1,32; 2,6-10). Dem liegt die unumstößliche Überzeugung zugrunde, dass dem Übertreter in der Weise staatlichen Handelns Schaden zugefügt werden muss. Weisen des Umgangs mit Schädigungen, die das Vergeltungsprinzip außer Kraft setzen und stattdessen auf Wiederherstellung und Rehabilitation zielen, sind dann zugunsten einer Pflichten- und Tugendethik ausgeschlossen. 13 Die Auswirkungen dieser Denkweise auf die Christologie sind verheerend. Jesu Tat für uns wird nun innerhalb eines festgefügten Vorstellungsrasters Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0006 88 Douglas A. Campbell 14 Soteriologie wird hier auf stellvertretende Sühneleistung beschränkt. 15 Die Kirchenväter haben sich mit diesem Problem herumgeschlagen; vgl. Thomas D. McGlothlin, Resurrection as Salvation. Development and Conflict in Pre-Nicene Paulinism, Cambridge-2017. 16 Vgl. Kathleen M. Coleman, Fatal Charades: Roman Executions Staged as Mythological Enactments, in: JRS 80 (1990), 44-75, und Joel Marcus, Crucifixion as Parodic Exaltation, in: JBL-125 (2006), 73-87. 17 Vgl. die glänzende Darstellung bei George Lakoff, Moral Politics, Chicago 3 2016 (1996), der von einer „strikten Vater-Moral“ spricht. 18 In der Propaganda des Ukraine-Krieges wird im Dienst der Gewalt in großem Um‐ fang theologische Sprache verwendet; vgl. den Artikel „The intensity is increasing“, in: The Guardian vom 27. Mai 2023 (https: / / www.theguardian.com/ world/ 2023/ may/ 27/ first-operations-in-ukraine-counteroffensive-have-begun-says-top-official? fbclid=I wAR1iy3lyxsOug8Uxm62gRLLVqtkHMQV_zxT4C-B4gICMnvY_-30Dlmxrx7c; letzter Zugriff am 09.01.2024); ausführlicher und eindringlich hierzu Nicholas Denysenko, The Church’s Unholy War. Russia’s Invasion of Ukraine and Orthodoxy, Eugene 2023. begriffen, bevor er überhaupt erschienen ist (Röm 1-3 erwähnt Christus nur ein einziges Mal flüchtig, und das in einer durch den Kontext eingeschränkten Rolle; vgl. 2,16). Er muss Gottes gerechte Strafe auf sich nehmen, und das warʼs. 14 Das Kreuz ist nun der Mittelpunkt des göttlichen Rettungshandelns. Die Auferweckung wird dann soteriologisch überflüssig und kann ethisch nur mit Mühe als irgendwie bedeutsam erwiesen werden. 15 Und Gott wird die Kreuzigung dann sozusagen für gut und rechtens erklären! Damit aber wird Gott in gewisser Weise mit den gegen Gott in Person gerichteten Untaten des römischen Staates identifiziert. Machen wir uns klar, dass die Kreuzigung nicht einfach eine Methode der Exekution war. Es war ein demütigendes, öffentliches Spektakel, vollführt an einem Menschen ohne jeden sozialen Status, der für seinen Ungehorsam dem Staat gegenüber langsam zu Tode gequält wurde. 16 Wir haben, wenn wir uns diese Sicht zu Eigen machen, Böses gut genannt. Es empfiehlt sich, für einen Moment darüber nachzudenken, dass christliche Identität nun im Grunde in der Loyalität gegenüber autoritären Strukturen besteht, die ihrerseits einer Logik der Vergeltung folgen und (verhältnismäßig) gewaltsam sind. Diese Strukturen bestimmen dann auch das Handeln der Kirche und das Leben der Familie und der Nation. 17 Und es dürfte klar sein, dass die Kirche dann auch sehr anfällig für ethnische und politische Vereinnahmung ist. Die Kirche hat in vielen der traurigsten Augenblicke ihrer Geschichte den Willen Gottes mit dem Willen eines einzelnen Staates (oder Stammes oder Königtums) identifiziert. Sogenannte heilige Kriege führten in Europa erst jüngst wieder zu ethischen Säuberungen - durch Serbien in benachbarten Regionen im Namen der Orthodoxie, mit einer Sprache, die, während ich dies schreibe, im Krieg in der Ukraine von beiden Seiten verwendet wird. 18 Auf das Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0006 Warum Röm 1-3 schlechte Theologie ist 89 19 Vgl. die treffende Darstellung bei Alan J. Torrance/ Andrew B. Torrance, Beyond Immanence, Grand Rapids 2023. 20 Vgl. hierzu die erhellenden Arbeiten von Stanley Hauerwas. Charles Pinches verdanken wir eine nützliche Einführung in Hauerwasʼ umfangreiches Werk: Why Church Mat‐ ters. The Political Theology of Stanley Hauerwas, in: The Political Science Reviewer 46 (2022), 299-327. 21 Man denke nur an die unermüdliche Unterstützung von 85% der weißen Evangelikalen für Trump; vgl. https: / / www.pewresearch.org/ short-reads/ 2021/ 08/ 30/ most-white-am ericans-who-regularly-attend-worship-services-voted-for-trump-in-2020/ (Letzter Zu‐ griff am 09.01.2024). Ganze der Kirchengeschichte gesehen ist dies keineswegs ein Einzelfall. Und wir wissen nun, instruiert nicht zuletzt durch die prophetischen Äußerungen Karl Barths zu den beiden Weltkriegen, wo wir die tiefsten Ursachen für diese Vereinnahmung zu suchen haben. 19 Eine Kirche, die sich der christologischen Korrektur verschließt und statt‐ dessen einer angeblich selbstevidenten politischen Auffassung von Gott das Wort redet, ist unfähig, die machtvolle Abwärtsspirale hin zum Bösen zu kontrollieren oder überhaupt nur wahrzunehmen, in die man durch eine Identifikation von Nationalismus etc. und Gott gerät. Barth ist nach den Jahrzehnten des Kampfes und des Schreckens zu der Einsicht gelangt, dass nur ein tiefes Gegründetsein in und mutiges Vertrauen auf den Gott, der sich durch seinen gekreuzigten Sohn offenbart hat, in die Lage versetzt, die machtvolle und leidenschaftliche Anziehungskraft autoritärer, nationaler und völkischer Identitäten aufzudecken und ihr zu widerstehen. 20 (Ich lebe in den USA und muss täglich die Realität und Stärke dieser toxischen Dynamik erfahren 21 ). Es gibt aber noch eine weitere problematische Dimension dieser Theologie, der wir uns nun noch zuwenden müssen. 3. Die Definition des nichtchristlichen Anderen Röm 1-3 bringt wie jede Theologie, die auf einem erkenntnistheoretischen Fundamentalismus fußt, einen Begriff von Erlösung hervor, der vom Problem zur Lösung fortschreitet. Ansatzpunkt dieser Theologie ist der allen einsichtige Naturzustand, Zielpunkt jedoch die Kirche, in welcher sie von Christen propa‐ giert wird. Der Gang der Argumentation muss Individuen von ihrer natürlichen Ausgangsposition aus zur Akzeptanz des Evangeliums bewegen. Dazu muss etwas unbezweifelbar Evidentes über den eigenen unerlösten Status ihnen unabweisbar und dringlich nahelegen, dass sie sich bekehren, Christen werden und der Kirche beitreten, nun mit der Verpflichtung, bestimmte Bedingungen zu Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0006 90 Douglas A. Campbell 22 Eine Auffassung, der in Röm-5,1-11; Eph-1,4; 3,14-19 u.-ö. widersprochen wird. 23 An diesem Punkt stellen sich eine Menge Fragen, was Paulus denn genau meint, wenn er von Glauben spricht. Für einige Hinweise zu einer christozentrischen Antwort vgl. meine Pauline Dogmatics, Grand Rapids 2020, 297-326. 24 New Haven 2010. erfüllen (denn die Beziehung zu den Erlösten bleibt ja, wie wir sahen, wesentlich vertragsförmig und nicht von Liebe bestimmt 22 ). Röm 1-3 erzeugt diesen Druck durch die Betonung der harten Seiten eines Gottes der Vergeltung in Verbindung mit der Prämisse individueller Sünde, die angeblich so abscheulich wie selbstevident ist und für Nichtchristen unweiger‐ lich zu endgültiger Bestrafung führt. Der Gott der retributiven Gerechtigkeit wird am Ende der Zeit alle Übeltäter mit dem Tode bedrohen (2,9) - oder schlimmer! Und die Angst, die diese Perspektive auslöst, sollte kluge Individuen dazu motivieren, das Heilsangebot des Evangeliums zu ergreifen, das entspre‐ chend dem Gedankenfortschritt des Römerbriefes im richtigen Moment zu den nun auf einmal ganz simplen Bedingungen des Glaubens zu haben ist, so 3,21ff. 23 Aber diese Person wird nun von ihrer Natur her in Anbetracht dieser Abfolge konsequenterweise als Krimineller verstanden, als kosmischer Straftäter, als unbußfertige, unerlöste Person, als widerspenstiger, ungehorsamer Übeltäter, der ein furchtbares Schicksal verdient. Man kann sich wohl kaum ein evange‐ listisches Programm vorstellen, das anfälliger wäre für Kolonialismus. Man stelle sich vor: Eine derartige Predigt im Munde eines weißen viktorianischen Missionars in Natal. Ein solcher Missionar wird, wie Christen überhaupt, notwendigerweise rational und moralisch denken, denn er hat seine eigene unerlöste Situation erkannt und sich bekehrt. Aber wie wird er von den Zulus denken? Unter dem Vorbehalt ihrer eigenen Bekehrung müssen sie als irrationale, immoralische, heidnische Götzendiener gelten, und jedwede Strafaktion gegen sie in Entsprechung zu derjenigen Gottes erscheint dann als gerechtfertigt. Die Vertreibung der Zulus von ihrem Land oder ihre Versklavung ist dann rechtens, zumal dann, wenn sie sich nicht zum Christentum bekehren (Diese „kranke Einbildung“ hat Willie Jennings in seiner meisterhaften Studie The Christian Imagination beschrieben. Er zeigt darin auch, wie solche negativen Konstruktionen des Anderen oft in Lehren von der Schöpfung zu finden sind, die wie in Röm-1-3 keiner christologischen Kontrolle unterliegen 24 ). Aus Raumgründen kann ich hier nur andeuten, dass dieser kolonialen Haltung eine unheilvolle dämonisierende Tendenz zu eigen ist, eine Tendenz, verzerrte Bilder von Minderheiten zu erzeugen und diese Minderheiten dann zu unterdrücken. Nicht minder verstörend ist aber im Rahmen unseres Themas, wie der paulinische Text selbst zu einer solchen Konstruktion des nichtchristlichen Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0006 Warum Röm 1-3 schlechte Theologie ist 91 25 E.-P. Sanders, Paul and Palestinian Judaism, Philadelphia 1977. Anderen beiträgt. Röm 2 richtet sich auf weite Strecken an einen Juden. Wenn man diese Passagen als eine Erörterung darüber liest, wie ein Individuum im Fortschreiten von einer unbezweifelbaren Notlage hin zu einer christlichen Lösung gerettet werden kann, zahlt man einen hohen Preis. Denn die Juden werden dann geradezu zum Typus jener vorchristlichen Daseinsweise, an deren Ende Gott den Übeltätern ihre Taten verdientermaßen mit einer Bestrafung vergilt. Juden handeln, so verstanden, legalistisch und rein zweckorientiert - sie wollen sich den Eintritt in den Himmel erarbeiten - und ihre heiligen Schriften sind ein „Gesetz“. Sie sind aber auch sündig. Also wird jeder rational und moralisch denkende Jude, wenn er die christliche Botschaft hört, das Gesetz aufgeben und sich zum Glauben an Christus bekehren. Die Definition dessen, was ein Jude ist, ist dann ebenso unbezweifelbar wie die rationale und moralische Notwendigkeit, das so definierte Judesein aufzugeben und ein Christ zu werden. Die Darstellung „des Juden“ in Röm 2 steckt voller problematischer Annahmen, für deren Kritik hier bei weitem der Platz nicht reicht. In Kürze nur so viel: Es ist historisch nachgerade lächerlich anzunehmen, dass allen Juden zu allen Zeiten und an allen Orten eine solche angeblich typisch jüdische Werkgerechtigkeit zu eigen war, wie bereits eine oberflächliche Lektüre des Alten Testaments hinreichend deutlich macht. Diese Annahme ist aber auch im Blick auf spätere jüdische Quellen unfair, die eine solche Mentalität schwerlich erkennen lassen (E. P. Sanders hat gezeigt, dass die Rabbinen und ihre Vorgänger eine völlig andere Soteriologie vertraten, die er „Bundesnomismus“ nennt. Auch wenn man seiner Sicht gewisse Einseitigkeiten vorwerfen mag, bleibt an den Ergebnissen seiner Untersuchung 25 doch gültig, dass die Theologie von Röm 1-3 für das zeitgenössische Judentum keineswegs repräsentativ ist). Außerdem verhielte es sich dann so, dass Gott ein Volk ins Dasein gerufen hätte - ein Volk, dem wir 80% der Bibel verdanken - nur um es von der Notwendigkeit seines Verschwindens zu überzeugen. Abermals eine abwegige Vorstellung! So verstanden wären die Juden merkwürdig irrelevant. Denn Juden würden sich dann ja in allen wesentlichen Merkmalen von Individuen, die Gottes Natur und Moral anhand des Kosmos erkennen, in nichts unterscheiden (vgl. 2,12-16.26- 29). Diese Auffassung bestreitet, was in der Bibel immer wieder behauptet wird: dass die Juden ein besonderes Volk sind, berufen, im Einklang mit dem ihnen offenbarten, heiligen Gotteswillen zu leben. Doch über all das hinaus werden wir schließlich mit der Tatsache kon‐ frontiert, dass diese Darstellung jeden widerspenstigen, ungläubigen Juden zu‐ tiefst negativ charakterisiert und Vergeltungsmaßnahmen gegen ihn befürwortet. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0006 92 Douglas A. Campbell 26 Gewiss kann der Holocaust nicht direkt der Kirche angelastet werden, aber ohne die jahrhundertelange christliche Judenfeindlichkeit wäre der vom Nationalsozialismus propagierte Antisemitismus nicht möglich gewesen. Vom allgemeinen Judenhass eines Großteils der europäischen Kultur gilt, dass sie wesentlich zum Funktionieren der „Endlösung“ beigetragen hat; vgl. etwa Irving Greenberg, Cloud of Smoke, Pillar of Fire. Judaism, Christianity and Modernity after the Holocaust, in: Eva Fleischner (Hg.), Auschwitz. Beginning of a New Era? Reflections on the Holocaust, New York 1977, 7-55. 27 In Bergmans Film „Das siebente Siegel“ aus dem Jahr 1957 geht es um ein Schachspiel mit dem Tod. Juden, die sich nicht bekehren, gelten wie andere Nichtchristen als irrational, unmoralisch und, wenn sie andere in dieser Weise belehren, heuchlerisch, und all dies zusätzlich zu ihrer merkantilen Auffassung von Erlösung auf dem Wege der Anhäufung Verdiensten durch Werke. Solchen Ungläubigen droht am Ende der Tage als gerechte Strafe die Vernichtung oder das Höllenfeuer. Damit aber wird unweigerlich ein Handlungsspielraum für eine von Christen befürwortete staatliche Verfolgung von unbekehrten Juden eröffnet. Wir werden hier einer „Lehre der Verachtung“ ansichtig, die einen wesentlichen Faktor für ein so beschämendes wie schreckliches Kapitel der europäischen Kirchengeschichte darstellt, nämlich die Rolle der Kirchen im Zusammenhang des Holocaust. 26 Hier materialisiert sich Geistiges aufs Schrecklichste, aber es hilft nichts, wir müssen uns selbst ehrlich und mutig damit konfrontieren. Fazit Theologie hat, wie Ingmar Bergmann wusste, 27 immerzu etwas von einem Schachspiel mit dem Teufel, und der Teufel ist ein außerordentlich geschickter Spieler. Er eröffnet ein Spiel gern mit einem Bauernopfer, das dem Gegner bekanntlich zunächst einen schnellen Erfolg verspricht, das sich aber, wenn man darauf hereinfällt, später als Falle herausstellt, durch die man in eine aussichtslose Lage gerät. Röm 1-3 ist eine solche Falle. Man merkt es nicht auf Anhieb, aber einige argumentative Weichenstellungen zu Beginn enden in einer theologischen Aporie. Die Theologie von Röm 1-3 besticht zunächst dadurch, dass sie wichtige Einsichten zu zentralen theologischen Themen zu eröffnen verspricht. Aber - und dieses „aber“ ist entscheidend - sie tut dies mit den Mitteln des erkenntnistheoretischen Fundamentalismus einer natürlichen Theologie, die alle nachfolgenden Gedankenschritte in Mitleidenschaft zieht, mit den vorgenannten schrecklichen Konsequenzen. Stattdessen müssen wir bei dem ansetzen, was Gott uns gegeben hat: seinen Sohn, der an einem Kreuz hingerichtet wurde. Von hier ausgehend gelangen Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0006 Warum Röm 1-3 schlechte Theologie ist 93 28 Tatsächlich funktioniert der Text ganz wunderbar, wenn man ihn als sokratische Kritik der Position eines bestimmten legalistischen messianisch-jüdischen Gegners liest, ein Zugang zum Text, der alle seine Probleme löst; vgl. Röm 2,17-25; 3,8; 6,1; 16,17-20. In Grundzügen habe ich dieses mein Verständnis in Rereading Romans 1: 18-3: 20, Kap. 11 in: The Quest for Paul’s Gospel, London 2005, 233-261 ausgeführt, ausführlich dargelegt wurde es in meinem Buch The Deliverance of God, Grand Rapids 2009; vgl. hierzu zudem Douglas Campbell/ Jon DePue, Beyond Justification, Eugene 2024; zusammengefasst und diskutiert wird es in Chris Tilling (Hg.), Beyond Old and New Perspectives in Paul (Eugene 2014). wir unter Anleitung des heiligen Geistes und konsequenter christologischer Orientierung zu allem, was theologisch von Belang ist und nach einer Antwort verlangt. Wir werden dann in keine einzige der Fallen geraten, die uns der Teufel so clever stellt, und wir verstehen dann zunehmend, welch eine kluge und stimmige Theologie des Kreuzes wir Paulus verdanken, und wie tiefgreifend wir weithin die Argumentation zu Beginn des Römerbriefes missverstanden haben. 28 Douglas Campbell, gebürtiger Neuseeländer, lehrt seit 1989 Neues Testament. Seit 2003 ist er Professor für Neues Testament an der Divinity School der Duke Uni‐ versity (Durham, North Carolina, USA). Sein Schwer‐ punkt in Forschung und Lehre liegt auf dem Apostel Paulus, über den er sechs Bücher veröffentlicht hat. Zudem beschäftigt er sich zunehmend mit der Her‐ ausforderung von Masseninhaftierungen und ist Co-Di‐ rektor des Prison Studies Program an der Divinity School sowie der Prison Engagement Initiative am Kenan Institute for Ethics in Duke. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0006 94 Douglas A. Campbell 1 Mit einer „Systematischen Theologie“, deren konstitutives Anderes die „Predigt“ ist, ist nicht gut Kirschen essen, ebenso wenig übrigens mit einer „Exegese“, die über die „Bibelstunde“ die Nase rümpft. Nicht Richten und nicht sich Rühmen: Röm-1-3 als Lektion an Juden und Nichtjuden über ihr Verhältnis zu einander Meine Antwort an Douglas Campbell Manuel Vogel 1. Meine Geschichte mit Karl Barth Die Gelegenheit, aus Anlass dieser Kontroverse einem Neutestamentler zu antworten, der zugleich Barthianer ist, freut mich außerordentlich, denn ich bin auch meinerseits beides, Neutestamentler und Barthianer. Im Ersten Theologi‐ schen Examen schrieb ich meine Klausur im Fach Neues Testament ganz im Barth’schen Geist, denn ich hatte die KD ganz gelesen und war zumal von Barths Römerbriefexegesen gebannt und begeistert (und bin es bis heute). Ich riskierte bewusst eine „fünf “, denn am Vortag hatte ich in der Dogmatik-Klausur meine „eins“ sicher (dachte ich), denn wo anders als beim Thema „Königsherrschaft Christi“ kann man mit Barth aus dem Vollen schöpfen. Im Ergebnis hatte ich eine „fünf “ in Dogmatik (Name des Prüfers vergessen. Die Klausur sei zu predigthaft gewesen 1 ) und im NT eine „eins“ samt Einladung zur Promotion. Prüfer war Klaus Berger („Noten gehören ins Reich der Dämonen“, Rudolf Bohren, mdl.). Ich bin also nicht trotz, sondern wegen Karl Barth Neutestamentler geworden. 2. Röm-1-3 als Paraphrase einer von Paulus abgelehnten gegnerischen Position? Für Douglas Campbell ist Röm 1,18-3,20 „schlechte Theologie“ („bad theology“), die er nur unter der Bedingung als Teil paulinischen Denkens gelten lassen will, 2 Ich kann mich auch keinesfalls der Auffassung Wolters anschließen, wonach Paulus in Röm 1-3 wie im Römerbrief insgesamt ein Selbstgespräch zwischen dem „Juden Paulus“ (bleibende Besonderheit Israels) und dem „Apostel Paulus“ (unterschiedslose Geltung des Evangeliums für Juden und Heiden) führt, mit dessen Aporie er bis zum Ende des Römerbriefes nicht fertig wird. Vgl. dazu Michael Wolter, Der Brief an die Römer. Teilband 1: Röm 1-8 (EKK VI/ 1), Neukirchen-Vluyn 2014, 227 zu Röm 3,9: „Nachdem er in 3,1-2 die Feststellung von 2,25 (die Beschneidung ist nur für den etwas wert, der das Gesetz hält) korrigiert hatte, nimmt er nun in einer umgekehrten Bewegung die Versicherung von 3,1-2, mit der er den Unterschied von Juden und Heiden in den Vordergrund gestellt hatte, wieder zurück. Dieses Hin und Her lässt einmal mehr den Widerspruch in diesem Bereich der paulinischen Theologie erkennen. Er wird bis zum Schluss ungelöst bleiben.“ dass er sie als ironische Paraphrase einer von Paulus selbst scharf kritisierten Theologie liest. Paulus liefert hier sozusagen ein Beispiel für eine no-go-Theo‐ logie, um dieser seine eigene entgegenzustellen. Dass Campbell Röm-1,18-3,20 auf weite Strecken nicht mag und hier die Spreu vom Weizen scharf trennen will, ist verständlich und naheliegend, denn Paulus ist hier streckenweise alles andere als sympathisch (aber wo ist Paulus das überhaupt? ) und die Argumentation liest sich holprig und an nicht wenigen Stellen krass widersprüchlich. Hier die Paraphrase einer gegnerischen Auffassung zu vermuten, der Paulus sein Eigenes entgegensetzt, ist zumindest eine diskutable Möglichkeit. Zwei Beispiele hierzu: Die Frage nach einer möglichen Sonderstellung der Juden gegenüber den Heiden wird 3,1 vehement bejaht, in 3,9 dagegen entschieden verneint. Und die Möglichkeit gesetzeskonformen Handelns von Juden und Heiden wird in 3,10 anscheinend kategorisch ausgeschlossen, in 2,14f.25-29 dagegen vorausgesetzt. Die Beispiele ließen sich noch erheblich vermehren. Mir scheint aber die Verteilung solcher (wie ich sie nenne) „Widersprüche des ersten Augenscheins“ auf zwei Positionen, eine gegnerische, die Paulus paraphrasiert, und diejenige des Paulus selbst, die er dagegensetzt, keine gute Lösung zu sein. Am Ende wird, so ist meine Erfahrung auch auf dem Terrain anderer Paulusbriefe, alles nur noch komplizierter und der Ertrag für die Interpretation ist gering. 2 Ich gehe deshalb bis zum Beweis des Gegenteils von einem kohärenten Argumentationsgefüge aus, dessen Widersprüche sich auf der Grundlage theologischer Basissätze der paulinischen Theologie (die einfach sein müssen, wenn sie sich bewähren sollen) dialektisch plausibilisieren lassen. Ich will nicht behaupten, dass ich im Suchen und Finden dieser Sätze bereits ans Ziel gelangt wäre - Teilerfolge gibt es freilich -, doch ist m. E. der vorgenannte Beweis seinerseits bisher noch nicht erbracht. Ich lese deshalb den Römerbrief in allen seinen Teilen als ipsissima vox des Paulus, wozu der im Römerbrief vielfach verwendete Diatribenstil nicht in Widerspruch steht. Ich kann freilich nicht ausschließen, dass es zwischen Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0007 96 Manuel Vogel Campbells und meiner Auslegung und der Gewichtung einzelner Argumente und ihrer Positionierung im argumentativen Ganzen ziemlich weitreichende Übereinstimmungen gibt, denn zwischen der Paraphrase einer gegnerischen Theologie zum Zweck ihrer scharfen Kritik (Campbell) und der Formulierung einer eigenen Position des Paulus im Durchschreiten dialektischer Gegensätze (mein Verständnis) können die Übergänge im Einzelfall fließend sein. Eine Auseinandersetzung mit Campbell kann auch nicht erfolgen, ohne dass ich auf eine m. E. bestehende weitreichende Gemeinsamkeit zwischen beiden Positionen hinweise: Auch ich könnte mit Röm 1-3 nicht viel anfangen, wenn es in diesen Kapiteln um einen propädeutischen allgemeinen Schuldaufweis ginge, der die Menschen ohne jedwedes Zuckerbrot, dafür aber umso heftiger mit der Peitsche einer rabenschwarzen Bußpredigt dem Evangelium und der Kirche in die Arme treibt. Allein: Man kann diese Kapitel auch anders lesen und anders verstehen, und dieses andere Verständnis möchte ich nachfolgend in Kürze skizzieren. Es geht dann gar nicht um Bekehrung und auch nicht um die Errettung vor dem Gotteszorn und der ewigen Verdammnis. Auch spielt der Gegensatz zwischen Bekehrten und Unbekehrten in meiner Lektüre überhaupt keine Rolle, schon gar nicht derjenige zwischen unbekehrten Juden und bekehrten Christen. Ein solches Verständnis des Textes einschließlich seiner unseligen Wirkungsgeschichte, von der Campbell einige Proben gibt, kann ich nur ablehnen, darin bin ich mit Campbell einig. 3. Eine Bemerkung zu Luther Dass Luther in These 19 der Heidelberger Disputation den Erkenntnisanspruch des abwertend so genannten „Herrlichkeitstheologen“ mit Worten von Röm 1,20 paraphrasiert, ist interessant und der Betrachtungsweise Campbells nicht un‐ ähnlich. Auch Luther scheint diesen Vers nicht sonderlich gemocht zu haben. Wer, so muss man Luther wohl verstehen, sich heute hinstellt und behauptet - wortwörtlich aus dem Römerbrief zitierend, d. h. mit Paulus behauptet! -, dass Gottes unsichtbares Wesen durch seine Werke erkannt und verstanden wird, ist ein Herrlichkeitstheologe, der Gut und Böse auf das Gefährlichste verwechselt, Paulus hin oder her. Zugleich wird aber der mit Worten aus Röm 1,20 artikulierte Anspruch, Gottes unsichtbares Wesen aus seinen Werken zu erkennen, in der conclusio zu These 19 mit Worten aus Röm 1,22 kritisiert, und diese Worte werden ausdrücklich dem „Apostel“ zugeschrieben: Die diesen Anspruch erheben, werden „doch vom Apostel in Röm 1,22 unverständig Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0007 Nicht Richten und nicht sich Rühmen 97 3 Lateinischer Text der Heidelberger Disputation hier und nachfolgend aus WA 1,353- 374. Deutsche Übersetzung aus: Horst Beintker/ Helmar Junghans/ Hubert Kirchner (Hg.), Martin Luther Taschenbuchausgabe. Auswahl in fünf Bänden, Bd. 1: Die Botschaft des Kreuzes. Bearbeitet von Horst Beintker, Berlin 1981, 20-38. genannt“ (tamen ab Apostolo Roma. 1. stulti vocantur). 3 Und in der conclusio zu These 20 heißt es, dass Gott wollte, dass „die, die Gott nicht verehrten, wie er in seinen Werken offenbar wird, ihn verehren als den, der in den Leiden verborgen ist“ (qui Deum non coluerunt manifestum ex operibus, colerent absconditum in passionibus). Das heißt doch: Eigentlich kann Gott tatsächlich aus seinen Werken erkannt werden, nur die Menschen haben diese Erkenntnis missbraucht oder sie ignoriert, und deshalb wollte Gott nun ausschließlich im Leiden erkannt werden, und der eigentlich gangbare Weg der natürlichen Gotteserkenntnis ist seither faktisch von Gott selbst versperrt. Hier schlägt die Folgerung aus Röm 1,20 zu Buche: „… weshalb sie unentschuldbar sind“ (eis to einai autous anapologētous). Die Torheit der Toren wiegt deshalb so schwer, weil eigentlich Gottes unsichtbares Wesen aus seinen Werken erkennbar ist, die Menschen diese Erkenntnisquelle aber durch Ruhmsucht und Götzendienst missachtet haben, weshalb dieser Erkenntnisweg nun faktisch verschlossen ist. Ergänzt man dieses „eigentlich“, das ich der Sache nach auch bei Luther finde, kann der ganze Gedankengang ab 1,20 für paulinisch gelten und muss nicht ganz oder in Teilen einer gegnerischen Position zugeschrieben werden. Wichtig ist außerdem: Luther versteht in den von Campbell zitierten Thesen der Heidelberger Disputation Röm 1 von der Kreuzestheologie in 1Kor 1 her (und konstatiert nicht wie Campbell einen schroffen Gegensatz). Das scheint mir dem Text gerecht zu werden: Röm 1,22 („die behaupteten weise zu sein, sind zu Toren geworden“) ist von 1Kor 1 her auf die Kreuzigung Jesu durch die Weisen und Mächtigen dieser Welt zu beziehen, in welcher sie ihre Torheit offenbar gemacht haben. Dann gibt es aber erst recht keinen Grund, Röm 1,18ff. Paulus abzusprechen. 4. Das Gegenteil von „Kreuz“ ist „intellektuelles Gehabe“ Wichtig ist zumal, dass für Luther „Kreuz“ und „Ruhmsucht“ einen Gegensatz bilden, so in der conclusio zu These 22: „Denn weil sie das Kreuz nicht kennen und es hassen, müssen sie notwendig das Gegenteil lieben, d. h. Weisheit, Ruhm, Macht u. ä. (ex quo crucem ignorant atque odiunt, necessario contraria diligunt, scilicet sapientiam, gloriam et potentiam &c.). Das heißt in der Konsequenz: Es geht bei der Unterscheidung von Herrlichkeits- und Kreuzestheologie gar nicht um eine Unterscheidung auf der referentiellen Ebene theologischer Inhalte, Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0007 98 Manuel Vogel sondern um die kritisierte Verzweckung von religiösem Wissen für die eigene soziale Statusdistinktion. Das „Kreuz“ destruiert den „Ruhm“ (vgl. Röm 3,27; 1Kor 1,29), falsifiziert also nicht bestimmte Lehrinhalte, sondern desavouiert den gebildeten Habitus der Selbstaufwertung bei gleichzeitiger Abwertung der vorgeblich Ungebildeten. Mit den Worten von These 22: „Jene Weisheit, die Gottes unsichtbares Wesen in den Werken erkennt und schaut, bläht auf “ (sapientia illa, quae invisibilia Dei operibus intellecta conspicit, omnino inflat). Dies kommt meinem eigenen Verständnis der paulinischen Kreuzestheologie sehr nahe: Es geht in Röm 1-3 nicht (und auch nicht in 1Kor 1) um den auch für mich ungenießbaren Cocktail aus Höllenangst und Heilszuspruch, sondern um Statusdestruktion im sozialen Feld, paulinisch gesprochen um den Ausschluss des „Rühmens“. Mit „Rühmen“ ist gemeint: sich auf Kosten anderer mit anderen zu vergleichen. Dieses so übliche wie betrübliche Verhaltensmuster wirkt sich in dem Moment besonders gravierend auf menschliche Sozialbeziehungen aus, da Gott ins Spiel kommt, mithin Menschen religiöses Wissen als Wettbewerbs‐ vorteil im Streben nach Ehre auffassen. Das ist Götzendienst (der Götze ist man dann selbst) und Blasphemie (unnützer kann man den Namen Gottes nicht im Munde führen denn als Rechthaber und Besserwisser). Ich halte dies für ein, wenn nicht gar für das paulinische Grundanliegen im Röm und darüber hinaus, und ich finde bei Luther an vielen Stellen etwas davon wieder. 5. Ein Bild: Magnet und Eisenspäne Mein Gesamtverständnis von Röm 1-3 will ich in einem Bild veranschaulichen: Man nehme eine Handvoll Eisenspäne, schütte sie auf einen Karton und bewege denselben vorsichtig hin und her, bis die Späne sich flächig auf dem Karton verteilt haben. Man erhält eine amorphe Menge an Spänen, in der man (wie beim Bleigießen an Silvester) mit Phantasie diese und jene Gestalt oder Figur erkennen kann, und man mag sich, wenn man die Späne zu mehreren betrachtet, darüber austauschen, wer welche Gestalt oder Figur sieht. Keine ist richtig und keine falsch. Eindeutig wird die Sache erst, wenn man einen Magneten unter den Karton hält, dann entsteht ein Bild, die amorphe Menge an Spänen formiert sich zu einer Struktur um ein Zentrum (um die Stelle, an der sich der Magnet unter dem Karton befindet). Nimmt man zwei Magnete, entsteht ein Bild mit zwei Zentren (für meinen Vergleich brauche ich zwei Magnete). Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0007 Nicht Richten und nicht sich Rühmen 99 5.1 Röm-2,1 Die erste Stelle, zu der hinführend und von der herkommend ich meine Lektüre von Röm 1-3 organisiere, ist Röm 2,1: „Darum, o Mensch, kannst du dich nicht entschuldigen, wer du auch bist, der du richtest. Denn worin du den andern richtest, verdammst du dich selbst, weil du ebendasselbe tust, was du richtest“. Hier geht es nicht spezifisch um (oder gegen) Juden oder Heiden, auch nicht um christusgläubig oder nicht christusgläubig, nicht um bekehrt oder unbekehrt. Es geht auch nicht darum, auf die bisherigen Drohungen noch eine Schippe draufzulegen. Es geht vielmehr prägnant und ausschließlich um jeden Menschen, auf den zutrifft, dass er über andere urteilt (D. h. - seien wir ehrlich! - es geht tatsächlich um jeden Menschen). Mit „darum“ (dio) schließt der Vers folgernd an das Vorangehende an, und ich behaupte: an den ganzen finsteren Rundumschlag seit 1,16 (! ). Alles bis dahin Gesagte soll eines ganz sicher und niet- und nagelfest ausschließen: Dass irgendjemand jetzt noch auf die abwegige Idee verfällt, es sei rechtens über andere zu richten. Der anschließende V. 2 meint dann: Über die, die dies tun (epi tous ta toiauta prassontes) - nämlich über andere zu richten - wird Gottes wahrhaftiges Gericht ergehen. V. 3 bekräftigt das noch: Wer über andere richtet, wird dem Gericht Gottes nicht entkommen (und zwar deshalb nicht, weil er dem Endgericht mit seinem eigenen harten Urteilen über andere die Blaupause liefert, wie dereinst auch mit ihm verfahren wird. Mk 4,24 bringt das auf den Punkt). V. 4 macht im Gefälle desselben Gedankens den Zusammenhang von Umkehr und Gottes Milde, Geduld und Langmut namhaft: Eigenes Umdenken verdankt sich doch, wenn man es sich nur recht überlegt, je und je (Präsens! Auch hier geht es nicht um Bekehrung, sondern um etwas Permanentes) der gütigen Geduld Gottes, und ebenso soll man sich auch anderen gegenüber verhalten! Über andere richten heißt, die Langmut Gottes zu verachten, von der man doch selber zehrt. Dann ist man wie der Knecht mit dem großen Schuldenerlass, der es nicht fertigbringt, dem Mitknecht eine kleine Schuld zu erlassen. Das Nichtvergeben in Mt 18 und das Verurteilen in Röm 2 sind von einander nicht sehr weit entfernt. Der Seitenblick auf Mt 18 hilft auch zu verstehen, warum in Röm 2,5 nach Röm 2,4 nun wieder der strenge Richtergott gegen das unbußfertige (d. h. den Nächsten notorisch verurteilende) Herz aufgerufen wird. Hier besteht ebenso wenig ein Widerspruch wie zwischen der Milde und der Härte des Herrn im Gleichnis vom unbarmherzigen Knecht. Auch auf Jak 2,13 (das „unbarmherzige Gericht über den, der nicht Barmherzigkeit übt“) kann zur Beförderung des Verständnisses von Röm 2,1ff. verwiesen werden. So viel zu meiner Auslegung von Röm 1-3, die sich in der genannten Weise an Röm-2,1 orientiert. Mehr als eine Kostprobe ist das nicht, aber möglicherweise ist deutlich geworden, wie sich andere Aussagen Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0007 100 Manuel Vogel 4 Dies gilt auch für-2,17-29, wie ich betonen möchte, und ebenso für-1,26-32. 5 So macht es freilich auch das NT Graece: Es fügt vor 1,18 und nach 3,20 eine Leerzeile ein. Ganz zu Unrecht, wie ich meine. und Passagen dieser drei Kapitel um diesen Vers gruppieren und von dorther verstehen lassen. 4 5.2 Röm-3,27 Die zweite für mein Gesamtverständnis von Röm 1-3 wichtige Stelle ist Röm 3,27 („Wo ist nun der Ruhm? Er ist ausgeschlossen“). Auch dieser Vers bezieht sich resümierend (oun) auf das Vorangegangene, und wiederum meine ich, dass aus dem Ganzen des seit 1,16 Gesagten hier abermals eine Summe gezogen wird. Für die Gliederung von Röm 1-3 bedeutet das Ausgreifen auf 3,27, dass 1,18-3,20 keinesfalls isoliert werden und auch nicht Paulus abgesprochen werden kann. 5 Dann erübrigt sich aber sofort der von Campbell erhobene Vor‐ wurf, der Gedanke beginne mit natürlicher Theologie, denn 1,16f. eingerechnet beginnt er ja mit dem Evangelium! Vor allem aber: Die „schlechten Nachrichten“ enden nicht mit 3,20. Ab 3,21 ist keineswegs auf einmal alles nur noch reine Heilsbotschaft und schierer Gnadenzuspruch, u. zw. wegen 3,27: „Richten“ und „sich Rühmen“ sind zwei Seiten derselben Medaille, denn man kann einen anderen ja nur in einer bestimmten Hinsicht verurteilen, wenn man der Auffassung ist, man sei in eben dieser Hinsicht untadelig und ihm überlegen. Der Zusammenhang zwischen 2,1 und 3,27 ist mithin folgender: 2,1 zieht die Kon‐ sequenz aus dem alle Menschen ( Juden wie Heiden) betreffenden Gleichstand der Sünde für eine veränderte Auffassung von menschlichen Sozialbeziehungen und 3,27 die Konsequenz aus dem Gleichstand der Gnade. Das Beweisziel von beidem ist aber dasselbe, und beides ergänzt sich. Es geht um den umfassenden Beweis der völligen Unstatthaftigkeit des Richtens und des Rühmens als einer lebensfeindlichen Struktur menschlichen Miteinanders (das dann eigentlich ein Gegeneinander ist). Im Sachzusammenhang des Römerbriefes geht es konkret um das Miteinander jüdischer und nichtjüdischer Christusgläubiger. Keine Gruppe soll die andere verachten oder verurteilen, und keine soll sich der anderen gegenüber im Vorteil wähnen. Vielmehr gilt der Gleichstand von Sünde und Gnade für beide gleichermaßen. Haben sie das verstanden, bleibt ihnen nichts anderes übrig als sich zu vertragen. Lesen wir den Text so, wird auch nochmals klar, dass es überhaupt nicht um Bekehrung geht (Der von Campbell aufgerufene viktorianische Missionar würde sich ganz zu Unrecht auf Röm 1-3 berufen). Das unstatthafte „Rühmen“ gibt es vielmehr innerhalb wie außerhalb der Jesusbewegung, nur dass es Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0007 Nicht Richten und nicht sich Rühmen 101 6 Zu den stärksten exegetischen Passagen der KD gehört m. E. die Auslegung von Röm 9-11 in KD II/ 2, § 34, S. 215-336. Die u. a. von F.-W. Marquardt formulierte Kritik an der Israellehre Barths ist unbenommen. Barth hat die Berechtigung dieser Kritik in einem Brief an Marquardt vom 5. September 1967 eingeräumt; vgl. Karl Barth, Gesamtausgabe Abt. 5, Bd. 6: Briefe 1961-1968, Jürgen Fangmeier/ Heinrich Stoevesandt (Hg.), Zürich 1979, 419-423. innerhalb derselben noch viel schlimmer ist als außerhalb. Pointiert gesagt: Der Rekurs auf Gnade und Glaube in-3,21ff. ist kein Trost für bekehrte Sünder, sondern Mahnung an die Gläubigen, so miteinander umzugehen, wie auch Gott mit ihnen umgeht. Es scheint mir auch völlig unbezweifelbar zu sein, dass das von Paulus inkriminierte „Rühmen“ keine Haltung gegenüber Gott meint, sondern eben ein bestimmtes Sozialverhalten. Nach 1Kor 1,29 ist ein solches Sozialverhalten „vor Gott“ (enōpion tou theou) der Sache nach ausgeschlossen und strikt zu vermeiden. Man kann sich das am Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner (Lk 18,9-13) klar machen: Der Pharisäer rühmt sich nicht Gott gegenüber, verlangt nicht, dass Gott ihn „toll findet“, sondern er vergleicht sich „vor Gott“ (im Gebet) auf Kosten eines anderen mit diesem anderen: „… dass ich nicht bin wie dieser Zöllner“. Gott gegenüber ist er hübsch demütig („Ich danke dir, Gott …“) - eine Demut, die schlimmer ist als jeder Hochmut, weil sie, vor dem Zöllner zur Schau getragen, diesen nur in immer noch tiefere Verzweiflung treiben muss. Hier geht es tatsächlich um den Gegensatz von Gut und Böse, den Luther in die Unterscheidung von Herrlichkeits- und Kreuzestheologie einträgt. 6. Eine notwendige Bemerkung zum Endgericht Die Gerichtsaussagen in Röm 1-3 schrecken mich nicht, weil ich sie anders lese, als Campbell meint, dass sie als Niederschlag einer bad theology zu lesen sind. Hier komme ich nochmals auf Karl Barth zu sprechen, denn ihm verdanke ich die (von ihm in detaillierter Auseinandersetzung mit den biblischen Texten gewonnene! 6 ) Einsicht, dass in Christus über des Menschen Heil dem Menschen zugute letztgültig entschieden ist. Ich bin in der Tat der Auffassung, dass ohne diese Einsicht christliche Theologie nicht sinnvoll möglich und sagbar ist, und dass, wer sie nicht teilt, unter Bezug auf dieselbe Bibel im Grunde einer anderen Religion angehört als ich. Abermals geht es hier um die von Luther formulierte Verwechselbarkeit, in der das Ganze auf dem Spiel steht. Barth ist es auch, der Rechtfertigung und Gnade auf weite Strecken als juridische Figuren liest und damit die „autoritären“ Seiten des biblischen Gottesbildes nicht aussortiert, sondern dialektisch integriert: Wenn Gott den Menschen rechtfertigt, kommt er zu seinem Recht am Menschen. Rechtfertigung Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0007 102 Manuel Vogel als beinhartes Rechtsgeschäft, das dem Eigentümer Gott den Menschen, der ihm gehört, als Eigentum sichert. Man muss das nicht mögen (genauso wenig, wie man Paulus in allen Teilen seiner Briefe mögen muss). Der Vorteil dieses Ansatzes für die Paulusinterpretation besteht aber darin, dass man die schwie‐ rigen Passagen nicht sachkritisch erledigen und Paulus mit Paulus kritisieren muss, sondern ihren Beitrag zu einem Denkweg anzuerkennen in der Lage ist, der zu einem guten Ende führt. Wenn es aber im Gericht nicht um die Entscheidung zwischen ewigem Heil und ewiger Verdammnis geht, worum geht es dann, für Gläubige (2Kor 5,10) wie für Ungläubige? Es geht kurz gesagt darum, wer bei Lebzeiten wem was angetan hat. Das muss am Ende auf den Tisch, schon allein um der Opfer willen, deren Gewalterfahrungen keinesfalls unter den Tisch der messianischen Heilsmahlzeit gekehrt werden dürfen. Ich kann hier nicht vorführen, wie überraschend weit man mit diesem Verständnis von Gericht bei den einzelnen Texten kommt, kann aber versichern, dass ich bisher noch mit keinem einzigen gescheitert bin. Selbst die schlimmsten Szenarien von Feuersee und Höllenwurm sind Bilder für etwas, und über dieses „etwas“ ist zu reden. Für den Moment soll der Hinweis genügen, dass ich auch die Gerichtsaussagen in Röm 1-3 nicht für schlechte Theologie halte, sondern sie als Aspekte einer - und wieder bin ich bei Barth - „dialektischen Theologie“ verstehe. 7. „Du wirst dich schämen, wenn ich Dir vergebe“ (Ez 16,63): Das Evangelium ist ein hartes Ding Wenn zutrifft, dass es ab Röm 3,21 nicht um den Erweis der rettenden Gnade für die andernfalls unrettbar verlorenen Sünder geht, sondern um die Verbannung des Richtens und Rühmens aus jedweder menschlichen Kommunikation und Interaktion, nun von der positiven Seite des Gleichstands der Gnade her, dann setzt sich der Ton der Strenge in 3,21 noch fort (und widerrät einem Einschnitt nach 3,20). Gnade und Glaube sind dann diejenigen Größen, die den schier unausrottbaren Drang zu verurteilen und sich besser zu fühlen als andere nach 2,1ff. sozusagen von der anderen Seite her in die Zange nehmen. Gnade und Glaube als notwendige und hinreichende Bedingungen des eigenen Davonkommens werden ausweislich der Schlussfolgerung in 3,27 namhaft gemacht, um einem jeglichen religiös begründeten Überlegenheitsbewusstsein den Boden zu entziehen. Gott ist hier nicht uneingeschränkt „nett“, sondern zugleich auch spürbar „hart“. Ich meine, dass diese Gleichzeitigkeit hilfreich sein kann, Röm 1-3 als argumentativ nachvollziehbaren Zusammenhang zu verstehen. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0007 Nicht Richten und nicht sich Rühmen 103 Als atl. Vergleichstext fällt mir das Kapitel Ez 16 ein, in welchem „Jerusalem“ es ertragen muss, dass ihr „Sodom“ und „Samaria“ als „Schwestern“ beigesellt werden, und sie muss sich auch sagen lassen, sie habe schlimmer gesündigt als ihre Schwestern, und weil Gott Jerusalem trotz ihrer Sünden nicht verwerfen kann und will, bleibt ihm nichts anderes übrig, als Sodom und Samaria ange‐ sichts des für beide vorteilhaften Vergleichs mit Jerusalem gerecht zu sprechen, womit ihnen die Bundestreue Gottes zwar indirekt, aber höchst folgenreich und wirksam zugutekommt. In den letzten beiden Versen dieses langen Kapitels heißt es dann: Und ich will meinen Bund mit dir aufrichten, sodass du erfahren sollst, dass ich der H E R R bin, damit du daran denkst und dich schämst und vor Schande deinen Mund nicht mehr aufzutun wagst, wenn ich dir alles vergeben werde, was du getan hast, spricht Gott der H E R R (Ez-16,62f.). Auch hier schneidet die Gnade religiöser Statusdistinktion den Weg ab, in Ez 36 einseitig an die Adresse Jerusalems, in Röm 1-3 in wohlabgewogener Gleichrangigkeit und Gegenseitigkeit von Juden und Heiden, denn beide sollen miteinander Gott loben (vgl. Röm-15,6). 8. Fazit Ich teile die Abneigung Campbells gegen das von ihm vorgetragene Verständnis von Röm 1-3, gehe aber in der Auseinandersetzung damit nicht den Weg der sachkritischen Aussonderung, sondern der dialektischen Integration. Hierzu als letztes Textbeispiel ein Hinweis auf Röm 11,32: „Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme“. Das heißt: Gott tut etwas ganz Schreckliches, um etwas ganz Großartiges zu tun. Man kommt damit nicht zu Rande, wenn man sagt: 11,32a ist schlechte Theologie und 11,32b gute. Beides gehört zusammen, und so lese ich auch Röm 1-3. Insofern unterscheiden sich Campbells und meine Lektüre im Grundsatz. Unsere theologischen Präferenzen und Positionen dürften aber nahe bei einander liegen. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0007 104 Manuel Vogel Manuel Vogel, geb. 1964 in Frankfurt/ Main, Studium der Evangelischen Theologie in Erlangen, Heidelberg und Frankfurt, 1994-1996 Vikariat in Bayern, 1995 Pro‐ motion in Heidelberg, 1996-2003 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institutum Judaicum Delitzschianum in Münster, 2003 Habilitation in Münster, 2003-2006 Pfarramt in Hessen-Nassau, 2006-2008 Pfarrer im Hochschuldienst an der Goethe-Universität Frankfurt, seit 2009 Professor für Neues Testament an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Veröffentlichungen u. a. zu Paulus, Josephus, zum hellenistischen Judentum und zum christlich-jüdischen Dialog. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0007 Nicht Richten und nicht sich Rühmen 105 1 Cilliers Breytenbach, Einführung, in: Ders. (Hg.), Der Römerbrief als Vermächtnis an die Kirche. Rezeptionsgeschichten aus zwei Jahrtausenden, Neukirchen-Vluyn 2012, 1-14, hier-14. 2 Zur Terminologie: 1. Der Begriff ,lehrhaft‘ ist für sich genommen und auch im Blick auf die neutestamentlichen Texte deutungsbedürftig. Ich greife ihn aus der Literatur und als Behelfsbegriff auf, der eine Annäherung erlaubt. 2. Der Epistelbegriff der Perikopenordnung ist ebenfalls nicht eindeutig, umfaßt aber üblicherweise die soge‐ nannten nichtevangelischen Schriften, insbesondere auch die Apostelgeschichte und die Offenbarung des Johannes, aber auch alttestamentliche Texte. Hermeneutik Religiöse Rede und religiöse Lehre Herausforderungen und Chancen der Epistelpredigt am Beispiel des Römerbriefs Johannes Greifenstein Dass der Römerbrief eine besonders wichtige neutestamentliche Schrift ist und sich „zu allen Zeiten als außerordentlich reiches Vermächtnis für das Christentum erwiesen“ 1 habe, macht ihn nicht schon als Predigtgegenstand besonders beliebt - ob bei denen, die predigen oder bei denen, die Predigten hören. Im Gegenteil gibt es hier Vorbehalte, die allerdings in der Regel weniger mit Besonderheiten dieser Schrift im Kontext der anderen Paulusbriefe oder der neutestamentlichen Briefliteratur zu tun haben, sondern vorwiegend mit dem einen Merkmal, dass es sich um einen Fall von Briefliteratur handelt, der man insgesamt einen lehrhaften Charakter zuschreibt. Die Briefe argumentieren und reflektieren, gehen mit Themen und Fragen, mit Begriffen und Gedanken um, statt zu erzählen, statt Personen und Situationen zu schildern, statt Begeben‐ heiten und Begegnungen in den Vordergrund zu rücken oder statt Gottesworte und Jesusrede zu überliefern. 2 Als Gegenstand der Predigt gelten die Episteln aber nicht nur als lehrhaft, sondern damit zugleich „als überwiegend schwierig“, weil „die lehrhaften Brieftexte gegenüber den lebendigen Erzählungen der 3 So exemplarisch Ulrich Wilckens, Freude an der Epistelpredigt, in: GPM 64 (2009), 2-5, hier-2. 4 In der als altkirchlich bezeichneten epistolischen Lesereihe gab es in den Traditionen sogenannter lectio continua und semicontinua kleinere Einheiten (unter anderem) zum Römerbrief: Vom 1. bis 5. Sonntag nach Epiphanias Röm 12,1-6; 12,6-16; 12,17-21; 13,8-10 (je nach Ostertermin nicht immer alle gefeiert) sowie vom 6. bis 8. Sonntag nach Trinitatis Röm 6,3-11; 6,19-23; 8,12-17. Vgl. Kirchenleitung der Vereinigten Evange‐ lisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (Hg.), Lektionar für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden, Berlin 1953, IX.XI. 5 Konzentriert man sich auf die regulären Texte der sechs Reihen der Perikopenordnung an den (regulären) Sonn- und Feiertagen des Kirchenjahres, also ohne Berücksichtigung der ,Marginaltexte‘ (alte Ordnung) bzw. (jetzt) ,weiteren Texte‘, dann besteht der ,ge‐ predigte‘ Römerbrief aus diesen 25 Perikopen: 1,1-7; 1,13-17; 2,1-11; 3,21-28; 5,1- 5(6-11); 6,3-8(9-11); 7,14-25a; 8,1-2(3-9)10-11; 8,14-17; 8,18-25; 8,26-30; 8,31b-39; 9,1-5; 10,9-17(18); 11,17-24; 11,25-32; 11,(32)33-36; 12,1-8; 12,9-16; 12,17-21; 13,1-7; 13,8-12; 14,(1-6)7-13; 15,4-13. In der Rubrik „weitere Feste und Gedenktage“ begegnet 10,9-18. Als ,weitere Texte‘ begegnen 17 Perikopen: 1,16-17; 4 i. Ausw.; 4,16b-25; 5,12-14(18-21); 6,3-11; 6,12-14; 6,19-23; 8,28-39; 9,14-18; 11,1-2a; 14,(1-6)10-13; 14,17-19; 15,7-13; 16,1-16; 16,25-27. Als Wochensprüche dienen 5,8; 8,14; 12,21. Die Bibelstellen sind im Folgenden sämtlich dem Römerbrief entnommen, wenn nicht anders gekennzeichnet, handelt es sich um aktuell geltende Perikopen. 6 Vgl. Tom Kleffmann, Der Römerbrief des Paulus. Eine Interpretation in systema‐ tisch-theologischer Absicht, Tübingen 2020, V: „Der Römerbrief stellt die erste Theo‐ logie des Christentums dar. Er geht von Verkündigung aus und zielt auf Verkündigung - aber so, dass er ihren Zusammenhang lehrmäßig systematisch reflektiert.“ A.a.O., 3, Evangelien abstrakt wirken und es darum mühsamer erscheint, sie in die Praxis christlichen Lebens heute zu übersetzen“ 3 . Man wird es auch vor diesem Hintergrund einzuordnen haben, dass es seit dem 1. Advent 2018 durch die jüngste Perikopenrevision keine ,geschlossenen‘ Epistelreihen mehr gibt - die stärkste Veränderung gegenüber der Tradition. 4 Gleichwohl bleibt die Aufgabe der Predigt über Episteln als lehrhafte Texte und insbesondere auch über den Römerbrief bestehen. 5 Im Folgenden diskutiere ich Herausforderungen und Chancen der Epistelpredigt am Beispiel des Römer‐ briefs im Blick auf das Verhältnis von Theologie und Religion und in Bezug auf das Verhältnis von Geschichte und Gegenwart. 1. Theologie und Religion 1.1 Theologie in den Predigttexten Der lehrhafte Charakter der Briefliteratur lässt sich mit Bezug auf den Theolo‐ giebegriff deuten: Die Briefe als Lehre meinen die Briefe als Quelle und Vollzug von Theologie. 6 Der Begriff der Theologie ist so freilich in einem nicht fachlichen Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 108 Johannes Greifenstein gilt der Römerbrief als „erste und ursprüngliche […] Lehre des christlichen Glaubens“, a.-a.-O.,-5, als „Ursprung christlicher Theologie“. 7 Vgl. Rudolf Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 6 1968, 1f.: „[D]ie Theologie des NT besteht in der Entfaltung der Gedanken, in denen sich der christliche Glaube sich seines Gegenstandes, seines Grundes und seiner Konsequenzen versichert.“ 8 Martin Luther, Vorrede auf die Epistel S. Pauli an die Römer 1522, in: Heinrich Bornkamm (Hg.), Luthers Vorreden zur Bibel, Göttingen 3 1989, 177-196, hier-196. 9 Luther, Epistel S.-Pauli (s.-Anm.-8), 177. 10 Vgl. Luther, Epistel S. Pauli (s. Anm. 8), 184: „Ohne solchen Verstand dieser Wörter wirst du diese Epistel S.-Pauli […] nimmermehr verstehen.“ oder disziplinären Sinne gebraucht, sondern im Sinne jener so einfachen wie folgenreichen (und umstrittenen) Unterscheidung, derzufolge ,Religion‘ das Phänomen und ,Theologie‘ dessen Reflexion ist: Die gedankliche 7 Auseinander‐ setzung mit dem Glauben. In dieser Perspektive lassen sich der Römerbrief und die Briefe insgesamt des‐ halb als schwierige Predigtgegenstände einordnen, weil hier so viel oder auch so deutlich Theologie geboten wird. Schon die formale Gestalt mancher Predigt‐ texte scheint diese theologische Qualität abzubilden: Lange Sätze, viele Begriffe, verwickelte Argumentationen (Röm 7,14-25a oder 8,1-2[3-9]10-11), aber auch die eigentümliche Bezugnahme auf alttestamentliche Zitate (Röm 12,27-21 oder 8,31b-39). Dazu kommt noch der Eindruck einer Theologizität im Sinne zumutungsvoller Vorstellungen, etwa: „unser alter Mensch mit ihm gekreuzigt“ (6,3-8[9-11]) oder: „gerettet vor dem Zorn, […] durch sein Blut gerecht“ (5,1- 5[6-11]). Dass man den lehrhaften Charakter gerade des Römerbriefs allerdings auch positiv werten kann, zeigt besonders eindringlich und prominent Martin Luther. Auch Luther denkt beim Römerbrief an Lehre. Für ihn scheint es, „als habe S. Paulus in dieser Epistel wollen einmal in die Kürze verfassen die ganze christliche und evangelische Lehre“ 8 . Explizit verweist er auf das Erfordernis hermeneutischer Bemühungen: Aufs erste müssen wir der Sprache kundig werden und wissen, was S. Paulus meinet durch diese Worte: Gesetz, Sünde, Gnade, Glaube, Gerechtigkeit, Fleisch, Geist, dergleichen; sonst ist kein Lesen nütz daran. 9 Das mag in heutiger Zeit zwar zunächst abschreckend klingen, eher nach der Vorbereitung des theologischen Examens als nach einer auf die Lebenswelt ihrer Hörerinnen und Hörer bezogenen religiösen Rede. Vor allem kann dieser Hinweis restriktiv oder exklusiv wirken statt ,niederschwellig‘ oder ,anschluss‐ fähig‘. 10 Doch man kann die Perspektive ja auch umkehren: Was wird im Römerbrief nicht alles geboten! Luther selbst stellt eine förmliche Liste vor: „Ge‐ Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 Religiöse Rede und religiöse Lehre 109 11 Luther, Epistel S.-Pauli (s.-Anm.-8), 195. 12 Luther, Epistel S.-Pauli (s.-Anm.-8), 196. 13 Luther, Epistel S.-Pauli (s.-Anm.-8), 177. 14 Vgl. Paul Wurster, Text und Predigt, Stuttgart 1921, 68f. setz, Evangelium, Sünde, Strafe, Gnade, Glaube, Gerechtigkeit, Christus, Gott, gute Werke, Liebe, Hoffnung, Kreuz“, dazu das Verhalten „gegen jedermann […] und gegen uns selbst“ 11 - zumindest in seiner Sicht ist „nichts mehr hier zu wünschen“ 12 . Im Ergebnis gilt der Römerbrief als „das rechte Hauptstück des Neuen Testaments und das lauterste Evangelium“ 13 . Die empirischen Bedingungen gegenwärtiger Predigtpraxis scheinen Luthers Würdigung grundsätzlich zu entsprechen. Bereits die Fülle der in den Perikopen versammelten lutherbiblischen (fettgedruckten) ,Kernverse‘ bietet auch jene von Luther erwähnte Fülle christlicher Spitzenbegriffe, daneben noch weitere traditionell bedeutsame Gehalte wie Erlösung (3,21-28) oder Friede, Heiliger Geist und Versöhnung (5,1-5[6-11]) sowie ,allgemeinmenschlich‘ wichtige Themen wie Gut und Böse (7,14-25a) oder Leben, Sterben und Tod (14,[1-6]7- 13; 8,31b-39). Doch muss man keineswegs bei der Wertschätzung inhaltlicher Vielzahl stehenbleiben, sondern sollte auch die als lehrhaft geltende Form beachten. Aus einer sinnvollen Differenzierung von ,Lehre und Leben‘ oder von ,Theologie und Religion‘ muss mitnichten auch schon deren Trennung oder gar eine funk‐ tional folgenlose oder schädliche Entgegensetzung folgen. Im Gegenteil ist es naheliegend, eine im weitesten Sinne pädagogische Dimension der Briefliteratur zu reflektieren: Die neutestamentlichen Schriftsteller sind keine Systematiker, auch Paulus nicht. Es liegt ihnen nichts an ausgeführten Begriffsgebäuden, auch haben sie kein Interesse daran, den letzten theologischen Fragen nachzugehen. Sie sind Glaubenszeugen und gehen in Lehrbildung und Lehrdarbietung nur so weit ein als es die Instruktion ihrer Gemeinden zu religionspraktischen Zwecken und die Missionsaufgabe erfordert. 14 Während Paul Wurster ein gelungenes Maßhalten zwischen den Herausforde‐ rungen der Lehre und ihrer Zielsetzung erkennen kann, bestimmen andere das besondere Profil der Episteln und ihrer Predigt durch eine Abgrenzung gerade dieser Textgattung von den Evangelien. So findet sich bei Claus Harms ange‐ sichts von Vorbehalten gegenüber der Epistelpredigt die „Erwägung, wie ver‐ schieden in sich, wie gewissermaßen gleich der Pistis und Gnosis verschieden, die Evangelien und die Episteln sind“. Dazu stimme die Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 110 Johannes Greifenstein 15 Claus Harms, Pastoraltheologie in Reden an Theologie-Studierende. Nach der Origi‐ nalausgabe (1830-1834) aus neue hg. in zwei Teilen. Erster Teil, Gotha 1888, 62. 16 Friedrich Ahleld, Predigten über die epistolischen Perikopen, Halle 4 1887, V. 17 Christian Palmer, Evangelische Homiletik, Stuttgart 5 1867, 148. 18 Paul D. Kleinert, Homiletik, Leipzig 1907, 58f.: „Darin liegt die ungemeine Fruchtbar‐ keit der epistolischen Stoffe für die homiletische Behandlung, namentlich für deren lehrhafte und mahnende Aufgaben. Der Prediger findet den Stoff bereits gerüstet, der Anwendung eine bestimmte Richtung vorgezeichnet; er hat in den Briefen selbst ein ,Homilein‘ vor sich“. 19 Kleinert, Homiletik (s.-Anm.-18), 59. 20 M. Theobald, Art. Römerbrief, in: RGG 4 -7 (2004), 611-618, hier-613. Wahrnehmung, daß die geförderten Christen eher als andere sich mit den Episteln vertragen, ja, daß unter ihnen sich sogar finden, die sie den Evangelien vorziehen. Nach dem bekannten biblischen Ausspruch wären die Evangelien die Milch und die Episteln die starke Speise. Wollen wir denn immer nur Milch geben, und die starke Speise, Hebr. 5, vorenthalten den Vollkommenen? Alsdann bleiben die anderen junge Kinder, und wir selbst werden dann junge Kinder. 15 In eine ähnliche Richtung weist beispielhaft auch noch Friedrich Ahlfeld: Dienen die Evangelien und Evangeliumspredigten besonders zur Weckung des Glau‐ bens, so sollen die Episteln und epistolischen Predigten besonders die christliche Erkenntnis fördern, das Leben und die Gemeinde bauen, ordnen und auf gesunde Bahnen zurückführen helfen. 16 1.2 Die Theologie der Briefe und die Predigt Eine wichtige Frage der Diskussion des Predigens über lehrhafte Briefe besteht darin, das Verhältnis der jeweils gegenwärtigen Predigt zu der Predigt zu reflektieren, als die man die Briefe selbst wahrnehmen kann: Die Episteln sind „eben schon Predigt“ 17 . Dabei spielt erneut die Frage nach der Unterscheidung von Theologie und Religion eine wichtige Rolle, und es ergeben sich nicht nur unterschiedliche, sondern sogar gegensätzliche Wahrnehmungen und Beurtei‐ lungen. Auf der einen Seite gelten die Episteln gerade wegen einer gewissen Ana‐ logie zur heutigen Predigt zugleich auch als „Vorbild“ 18 . Da hier „der zeitliche Faktor gegebener Gemeindeverhältnisse stoffbedingend hinzutritt“ 19 , nehmen die Briefe selbst bereits Rücksicht auf die für die Predigt so wichtigen Faktoren Situationsbezug und Zeitgemäßheit. Sie sind selbst bereits das, was die Predigt der Gegenwart zu sein hat, nämlich dialogisch. 20 Und sie erlauben damit der Predigtarbeit zugleich einen hermeneutischen Zugang, der sich für Theologie Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 Religiöse Rede und religiöse Lehre 111 21 Vgl. prominent Philipp J. Spener, Theologische Bedencken […]. Dritter Theil […], Halle 1708, 128: „Wie hertzlich wünschete ich aber, daß wir in unsren kirchen niemalen den gebrauch der pericoparum Evangelicarum angenommen hätten, sondern entweder eine freye wahl gelassen, oder aber die epistolas vor die Evangelien zu den haupt-texten genommen häten. Indem einmal nicht zu leugnen stehet, wo man die hauptsachen, so wir in dem Christenthum zu treiben haben, vortragen will, so geben uns die Evangeli‐ sche text sehr wenig anlaß, sondern muß fast alles bey gelegenheit eingeschoben, ja offt mit den haaren beygezogen werden, welches bey den epistolen nicht also wäre.“ 22 Gerd Theißen/ Petra von Gemünden, Der Römerbrief. Rechenschaft eines Reformators, Göttingen/ Bristol 2016, 22. 23 Alexander Schweizer, Homiletik der evangelisch-protestantischen Kirche systematisch dargestellt, Leipzig 1848, 279. 24 August Nebe, Die epistolischen Perikopen des Kirchenjahres wissenschaftlich und erbaulich ausgelegt. Erster Band. Einleitung und Auslegung der Episteln des Weih‐ nachts-Kreises, Wiesbaden 1874, 14. als Auseinandersetzung mit dem Glauben interessiert. Man ist bei den Episteln gewissermaßen schon auf der für die Predigt richtigen Ebene und muss nicht erst (zuweilen mühsam oder gar gewaltsam) dorthin gelangen. Gegebenenfalls sind das alles nicht nur Argumente für einen Vorzug der Episteln, sondern zugleich Gründe für eine Kritik der Evangelien. 21 Zuspitzend formuliert: Theologie ist besser als Geschichte. Denn die Geschichte führt uns in fremde Zeiten und zu anderen Menschen, der Predigt aber geht es um unseren Glauben heute. Darüber hinaus hebt man auch noch hervor, dass die Episteln als lehrhafte Predigt genau jene Anforderung an ein persönliches Beteiligtsein erfüllen, die auch an die religiöse Rede heute zu stellen ist. Der Römerbrief ist genau genommen nicht Teil der Bibel, sondern zuerst Teil einer Biographie. Hier begegnet man keinem ,historischen Jesus‘, aber hier sieht man jemandem bei seiner Auseinandersetzung mit dem Glauben zu, die zu einem „ganz persönli‐ chen Bekenntnis“ 22 führt. So gesehen legt sich sogar ein erweiterter Begriff der Epistelpredigt nahe, da man eine „ursprüngliche apostolische Auffassung, in welcher Christus durch die Individualität der Apostel hindurchgegangen“ 23 ist, keineswegs nur bei Paulus oder Petrus, sondern auch bei Johannes erkennen kann - wie Alexander Schweizer meint. In systematischer Absicht kann man dann so zwischen Epistel und Evangelium unterscheiden, dass die Evangelien die „objektive Erlösung“ berichten und die Briefe von der „subjektiven Erlö‐ sung“ 24 handeln. In dieser Perspektive stellt die Zuordnung eines religiösen Begriffs des Evangeliums zur literarischen Gattung Evangelium nicht nur eine Engführung, sondern einen Fehler dar. Hat nicht Luther erklärt, es stimmten „alle recht‐ Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 112 Johannes Greifenstein 25 Martin Luther, Vorrede auf die Episteln S. Jacobi und Judae (1522), in: Bornkamm (Hg.), Luthers Vorreden (s.-Anm.-8), 215-218, hier-216. 26 Martin. Luther, Ein kleiner Unterricht, was man in den Evangelien suchen und erwarten soll 1522, in: Karin Bornkamm/ Gerhard Ebeling (Hg.), Erneuerung von Frömmigkeit und Theologie (Martin Luther. Ausgewählte Schriften 2), Frankfurt a. M. 1982, 197-205, hier-198. 27 Vgl. Martin Luther, Epistel zur Messe in der Christnacht, Tit. 2,11-15, WA 10.I,1, 18-58, 46,17-47,3: „Denn du sollt den yrrthum wett von dyr thun, das du meinist, du horist nit das Euangelium, wenn du die Epistell S. Pauli horist odder S. Peters; laß dich den namen Epistell nit yrren. Es ist das bloß Euangelium alli, was S. Paulus ynn seynen Epistelln schreybt, wie erß selb nennet Ro. 1. und 1. Cor. 4. Ja, ich thar sagen, das ynn S. Paulß Epistell das Euangelium klerer und liechter ist, denn ynn den vier Euangelistenn.“ 28 Vgl. Paul Althaus, Der Geist der Lutherbibel, in: LuJ-16 (1934), 1-26, hier-8. 29 Karl F. Gaupp, Die Homiletik. Erster Band (Praktische Theologie. Zweiten Theiles erste Abtheilung), Berlin 1852, 93. 30 Gaupp, Homiletik (s.-Anm.-29), 94. schaffenen heiligen Bücher überein, daß sie Christum predigen und treiben“ 25 , weshalb „aufs kürzeste gesagt […] das Evangelium eine Rede von Christus“ 26 sei - speziell auch die Briefe des Paulus? 27 Es folgt das Plädoyer, das die Perikopenordnungen traditionell prägende „Nebeneinander“ 28 von Evangelium und Epistel - aber auch des Alten Testaments - zu beenden. Auf der anderen Seite gilt die Parallelität der Episteltexte zur eigenen Predigt als Problem. Man kann nämlich auch sagen, der lehrhafte Charakter bedeute nichts anderes als die Einführung einer gegenüber der Ebene der Religion zusätzlichen, dabei so unnötigen wie störenden Ebene - einer Metaebene im engeren Sinne des Worts. Die Predigt heute aber soll mit Religion umgehen, nicht mit einer Auseinandersetzung mit Religion. Deutlicher: Die Predigt heute soll nicht Predigt über eine Predigt über religiöse Inhalte sein, sondern hat es - in einer erst so tatsächlich erreichten Analogie zur apostolischen Predigt - mit diesem Inhalt als dem eigentlichen Predigtstoff direkt zu tun. Exemplarisch veranschaulicht wird diese Sichtweise in der homiletischen Diskussion durch Karl Friedrich Gaupp. Wenn der Prediger „eben dasselbe“ zu tun hat, „was die Apostel ihrerseits auch gethan haben und er sich nicht minder hierbei auch an den gleichen Ausgangspunkt gewiesen sieht“, der in den Evangelien gegeben sei, dann kann „das apostolische Wort wenigstens nicht die eigentliche Haupt-Quelle der christlichen Predigt sein“. 29 Vielmehr muss „das große Geschäft der Ableitung des lebendigen Geistesworts aus der gesammten evangelischen Geschichte immer neu und frisch in der Kirche vollbracht werden“, und die Kirche darf „sich dessen nicht überhoben erachten […], was ihr selbständig zu thun obliegt“. 30 Zu beachten ist die konsequente Rückbindung dieser Überlegungen an das Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 Religiöse Rede und religiöse Lehre 113 31 Gaupp, Homiletik (s.-Anm.-29), 95. 32 Gaupp, Homiletik (s.-Anm.-29), 94. 33 Gaupp, Homiletik (s.-Anm.-29), 93f. 34 Wurster, Text (s.-Anm.-14), 70. 35 Vgl. Udo Schnelle, Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 2007, 8-14. Dazu Palmer, Evangelische Homiletik (s. Anm. 17), 236-246, z. B. 240: „Das Dogmatisiren, zu dem die Evangelien lange nicht die Versuchung bieten wie die Episteln, namentlich die paulinischen, ist eine Klippe, an welcher gerade Derjenige gar zu leicht scheitern kann, dem es mit Entwicklung der objektiven, christlichen Glaubenswahrheit Ernst ist.“ Verständnis der Predigt. Denn deren Aufgabe als „Uebersetzungsgeschäft“ 31 ist heute noch das gleiche wie bei den Jüngern Jesu, eben darum aber hat die Epistel als Predigtquelle „nur eine secundäre Stellung“ 32 gegenüber dem Evangelium. Weil in der „Idee des Apostolats“ liegt, „ein schlechthin katholisches Amt“ 33 zu sein, sind die Prediger der Gegenwart zumindest grundsätzlich und nicht in erster Linie auf - so könnte man zuspitzen - andere Apostel und auf deren Predigt verwiesen. Will man über die homiletische Verwendung der Episteltexte weniger prin‐ zipiell urteilen, dann tritt eine im Wortsinn kritische Aufgabe in den Blick. Wenn zumindest der fachkundige Blick auf die biblischen Texte erkennt, wie reflektiert, wie kenntnisreich und durchdacht sie sind, dann steht wohl nicht nur Paulus, sondern stehen beispielsweise auch ,Deuterojesaja‘, ,die Priesterschrift‘ oder Johannes hinsichtlich der Predigt auf einer gewissen Grenze. Es wird zuweilen schon innerhalb der Bibel etwas zu viel, was mit Bezug auf den Glauben und damit in einer gewissen Entfernung und Abständigkeit zum Ausdruck ge‐ langt. Bemerkenswert aber ist es nun, wenn der kritischen Auseinandersetzung mit dieser Herausforderung auch eine selbstkritische Richtung gegeben wird. So spricht nochmals Paul Wurster von der Arbeit, das neutestamentliche Zeugnis wirklich so aufzufassen wie es gemeint ist, also insbesondere nicht mit dogmatischen Fragestellungen einer späteren Zeit an dasselbe heranzutreten und nicht Formeln späterer Zeit hineinzulesen. Nicht das Dogma, sondern die flüssigere, ursprüngliche, lebendige Form des unmittelbaren Glaubens‐ zeugnisses ist im großen Ganzen Inhalt des neutestamentlichen Lehrvortrags und soll als solcher in der Predigt nachgeschaffen werden; wo im Neuen Testament Ansätze dogmatisierender Lehrbildung vorhanden sind, kommt die Rückbildung in jene ursprünglichere Form und die Umgießung in neuzeitliche Lehrausdrucksformen in Betracht. 34 Ist es also vielleicht vorrangig ein (bedenkliches) Interesse der jeweils späteren Zeit, aus so etwas wie lehrhaften Momenten eine Lehre zu machen - oder mit Lehren nochmals lehrhaft umzugehen? 35 Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 114 Johannes Greifenstein 36 Theodor Zahn, Der Brief des Paulus an die Römer ausgelegt, Leipzig 1-2 1910, 5. 37 Zahn, Brief (s.-Anm.-36), 6. 38 Zahn, Brief (s.-Anm.-36), 6, mit Bezug auf Ferdinand Christian Baur. 39 Zahn, Brief (s.-Anm.-36), 7. 40 Vgl. Bernd Schröder, Religionspädagogik, Tübingen 2 2021, 149. Was speziell den Römerbrief betrifft, so begegnen Bedenken gegenüber hermeneutischen Zugängen, die auch in einem Brief vor allem das erkennen wollen, woran sie doch allenfalls selbst ein Interesse haben, exemplarisch in dem Kommentar Theodor Zahns. Zahn stellt auf der einen Seite einen dominanten Fokus auf die „Lehre des Pl [sc. Paulus, JG]“ 36 und auf der anderen Seite einen „Mangel an geschichtlicher Betrachtung“ 37 fest, und er spitzt seine Vorbehalte gegenüber einer „vorwiegend dogmatischen Behandlung“ 38 ironisch so zu: Daß er an die Römer einen Brief schrieb, war also nur eine literarische Form, statt deren der religionsphilosophische Schriftsteller […] ebenso gut die Form des Dialogs oder einer an alle Christen gerichteten Ansprache hätte wählen können. 39 1.3 Die Episteltheologie in der Predigt und die Religion Theologie in den Episteln fordert Theologie für die Epistelpredigt, und dies zunächst: vor ihr, nämlich bei ihrer Erarbeitung. Diese allgemeine Forderung muss erhoben werden mit Bezug auf den jeweils konkreten Ernst- und auch Testfall der einschlägigen biblischen Vorstellungen. Ich gebe Beispiele, die schon an der Form den entschieden homiletischen Fokus anzeigen: Ich habe Frieden mit Gott? (5,1-5[6-11])/ Mein Glaube macht mich gerecht vor Gott? (3,21-28)/ Meine Taufe bedeutet, dass ich einem neuen Leben wandle? (6,3-8[9-11])/ In mir, das heißt in meinem Fleisch, wohnt nichts Gutes? (7,14- 25a)/ Wenn mich der Geist Gottes treibt, bin ich Gottes Kind? (8,14-17)/ Mein sterblicher Leib wird lebendig gemacht? (8,1-2[3-9]10-11)/ Ich lebe nicht mir selber? (14,1-6[7-13]) Offensichtlich beansprucht das alles eine geradezu größtmögliche Relevanz, und zwar in dieser Form des Anspruchs durchaus für mich in meiner Lebenswelt heute. Ebenso offensichtlich allerdings ist auch, dass sich bereits auf der Ebene eines Verständnisses der Aussagen Rückfragen nahelegen - wenn man so will also noch diesseits von Formen einer Aneignung solcher Aussagen, sondern schon auf der Ebene einer notitia, wenn diese denn ein „Verstehen“ 40 bedeuten können soll. Die dreifache homiletische Aufgabe besteht erstens bereits in dem grundsätzlichen Bewusstsein davon, dass es überhaupt einer Form der Erschließung von Vorstellungen wie den soeben beispielhaft herangezogenen Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 Religiöse Rede und religiöse Lehre 115 41 Vgl. zu Gal 2,16-21 und Röm 3,21-28[29-31] Christine W. Hoffmann, Homiletik und Ex‐ egese. Konzepte von Rechtfertigung in der evangelischen Predigtpraxis der Gegenwart, Leipzig 2019. Daneben Wilhelm Gräb, Der Römerbrief in der christlichen Verkündigung oder die paulinische Rechtfertigungslehre im modernen Lebenszusammenhang, in: Breytenbach (Hg.), Der Römerbrief (s.-Anm.-1), 177-193. bedarf - und zwar als Erschließung für das religiöse Leben heute -, zweitens in der Einsicht darin, dass es das Predigen selbst ist, das als solches Erschließen vorzubereiten und auszuführen ist, und drittens in der Fähigkeit, ein solches Erschließen auch an Ort und Stelle zu leisten. Was die Rede von Theologie in der Predigt meinen soll, sei am Beispiel veranschaulicht. Der für den Römerbrief wie für seine Rezeption in der refor‐ matorischen Theologie oft als zentral bestimmte Gedanke an eine Gerechtigkeit vor Gott gilt heute zu Recht als homiletische Herausforderung. Bekanntlich interpretiert man diesen Gedanken zumeist vermittels von Aussagen über Aner‐ kennung oder Bejahung, konkret begegnen oft Variationen der Vorstellung ,Du bist geliebt, so wie du bist‘, die von Aspekten der Leistung abgegrenzt wird. Herausfordernd ist nun nicht allein die Frage nach dem Verhältnis solcher Deutungen zu einem wie auch immer rekonstruierbaren Verständnis jenes Gedankens ‚bei Paulus selbst‘, sondern dass so etwas gerade deshalb gesagt wird, weil das soeben als wichtig betonte Bewusstsein von der Relevanz einer Erschließung durchaus vorhanden ist. ‚Gerechtigkeit vor Gott‘ - so sei das schwer verständlich. Aber wenn das meint, ‚ich darf vor Gott (und wenigstens vor Gott) so sein, wie ich bin‘ - dann sei das nicht nur verständlich, sondern treffe auch auf ein echtes Bedürfnis der Menschen heute, die nämlich zu sehr meinten, sie würden als sie selbst nicht genügen, müssten immer noch besser sein und so fort. 41 Wollte man angesichts dieser Herausforderung versuchen, die Qualität einer Theologie in der Predigt mit Bezug auf dieses Thema des Römerbriefs dadurch zu steigern, dass man sich bemüht, genauer vor allem auf seine religiöse Dimension zu achten - um also die Episteltheologie in ein produktives Verhältnis zur Religion der Hörerinnen und Hörer zu setzen -, dann könnte man beispielsweise folgende Fragen verfolgen: 1) Warum sollte ich denn ungerecht vor Gott sein? Was habe ich ihm denn getan? Wie kann ich Gott gegenüber überhaupt ungerecht sein? 2) Wieso wird mir dauernd gesagt, ich müsse vor Gott nichts leisten, wenn mir zugleich immer wieder zugemutet wird, dass ich mir die Vorstellung zu eigen machen soll (rhetorisch-vermeintlich: ,darf ‘), dass er mich liebt, so wie ich bin? Wo und wann ist es mir wichtig, etwas richtig zu machen? Habe ich dieses Bedürfnis auch beim Glauben? Hat Gott es ,verdient‘, dass ich ihm vertraue? Wieso sollte Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 116 Johannes Greifenstein ich in Ordnung sein, so wie ich bin, wenn ich selbst darunter leiden kann, dass ich nicht mehr, stärker oder öfter auf Gott vertraue? 3) Was wäre denn gerecht im Verhältnis Gottes zu mir? Gibt es etwas, das ich verdient habe oder hätte von Gott - und was wäre das? Inwiefern wären Begriffe wie gerechte Strafe oder gerechter Lohn sinnvolle Kategorien eines Nachdenkens über mein Gottesverhältnis? Solches exemplarische Erwägen hat nichts mit fachlicher Expertise (der Praktischen Theologie) zu tun, vielmehr bedarf es dazu (in gewisser Weise: lediglich) religiöser Nachdenklichkeit. Man kann sich aber vorstellen, dass und wie verschiedene Faktoren zu ihrer Weiterentwicklung beitragen: Hier ist der Ort sowohl für eine traditionell angemahnte ,systematisch-theologische‘ Refle‐ xion als auch für eine vertiefte Auseinandersetzung mit eventuell vorhandener bibelwissenschaftlicher Hermeneutik sowie für die immer wieder erwähnten Möglichkeiten eine Bezugnahme auf Literatur, Musik oder Film (,Kunst‘) sowie auf nichttheologische Theoriebildung. Deutlich soll jetzt lediglich werden, dass es für einen an Religion orientierten Umgang mit der Episteltheologie eine eigenständige Reflexionsleistung braucht, die überhaupt nichts mit Zerrbildern von Kognitivität oder Intellektualität zu tun hat. Etwas überfrachtet, aber genau formuliert, ist der Ausgangspunkt solcher Reflexion ein religiöses Interesse am religiösen Potential der Predigt, das vermittels solcher religiösen Nachdenklichkeit umwillen einer religiösen Wirkung zur Geltung kommen soll. Das klingt mit voller Absicht nach viel ,Re‐ ligion‘ (und viel ,Subjektivität‘) - und genau das macht die Aufgabe auch anspruchsvoll. Sie zu bewältigen stellt nicht nur eine Anforderung dar, sondern immer wieder auch eine Überforderung. Aber auch das ist kein Grund dafür, die Erbaulichkeit und die Nachdenklichkeit einer Predigt gegeneinander auszu‐ spielen. 2. Geschichte und Gegenwart 2.1 Die Fremdheit der Geschichte vor der Gegenwart Da der Brief an die Römer kein Brief an uns heute, sondern an ,die Römer‘ ist, versteht es sich mitnichten von selbst, dass eine auf das religiöse Leben heute bezogene Rede vom Bezug auf diesen Brief irgendwie profitiert. Diese Perspektive, die religiöse Kategorien wie Heilige Schrift oder Wort Gottes ebenso absichtlich ausklammert wie damit verbundene Gedanken an eine Art immerwährende Geltung oder stets neu erfahrbare Wahrheit, ist unbedingt Teil einer gegenwartsbezogenen homiletischen Bibelhermeneutik. Sie steht Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 Religiöse Rede und religiöse Lehre 117 42 Vgl. Kleffmann, Römerbrief (s.-Anm.-6), 7. 43 Richard Rothe, Heilige Schrift, in: Ders., Zur Dogmatik, Gotha 1863, 121-356, hier 338. 44 Vgl. Heinrich A. W. Meyer, Kritisch exegetischer Kommentar über das Neue Testament. Vierte Abtheilung den Brief an die Römer umfassend, Göttingen 1836, 16f.: „Paulus wollte den Römern schriftlich seine evangelische Lehre verkündigen, so wie es die Verhältnisse ihrer Gemeinde heischten, und wie er, persönlich gegenwärtig, mündlich unter ihnen gepredigt haben würde.“ (i.-O. durchgängig hervorgehoben) dafür ein, dass eine ,Fremdheit‘ 42 biblischer Texte im Sinne eines bewussten Vorbehalts so etwas bedeutet wie: Damit muss ich keineswegs etwas anfangen können! Das muss uns keineswegs etwas zu sagen haben! Dass diese Perspektive nicht nur in der homiletischen Praxis zur Geltung kommt - indem beispielsweise bestimmte Teile eines Predigttextes keine Funk‐ tion für die Predigt gewinnen -, sondern dass sie ihr sogar programmatisch, also bewusst und absichtsvoll zugrunde liegt, dafür steht bereits die Perikopen‐ ordnung samt Revisionspraxis ein. Ob man es wahrhaben will oder nicht - weshalb dieses Thema oft ausgeblendet bleibt, vor allem wo man abstrakt vom sogenannten Schriftbezug der Predigt spricht -, hier gilt (auch) das Prinzip: Was heute nicht geht oder uns nicht passt, wird weggelassen oder zurechtgestutzt! Man vergleiche etwa die sukzessive Kürzung von Röm 8,12-17 (,altkirchliche Perikope‘) zu Röm 8,(12 f.)14-17 (1985) zu Röm 8,14-17 (2018), wodurch schließ‐ lich wegfällt: So sind wir nun, liebe Brüder und Schwestern, nicht dem Fleisch schuldig, dass wir nach dem Fleisch leben. Denn wenn ihr nach dem Fleisch lebt, so werdet ihr sterben müssen; wenn ihr aber durch den Geist die Taten des Leibes tötet, so werdet ihr leben. Oder man denke an den Wegfall von Röm 10,1-15 (,Eisenacher Perikope‘ 1896) beziehungsweise die Verschiebung dieser Passage hin zu Röm 10,9-17(18) - dabei beachte man auch die Veränderung der Überschriften in der Lutherbibel von „Gesetzesgerechtigkeit und Glaubensgerechtigkeit“ sowie „Israel hat keine Entschuldigung“ (1984) hin zu „Die Suche nach Gerechtigkeit“ und „Warum ist Israel nicht zum Glauben gekommen? “ (2017). Nun kann man freilich für ,die Bibel‘ insgesamt sagen, „dazu, Predigttext zu sein, ist sie ja doch wirklich nicht geschrieben“ 43 . Doch kann eine besondere Herausforderung im Blick auf die paulinischen Briefe darin bestehen, dass man hier tatsächlich einmal eine konkrete geschichtliche Person als Autor im Hintergrund weiß. Genauer: Nimmt man Paulus nicht abstrakt als ,Autor‘, sondern in erster Linie als Prediger wahr, der zuweilen statt direkt predigen zu können, die Schriftform wählen und per Brief kommunizieren musste, dann stammt der Text gleichsam von einem Vorgänger derer, die heute predigen. 44 Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 118 Johannes Greifenstein 45 ,Altkirchlich‘: Röm-13,1-10; 1966: Röm-13,1-8; 1978/ 2018: Röm-13,1-7. 46 Vgl. den erwähnten Wegfall von Röm 8,12f. Dazu der entschiedene Kommentar in Lutherische Liturgische Konferenz Deutschlands: Ordnung der Lesungen und Predigt‐ Gerade diese historische Verortung kann relativierend wirken, wenn sie dazu führt, dass gewissermaßen Gedanke gegen Gedanke oder Sichtweise gegen Sichtweise gestellt wird. Was sollte gerade hier ,Gottes Wort‘ heißen? So schrieb dieser Paulus, der seine bestimmte Perspektive zum Beispiel auf die menschliche Leiblichkeit hatte - ich aber sehe es hier und heute anders. Oder: Zwar mag dieser Paulus seine bestimmten Vorstellungen von einer Parusie gehabt haben - nur zu verständlich als Kind seiner Zeit -, ich teile sie jedoch nicht. Fremdheit ist in dieser Perspektive nicht einfach nur eine Kategorie zur Be‐ schreibung biblischer Texte als eines historischen Überlieferungsgutes. Fremd‐ heit ist vielmehr die Fremdheit einer anderen Person, ist also in erster Linie eine durchaus partikulare und kontingente Fremdheit. Zutiefst menschlich ist es, dass diese Person als Autor jener Texte eben so und nicht anders vorging, damit aber auch nur menschlich, vielleicht sogar: bestenfalls menschlich. Muss man diese Person nicht zuweilen sozusagen in Schutz vor sich selbst nehmen angesichts einschlägiger Auslassungen etwa zu den Themenbereichen ,Mann, Frau und Ehe‘ (Röm-7) oder ,Sexualität‘ (Röm-2)? 2.2 Fremdheit als Grenze und die Frage der Grenzziehung Die zentrale Frage homiletischer Hermeneutik lautet jetzt: Wer bestimmt wes‐ halb wie die hier zu ziehenden Grenzen? Man könnte voreilig meinen, eine förmliche Grenze bestehe doch wohl zu Recht dort, wo der Römerbrief Inhalte aufweist, die im Blick auf die Absicht und eine entsprechende Gestaltung meiner religiösen Rede heute stören oder sich zumindest nicht fruchtbar machen lassen. Allerdings provoziert das sofort die Rückfrage: Wen stören diese Inhalte und weshalb? Und solches Rückfragen geht zur Argumentation über, wenn weiter gefragt wird: Ist es mangelnde Kompetenz, diese Inhalte nicht fruchtbar machen zu können? Man denke mit Röm 13,1-7 an einen besonders prominenten Aussagenzu‐ sammenhang, der heute sicher überwiegend anders wahrgenommen und inter‐ pretiert wird als in früheren Generationen. Er blieb aber regulärer Predigttext 45 und fordert so gegebenenfalls eine (selbstkritische) Auseinandersetzung mit der Annahme, dieser Aussagenzusammenhang liege zumindest heute jenseits einer Grenze des zulässigen oder sinnvollen. Anders jedoch steht es mit Belegen einer sogenannten Leibfeindlichkeit des Apostels 46 und insbesondere mit Passagen, die man unter die Rubrik ,Christen und Juden‘ einordnet und bei denen das Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 Religiöse Rede und religiöse Lehre 119 texte. Revisionsvorschlag 1995, Band I, o. O. [Hannover] o. J. [1995], 54: „Die Verse 12-13 der Epistel Römer 8 sind unnötig und erschweren das Hören. Daher Kürzung.“ 47 Vgl. zu Röm 9,14-24 (1966) - heute nur 9,14-18 als ,weiterer Text‘ - die Einschätzung in: Lutherische Liturgische Konferenz Deutschlands: Ordnung (s. Anm. 46), 47: „Röm 9,14ff ist ungeeignet, kann Antijudaismus produzieren.“ Im Kontrast beispielhaft Ferdinand C Baur, Ueber Zweck und Gedankengang des Römerbriefs, nebst der Erörterung einiger paulinischer Begriffe, mit besonderer Rücksicht auf die Commentare von Tholuck und Philippi, in: Theologische Jahrbücher 16 (1857), 60-108.184-209, hier 208: „So tief uns der im Römerbrief in seiner grössten Schärfe sich aussprechende Antinomismus und Antijudaismus des Apostels in seine innere Geistesrichtung hineinsehen lässt, so sehr bildet einen nicht minder charakteristischen Zug seiner Individualität das Bestreben, die Antithese gegen das Judenthum aus dem Judenthum selbst zu rechtfertigen und zu begreifen, und mit demselben Interesse, mit welchem er dem Judenthum alles abspricht, was es als seinen absoluten Vorzug geltend macht, es auf der andern Seite aufrecht zu erhalten, und in seiner bleibenden Wahrheit festzustellen.“ 2018 gekürzt wurde auch Röm-9,1-5.31-10,4 zu Röm-9,1-5. 48 Vgl. Mieke Korenhof (Hg.), Mit Eva predigen. Ein anderes Perikopenbuch, Düsseldorf 1996, 16-31. Urteil heute meist eindeutig und leicht fällt - auch wenn man im Gefolge älterer Einschätzungen dafür plädieren könnte, dass doch gerade hier eine Beschäftigung nicht unterbleiben darf. 47 Immerhin ist es auffällig, dass einschlägige Initiativen zur Reform der Peri‐ kopenordnung, die im Namen lebensweltlicher Anliegen und damit letztlich im Namen der Gegenwart unternommen werden, der Briefliteratur im allgemeinen und auch dem Römerbrief im besonderen deutlich weniger Gewicht beimessen als die ,offizielle‘ kirchliche Version - etwa wenn in einer feministischen Sicht bei siebzig jährlich zu vergebenden Gottesdienstterminen lediglich einmal der Römerbrief und die neutestamentliche Briefliteratur insgesamt viermal berücksichtigt werden sollen (im Verhältnis etwa zu fünf Belegen aus dem Richterbuch). 48 Nun besteht eine Herausforderung homiletischer Praxis angesichts von Diagnosen zu einer Fremdheit biblischer Texte jedoch keineswegs nur darin, dass Grenzen zu schnell gezogen werden, sondern auch darin, dass sie übersehen werden. Das meint im Blick auf die konkrete Predigtpraxis: Man begreift nicht, dass es sinnvoll oder auch nötig wäre - ich formuliere annäherungs‐ weise -, ,etwas dazu zu sagen‘. Das Fremde kann zugänglich werden, das Ferne kann nahegebracht werden, das Andere kann erschlossen werden. Genau dafür stehen Gedanken an die Predigt als Vermittlung oder Übersetzung. Übersieht man jedoch die hier erst jeweils zu erbringende Funktion, mangelt es am Be‐ wusstsein für Grenzen im Sinne einer Blockade oder einer Trennung, dann bleibt man der Gegenwart etwas schuldig, ohne damit der Vergangenheit einen Dienst erwiesen zu haben. Der alte Gedanke an eine ,Anwaltschaft‘ gegenüber den Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 120 Johannes Greifenstein 49 Klaus-Michael Bull, Bibelkunde des Neuen Testaments. Die kanonischen Schriften und die Apostolischen Väter. Überblicke - Themakapitel - Glossar, Göttingen 8 2019, 66 (Hervorhebung i.-O. getilgt). Hörerinnen und Hörern lässt sich in diesem Zusammenhang so reformulieren: Wer in Bezug auf die biblischen Texte keine homiletischen Grenzen gewahren, antizipieren oder auch imaginieren kann, der steht in Gefahr, selbst welche zu setzen. 2.3 Fremdheit als Chance und die Option der Aneignung Von Gedanken, die anders sind, als meine eigenen, von Begriffen, die mir neu sind, von Themen, mit denen ich üblicherweise nicht umgehe, kann ein besonderer Reiz ausgehen und kann ich etwas lernen. Wird eine solche Perspektive auf den Umgang mit dem Römerbrief eingenommen, dann passt sie aufs beste zu ihrem Gegenstand. Denn auf der eigenen Seite steht dann die Haltung: ,Ich will mir etwas sagen lassen! ‘, auf der Seite des Predigttextes steht der Anspruch, in einem durchaus betonten Sinne etwas zu sagen zu haben. Genau darin besteht ja der lehrhafte Charakter der Episteln, der sich einer Lektüre konkreter Perikopen im Unterschied etwa zu Texten aus dem Psalter auch fraglos mitteilt. In der Bibelkunde heißt es erläuternd: „Formgeschichtlich lässt sich der Röm[erbrief] am ehesten als ein belehrender Brief bezeichnen, der zugleich um Zustimmung zur vorgetragenen Lehre wirbt (logos protreptikos).“ 49 Fragt man vor diesem Hintergrund nach der Fremdheit des Römerbriefs als Chance des Predigens, dann lässt sich zunächst grundsätzlich feststellen: Hier wird nicht nur irgendetwas über Gott und die Welt oder über den christlichen Glauben mitgeteilt, sondern es werden genaue Vorstellungen und bestimmte Begriffe formuliert, es begegnen konkrete Argumentationen und es werden spezifische Anliegen verfolgt. Es bedeutet beispielsweise bereits das eine Art von Setzung mir als Prediger gegenüber, dass in diesem Predigttext Röm 6,3-8[9-11] Aussagen über die Taufe fallen - und nicht über die Schöpfung, den Glauben oder das Reich Gottes. Und diese Setzung besteht noch genauer darin, dass über die Taufe (unter anderem) genau so gesprochen wird: „wisst ihr nicht, dass alle, die wir auf Christus Jesus getauft sind, die sind in seinen Tod getauft? “. Das neue Perikopenbuch schreibt dazu zwar in der entsprechenden hermeneutischen Skizze: „An den Tod möchten wir beim Gedanken der Taufe nicht gerne erinnert Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 Religiöse Rede und religiöse Lehre 121 50 Liturgische Konferenz für die Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.), Perikopen‐ buch. Nach der Ordnung gottesdienstlicher Texte und Lieder. Mit Einführungstexten zu den Sonn- und Feiertagen, Bielefeld/ Leipzig 2 2019, nach 372. 51 Doris Joachim, Die revidierte Perikopenordnung 2018, 4. https: / / www.zentrum-verkue ndigung.de/ fileadmin/ zentrum-verkuendigung/ Downloaddatenbank/ Kirchenjahr/ Peri kopenrevision/ Die_revidierte_Perikopenordnung.pdf‚ (letzter Zugriff am 26.10.2023). 52 Vgl. Walter Mostert, Über die Wahrheit der Schriftauslegung, in: Hans F. Geisser u. a. (Hg.), Wahrheit der Schrift - Wahrheit der Auslegung. Eine Zürcher Vorlesungsreihe zu Gerhard Ebelings 80. Geburtstag am 6. Juli 1992, Zürich 1993, 247-259, 257: „Wer Paulus liest, seine Rechtfertigungslehre, liest sie nur dann meditativ, wenn es ihm um die Sache der Rechtfertigung geht, nicht bloß um deren paulinische Gestalt. Nicht im historischen, sondern im systematischen, meditativen Lesen kommt die Auslegung zum Ziel.“ werden“ 50 - aber auch wenn dem so sein mag, werden wir eben daran erinnert, weil Paulus im Römerbrief so und nicht anders geschrieben hat. Nun gilt weiterhin: Die Setzung der Inhalte ist nur das eine, das andere ist die Freiheit, sich dazu ins Verhältnis zu setzen. Auf der einen Seite stehen paulini‐ sche Impulse, auf der anderen Seite steht der Umgang damit in der Predigt. Doch wenn es jetzt um einen konstruktiven und sozusagen optimistischen Zugang zum Begriff der Fremdheit geht, dann muss die oben eingenommene Perspektive ergänzt werden. Es gibt zwar keinen homiletischen Aneignungszwang, es gibt aber so etwas wie ein homiletisches Aussetzungspostulat. Was man wie einen selbstverständlichen (und nicht weiter zu problematisierenden) Fall so beschreiben kann, dass „einem zu keinem der sechs Bibeltexte eines Sonntags etwas einfällt“, 51 stellt ein echtes Problem im Blick auf die professionelle Kompetenz der Personen dar, die berufsmäßig zu predigen haben. Aufgrund des prinzipiellen und dominanten Interesses an einer erbaulichen Predigt für die Gegenwart muss man an diesem Punkt weiterhin darauf achten, dass die Verpflichtung, sich ernsthaft auf den biblischen Text einzulassen, keine Verpflichtung ist, sich auf ,den Römerbrief ‘, auf ,Paulus‘ oder etwa auch auf ,die paulinische Tauftheologie‘ oder ,Sündenlehre‘ einzulassen - sich darauf so einzulassen, dass damit die religiöse Aufgabe der Predigt als entscheidender Fokus und als Kriterium allen ,Sich-Einlassens‘ aus dem Blick gerät. Denn im Kontext einer erbaulichen Predigt für die Gegenwart interessieren der Römer‐ brief als Römerbrief, Paulus als Paulus oder auch die paulinische Tauftheologie oder ,Sündenlehre als solche schlichtweg überhaupt nicht. 52 Gleichwohl ist zu beachten, dass eine bestimmte Aussage aus dem Römerbrief für die Predigt möglicherweise gewinnbringend ist, wenn man sie als diese bestimmte Aussage verstehen und würdigen kann. Es ist nur offensichtlich nicht leicht, diese äußerst vage Überlegung bestimmter zu fassen: Wann hat man biblische Aussagen als sie selbst verstanden und gewürdigt? Dass die Suggestion einer Art von Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 122 Johannes Greifenstein 53 Vgl. Johannes Greifenstein, Vom Text zur Predigt. Ein Beitrag zur Praxistheorie homiletischer Bibelauslegung (PThGG-34), Tübingen 2021. 54 Vgl. Adolf von Harnack, Die Entstehung der christlichen Theologie und des kirchlichen Dogmas. Sechs Vorlesungen, Gotha (1927) 1967, 4. 55 Eugen Sachsse, Art. Katechese, Katechetik, in: RE 3 -10 (1901), 121-129, hier-128. 56 Wolfgang Trillhaas, Dogmatik, Berlin/ New York 4 1980, 7. 57 Vgl. die Zuordnung der Episteln zur Vorstellung von einem denkenden Glauben und einer entsprechenden „Notwendigkeit begrifflicher Reflexion und Argumentation“ bei Ulrich H. J. Körtner, Ein Brief Christi oder: Was hilft eine systematisch-theologische Schriftlehre für die Predigt der Episteltexte, in GPM-64 (2010), 372-378, hier-377. feststehendem Bedeutungsgehalt Probleme bereitet, ist ebenso bekannt wie die Tatsache, dass der Umgang mit diesem Problem in bibelwissenschaftlichen Kontexten anders ausfallen kann als in ,praktischen‘ Kontexten. 53 Wollte man den Gedanken an Fremdheit als Chance mit dem Plädoyer für eine Option der Aneignung verbinden - wie das die Überschrift dieses Abschnitts andeutet -, dann ist das (erneut) zweifellos anspruchsvoll und sollte mit empirischen Befunden nicht vorschnell in ein lediglich einseitig normatives Verhältnis gesetzt werden („Die Pfarrerinnen und Pfarrer scheitern eben am Text! “). In erster Linie geht es um eine Würdigung aller Versuche, die lehrhafte Dimension eines Predigttextes als Chance der Predigt fruchtbar zu machen. 3. Lehre fürs Leben Die Auseinandersetzung mit einer Predigt, deren Bezug auf die Episteln auch den Bezug auf deren lehrhaften Charakter bedeutet, steht im Kontext der Auseinandersetzung mit einer lehrhaften Qualität der Predigt selbst. Wo Be‐ griffe wie ,Lehre‘ oder ,lehrhaft‘ Abwehrreflexe auslösen, wo man das Interesse an Gedanken oder Argumenten nur als Beleg für die überholte Tradition einer ,verkopften‘ Predigtweise gelten lässt, da wird mit der Attraktivität einer lehrhaften Predigt heute auch die Attraktivität jener lehrhaften Predigt damals strittig, als die sich eine Schrift wie der Römerbrief beschreiben lässt. Mit konstruktivem Wohlwollen hingegen wäre zu betonen, dass die Epistelpredigt zu einer Religion passt, die man als denkende Religion, 54 „geistige Religion“ 55 oder sogar als „die durchreflektierteste Religion der Welt“ 56 ansehen kann. 57 Die Briefe vermitteln grundsätzlich, dass für das Christentum jedenfalls auch bestimmte Gedanken über bestimmte Themen, bestimmte Ansichten zu be‐ stimmten Fragen, bestimmte Überzeugungen von bestimmten Sachverhalten wichtig sind. Zwar wird man mit der Vorstellung, ein christliches Leben sei als solches auch durch eine bestimmte Präsenz christlicher Gehalte geprägt, nicht erst Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 Religiöse Rede und religiöse Lehre 123 58 Paul Wernle, Die Anfänge unserer Religion, Tübingen/ Leipzig 2 1904, 68f. 59 Herwarth von Schade, Einführung, in: Lutherische Liturgische Konferenz Deutschlands (Hg.), Neue Lesungen für den Gottesdienst, Hamburg 1972, 5-12, hier-7. 60 Paul Wurster, Gibt es eine Methodenlehre der praktischen Exegese? , in: MPTh 5 (1909), 373-384, hier 381. Mit Bezug auf die Kritik an den Episteln Ulrich H. J. Körtner: Gegeben und bezeugt - Systematisch-theologische und rezeptionsästhetische Gesichtspunkte für eine Reform der Lese- und Predigtperikopen, in: Kirchenamt der EKD, Amt der UEK und Amt der VELKD (Hg.), Auf dem Weg zur Perikopenrevision. Dokumentation einer wissenschaftlichen Fachtagung, Hannover 2010, 15-43, hier-42. angesichts gegenwärtiger Herausforderungen umsichtig umzugehen haben. Es gibt eine reiche Tradition kritisch-selbstkritischer Auseinandersetzung mit ihr. Paul Wernle führt in seinem Werk über ,Die Anfänge unserer Religion‘ zu einer durch Jesus vollbrachten „Erlösung von der Theologie“ aus: Da aber der Sohn selbst kein Theologe, sondern - der Gelehrsamkeit nach - Laie ist, so wird Gott durch ihn den Unmündigen erschlossen. Jedes Kind kann Jesus verstehen. […] Seine ,Offenbarung‘ bedeutet ja die grosse Vereinfachung der Religion, die Betonung des Wichtigen, der Hauptsache. […] Hiegegen hat dann schon das Aufkommen der paulinischen Theologie die grosse Wendung gebracht, obschon Paulus noch wusste, was Jesus wollte. 58 Gleichwohl wäre bei allem Problembewusstsein auch geltend zu machen: Zum christlichen Leben gehört ein Lernen, gehören Symbole, die man verstehen muss, um etwas vom Umgang mit ihnen zu haben, gehören Gedanken, die einem nahegebracht werden müssen, damit sie das Leben bereichern können. Wem zum Beispiel so etwas wie (abstrakt gesagt) das Konzept Gnade als Inter‐ pretament eines Gottesverhältnisses nie begegnet, dem dürfte es schwerfallen, Erfahrungen unter Inanspruchnahme dieses Konzepts zu deuten und für eine entsprechende Frömmigkeit aufgeschlossen zu sein - etwa: Gott dankbar sein (,Gefühl‘) und dies betend äußern (,Praxis‘). Vor diesem Hintergrund muss zuletzt auch die Einschätzung überprüft werden, manche Predigttexte scheiterten am Kriterium einer Prädikabilität, weil sie „dem Ausleger unzumutbare Schwierigkeiten“ 59 bereiten. Denn Schwierig‐ keiten bereiten Predigttexte nicht nur als Predigttexte oder konkret Episteltexte als Episteltexte. Schwierigkeiten bereiten die einen oder anderen Gehalte auch als diese bestimmten Gehalte. Zum einen stellen sie Anforderungen an die gedankliche Arbeit in der Predigtvorbereitung - wobei die Devise gilt: „Will man undogmatisch predigen, so muß man viel Dogmatik studiert haben.“ 60 Zum anderen hat die Predigt eine Vermittlungsaufgabe auch deshalb, weil sich das Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 124 Johannes Greifenstein 61 Vgl. Dietrich Rössler, Grundriß der Praktischen Theologie, Berlin/ New York 2 1994, 390 f. - Ausführlicher zum Thema dieses Beitrags Greifenstein, Vom Text zur Predigt (s. Anm. 53); ders., Bibelauslegung vor der Predigt, in der Predigt und durch die Predigt. Gestaltungsformen homiletischer Hermeneutik, in: ders. (Hg.), Predigt als Bibelauslegung. Praktische Hermeneutik in interdisziplinären Perspektiven, Tübingen 2022, 23-55. Verhältnis des ,Christlichen‘ zum ,Menschlichen‘ nicht stets und ohne weiteres von selbst versteht. 61 Johannes Greifenstein studierte Theologie in Halle und Berlin und ist seit 2024 Professor für Praktische Theologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Ho‐ miletische Bibelauslegung zählt neben Liturgik, Kirchen‐ theorie und Kirchenrecht zu den Schwerpunkten seiner Forschung. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 Religiöse Rede und religiöse Lehre 125 Buchreport Markus Vinzent Alexander Goldmann Über die Textgeschichte des Römerbriefs. Neue Perspektiven aus dem paratextuellen Befund Tübingen: Narr Francke Attempto, 2020 (Texte und Arbeiten zum Neutestamentlichen Zeitalter-63) 251-S. ISBN 978-3-7720-8709-7 Wen die vorliegende Arbeit überzeugt, liest den Römerbrief, wie wir ihn im Neuen Testament finden, nicht mehr nur unter einer neuen Perspektive, sondern begreift ihn als das Produkt einer durchgehenden kanonischen Redaktion, die diesen Brief überdies erheblich aufgebläht hat. Erstaunlich zunächst für das wissenschaftliche Erstlingswerk einer leicht überarbeiteten Dissertationsschrift ist, dass ihr Vf. mit einer, wie zu sehen sein wird, wohl untersetzten und gut begründeten, jedoch grundstürzenden These aufwartet. Allerdings erklären sich Mut und Scharfsinn schnell, wenn man liest, dass die Dissertationsschrift im Fach Evangelische Theologie der Universität Dresden unter dem Doktorvater Matthias Klinghardt und innerhalb dieses bereits weitere Arbeiten stimulierenden Umfelds abgefasst wurde. Sie ist in der Reihe TANZ veröffentlicht, in der auch des Doktorvaters Studien, insbesondere dessen Rekonstruktion des „Ersten Evangeliums“, erschienen sind, und sie setzt dessen Forschungsrichtung konsequent fort: Der Römerbrief, wie er in Markions Sammlung vorhanden war und wie er von den verschiedenen frü‐ heren Forschern zu rekonstruieren versucht wurde (Adolph Hilgenfeld, dessen Namen man im Literaturverzeichnis vermisst; Theodor Zahn, dessen Edition man ebenfalls im Literaturverzeichnis vergeblich sucht; Adolf von Harnack; Ulrich Schmid; Jason BeDuhn) stellt die älteste, uns erreichbare Fassung des Römerbriefes dar, die auf Paulus zurückzuführen ist. In dieser Fassung fehlen u. a. vor allem die Kapitel 4, weithin 9-11 und gänzlich 15 und 16. Diese lassen sich „plausibler als redaktionelle Erweiterungen denn als Streichungen“ verstehen-(223). Nun schlägt die Studie nicht den Weg der literarischen Vergleiche zwischen beiden Fassungen des Römerbriefes ein, sondern, wie der Titel richtig ausführt, untersucht der Vf. „die Textgeschichte“ und den „paratextuellen Befund“. Mit diesem Ansatz befindet sich die Studie auf der Höhe der zeitgenössischen methodologischen Forschung, wie sie etwa besonders durch den von Martin Wallraff (damals München) eingeworbenen ERC Advanced Grant „Paratexts of the Bible“ vorangebracht wurde. Welch überaus wertvollen Beobachtungen aus diesem Ansatz gewonnen werden können, manifestiert sich in der hier zu besprechenden Arbeit. Die ersten Paratexte, die in der Arbeit untersucht werden, sind zwei altlatei‐ nische Kapitelverzeichnisse, die Capitula Amiatina (49-56) und die Capitula Regalia (56-61). Diese Kapitelverzeichnisse, die „in den lateinischen Kodizes des Corpus Paulinum meist zwischen den Prologen und dem tatsächlichen Brief‐ text“ stehen, dienen dazu, „eine schnelle Orientierung über den gesamten Text zu ermöglichen, gleichsam eine Gliederung bzw. eine Art Inhaltsverzeichnis zu liefern“ (49). Der Name des ersten Verzeichnisses leitet sich von der ältesten, in der neutestamentlichen Wissenschaft gut bekannten Handschrift her, in der es enthalten ist, dem Codex Amiatinus (um 700, Northumbrien, heute Bibliotheca Laurenziana, Florenz). Das zweite findet sich im Codex Regalis (vor 1066; British Library), welches „bisher weitgehend ignoriert wurde“ (56). Die in diesen Handschriften enthaltenen Kapitellisten „werden allerdings als wesent‐ lich älter eingeschätzt“, und zwar deshalb, weil sie im Text öfter, wie schon 128 Markus Vinzent Lightfoot und Riggenbach erkannt hatten, altlateinische Lesarten besitzen, die den Zeugen d und g und D*, F und G nahestehen (51). Die Untersuchung zu den Capitula Amiatina führt zum Schluss, dass der bezeugte „Textzustand … eine hohe prägenealogische Kohärenz zum von Marcion verwendeten Römerbrief “ aufweist (56). Außerdem ergibt die Untersuchung der Capitula Regalia, dass beide Verzeichnisse in einem „Verwandtschaftsverhältnis“ stehen (61) und dass beide später, die Amiatina mehr als die Regalia, sekundär bearbeitet wurden (70). Gleichwohl lässt sich beobachten, dass in den Amiatina zwischen Röm 3,28 und 5,2 eine Lücke zu existieren scheint, also wohl „das gesamte Abrahamska‐ pitel“ fehlt-(101), ein Befund, der von den Regalia bestätigt wird-(102-105). Anders verhält es sich mit den Kapiteln 9-11, die nach den vorgeführten Zeugen für den Römerbrief in Markions Sammlung weithin gefehlt haben (115- 130). Der Vf. plausibilisiert jedoch, dass es sich bei den Sektionsangaben in den Kapitellisten um „nachträgliche Ergänzungen“ handelt-(141-145). Was die Kapitel 15-16 des Römerbriefes betrifft, bieten die Amiatina wieder ein direktes Zeugnis für die Abwesenheit von diesen (150-153), während die Regalia auch die Kapitel 15-16 bieten, wenn sie auch auf die Doxologie vor diesen Kapiteln verweisen. Auch hier nimmt der Vf. aufgrund dieses Befundes berechtigterweise eine sekundäre Überarbeitung der Kapitelliste an, was mit dem Hinweis auf die Stellung der Doxologie einleuchtet. Um den Befund zu festigen, rekurriert der-Vf. auf den altlateinischen Prolog zum Römerbrief (ob man diese Prologe, wie der Vf. für nichtmarkionitisch hält, oder mit Scherbenske und dem Rez. sie eher in die Nähe Markions setzt, hat keinen Einfluss auf die Argumentation), der in den verschiedenen Handschriften als Abfassungsort für den Römerbrief die Varianten „Athen“ und „Korinth“ kennt (157 f.). Den Rez. hat die Argumentation des Vf.s gegenüber seiner eigenen früheren Meinung überzeugt, wonach nicht Korinth, was sich aus Röm 16,1f. nahelegt, sondern „Athen“ die ursprüngliche Lesart im Prolog darstellt, deren Voraussetzung das Fehlen der Kapitel -15-16 darstellt-(158). In einem abschließenden Abschnitt werden die Fragen behandelt, ob der kurze Römerbrief das Resultat von Markions oder einer katholisierenden Re‐ daktion darstellt, eines mechanischen Ausfalls, oder die „älteste erreichbare Textform“ bietet-(160-174). In einem weiteren Abschnitt zum Schluss des Römerbriefs wird gezeigt, dass die Hinzufügung dieser beiden Kapitel 15-16, insbesondere der langen Liste von Eigennahmen, „zum Zwecke der Authentizitätsfiktion“ erfolgte und den Brief sowohl mit dem Hebräerbrief wie mit der Apostelgeschichte „verknüpft“ (221). Eine der vielen wichtigen Einsichten dieser Arbeit wird im Ausblick formu‐ liert: „Der vorkanonische Paulus ist also nicht der Paulus des Neuen Testa‐ Buchreport 129 ments“ (226). Zwar ist Vorsicht gegenüber dem Text angebracht, weil auch der kurze Römerbrief „nicht mit dem Autograph“ gleichzusetzen ist, doch mache die kurze Textgestalt zumindest deutlich, „welche Elemente der ‚paulinischen Theologie‘ sicher nicht auf Paulus zurückgehen“. Diese ältere Form des Pau‐ lusbriefes kommt „weitgehend ohne Rekurs auf die jüdischen Verheißungen aus…, ohne Abraham und ohne alttestamentliche Schriftbeweise“ (226), allesamt Merkmale, die die Tradition und die moderne Forschung (trotz aller Skepsis von Judith Lieu hält aber auch sie an diesen Aspekten fest) seit Tertullian als typische Merkmale von Markions Theologie gelten. Wenn aus der Präsenz des kurzen Römerbriefes in den Paratexten darauf geschlossen wird, „Marcions eigenen Beitrag bei der Herstellung ‚seiner‘ Texte für deutlich geringer einzuschätzen“ als dies etwa noch Harnack tat, steht dieses Urteil allerdings in gewisser Spannung zu dem gerade skizzierten Profil des älteren Paulusbriefes und basiert auf der Sicht eines bereits zu Lebzeiten häretisierten Markion, die für das zweite Jahrhundert anachronistisch ist. Es sei nur daran erinnert, dass Markion selbst noch Jahre nach seinem Tod hoch angesehen war - im dritten Jahrhundert nennt Origenes ihn „doctissimus“ und Stephanus von Rom schreibt an Cyprian von Karthago, seine Gemeinde sei noch in Sakramentsgemeinschaft mit der markionitischen Gemeinde - und wenn Tertullian erstmals von einem wiederholten Ausschluss von Valentinus und Markion zu wissen meint, ordnet er diesen dem römischen Bischof Eleutherius zu, also der Zeit des Irenäus von Lyon, zu der Markion bereits etwa zwei Jahrzehnte verstorben war. Dass man durch den kürzeren, älteren Paulusbrief nicht nur gewohnte, mit Paulus als dessen zentrale Theologumena assoziierte Auffassungen „verliert“, sondern für das Verständnis des Neuen Testaments als Sammlung erhebliche Einsichten gewinnt, wird in dieser Arbeit zwar nur angedeutet, lässt sich aber leicht bei einer vergleichenden Lektüre beider Fassungen des Römerbriefes oder auch in der vom Rez. kürzlich publizierten vergleichenden Konkordanz zum äl‐ teren neutestamentlichen (präkanonischen) und der größeren später kanonisch gewordenen Sammlung aus der Zeit des Irenäus nachvollziehen. Denn aus dem Vergleich der im kürzeren Paulusbrief fehlenden Passagen mit solchen Schriften, die erst später der größeren Sammlung hinzugekommen sind (Hebr, 2Tim, Apg, 1Petr usw.) ergeben sich so viele Übereinstimmungen, dass man hieraus „Teile eines redaktionellen Konzepts“ der größeren Sammlung gewinnen kann. Der Vf. führt demnach auf die Spur der „kanonischen Redaktion“, die von David Trobisch und Matthias Klinghardt vorgeschlagen, deren Nachweis im Detail jedoch bislang ausstand (David Trobisch hat hierzu gerade eine neue 130 Markus Vinzent Monographie vorgelegt: „On the Origin of Christian Scripture. The Evolution of the New Testament Canon in the Second Century“, 2023). Wie der Ausblick dieser Arbeit zeigt, ist diese Qualifikationsarbeit erheblich mehr als das, was diese Beschreibung üblicherweise angibt, sie liefert der neutestamentlichen Paulusforschung wie auch der Forschung zur Entwicklung des neutestamentlichen Kanons und zu Markion mehr als „neue Perspektiven“ und eröffnet der Kritik der Texte über die Paratexte ein den Texten externes, sie beleuchtendes Forschungsfeld, in welchem grundlegend neue Einsichten gewonnen werden können, die über textinterne Beobachtungen hinausführen. Für die künftige Beschäftigung mit dem Römerbrief und der Kanonwerdung des Neuen Testaments wird die vorliegende Monographie eine Pflichtlektüre sein. Buchreport 131 Herausgegeben von Jan Heilmann Susanne Luther Michael Sommer in Verbindung mit Stefan Alkier Kristina Dronsch Ute E. Eisen Werner Kahl David Mofitt Tobias Nicklas Heidrun Mader Hanna Roose Angela Standhartinger Christian Strecker Manuel Vogel Anschrift der Redaktion Susanne Luther Georg-August-Universität Theologische Fakultät Platz der Göttinger Sieben 2 37073 Göttingen Manuskripte Zuschriften, Beiträge und Rezensionsexemplare werden an die Adresse der Redaktion erbeten. Eine Verp ichtung zur Besprechung unverlangt eingesandter Bücher besteht nicht. ZNT Heft 53 · 27. Jahrgang · 2024 Impressum Bezugsbedingungen Die ZNT erscheint halbjährlich (April und Oktober) Einzelheft: € 35,zzgl. 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BUCHTIPP Der neutestamentliche Römerbrief ist die redaktionelle Überarbeitung einer älteren Fassung, die für die marcionitische 10-Briefe-Sammlung bezeugt ist. Bei dieser Überarbeitung im 2. Jahrhundert wurde die ältere Fassung in großem Umfang ergänzt: Das „Abrahamkapitel“ (Rm 4) sowie die beiden letzten Kapitel (Rm 15f) finden sich nur in dieser jüngeren, kanonisch gewordenen Fassung. Diese grundstürzende These wird vor allem textgeschichtlich begründet: Die Studie stützt sich auf paratextuelle Zeugnisse, die von der Textkritik bislang weitgehend vernachlässigt wurden, und verbindet sie mit neueren Untersuchungen zur marcionitischen Schriftensammlung und zur Kanonischen Ausgabe des NT. Die Ergebnisse haben weitreichende Auswirkungen auf die Paulusexegese sowie auf die Textkritik und ihre Methodik. Sie erschließen die früheste Theologiegeschichte und etablieren das NT als Buch des 2. Jahrhunderts. Alexander Goldmann Über die Textgeschichte des Römerbriefs Neue Perspektiven aus dem paratextuellen Befund Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter (TANZ), Vol. 63 1. Auflage 2020, 254 Seiten €[D] 98,00 ISBN 978-3-7720-8709-7 eISBN 978-3-7720-5709-0 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ info@narr.de \ www.narr.de 52 www.narr.digital Der Römerbrief ist vermutlich der am intensivsten kommentierte Brief des Neuen Testaments. Luther befand ihn nicht zuletzt wegen seiner Bedeutung für die Rechtfertigungslehre als das „eigentliche Hauptstück des Neuen Testaments und das allerlauterste Evangelium“. Das vorliegende Heft gibt einen Einblick in neuere Tendenzen der Römerbriefforschung. Dabei ist festzustellen, dass z.B. die Eigenlogik der paulinischen Theologie gegenüber einer lutherischen Perspektive in den Vordergrund gerückt und das Verhältnis zu den übrigen Schriften des Neuen Testaments intensiv diskutiert wird. Mit Beiträgen von Stefan Alkier, Douglas A. Campbell, Jan Dochhorn, Johannes Greifenstein, Thomas Paulsen, Konrad Schwarz, Nadine Ueberschaer, Markus Vinzent und Manuel Vogel. RÖMERBRIEF ZNT 53 Heft 53 · 27. Jahrgang · 2024 ZNT Zeitschrift für Neues Testament Das Neue Testament in Universität, Kirche, Schule und Gesellschaft Jan Heilmann, Susanne Luther, Michael Sommer (Hrsg.) 53 RÖMERBRIEF ISBN 978-3-381-12251-6
