ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
1216
2024
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Dronsch Strecker Vogel54 www.narr.digital Eine Hermeneutik, die neutestamentliche Texte unter der Perspektive der Dis/ ability Studies liest, hinterfragt kritisch die darin vermittelten Wertungen und Konnotationen von Behinderung und fragt nach den Implikationen für betroffene Leserinnen und Leser: Was bedeutet es, wenn Krankheit auf sündiges Verhalten zurückgeführt wird? Aufgrund welcher Kriterien, Ideologien oder Diskurse werden in einer Gesellschaft die Kategorien ‚behindert‘ und ‚normal‘ konstruiert und werden Menschen damals und heute der einen oder anderen Kategorie zugerechnet? Wie sind die neutestamentlichen Texte für heutige Leserinnen und Leser aus der Perspektive der Dis/ ability Studies zu interpretieren? Mit Beiträgen von Ruben A. Bühner, Kristina Dronsch, Marie Hecke, Christine Jacobi, Susanne Luther, Uta Poplutz, Markus Schiefer Ferrari, Angela Standhartinger und Dierk Starnitzke. DIS/ ABILIT Y ZNT Heft 54 · 27. Jahrgang · 2024 ZNT Zeitschrift für Neues Testament Das Neue Testament in Universität, Kirche, Schule und Gesellschaft Jan Heilmann, Susanne Luther, Michael Sommer (Hrsg.) 54 DIS/ ABILIT Y ISBN 978-3-381-12391-9 Herausgegeben von Jan Heilmann Susanne Luther Michael Sommer in Verbindung mit Stefan Alkier Kristina Dronsch Ute E. Eisen Werner Kahl David Mofitt Tobias Nicklas Heidrun Mader Hanna Roose Angela Standhartinger Christian Strecker Manuel Vogel Anschrift der Redaktion Susanne Luther Georg-August-Universität Theologische Fakultät Platz der Göttinger Sieben 2 37073 Göttingen Manuskripte Zuschriften, Beiträge und Rezensionsexemplare werden an die Adresse der Redaktion erbeten. Eine Verpflichtung zur Besprechung unverlangt eingesandter Bücher besteht nicht. ZNT Heft 54 · 27. Jahrgang · 2024 Impressum Bezugsbedingungen Die ZNT erscheint halbjährlich (April und Oktober) Einzelheft: € 35,zzgl. Versandkosten Abonnement jährlich (print): € 55,- Abonnement jährlich (print & online): € 69,- Abonnement (e-only): € 58,- Bestellungen nimmt Ihre Buchhandlung oder der Verlag entgegen: Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 D-72015 Tübingen Telefon: +49(0) 70 71 97 97 0 eMail: info@narr.de Internet: www.narr.de Anzeigen Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Telefon: +49(0) 70 71 97 97 10 © 2024 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG ISBN 978-3-381-12391-9 ISSN 1435-2249 Die in der Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieser Zeitschrift darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Fotokopie, Mikrofilm oder andere Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsanlagen, verwendbare Sprache übertragen werden. BUCHTIPP Das Lehrbuch erschließt mit seinem innovativen Ansatz erstmals die Erkenntnisse interdisziplinärer Forschung zu Gedächtnis und Erinnerung für die Interpretation des Neuen Testaments. Jenseits der Frage wie es gewesen ist, werden die Texte des Neuen Testaments nicht als historische Berichte, Geschichtsschreibung oder Augenzeugenerinnerung, sondern als Zeugnisse frühchristlicher Identitätsbildung gelesen, die sich sozialen Aushandlungsprozessen verdanken. Neben einer grundlegenden Einführung in die Grundbegriffe kulturwissenschaftlicher Gedächtnistheorie, die auch jenseits der Arbeit mit der Heiligen Schrift stimulierend ist, bietet es exemplarische Lektüren neutestamentlicher Texte als Identitätstexte, an die Leser: innen mit ihren eigenen Erfahrungen anknüpfen können, und einen Ausblick in das Potential kulturwissenschaftlicher Exegese. Sandra Huebenthal Gedächtnistheorie und Neues Testament Eine methodisch-hermeneutische Einführung 1. Au age 2022, 372 Seiten €[D] 29,00 ISBN 978-3-8252-5904-4 eISBN 978-3-8385-5904-9 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de Inhalt Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 NT aktuell Markus Schiefer Ferrari „Alles außer gewöhnlich“ Dis/ ability (Studies) und Neues Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Zum Thema Uta Poplutz Stereotype Fremde? Reflexionen zu den Kranken/ Geheilten in den neutestamentlichen Wundererzählungen im Spiegel der Dis/ ability Studies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Dierk Starnitzke Paulus aus der Perspektive der Dis/ ability Studies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Kristina Dronsch Assisting Jesus - wider eine Heilungsökonomie im Markusevangelium . . . 61 Kontroverse Susanne Luther Behinderung als „narrative Prothese“? Einführung in die Kontroverse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Marie Hecke „Sind etwa auch wir blind? “ Joh 9 ableismuskritisch und disabilitysensibel gelesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Angela Standhartinger Wer sieht hier was und vor allem von wem? Eine (andere) disability-kritische Lesart von Joh 9,1-38 . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Hermeneutik Ruben A. Bühner Dis/ ability Studies und die Texte des Neuen Testaments Hermeneutische Anliegen und konzeptionelle Herausforderungen . . . . . 103 Buchreport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Editorial Liebe Leserin, lieber Leser, einer der unumstrittensten Aspekte über den historischen Jesus ist, dass er als Heiler und Wundertäter erinnert wird. Verweisen die kanonischen Evangelien nicht darauf, dass es ein Kennzeichen des Wirkens Jesu war, alle Krankheiten und Gebrechen zu heilen? Und wird dies nicht auch als Aufgabe und Auftrag seiner Nachfolger verstanden? Unser Blick als Leserinnen und Leser ist sehr von diesen Texten geprägt: Wir nehmen Heilung und Gesundung als das zu erstrebende Ziel wahr, wie es die Wundererzählungen der kanonischen Evangelien nahelegen. Diese Lesart der Erzählungen und auch ihre Rezeptions‐ geschichte bestimmen unsere Wahrnehmung und regulieren unser Denken und unsere eigene Interpretation der Texte. Die diesen Texten unterliegenden soziokulturellen und theologischen Konzepte setzen bestimmte Wertungen und Konnotationen von Behinderung voraus (z. B. körperlicher Defekt, Ausgren‐ zung, negative moralische Implikationen), die im Text nicht explizit diskutiert werden, für das Verständnis der Texte jedoch konstitutiv sind. Der konventionelle historisch-kritische exegetische Zugang, der auf der Basis des antiken Kontextes und des sozialgeschichtlichen Hintergrunds argu‐ mentiert, hinterfragt die Implikationen der Konzepte und Wertungen für die Betroffenen zumeist nicht oder nicht hinreichend. Eine Hermeneutik auf Basis der dis/ ability studies fragt darüber hinaus: Was bedeutet es für Gelähmte, wenn ihr Umfeld ihre Krankheit auf sündiges Verhalten zurückführt? Und was bedeutet dies für die heutigen Leserinnen und Leser, die sich in der Rezeption der Texte den in ihrer jeweiligen Kultur und Gesellschaft gültigen Katego‐ rien ‚behindert‘ und ‚normal‘ zugeordnet sehen? Aufgrund welcher Kriterien, Strukturen, Ideologien oder Diskurse werden diese Kategorien konstruiert und werden Menschen damals und heute der einen oder anderen Kategorie zugerechnet? Die vorliegende Ausgabe der ZNT greift mit dem Thema „Dis/ ability Stu‐ dies“ ein aktuelles Thema der neutestamentlichen Exegese und Hermeneutik auf. In der Rubrik „NT aktuell“ gibt Markus Schiefer Ferrari einen Überblick über Forschungsgeschichte, neuere Forschungstendenzen und bleibende For‐ schungsdesiderate in Hinsicht auf die Einbindung der Dis/ ability Studies in die neutestamentliche Exegese. Im ersten Beitrag „Zum Thema“ hinterfragt Uta Poplutz unseren Blick auf neutestamentliche Heilungserzählungen in Hinsicht auf das Othering von Behinderung, das häufig erst aufgrund sozialgeschichtlicher Vorannahmen in die Texte eingetragen wird. Sie regt einen Perspektivwechsel an, der die durch Krankheit oder Behinderung Beeinträchtigten nicht als ‚stereotype Fremde‘ wahrnimmt, denen die Funktion zukommt, durch die an ihnen demonstrierte Überwindung von Behinderung auf das Anbrechen der Gottesherrschaft hinzu‐ weisen, sondern - im Rückgriff auf den versehrten Leib des Auferstandenen - als prophetische Figuren, die aufzeigen, dass Heil nicht mit körperlicher Unversehrtheit einhergehen muss. Dierk Starnitzke liest in seinem Beitrag die Paulusbriefe aus Sicht der Dis/ ability Studies und argumentiert von Pau‐ lus’ anthropologischer und hamartologischer Argumentation sowie vom uni‐ versalen Erbarmen Gottes ausgehend für die Verantwortung der Kirche für eine inklusive Gesellschaft. Ausgehend von Ulrich Bach und Nancy Eiesland beleuchtet Christina Dronsch in ihrem Beitrag kritisch die Perspektivität der Wissensorganisation in der neutestamentlichen Wissenschaft, die einer „behin‐ dernden Theologie“ stattgibt. Sie zeigt anhand des mk Jesus eine alternative Verhältnisbestimmung jenseits einer Heilungsökonomie auf, die Jesus als Boten bestimmt und die Verantwortung für den Umgang mit der Botschaft bei den Empfänger: innen verortet. In der Kontroverse nehmen Marie Hecke und Angela Standhartinger die Auslegung und die Auslegungsgeschichte von Joh 9 in den Blick. Marie Hecke fordert eine dis/ ability-sensible und ableismuskritische Hermeneutik und Theologie für den (praktisch-)theologischen Umgang mit neutestamentlichen Heilungserzählungen. Anhand des Konzeptes der „narrativen Prothese“ von Mitchell und Snyder kritisiert sie die pejorative Verwendung der Metapher der Blindheit und ihre Funktionalisierung mit dem Ziel der Erzeugung von Bedeutung. Angela Standhartinger stellt eine dis/ ability-sensible Auslegung von Joh 9 dagegen, die die Blindheit nicht als narrative Prothese wahrnimmt, son‐ dern vielmehr die besondere Seh- und Erkenntnisfähigkeit des ‚Blindgeborenen‘ ins Zentrum rückt. Diese Interpretation nimmt die Metapher der Blindheit als eine zentrale Metapher für die Erkenntnis auf dem Weg des Glaubens und den ‚Blindgeborenen‘ - gegenüber den vermeintlich Sehenden - als den idealen Jünger wahr. In der Rubrik „Hermeneutik und Vermittlung“ skizziert Ruben Bühner die hermeneutischen Anliegen einer dis/ ability-sensiblen Hermeneutik in der neu‐ testamentlichen Exegese und diskutiert konzeptionelle Herausforderungen und offene Fragen des Ansatzes. 4 Editorial Wir wünschen Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, eine anregende Lektüre des vorliegenden Heftes. Susanne Luther Jan Heilmann Michael Sommer Editorial 5 1 Der Titel verdankt sich dem gleichnamigen Film aus dem Jahr 2019. In ihrer Sozialkomödie Hors normes zeigen die beiden französischen Regisseure Éric Toledano und Olivier Nakache - 2001-mit dem Film „Ziemlich beste Freunde“ (Intouchables) bekannt geworden - das besondere Engagement zweier Pariser - eines Juden und eines Muslimen - für verhaltensauffällige, meist autistische Jugendliche in einer improvisierten, nicht von den Behörden zugelassenen Einrichtung. Mit „Alles außer gewöhnlich“ soll im Folgenden nicht nur auf die gesellschaftliche Wahrnehmung von Behinderung und die nach wie vor nicht zur guten Gewohnheit gewordene „volle und wirksame Teilhabe“ von Menschen mit Behinderungen „an allen Aspekten des Lebens“ (vgl. Art. 3c und Art. 26 Abs. 1 der UN-Behindertenrechtskonvention von-2008) aufmerksam gemacht werden, sondern auch das, wie zu sehen sein wird, keineswegs selbstverständliche Zueinander von Dis/ ability Studies und neutestamentlicher Exegese angedeutet werden. 2 Anne Waldschmidt, Disability Studies zur Einführung, Hamburg 2020, 39. 3 Vgl. Waldschmidt, Disability Studies (s.-Anm.-2), 36f. NT aktuell „Alles außer gewöhnlich“ 1 Dis/ ability (Studies) und Neues Testament Markus Schiefer Ferrari Disability Studies [sind] eine Einübung in ein ‚anderes‘ Denken, ein Denken, das sich bewusst als ‚schräg‘, ‚schief ‘ oder ‚ver-rückt‘ versteht. 2 1. Disability als erkenntnisleitendes Moment Disability bzw. Behinderung dient - ähnlich wie andere Merkmale der Hu‐ mandifferenzierung, etwa gender, class oder race - dem besseren Verständnis gesellschaftlicher Wirklichkeit und kultureller Praktiken. 3 So kann Disability als „erkenntnisleitendes Moment“, wie es die führende Vertreterin der Dis/ ability Studies in Deutschland, Anne Waldschmidt, in ihrer Einführung in diese wissenschaftliche Disziplin prägnant formuliert, „schlaglichtartig Aspekte zum Vorschein“ bringen, „welche verborgen geblieben wären, hätte man sich Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 4 Anne Waldschmidt, Selbstbestimmung als Konstruktion. Alltagstheorien behinderter Frauen und Männer, Wiesbaden 2 2012, 14. 5 Vgl. z.-B. Tom Shakespeare, Disability. The Basics, London/ New York 2018; Nick Watson/ Simo Vehmas (Hg.), Routledge Handbook of Disability Studies, London/ New York 2 2020; Marcia H.-Rioux/ Alexis Buettgen/ Ezra Zubrow/ José Viera (Hg.), Handbook of Disability. Critical Thought and Social Change in a Globalizing World, Singapore 2024. mit der ‚normalen‘ Perspektive begnügt und wäre von einer unversehrten Leiblichkeit in einer fraglos geltenden Welt ausgegangen.“ 4 Es liegt nahe, dass sich auch in der Auseinandersetzung der Dis/ ability Studies mit dem Neuen Testament vergleichbare Anliegen und Fragestellungen wie zum Beispiel in der feministischen Exegese, den Gender Studies oder den Postcolonial Studies finden. Offenbar geht es bei der Differenzkategorie Dis/ ability gleichermaßen um grundsätzliche Fragen, wie etwa die nach der Übertragbarkeit moderner Begrifflichkeiten und Machtdiskurse auf antike Texte oder nach der Rekonstruierbarkeit damaliger Lebensverhältnisse. Ebenso spielen die Unterschei‐ dung zwischen Beobachter: innen- und Betroffenenperspektive sowie die Dis‐ kussion um die Deutungshoheit unterschiedlicher exegetischer Traditionen eine Rolle. Dabei gibt es weder die feministische Exegese noch die dis/ abilitykritische Hermeneutik, vielmehr verschieben sich je nach Gewichtung und Verhältnis‐ bestimmung von Text und Interpret: innen in ihren jeweiligen kulturellen, sozio-ökonomischen und situativen Bezugssystemen die damit verbundenen Intentionen. Überraschend erscheint allerdings, dass trotz einer solchen Ver‐ gleichbarkeit der genannten Differenzmerkmale erst in den letzten zwanzig Jahren Literatur zu einer dis/ abilitykritischen Bibelhermeneutik erschienen ist und diese recht überschaubar bleibt. Im Gegensatz dazu sind die verschiedenen Facetten in den Dis/ ability Studies und ihren drei disziplinären Hauptfeldern, den Sozial-, Geschichts- und Kultur‐ wissenschaften, angesichts der enormen Zahl internationaler Publikationen in den letzten vierzig Jahren nur noch schwer zu fassen. Erstaunlicherweise werden die Theologie - und erst recht die Bibelwissenschaften - dabei allerdings vielfach nicht als relevante Bezugswissenschaften wahrgenommen, obwohl sich gerade die Bibel über Jahrhunderte als kulturprägend erwiesen hat. 5 Einzelne Vertreter: innen der Dis/ ability Studies verstehen die Theologie eher als eine Disziplin, die von einem Defizitmodell von Behinderung ausgehe und sich vor allem um religiöse Deutungen und Problemlösungen angesichts gesundheitli‐ cher Beeinträchtigungen bemühe. Zudem sei Theologie eines der Fächer, auf das sich Heil- und Sonderpädagogik beziehe, zu der die Dis/ ability Studies bewusst auf Distanz gingen, weil diese „bei der Institutionalisierung von Aussonderung Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 8 Markus Schiefer Ferrari 6 Waldschmidt, Disability Studies (s.-Anm.-2), 20f. 7 Ramona Jelinek-Menke, Religion und Disability. Behinderung und Befähigung in religiösen Kontexten. Eine religionswissenschaftliche Untersuchung (Religionswissen‐ schaft-24), Bielefeld 2021, 329. 8 Ramona Jelinek-Menke, Disability Studies und Religionswissenschaft. Anmerkungen zu Relevanz und Potential einer Symbiose, in: David Brehme/ Petra Fuchs/ Swantje Köb‐ sell/ Carla Wesselmann (Hg.), Disability Studies im deutschsprachigen Raum. Zwischen Emanzipation und Vereinnahmung, Weinheim 2020, 201-208, hier-206. 9 Lennard J. Davis, Bending over Backwards. Disability, Dismodernism, and Other Difficult Positions, New York/ London 2002. und Stigmatisierung eine treibende Kraft“ gewesen sei und auch aktuell bei der schulischen Inklusion eher Zurückhaltung zeige. 6 Insbesondere aus religionswissenschaftlicher Sicht wird die Perspektive letzt‐ lich aller Religionen auf Disability als einseitig verdächtigt. Gerade in religiösen Kontexten würden binäre Kategorisierungen wie behindert vs. nicht-behindert nicht nur aufgegriffen, sondern verobjektiviert werden, indem religiöse Aus‐ sagen als unhinterfragbar dargestellt würden und „die Kontingenz sozialer Ka‐ tegorisierungen durch ihre transzendenzbezogenen Erklärungen“ aufgelöst und damit zugleich reifiziert würde. 7 Im christlichen Kontext gingen Theolog: innen zwar vielfach von dem in den Dis/ ability Studies favorisierten kulturellen Behinderungsmodell aus und untersuchten, wie Behinderung beispielsweise in der Bibel erörtert werde und zu welchen Verhaltensweisen gegenüber Menschen mit Behinderung Auslegungen geführt hätten. Dabei gehe es letztlich aber nur darum, „die objektiv-göttliche Wahrheit, die nach Auffassung der Autor: innen in den Texten enthalten“ sei, „von kulturellen Einflüssen zu befreien und dadurch zu einem Verständnis von Behinderung zu kommen, das aus ihrer subjektiven Sicht heraus richtig“ sei. 8 Insgesamt bleiben diese Vorwürfe von Seiten der Religionswissenschaft allerdings allzu allgemein und wären genauer - auch an exegetischen Arbeiten der letzten zehn Jahre (vgl. Kapitel-5) - zu belegen. Solche Abgrenzungen gegenüber der Theologie bedeuten aber umgekehrt kei‐ neswegs, dass sich in den Dis/ ability Studies nicht Aussagen fänden, die durchaus kompatibel mit christlichen Überzeugungen wären, wenn beispielsweise Markus Dederich in seiner sehr inspirierenden „Einführung in die Disability Studies“ mit Lennard J. Davis 9 feststellen kann, diese würden von einem Menschenbild ausgehen, „bei dem nicht mehr in der Tradition der europäischen Aufklärung einseitig Autonomie und Selbstbestimmung im Vordergrund“ ständen, sondern „Aspekte wie Abhängigkeit und Angewiesenheit, Fragilität und Zerbrechlichkeit Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 „Alles außer gewöhnlich“ 9 verstärkt“ hervorträten. 10 Die Verletzbarkeit des Menschen sei das entscheidende anthropologische Merkmal und nicht mehr seine Perfektibilität. 2. (Nicht-)Behinderung anders denken Disability und Behinderung werden heute in der Regel - auch in diesem Beitrag - synonym verwendet, obwohl damit etymologisch betrachtet unterschiedliche Aspekte zum Ausdruck gebracht werden. Bezeichnet disability im Englischen die Unfähigkeit einer Person und damit die Negation einer Eigenschaft, bezieht sich Behinderung im Deutschen hingegen auf ein Geschehen, das die Beziehung einer Person zu seiner Umwelt behindert. 11 Dabei handelt es sich bei Behinderung bzw. Disability um einen weitgehend unbestimmten Begriff, um einen „leeren, immer wieder neu verstandenen Signifikanten“. 12 Der unscharfe Oberbegriff Behinderung bezieht sich letztlich auf eine bunte Mischung von unterschiedlichen körperlichen, psychischen und kogni‐ tiven Merkmalen […], die nichts anderes gemeinsam haben, als dass sie mit negativen Zuschreibungen wie Einschränkung, Schwäche oder Unfähigkeit verknüpft werden. 13 Die vielfach verwendete optische Trennung von dis und ability mittels eines Schrägstrichs soll zudem „die Verschränkungen und Verknüpfungen, das Wech‐ selspiel von ‚normal‘ und ‚behindert‘“ anzeigen. 14 Behinderung bzw. Disability wird in den Dis/ ability Studies unter der Vor‐ aussetzung als analytische Kategorie verwendet, dass sie als kontingent zu verstehen und kritisch in ihren jeweiligen soziokulturellen Kontexten zu hinter‐ fragen ist. Sie ist „konsequent als Effekt gesellschaftlicher Zuschreibungsprak‐ tiken“ und als „eine zeitgebundene Kategorie“ zu betrachten. 15 So geht es den Dis/ ability Studies neben der Aufdeckung der „vernachlässigten gesellschaftli‐ chen Praktiken“ (sozialwissenschaftliche Disability Studies) vor allem auch um Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 10 Markus Schiefer Ferrari 10 Markus Dederich, Körper, Kultur und Behinderung. Eine Einführung in die Disability Studies (Disability Studies: Körper - Macht - Differenz-2), Bielefeld 2007, 188. 11 Vgl. Waldschmidt, Disability Studies (s.-Anm.-2), 35. 12 Waldschmidt, Disability Studies (s.-Anm.-2), 37. 13 Anne Waldschmidt, Warum und wozu brauchen Disability Studies die Disability History? Programmatische Überlegungen, in: Elsbeth Bösl/ Anne Klein/ Anne Waldschmidt (Hg.), Disability History. Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte, eine Einführung (Disability Studies-6), Bielefeld 2010, 13-27, 14. 14 Waldschmidt, Warum und wozu (s.-Anm.-13), hier-20. 15 Waldschmidt, Disability Studies (s.-Anm.-2), 36. die Erforschung der „verschütteten Geschichte“ (Disability History) sowie der „unausgeleuchteten kulturellen Räume“ (kulturelle Disability Studies). 16 Die Disability History versteht sich dabei nicht einfach als Teilgebiet der Ge‐ schichtswissenschaften, in dem die Geschichte von Menschen mit Behinderung erforscht wird. Indem sie untersucht, wie „in früheren Epochen Anderssein und Differenz konstruiert und die entsprechenden Gruppenzugehörigkeiten und Identitäten“ 17 hergestellt wurden, will sie vielmehr die allgemeine Geschichte neu schreiben und deren Schattenseiten aufdecken. Da sich allerdings in der Vormoderne noch nicht die Kategorie Behinderung findet - sie ist ein Produkt der bürgerlichen Gesellschaft Europas seit der Aufklärung -, arbeiten Ver‐ treter: innen der Disability History beispielsweise mit dem Konzept verkörperter Differenz (embodied difference), um danach fragen zu können, welche Phänomene in welchen sozialen Kontexten überhaupt als Beeinträchtigung (bzw. als Krankheit, Schwäche oder Bedürftigkeit) sicht- und abgrenzbar gemacht werden und welche soziokulturellen Bedeutungen sich damit verbinden. 18 Die dezidierte Infragestellung zeit- und kulturübergreifender Konstanten beim Phänomen Behinderung und die vorrangige Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung als Handelnde soll vor der unreflektierten Übertragung gegen‐ wärtiger, meist reduktionistischer Annahmen schützen. Zum Beispiel werden tradierte „Vorstellungen über den Umgang mit verkörperten Andersheiten in antiken und mittelalterlichen Gesellschaften“, wie etwa die von permanenter Vernachlässigung oder Verstoßung, hinterfragt. 19 Mit Blick auf Altes und Neues Testament sind im Bereich der frühen Ge‐ schichte und Antike insbesondere die internationalen Studien sowie Sammel- und Quellenbände von Christian Laes und Kristi Upson-Saia/ Heidi Marx zu erwähnen. 20 Lukas Thommen zeichnet zusammenfassend das Bild einer „Grat‐ Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 „Alles außer gewöhnlich“ 11 16 Waldschmidt, Disability Studies (s.-Anm.-2), 36. 17 Waldschmidt, Disability Studies (s.-Anm.-2), 160. 18 Elsbeth Bösl/ Bianca Frohne, Disability History, in: Anne Waldschmidt (Hg.), unter Mitar‐ beit von Sarah Karim, Handbuch Disability Studies, Wiesbaden 2022, 127-142, hier-131. 19 Elsebth Bösl, Dis/ ability History: Grundlagen und Forschungstand, in: H-Soz-Kult, 07.07.2009 (https: / / www.hsozkult.de/ literaturereview/ id/ fdl-136813; letzter Zugriff am-17.05.2024). 20 Christian Laes (Hg.), Disability in Antiquity, London/ New York 2017; Christian Laes, Disabilities and the Disabled in the Roman World. A Social and Cultural History, Cam‐ bridge 2018; Christian Laes (Hg.), A Cultural History of Disability in Antiquity (A cultural history of disability/ The cultural histories series-1), London u.-a. 2020; Kristi Upson-Saia/ Heidi Marx/ Jared Secord, Medicine, Health, and Healing in the Ancient Mediterranean (500-BCE-600-CE). A Sourcebook, Oakland, California 2023; vgl. für die Spätantike Heidi Marx‐Wolf/ Kristi Upson‐Saia, The State of the Question: Religion, Medicine, Disability, wanderung für die Betroffenen“ 21 in der griechisch-römische Antike: Menschen mit Behinderung wurden „a priori weder von der Gemeinschaft ausgegrenzt noch aus der Öffentlichkeit entfernt“, sondern bildeten „im Prinzip einen inte‐ gralen Teil der Gesellschaft“. Dennoch konnten sie „mit verschiedenen Makeln behaftet sein, die Verunglimpfung und Verspottung mit sich brachten oder sogar zur Ächtung führten“. 22 Die Fürsorge für Menschen mit Behinderungen war den Familien überlassen. Ansonsten drohte die Gefahr der Verarmung und eines Bettlerdaseins. Missgebildete Kinder wurden teilweise ausgesetzt oder getötet. Umgekehrt führten körperliche Einschränkungen nicht nur zu Benachteiligungen, sondern auch zu Anerkennung und Wertschätzung, wie sich etwa in Namensgebungen - z.-B. Caecus (Blinder) - zeigt. 3. Behinderungsmodelle Wie bereits mehrfach angeklungen, unterscheiden die Dis/ ability Studies ver‐ schiedene Modelle von Behinderung. 23 Im Folgenden sollen exemplarisch zu‐ mindest das individuelle, das soziale und das kulturelle Modell vorgestellt werden, da damit zum einen Abgrenzungen gegenüber anderen Disziplinen, Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 12 Markus Schiefer Ferrari and Health in Late Antiquity, in: Journal of Late Antiquity 8.2 (2015), 257-272; Jared Secord/ Heidi Marx-Wolf/ Christoph Markschies (Hg.), Health, Medicine, and Christianity in Late Antiquity (Studia patristica 81.7/ Papers presented at the Seventeenth International Conference on Patristic Studies held in Oxford 2015), Leuven u.-a. 2017. Der Medizinhisto‐ riker Josef N. Neumann, Behinderte Menschen in Antike und Christentum. Zur Geschichte und Ethik der Inklusion (Standorte in Antike und Christentum 8), Stuttgart 2017, bietet zwar einen Überblick von Mesopotamien bis zur Vormoderne, verbleibt aber damit, um eine Unterscheidung von Waldschmidt, Disability Studies (s. Anm. 2), 159, aufzugreifen, eher im Bereich der „weichen“ Disability History, die „nur lockere Verbindungen zur Forschungsprogrammatik der Disability Studies“ unterhält und der es nicht um eine „grundlegende Revision der Geschichtsschreibung“ geht. 21 Lukas Thommen, Griechisch-römische Antike, in: Susanne Hartwig (Hg.), Behinde‐ rung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, Berlin 2020, 138-140, hier-139. 22 Thommen, Griechisch-römische Antike (s.-Anm.-21), 138. 23 Vgl. z. B. Anne Waldschmidt, Disability Studies. Individuelles, soziales und/ oder kultu‐ relles Modell von Behinderung, in: Psychologie und Gesellschaftskritik-29.1 (2005), 9-31; Markus Schiefer Ferrari, Art. Dis/ ability Studies, in: WiReLex 2019. (https: / / www.bibel wissenschaft.de/ stichwort/ 200578/ ; letzter Zugriff am 17.05.2024); Waldschmidt, Disa‐ bility Studies (s. Anm. 2), 72-91; Anne Waldschmidt, Jenseits der Modelle. Theoretische Ansätze in den Disability Studies, in: Brehme/ Fuchs/ Köbsell/ Wesselmann, Disability Studies im deutschsprachigen Raum (s. Anm. 8), 56-73, mit Rückbezügen u. a. zu Dan Goodley, Disability Studies. An Interdisciplinary Introduction, Los Angeles u. a. 2 2017; Tom Shakespeare/ Nicholas Watson, Frameworks, Models, Theories, and Experiences for Understanding Disability, in: Robyn Lewis Brown/ Michelle Maroto/ David Pettinic‐ chio (Hg.), The Oxford Handbook of the Sociology of Disability, New York 2023, 17-37. 24 Waldschmidt, Disability Studies. Individuelles, soziales und/ oder kulturelles Modell (s.-Anm.-23), 17. 25 Werner Schneider/ Anne Waldschmidt, Disability Studies. (Nicht-)Behinderung anders denken, in: Stephan Moebius (Hg.), Kultur. Von den Cultural Studies bis zu den Visual Studies. Eine Einführung, Bielefeld 2012, 128-159, 141. zum anderen aber auch wesentliche Ausrichtungen und Akzentuierungen innerhalb der Dis/ ability Studies selbst deutlich werden. Das individuelle oder medizinische Modell, das auch als Rehabilitationsansatz bezeichnet wird, wird in den Dis/ ability Studies als defizitorientiert und reduk‐ tionistisch abgelehnt, da es primär von „medizinischen Definitionen“ ausgeht und „einen einseitigen biophysischen Begriff von Normalität“ verwendet. Es betrachtet „individuelle Schädigung (impairment) als alleinige Ursache von Beeinträchtigung (disability) und Benachteiligung (handicap)“, gesellschaftliche Ursachen werden dagegen weitgehend ausgeblendet. Behinderung wird mit einer körperlichen Schädigung oder funktionalen Beeinträchtigung gleichge‐ setzt und auf ein „schicksalhaftes, persönliches Unglück, das individuell zu bewältigen ist“, reduziert. 24 Das soziale Modell versteht Behinderung nicht als persönliches Schicksal, sondern als Resultat sozialer Übereinkunft. Menschen sind nicht auf Grund gesundheitlicher Beeinträchtigung behindert, vielmehr werden sie durch das soziale System behindert, indem sie marginalisiert und von gleichberechtigter Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Allerdings wird mit der damit verbundenen Unterscheidung zwischen Beeinträchtigung (impairment) und Behinderung (disability) übersehen, dass auch medizinische Kategorien „ihre Geschichte, ihre kulturelle Bedeutung und ihre sozialen Konstruktionsmodi haben“ und daher die körperliche Schädigungsebene als gesellschaftlich bedingt und ebenso die Unterscheidung selbst als historisch kontingent betrachtet werden muss. 25 Das in den Dis/ ability Studies heute meist favorisierte kulturelle Modell versucht, Behinderung weder lediglich als individuelles Schicksal noch aus‐ schließlich als gesellschaftliche Ausgrenzung zu verstehen, vielmehr geht es bei diesem Ansatz um einen Perspektivwechsel, nämlich um „ein vertieftes Verständnis der Kategorisierungsprozesse selbst“ und um „die Dekonstruktion der ausgrenzenden Systematik und der mit ihr verbundenen Realität“. Es genügt nicht, allein das Phänomen der Behinderung zu betrachten, ebenso ist „ihr Gegenteil, die gemeinhin nicht hinterfragte ‚Normalität‘“, zu analy‐ sieren; eigentlicher Untersuchungsgegenstand muss die Mehrheitsgesellschaft werden. Menschen mit und Menschen ohne Behinderungen sind „keine binären, strikt getrennten Gruppierungen, sondern einander bedingende, interaktiv Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 „Alles außer gewöhnlich“ 13 26 Waldschmidt, Disability Studies. Individuelles, soziales und/ oder kulturelles Modell (s.-Anm.-23), 25. 27 Waldschmidt, Disability Studies. Individuelles, soziales und/ oder kulturelles Modell (s.-Anm.-23), 27. 28 Waldschmidt, Disability Studies (s.-Anm.-2), 91. 29 Waldschmidt, Jenseits der Modelle (s.-Anm.-23), 68. 30 Vgl. z.-B. Shelley Tremain (Hg.), Foucault and the Government of Disability, Ann Arbor 2.,-erweiterte und überarbeitete Auflage 2015. hergestellte und strukturell verankerte Komplementaritäten.“ Die kulturwissen‐ schaftliche Sichtweise will „die Relativität und Historizität von Ausgrenzungs- und Stigmatisierungsprozessen zum Vorschein“ bringen und zeigen, „dass die Identität (nicht)behinderter Menschen kulturell geprägt ist und von Deutungs‐ mustern des Eigenen und des Fremden bestimmt wird.“ 26 Neben den Sozialleis‐ tungen und Bürgerrechten bedarf es für eine Anerkennung und Teilhabe auch der kulturellen Repräsentation. Individuelle und gesellschaftliche Akzeptanz wird erst dann möglich sein, wenn behinderte Menschen nicht als zu integrierende Minderheit, sondern als integraler Bestandteil der Gesellschaft verstanden werden. 27 Schwächen des kulturellen Modells sind in einer teilweise zu einseitigen Betrachtung und Behandlung von Kultur im engeren Sinne, etwa in der Li‐ teratur und darstellenden Kunst, oder von Werteinstellungen und Diskursen zu sehen, ohne hinreichend „Alltagsleben oder Populärkulturen“ sowie „Macht‐ verhältnisse und Probleme von Herrschaft, Gewalt und sozialer Ungleichheit“ zu beachten. 28 Stärken des kulturellen Modells zeigen sich insbesondere im „kritisch-reflexive[n] Denken des spannungsreichen Wechselverhältnisses von (Un-)Fähigkeit, Beeinträchtigung und (Nicht-)Behinderung“ und in intersekti‐ onalen „Beiträgen zu den Gender Studies, Queer Studies, Postcolonial Studies etc., welche die impliziten Normen und Werte des gesellschaftlichen und kulturellen ‚mainstreams‘ ebenfalls in Frage stellen.“ Vor allem ist mit dem kulturwissenschaftlichen Ansatz immer auch „die Aufforderung verbunden, Zweifel an den eigenen impliziten und expliziten Annahmen, methodischen Ansätzen und Ergebnissen“ zu haben. 29 4. Theorieansätze In ihren theoretischen Überlegungen beziehen sich die kulturwissenschaftlichen Dis/ ability Studies insbesondere auf den französischen Philosophen Michel Fou‐ cault. 30 Ähnlich wie dieser bereits zu Beginn der 60er Jahre des letzten Jahrhun‐ derts herausgearbeitet hat, dass Wahnsinn nicht objektiv, sondern nur in seiner Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 14 Markus Schiefer Ferrari 31 Waldschmidt, Jenseits der Modelle (s. Anm. 23), 69, mit Bezug zu Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Aus dem Französischen von Ulrich Köppen, Frankfurt a.-M. 1969 (1961). 32 Waldschmidt, Disability Studies (s. Anm. 2), 95, mit Bezug zu Erving Goffman, Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Aus dem Amerikanischen von Frigga Haug, Frankfurt a.-M. 1975 (1963). 33 Waldschmidt, Disability Studies (s. Anm. 2), 95, mit Bezug zu Rosemarie Gar‐ land-Thomson, Extraordinary Bodies: Figuring Physical Disability in American Culture and Literature, New York 1997, 8: „The term normate usefully designates the social figure through which people can represent themselves as definitive human beings.“ 34 David T. Mitchell/ Sharon L. Snyder, Narrative Prosthesis. Disability and the Dependen‐ cies of Discourse (Corporealities), Ann Arbor 2000, bes.-6-10. 35 Urte Helduser, Literatur- und Sprachwissenschaften in den Disability Studies, in: Waldschmidt, Handbuch Disability Studies (s. Anm. 18), 219-234, 223; vgl. u. a. Clare Barker/ Stuart Murray (Hg.), The Cambridge Companion to Literature and Disability, Cambridge 2019; Matthias Luserke-Jaqui (Hg.), Literary Disability Studies. Theorie und Praxis in der Literaturwissenschaft, Würzburg 2019. 36 Dederich, Körper, Kultur und Behinderung (s.-Anm.-10), 118. Wechselwirkung zur Vernunft verstanden werden kann und dass „gesellschaft‐ liche Normierungs-, Regierungs- und Subjektivierungspraktiken“ immer auch Normalität produzieren, indem sie Anderssein herstellen, gehen auch die Cultural Dis/ ability Studies so vor, dass sie „die Historizität und Kulturalität, Relativität und Kontingenz von (Nicht-)Behinderung zu erfassen“ suchen. 31 Bei allem theoretischen Pluralismus innerhalb der Dis/ ability Studies ist als zweiter Klassiker, mit dem sich viele Vertreter: innen - auch kritisch - auseinandersetzen, Erving Goffman zu nennen, der in den 70er Jahren den „Umgang mit Stigmatisierungsprozessen, die mit einem Stigma verbundenen ‚Beschädigungen‘ von Identität und die Praktiken interaktiver Normalisierung“ untersucht hat. 32 Bewusst stellt Rosemarie Garland-Thomson in den 90er Jahren „Goffmans Figur des Stigmatisierten […] diejenige des Normalen, den ‚normate‘ gegenüber“ und bezeichnet damit „eine Subjektposition, die sich in Abgrenzung zur Figur des abweichenden Anderen konstituiert“. 33 Neben diesen beiden Theorieansätzen ist für die literaturwissenschaftlichen Dis/ ability Studies vor allem auch das zu Beginn der 2000er Jahre von David T. Mitchell und Sharon L. Snyder entwickelte Konzept der „narrativen Prothese“ wichtig, 34 mit dessen Hilfe „nach der literarischen Konstruktion von Behinde‐ rung und nach dem Anteil der Literatur an gesellschaftlich-kulturellen Normalitätsvorstellungen“, aber auch nach dem „subversive[n] Potenzial literarischer Ästhetiken gegenüber normalisierenden Diskursen“ gefragt wird. 35 So wie eine physische Prothese versucht auch eine von einer Behinderung handelnde Erzählung, sowohl von der Entstehung als auch von „der Auflösung, Korrektur oder dem Ausschluss einer Abweichung“ zu berichten. 36 Literarische Repräsen‐ Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 „Alles außer gewöhnlich“ 15 tationsformen von Behinderung sind gekennzeichnet von einer Ambivalenz zwischen „Faszination und Abscheu, Neugier und Ablehnung, Zuwendung und Ausschluss“. 37 Auch wenn die Gefahr besteht, dass die „gesellschaftliche Realität von Menschen mit Behinderung“ hinter der „symbolischen Indienstnahme“ in literarischen Texten - oder auch in Filmen - verschwindet, kann umgekehrt gerade durch die „narrative Prothese“ auch auf eine „außerhalb der sprachlichen Zeichen liegenden Materialität“ von Behinderung verwiesen werden. 38 5. Dis/ abilitykritische Exegese Will man die Entwicklung der dis/ abilitykritischen Bibelauslegung beschreiben, lassen sich drei Phasen erfassen, die inhaltlich und zeitlich allerdings nur bedingt voneinander zu trennen sind. Selbstverständlich kommt es zu Überschneidungen; manche Ansätze reichen über das angegebene Zeitfenster - teilweise bis heute - hinaus: In einer ersten Phase (1980-2006) setzen sich vor allem Betroffene kritisch mit biblischen Erzählungen über Menschen mit Behinderungen auseinander und erörtern in zahlreichen, meist kleineren Publikationen die von ihnen als diskrimi‐ nierend erlebte Rezeption dieser Texte. 39 Diese Auseinandersetzung wird in einer zweiten Phase (2007-2017) zunehmend auch von einzelnen Vertreter: innen der biblischen Wissenschaften entdeckt und auf der Basis der Diskurse der Dis/ ability Studies weitergeführt, allerdings meist in einem größeren Rahmen, in dem auch andere theologische Perspektiven, insbesondere die der Religionspädagogik und Pastoraltheologie, behandelt werden, um Fragen der Exklusion und Inklusion im Kontext von Kirche und Schule zu diskutieren. 40 Die Ergebnisse erscheinen Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 16 Markus Schiefer Ferrari 37 Dederich, Körper, Kultur und Behinderung (s.-Anm.-10), 111. 38 Helduser, Literatur- und Sprachwissenschaften (s.-Anm.-35), 224f. 39 Z. B. Ulrich Bach (1931-2009); John M. Hull (1935-2015); Sharon V. Betcher (1956); Susanne Krahe (1959-2022); Dorothee Wilhelm (1963). 40 Hector Avalos/ Sarah J. Melcher/ Jeremy Schipper (Hg.), This Abled Body. Rethinking Disabilities in Biblical Studies (SBL.SS-55), Leiden/ Boston 2007; Rebecca Raphael, Biblical Corpora. Representations of Disability in Hebrew Biblical Literature (LHB.OTS 445), New York/ London 2008; Candida R. Moss/ Jeremy Schipper (Hg.), Disability Studies and Biblical Literature, New York 2011; Amos Yong, The Bible, Disability, and the Church. A New Vision of the People of God, Grand Rapids/ Cambridge 2011; Wolfgang Grünstäudl/ Markus Schiefer Ferrari (Hg.), Gestörte Lektüre. Disability als Leitkategorie biblischer Exegese (Behinderung - Theologie - Kirche 4), Stuttgart 2012; Louise Joy Lawrence, Sense and Stigma in the Gospels. Depictions of Sensory-Disabled Characters, Oxford 2013; Wolfgang Grünstäudl/ Markus Schiefer Ferrari/ Judith Distelrath (Hg.), Verzwecktes Heil? Studien zur Rezeption neutestamentlicher Heilungserzählungen (BToSt 30), Leuven u. a. 2017; Markus Schiefer Ferrari, Exklusive Angebote. Biblische Heilungsgeschichten inklusiv gelesen, Ostfildern 2017. - bis heute - in Tagungsbänden 41 und Themenheften 42 , wobei - bei genauerer Betrachtung - keineswegs alle Beiträge konsequent von Dis/ ability als einer kontingenten Differenzkategorie ausgehen, sondern sich manche eher allgemein von einer Inklusions-/ Exklusionsdebatte leiten lassen. In den letzten sieben Jahren finden sich nun in einer dritten Phase (2018-2024) - auch mit der Differenzierung zwischen Erstem und Zweitem Testament -, soweit ich es richtig sehe, ein Kommentar 43 zur gesamten Bibel und einige wenige Monographien 44 zum Neuen Testament, die zum einen dezidiert bei einem kulturellen Behinderungsmodell ansetzen und zum anderen dieses mit einer klassisch historisch-kritischen Exegese konfrontieren. Sind die ersten Jahre stark von einer Betroffenenperspektive geprägt gewesen, dominiert jetzt die Textorientierung. Die unterschiedlichen Akzentuierungen dieser drei Phasen werden im Folgenden am Beispiel einiger Arbeiten zumindest skizziert, ohne die Ergebnisse allerdings nur annähernd würdigen zu können. 5.1. Erste Phase: Betroffenenperspektive Bei der Lektüre vieler Publikationen zum Thema Bibel und Behinderung aus der Betroffenenperspektive wird immer wieder spürbar, dass biblische Erzäh‐ lungen und ihre Deutungen keineswegs als Hoffnungstexte, sondern meist als überaus kränkende Provokationen verstanden werden. Insbesondere in Bezug auf neutestamentliche Heilungserzählungen werden - oftmals in Kombination mit Anliegen der feministischen Theologie - heftige Vorwürfe formuliert, diese Texte funktionalisierten letztlich Menschen mit Behinderungen und trans‐ Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 „Alles außer gewöhnlich“ 17 41 Michaela Geiger/ Matthias Stracke-Bartholmai (Hg.), Inklusion denken. Theologisch, biblisch, ökumenisch, praktisch (Behinderung - Theologie - Kirche 10), Stuttgart 2018; Lars Bruhn/ Jürgen Homann (Hg.), Religionen inklusiv. Zur Dekonstruktion (nicht-)be‐ hinderter Körper, Stuttgart 2023; Marie Hecke/ Katharina Kammeyer/ Anna Neumann (Hg.), Andere Geschichten erzählen. Ebenbildlichkeit, Heilung und die Rede von Gott in disabilitysensibler Theologie (Behinderung - Theologie - Kirche 17), Stuttgart 2024. 42 Conc(D) 56.5 (2020); Journal of Disability-&-Religion-25.4 (2021); BiHe-235 (2023); Biblical Theology Bulletin-53.4 (2023); PZB-32.1 (2023). 43 Sarah J. Melcher/ Mikeal C. Parsons/ Amos Yong (Hg.), The Bible and Disability. A Commentary, Waco 2017. 44 Anna Rebecca Solevåg, Negotiating the Disabled Body. Representations of Disability in Early Christian Texts (ECIL-23), Atlanta 2018; Louise A. Gosbell, „The Poor, the Crippled, the Blind, and the Lame“. Physical and Sensory Disability in the Gospels of the New Testament (WUNT/ I 469), Tübingen 2018; Lena Nogossek-Raithel, Dis/ ability in Mark. Representations of Body and Healing in the Gospel Narrative (ZNW-263), Berlin/ Boston 2023; Isaac T.-Soon, A Disabled Apostle. Impairment and Disability in the Letters of Paul, Oxford 2023. portierten auf dieser Folie exkludierende Vollkommenheitsvorstellungen und Normalisierungsansprüche, indem sie die Geheilten als Abbzw. Vorbilder eines paradiesischen Urzustandes bzw. einer neuen Schöpfung darstellten. 45 Vor allem Ulrich Bach hat immer wieder wortgewaltig darauf hingewiesen, dass es regelrecht „einen sozial-rassistischen Graben“ zwischen Menschen ohne und Menschen mit Behinderungen gebe: Dagegen müsse „Behindert-Sein […] wie Nicht-Behindert-Sein als eine Möglichkeit innerhalb der guten Schöpfung Gottes“ begriffen werden und nur dann würden Heilungsgeschichten richtig verstanden, wenn ihre Auslegung Menschen mit Behinderungen nicht kränken würde. 46 Geht Bach von den neutestamentlichen Heilungserzählungen aus, setzt John M. Hull dagegen bei den Körpererfahrungen des Paulus an, der sich darin in besonderer Weise mit dem gebrochenen Leib Christi verbunden wisse. Biblische Aussagen über Vollkommenheit meinten in diesem Kontext eine verletzte, eine unvollkommene Vollkommenheit. Daher biete eine Theologie des Gebrochen-Seins der Kirche „a way of replacing the oppressive monolith of an unambiguous perfection with the rich and varied ambiguity of many forms of human broken-ness.“ 47 5.2. Zweite Phase: Dis/ abilityperspektive Mit „This Abled Body. Rethinking Disabilities in Biblical Studies” legen Hector Avalos, Sarah J. Melcher und Jeremy Schipper 2007 eine Sammelschrift vor, die insofern bahnbrechend ist, als sie erstmals Disability Studies und Bibelwis‐ senschaften aufeinander bezieht und zugleich aber die Betroffenenperspektive nicht aus dem Blick verliert. Dabei unterscheiden sie einleitend drei mögliche Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 18 Markus Schiefer Ferrari 45 Vgl. z. B. Dorothee Wilhelm, Wer heilt hier wen? Und vor allem: wovon? Über biblische Heilungsgeschichten und andere Ärgernisse, in: Schlangenbrut 62 (1998), 10- 12; Susanne Krahe/ Ulrike Metternich, Kraft oder Kränkung - Heilungsgeschichten im Neuen Testament kontrovers diskutiert, in: Ilse Falk/ Kerstin Möller/ Brunhilde Raiser/ Eske Wollrad (Hg.), So ist mein Leib. Alter, Krankheit und Behinderung - feminis‐ tisch-theologische Anstöße, hg. im Auftrag der Evangelischen Frauen in Deutschland (EFiD), Gütersloh 2012, 25-43; Sharon V. Betcher, Disability and the Terror of the Miracle Tradition, in: Stefan Alkier/ Annette Weissenrieder (Hg.), Miracles Revisited. New Testament Miracle Stories and their Concepts of Reality (SBR 2), Berlin/ Boston 2013, 161-181. 46 Vgl. Ulrich Bach, Ohne die Schwächsten ist die Kirche nicht ganz. Bausteine einer Theologie nach Hadamar, Neukirchen-Vluyn 2006, 409, 478, 487. 47 John M. Hull, The Broken Body in a Broken World. A Contribution to a Christian Doctrine of the Person from a Disabled Point of View, in: Journal of Religion, Disabi‐ lity-&-Health-7 (2003), 5-23, hier-22. Ansätze, (1) einen „erlösungsorientierten“ („redemptionist“), der versuche, biblische Texte entweder für heute neu zu erschließen, falls die Texte eine negative Haltung gegenüber Behinderungen zeigten, oder sie vor Fehlinterpre‐ tationen in der Gegenwart zu schützen, falls diese von Normalisierungsideen ausgingen, (2) einen „ablehnungsorientierten“ („rejectionist“), der im Gegensatz zum ersten dafür plädiere, die negativen Darstellungen der Bibel von Behinde‐ rungen mit Blick auf die moderne Gesellschaft abzulehnen, und schließlich (3) einen „historistischen“ („historicist“), der geschichtliche Untersuchungen und Interpretationen zu Behinderungen in der Bibel - teilweise im Vergleich zu benachbarten Kulturen - vornehme, ohne aber ein eindeutiges Interesse an daraus erwachsenden Konsequenzen für die heutige Zeit zu haben. 48 In dem-2012 von Wolfgang Grünstäudl und Markus Schiefer Ferrari herausge‐ gebenen Sammelband „Gestörte Lektüre. Disability als hermeneutische Leitkate‐ gorie biblischer Exegese“ spricht sich Schiefer Ferrari in einem Einführungsartikel zu Lk 14,12-14 - und auch in späteren Veröffentlichungen - dafür aus, „das irritie‐ rende und störende Potential biblischer Texte für den durch die Disability Studies angestoßenen Diskurs zu entdecken“, zugleich aber auch aufzudecken, inwiefern biblische Texte in ihrer Rezeptionsgeschichte „aufgrund ihrer kulturprägenden Kraft an der Konstruktion von Behinderung und an negativen Differenzvorstel‐ lungen“ beteiligt (gewesen) seien. 49 Über eine kritische Auseinandersetzung mit biblischen (Heilungs-)Erzählungen und verschiedenen Interpretationsansätzen hinaus, müsse es Leser: innen zudem darum gehen, „eigene Differenzkategorien und Exklusionsbzw. Normalisierungsvorstellungen zu hinterfragen.“ 50 Nicht eigentlich auflösbar erscheine die Spannung, die sich aus dem Anspruch der Texte, auf die weltverändernde Kraft Gottes zu verweisen, auf der einen Seite und aufgrund des Anliegens aktueller Leser: innen, die deutungsverändernde Wirkung menschlicher Zerbrechlichkeit ernst nehmen zu wollen, auf der anderen Seiten Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 „Alles außer gewöhnlich“ 19 48 Hector Avalos/ Sarah J. Melcher/ Jeremy Schipper, Introduction, in: Avalos/ Mel‐ cher/ Schipper, This Abled Body (s. Anm. 40), 1-9, hier 4f., mit Verweis auf Hector Avalos, Redemptionism, Rejectionism and Historicism as Emerging Approaches in Disability Studies, in: PRSt-34 (2007), 91-100, hier-91f. 49 Markus Schiefer Ferrari, (Un)gestörte Lektüre von Lk 14,12-14. Deutung, Differenz und Disability, in: Grünstäudl/ Schiefer Ferrari, Gestörte Lektüre (s.-Anm.-40), 13-47, hier 45. 50 Markus Schiefer Ferrari, Gestörte Lektüre. Dis/ abilitykritische Hermeneutik biblischer Heilungserzählungen am Beispiel von Mk 2,1-12, in: Bernd Kollmann/ Ruben Zimmer‐ mann (Hg.), Hermeneutik der frühchristlichen Wundererzählungen. Geschichtliche, literarische und rezeptionsorientierte Perspektiven (WUNT/ I 339), Tübingen 2014, 627- 646. ergebe. 51 Vielmehr sei diese im Sinne der „Fragilität des Interpretationsversuchs“ 52 - und damit auch im Sinne einer Hermeneutik, die sich an der Kategorie Dis/ ability orientiere - auszuhalten. Claudia Jansen plädiert in einem Beitrag über „Heilung im Matthäusevange‐ lium“ zum einen dafür, diesen Ansatz auf eine sozialgeschichtliche Perspektive hin zu weiten, um Krankheiten und Behinderungen deutlicher als „Alltags‐ erfahrungen der Mehrheit im römischen Reich“ wahrzunehmen, und zum anderen dafür, Betroffene als Erzähler: innen eigener Heilungserfahrungen und -hoffnungen zu begreifen, indem z. B. in Mt 11,5 die mediale Verbform aktivisch mit „Arme verkünden das Evangelium“ statt passivisch mit „Armen wird das Evangelium gepredigt“ (LU 2017) übersetzt und Arme als Kollektivbegriff verstanden werde, der auch Menschen mit Behinderungen und Krankheiten einschließe. Heilungserzählungen könnten damit auch als Zeichen der Selbst‐ ermächtigung, des Empowerments, gedeutet werden. 53 Allerdings könne selbst eine solche Lesart die Sperrigkeit der Texte nicht einfach aufheben und den Vorwurf, sie seien Normalisierungsgeschichten, entkräften, da auch Betroffene als Autor: innen „möglicherweise nicht frei von Idealvorstellungen von Gesund‐ heit und verinnerlichter Selbstabwertung“ seien. 54 Mit der Arbeit von Louise Joy Lawrence erscheint 2013 erstmals eine Mo‐ nographie, die sich ausschließlich dem Neuen Testament und Menschen mit Sinnesbehinderungen zuwendet, um zu zeigen, „how the ‘sensory-disabled‘ characters surveyed can each challenge and refigure dominant conceptions of the ‚normal‘ in both biblical traditions und scholarly analyses at a more fundamental level.“ 55 Lawrence setzt sehr breit an, nicht nur bei den Disability Studies (z. B. dem Konzept der „narrativen Prothese“ von Mitchell/ Snyder), sondern ebenso bei den Performance Studies sowie vor allem bei der Sinnes‐ anthropologie und bei ethnographischen Untersuchungen. Jenseits der drei von Avalos, Melcher und Schipper benannten Zugangsmöglichkeiten zum Thema Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 20 Markus Schiefer Ferrari 51 Markus Schiefer Ferrari, Teilhabe für alle. Biblische Hoffnungsgeschichten dis/ abilitykri‐ tisch gelesen, in: Lothar Bluhm/ Markus Schiefer Ferrari/ Werner Sesselmeier (Hg.), „Bist du ein Mensch, so fühle meine Not.“ Menschenrechte in kultur- und sozialwissenschaft‐ licher Perspektive (Landauer Beiträge zur Kultur- und Sozialgeschichte-3), Baden-Baden 2019, 71-92, hier-91f. 52 Ruben Zimmermann, Von der Wut des Wunderverstehens. Grenzen und Chancen einer Hermeneutik der Wundererzählungen, in: Kollmann/ Zimmermann, Hermeneutik der frühchristlichen Wundererzählungen (s.-Anm.-50), 27-52, hier-46. 53 Claudia Janssen, „Er kümmert sich um alle Kranken und alles Leiden im Volk“ (Mt 4,23). Heilung im Matthäusevangelium, in: Geiger/ Stracke-Bartholmai, Inklusion denken (s.-Anm.-41), 125-139, hier-136f. 54 Janssen, Er kümmert sich (s.-Anm.-53), 138. 55 Lawrence, Sense and Stigma (s.-Anm.-40), 125. Bibel und Behinderung möchte sie die Deutungsgeschichte neu schreiben, indem sie diese interdisziplinären Perspektiven auf fantasievolle und kreative Weise miteinander verknüpfe und zudem „new and cathartic interpretations which reconfigure the profiles of these flat and often silent characters in fresh and innovative ways“ anbiete, um den Exeget: innen dabei zu helfen, ihre eigenen Vorurteile und Normen wahrzunehmen, „which have prejudiced their interpretations and closed off the means to engage with the multidimensional natures of other sensory worlds.“ 56 5.3. Dritte Phase: Textorientierung Besonders anregend ist die 2018 erschienene Monographie von Anna Rebecca Solevåg, „Negotiating the Disabled Body“, nicht nur weil sie sich in der Einlei‐ tung dezidiert auf das kulturelle Modell der Disability Studies bezieht und für jedes Kapitel einen methodischen Ansatz ins Zentrum ihrer Überlegungen stellt, wie etwa das Konzept der „narrativen Prothese“ von Mitchell/ Snyder, Susan Sontags Erörterungen zu „Krankheit als Metapher“ 57 , Rosemarie Garland-Thom‐ sons Thema „Blicken/ Starren“ 58 sowie die Stigma-, Monster- und Crip-Theorie. Vielmehr bietet sie - konsequent intersektional und interdisziplinär - ein breites Themenspektrum an, das Heilungen von Männern in den Evangelien (Mk 2,1-10; 7,24-30; Joh 4,46-54; 5,1-15; 9,1-41) und von Frauen in den apokryphen Petrusakten ebenso behandelt wie Fragen von Behinderung und Männlichkeit, etwa in Bezug auf den Vorwurf des Wahnsinns (u. a. Mk 3,19-30; 2Kor 11,16-30), auf Beschimpfungen des Judas in Papiasfragmenten und auf die Eunuchenkategorie in Mt 19,12 und Apg 8,26-40. 59 Auch wenn Disability eine moderne Kategorie ist, geht Solevåg - ähnlich wie Rebecca Raphael mit der „trilogy of disability“ blind, taub und lahm für die Hebräische Bibel 60 - für das Neue Testament von einem vergleichbaren übergeordneten Konzept von Gebrechen (infirmity) oder Behinderung aus, wobei sie betont, dass sich die ihnen zugeschriebenen Bedeutungen erheblich von den heutigen unterscheiden. Vor allem versucht sie danach zu fragen, wie Darstellungen von Behinderungen im jeweiligen literarischen Rahmen funktionieren, dabei aber zugleich die Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 „Alles außer gewöhnlich“ 21 56 Lawrence, Sense and Stigma (s.-Anm.-40), 9. 57 Susan Sontag, Illness as Metaphor and AIDS and Its Metaphors, London 2002. 58 Rosemarie Garland-Thomson, Staring. How we look, Oxford 2009. 59 Vgl. Solevåg, Negotiating the Disabled Body (s. Anm. 44), bes. 26-28; aktuell auch Anna Rebecca Solevåg, The Ideal Meal. Masculinity and Disability among Host and Guests in Luke, in: Biblical Theology Bulletin-53.4 (2023), 272-282. 60 Rebecca Raphael, Biblical Corpora (s.-Anm.-40), 13f. medizinischen und ursächlichen Rahmenkonzepte zu beachten. 61 Insgesamt kommt Solevåg in ihrer Studie zu dem Fazit, dass sowohl die gelebte Erfahrung von Behinderung als auch ihre Darstellung in frühchristlichen Texten variieren und eng mit weiteren Differenzkategorien wie Geschlecht, Klasse oder ethni‐ scher Zugehörigkeit zusammenhängen. So hätten nach wie vor die von Avalos/ Melcher/ Schipper beschriebenen drei Richtungen alle ihre Berechtigung und weiterhin das Potenzial für eine spannende Forschung innerhalb der biblischen Disability Studies. 62 Im Vergleich zu Solevåg beschränken sich die Autor: innen dreier Qualifika‐ tionsschriften zu Recht auf ausgewählte neutestamentliche Textgattungen, zum einen Louise A. Gosbell 2018 - noch vor Solevågs Studie - auf Heilungserzäh‐ lungen in den Evangelien (Lk 14,15-24; Mk 5,25-34; Joh 5,1-18; 9,1-41) bzw. Lena Nogossek-Raithel 2023 auf die Heilungserzählungen im Markusevange‐ lium und zum anderen Isaac T. Soon 2023 auf die Paulusbriefe, ausgehend von der Frage, inwieweit Beschneidung, Dämonisierung und Kleinwuchs in der Antike als Behinderungsformen zu begreifen sind, und können sich auf diese Weise noch intensiver mit den Texten selbst und ihren zeitgeschichtlichen Bezugssystemen auseinandersetzen. Gosbell bietet im Gegensatz zu Nogossek-Raithel 63 und Soon 64 neben einer ausführlichen Einführung in die Disability Studies und Disability-Methodologie vor allem eine intensive Auseinandersetzung mit der „Behinderungslandschaft“ in der griechisch-römischen Welt einerseits und in der Hebräischen Bibel und zur Zeit des Zweiten Tempels andererseits 65 , um so zeigen zu können, inwieweit die Evangelisten kulturell bedingte Konstruktionen von Behinderung in der Antike verstärken, reflektieren oder unterwandern. 66 Obwohl es kaum möglich sein dürfte, die tatsächlichen Lebenserfahrungen von Menschen mit Behinde‐ rungen in Palästina des ersten Jahrhunderts mit Hilfe der neutestamentlichen Texte zu erfassen, lasse sich zumindest die Art und Weise untersuchen, wie Menschen mit körperlichen und sensorischen Behinderungen in den epigraphi‐ schen, medizinischen und literarischen Quellen der Antike sowie insbesondere in den Evangelien selbst textlich dargestellt würden. Auch wenn es in der Antike keinen übergreifenden Begriff für Behinderung gegeben habe, werde Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 22 Markus Schiefer Ferrari 61 Vgl. Solevåg, Negotiating the Disabled Body (s.-Anm.-44), 14, 25. 62 Vgl. Solevåg, Negotiating the Disabled Body (s.-Anm.-44), 153-160. 63 Vgl. Nogossek-Raithel, Dis/ ability in Mark (s.-Anm.-44), 1-19. 64 Vgl. Soon, A Disabled Apostle (s. Anm. 44), 1-16; vgl. auch Isaac T. Soon, Disability and New Testament Studies. Reflections, Trajectories, and Possibilities, in: Journal of Disability-&-Religion 25.4 (2021), 374-387. 65 Vgl. Gosbell, The Poor (s.-Anm.-44), 1-30, 31-43, 44-111, 112-164. 66 Vgl. Gosbell, The Poor (s.-Anm.-44), 4. jedem Körper, ob als „able-bodied“ oder „deviant“ erachtet, im Rahmen seines sozialen, kulturellen und religiösen Milieus eine Bedeutung zugewiesen. 67 Auf diesem Hintergrund zeigt Gosbell beispielsweise, Lukas untergrabe in Lk 14,15- 24 das traditionelle Bild von Menschen mit Behinderungen als ungebetene Gäste und betone stattdessen, dass den Armen und Behinderten sowohl in der sich entwickelnden Jesusbewegung als auch beim zukünftigen Festmahl ein wichtiger Platz zukomme. Mit Blick auf die Bedeutung ihrer Ergebnisse für eine gegenwärtige Diskussion bleibt Gosbell zurückhaltend und erwähnt lediglich, dass sich zukünftige Forschung in Bezug auf Behinderung noch mit weiteren Texten im Neuen Testament oder Vorstellungen körperlicher Auferstehung in den ersten Jahrhunderten beschäftigen müsse. 68 Auch Nogossek-Raithel betont, vor einem „erlösenden“ oder „ablehnenden“ Zugang sei zunächst ein offener historischer Interpretationsansatz zu wählen, unabhängig von einer ekklesiologischen oder theologischen Anwendung. Eine historische Analyse der Texte bilde die hermeneutische Grundlage einer mög‐ lichen (Wieder-)Aneignung, (Wieder-)Bewertung und (Wieder-)Interpretation sowie ihrer soziopolitischen Kraft im Geiste der Dis/ ability Studies. 69 So kommt sie u. a. zu dem wichtigen Ergebnis, dass das Markusevangelium physische Dualität in Frage stelle, wenn der markinische Jesus viele Menschen heile, die litten und wünschten, verwandelt zu werden, gleichzeitig ihr Leiden aber anerkenne. 70 Soon hofft, sich mit Hilfe der Behinderungskategorie - trotz aller Skepsis in der Forschung - den spezifischen Behinderungen des Paulus annähern zu können, indem er nicht den Zustand des Paulus medizinisch zu diagnostizieren sucht, sondern die gesellschaftliche Wahrnehmung der Funktionalität und Ästhetik seines Körpers im Kontext der Idealvorstellungen seiner Zeit zu analysieren versucht. 71 Abschließend regt er an, weitere Forschungen sollten sich mit der Wahrnehmung des Paulus als behinderter Apostel in der Rezepti‐ onsgeschichte, insbesondere in der apokryphen Literatur und ikonografischen Darstellungen, auseinandersetzen. Außerdem könne die Erkenntnis, dass die behandelten Behinderungsformen in der Antike heute keineswegs mehr als solche eingestuft würden, dazu beitragen, eigene Vorstellungen von Disability zu hinterfragen. 72 Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 „Alles außer gewöhnlich“ 23 67 Vgl. Gosbell, The Poor (s.-Anm.-44), 27f. 68 Vgl. Gosbell, The Poor (s.-Anm.-44), 325-327. 69 Vgl. Nogossek-Raithel, Dis/ ability in Mark (s.-Anm.-44), 5f. 70 Vgl. Nogossek-Raithel, Dis/ ability in Mark (s.-Anm.-44), 266. 71 Vgl. Soon, A Disabled Apostle (s.-Anm.-44), 4. 72 Vgl. Soon, A Disabled Apostle (s.-Anm.-44), 220. 73 Anne Waldschmidt/ Elsbeth Bösl, Nacheinander/ Miteinander. Disability Studies und Dis/ ability History, in: Cordula Nolte/ Bianca Frohne/ Uta Halle/ Sonja Kerth (Hg.), Dis/ ability History der Vormoderne. Ein Handbuch/ Premodern Dis/ ability History. A Companion, Affalterbach 2017, 40-49, hier-47f. 74 Martin Leutzsch, Eine durch und durch politische Angelegenheit. Feministische Exegese, Gender Studies und queere Lektüren des Neuen Testaments. Gedanken zu Fragestellungen, Problemen und Kontexten der Forschung, in: ZNT 49 (2022), 7-25, hier-25. 6. Fazit So notwendig die historisch-kritische Forschung und ihre Ergebnisse sind, besteht, wie in den jüngsten Arbeiten zu sehen ist, die Gefahr, dass der Bezug zur Gegenwart zwar als wichtig erachtet, aber anderen überlassen wird. Wenn Vertreter: innen der Dis/ ability Studies für die Dis/ ability History einfor‐ dern, dass diese weder „spezialisierte Segmentgeschichte“ noch „historische Randgruppenforschung oder Behindertenwissenschaft“ sein dürfe, sondern die Möglichkeit biete, „nicht nur Geschichte(n) der (Nicht-)Behinderung, sondern auch die allgemeine Geschichte neu zu schreiben“, und zudem immer eine „selbstkritische Perspektive“ benötige, um nicht als Wissenschaft selbst durch die Generierung und Verbreitung bestimmter Bilder und Konzepte von Dis/ ability „an der Konstitution von Ausgrenzungsmechanismen“ beteiligt zu sein, 73 so gilt dies ebenso für eine dis/ abilitykritische Exegese. Es müsste deutlich werden, dass die Erforschung auch von Dis/ abilityaspekten in der Exegese von vornherein „eine durch und durch politische Angelegenheit“ ist, wie Martin Leutsch pointiert für die feministische Exegese und Gender Studies feststellt: Jede Form von Exegese ist kontextuell und politisch, auch wenn dies von den Akteur: innen geleugnet werden mag. Selbstkritische Exegese legt die ihr bewussten politischen Optionen offen. Damit macht sie sich kritisierbar und kann Diskussionen mit aktuellem politischem Bezug anregen. Die Offenlegung dieser Optionen hat zugleich den Vorteil, dass sie nicht unbewusst in die Untersuchungsobjekte projiziert werden müssen. 74 Will eine dis/ abilitykritische Exegese nicht ein Nischendasein als Segmentexe‐ gese führen, darf sie sich nicht nur des methodischen Instrumentariums der Dis/ ability Studies bedienen, sondern muss den Dialog mit Vertreter: innen der Dis/ ability Studies suchen, auch wenn dieser mit Blick auf Theologie und Kirche geschichtlich belastet ist. Wichtig für das Verständnis der Dis/ ability Studies ist es, außerdem zu wissen, dass eine ihrer Wurzeln in der politischen Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 24 Markus Schiefer Ferrari Behindertenbewegung der 70er Jahre zu finden ist, es sich also immer auch um soziale Anliegen Betroffener handelt. Um sich noch deutlicher gegenüber den Ansätzen der Dis/ ability Studies zu öffnen, sollte eine dis/ abilitykritische Exegese, wie etliche der vorgestellten Studien bereits exemplarisch vorgeführt haben, intersektionale und interdiszi‐ plinäre Perspektiven aufgreifen und zudem die Rezeptionsgeschichte neutesta‐ mentlicher Texte, etwa in der frühchristlichen Kunst und Literatur, untersuchen, nicht zuletzt mit der Fragestellung, inwieweit diese zur Konstruktion von Disability beigetragen hat. Zugleich wäre auch eine größere Offenheit von Seiten der Vertreter: innen der klassischen Exegese gegenüber einer dis/ abilitykritischen Exegese wünschens‐ wert sowie eine stärkere Gesprächsbereitschaft der Dis/ ability Studies allgemein gegenüber theologischen Fächern, um das Verhältnis von Dis/ ability (Studies) und Neuem Testament in Zukunft nicht mehr als „alles außer gewöhnlich“ beschreiben zu müssen. Markus Schiefer Ferrari studierte Katholische Theo‐ logie und Mathematik an der Ludwig-Maximilians-Univer‐ sität München. Er ist seit 2007 Professor für Katholische Theologie mit den Schwerpunkten Biblische Theologie, Exegese des Neuen Testaments und Bibeldidaktik am Institut für Katholische Theologie der Rheinland-Pfäl‐ zischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau. Seine Forschungsschwerpunkte sind rezeptionsästhetische Hermeneutik und Didaktik sowie biblische Hermeneutik angesichts der Dis/ ability Studies. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 „Alles außer gewöhnlich“ 25 1 Immer noch lesenswert ist Erving Goffman, Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt am M. 25 2020, wenngleich man heute an vielen Stellen des Buches sicherlich sprachsensibler übersetzen würde. 2 Zur hier verwendeten Sprachregelung: „Menschen mit Behinderung(en)“ ist der heute am breitesten akzeptierte Begriff der Alltagssprache, den auch Amnesty International (Sektion Schweiz) im Glossar der inklusiven Sprache favorisiert (https: / / www.amn esty.ch/ de/ ueber-amnesty/ inklusive-sprache/ glossar [letzter Zugriff am 20.09.2024]); in der Theoriediskussion tendiere ich zum sozialen Behinderungsmodell (vgl. Anne Waldschmidt, Macht - Wissen - Körper. Anschlüsse an Michel Foucaut in den Disability Studies, in: dies./ Werner Schneider [Hg.], Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld [Disability Studies. Körper - Macht - Differenz 1], Bielefeld 2015, 55-77); da es jedoch bislang keinen Konsens zur Verwendung von impairment und disability gibt, variiere ich je nach Nuancierung und Sekundärliteratur. Zum Thema Stereotype Fremde? Reflexionen zu den Kranken/ Geheilten in den neutestamentlichen Wundererzählungen im Spiegel der Dis/ ability Studies Uta Poplutz 1. Problemanzeige Wie leicht fließt Exegetinnen und Exegeten bei der Auslegung entsprechender Perikopen die Rede von den „Randständigen“ oder „Marginalisierten“ aus der Feder, wenngleich dies eine soziale Stigmatisierung 1 impliziert, die bei der Erwähnung von Menschen mit Behinderungen 2 wie etwa „Blinden“ oder „Ge‐ lähmten“ keineswegs zwingend sein muss. Wieso gehen wir offenbar reflexartig und stillschweigend davon aus, dass Behinderungen in der Antike automatisch zu Ausgrenzung und sozialem Abstieg geführt haben müssen? Oder - anders‐ Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 3 Markus Schiefer Ferrari, (Un)gestörte Lektüre von Lk 14,12-14. Deutung, Differenz und Disability, in: Wolfgang Grünstäudl/ Markus Schiefer Ferrari (Hg.), Gestörte Lektüre. Disability als hermeneutische Leitkategorie biblischer Exegese, Stuttgart 2012, 13-47, hier-19, dort auch die erwähnten Belege. herum gewendet - warum liegt uns der Gedanke so fern, dass damals wie heute auch wohlhabende Personen erblinden oder erlahmen konnten? Sicherlich ist diese Wahrnehmung nicht zuletzt auf den biblischen Befund zurückzuführen, wenn etwa in Lk 14,12-14 Menschen mit Behinderungen in einem Atemzug mit „Bettelarmen“ (ptōchoi) erwähnt werden. Und sicherlich konnten Menschen, die mit Behinderungen leben mussten, realiter einen so‐ zialen Abstieg erleiden - sei es, weil sie nicht erwerbsfähig waren, sei es, weil ihre Beeinträchtigung sie aufgrund religiös konnotierter Unreinheit sozial stigmatisierte (Aussatz [Mk 1,40-45 par; Lk 17,11-19]; anhaltender Blutausfluss [Mk-5,25-34-par]). Doch muss das, wie Markus Schiefer Ferrari anhand zeitge‐ nössischer exegetischer Kommentierungen zu Lk 14,12-14 eindrücklich gezeigt hat, unbedingt zu derart unbedachten Pauschalurteilen führen? In der Exegese werden die genannten Menschen mit Behinderungen […] oftmals einleitend pauschal als „ärgerliche Zumutung“ [Gerhard Hotze], „Abschaum der Gesellschaft“ [Martin Ebner] oder „unsympathisch“ [François Bovon] beschrieben, wohl um die Kontrastierung zu unterstreichen und das mit der Perikope verbundene Anliegen einer Durchbrechung der Einladungs- und Reziprozitätskonventionen […] deutlicher werden zu lassen. 3 Bei der Analyse von Heilungserzählungen fällt auf, dass sich die exegetische Forschung denjenigen Figuren, die irgendeine Form von impairment aufweisen, in erster Linie im Hinblick auf ihre Funktion, das Wirken Jesu als Wundertäter zu illustrieren, zugewandt hat; damit werden diese aber vorrangig als Objekte der Heilungstätigkeit Jesu verstanden und nicht als eigenständige Akteure. Sie sind in den Erzählungen auch aufgrund gezielter Leserlenkung „die anderen“, d. h. diejenigen, die nicht der Normalität entsprechen, aber durch das Wun‐ derwirken Jesu wieder „normal“ werden. Wenn dieses dann auch noch als prophetische Zeichenhandlung für die Herrschaft Gottes fungiert, sind die Folgen für Leserinnen und Leser fatal. Insbesondere die feministische Theologin und Rollstuhlfahrerin Dorothée Wilhelm hat mit ihrer harschen Kritik und der Rede von „spiritueller Ausbeutung“ von Menschen mit Behinderungen in einem wütenden Essay aufhorchen lassen. Sie kritisiert insbesondere die dargestellten „Sehgewohnheiten“, die die Sehgewohnheiten der vermeintlich „Normalen“ sind, für die jede Abweichung vom körperlichen Status der „Normalität“ mit Leiden gleichgesetzt wird: Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 28 Uta Poplutz 4 Dorothée Wilhelm, Wer heilt hier wen? Und vor allem: wovon? Über biblische Hei‐ lungsgeschichten und andere Ärgernisse, in: Schlangenbrut-16-(1998), 10-12, hier-10. 5 Vgl. Gerd Theißen, Urchristliche Wundergeschichten. Ein Beitrag zur formgeschicht‐ lichen Erforschung der synoptischen Evangelien (StNT 8), Gütersloh 6 1999, 54 (Die Habilitationsschrift wurde-1972 in Bonn eingereicht). Biblische Heilungsgeschichten gehen mir auf die Nerven. Und zwar massiv. […] Lukas 13,10-17 ist eine Normalisierungsgeschichte, wie so ziemlich alle Heilungs‐ wunder. Der abweichende Körper wird qua Wunderheilung ein „normaler“ Körper, das Auge ist nicht länger irritiert vom Anblick der Abweichenden. Wessen Auge? Nicht das derer, die als abweichend abgebildet werden. 4 Zieht man dann zur Illustration der Problemanzeige noch die forschungsge‐ schichtlich wegweisende und breit rezipierte formgeschichtliche Studie von Gerd Theißen hinzu und folgt seinem Vorschlag, die Personen der Wunderge‐ schichten einzelnen Rollen und Feldern zuzuordnen, stehen die „Kranken“ dem „Wundertäter“ diametral gegenüber: während der Wundertäter ausschließlich (sic! ) der göttlichen Sphäre angehört (warum eigentlich? ), gehören die Kranken zur menschlichen Sphäre, kommen aber mit einem Fuß im dämonischen Areal zum Stehen. 5 D (Dämon); K (Kranker); B (Begleiter); J ( Jünger); W (Wundertäter); M (Menge); G-(Gegner) Auch wenn die Studie von Theißen nach wie vor hilfreiche Impulse für die formgeschichtliche Erfassung der neutestamentlichen Wundererzählungen lie‐ fert, würde man heute - gut 50 Jahre später - insbesondere im Hinblick auf rezeptionsästhetische Überlegungen im Spiegel der Dis/ ability Studies einen solchen Ableismus vermeiden. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 Stereotype Fremde? 29 6 Das Konzept des Othering entstammt dem postkolonialen Diskurs der 1970er Jahre und beschreibt die gewaltvolle hegemoniale Praxis des Fremdmachens, vgl. Edward W. Said, Orientalismus, Frankfurt am Main 2009; der Begriff wird aber auch alltagssprachlich verwendet. Instruktiv zum Thema Janosch Freuding, Othering, in: WiReLex-9 (2023). 7 Elisabeth Bösl/ Anne Klein/ Annette Waldschmidt, Disability History. Einleitung, in: dies. (Hg.), Disability History. Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte. Eine Einführung (Disability Studies. Körper - Macht - Differenz 6), Bielefeld 2010, 7-10, hier-7. 8 Bösl/ Klein/ Waldschmidt, Disability History (s.-Anm.-7). Denn die Frage ist ja, wie zwingend dieses Othering 6 von den biblischen Texten angelegt ist? Und was es für die Rezeption der Heilungserzählungen bedeutet? Insbesondere die letztgenannte Ebene soll im Folgenden in den Blick genommen werden. 2. Annäherungen an das Phänomen impairment/ disability in der Antike und dessen Rezeption Jede Form von Ableismus oder Othering setzt voraus, dass eine Mehrheits‐ gemeinschaft oder „Wir“-Gruppe bestimmte Attribute als Norm setzt und diejenigen, die als abweichend wahrgenommen werden, als nicht dazugehörig definiert. Behinderung als Zuschreibung markiert eine gesellschaftlich marginalisierte Position und hat immer wieder, ähnlich wie das „Fremde“, das „Schwache“ oder das „Andere“, entweder soziale Ungleichheit begründet oder aber als Legitimation für die Aufrecht‐ erhaltung gesellschaftlicher Hierarchien gedient. 7 Aus Sicht der Dis/ ability Studies subsumiert der Begriff „Behinderung“ eine Vielzahl unterschiedlicher Erscheinungsformen von gesundheitsrelevanter Dif‐ ferenz. 8 Allerdings entscheidet der historische Kontext, wie die Zuordnung zu dieser Kategorie verläuft und welche Folgen sie hat. Auf diesen historischen Kontext soll somit zunächst der Blick gerichtet werden, denn es drängen sich Fragen auf. Laut dem Global Report on Health Equity for Persons with Disability der WHO aus dem Jahre 2022, sind aktuell un‐ gefähr 16% der Menschheit, d. h. ungefähr 1,3 Milliarden Personen in irgendeiner Form signifikant körperlich oder psychisch eingeschränkt. Selbstverständlich ist das eine Minderheit, aber man kann keineswegs sagen, dass diese verschwin‐ dend sei. Richtet man den Fokus dann aber in die Antike, ist davon auszugehen, dass die Prozentzahl von Menschen mit Behinderungen exponentiell höher ge‐ wesen sein wird als etwa in unseren zeitgenössischen westlichen Gesellschaften. Mit dem Aufstieg Roms zur Weltmacht lösten sich viele traditionelle Gebilde Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 30 Uta Poplutz 9 Vgl. Hans-Peter Hasenfratz, Die antike Welt und das Christentum, Darmstadt 2004, 14. 10 Lennard J. Davis, Foreword, in: Ellen Adams (Hg.), Disability Studies and the Classical Body. The Forgotten Other (Routledge Studies in Ancient Disabilities), London/ New York 2021, xv-xix, hier-xvii. 11 Dazu ausführlich Edith Hall, The immortal forgotten other Gang. Dwarf Cedalion, Lame Hephaestus, and Blind Orion, in: Adams (Hg.), Disability (s. Anm. 10), 215-236, bes.-223-230. 12 Vgl. Davis, Foreword (s.-Anm.-10), xvi. wie Familienverbände oder dörfliche Gemeinschaften auf; zugleich führte eine große, zum Teil erzwungene Mobilität ehemals sesshafter Bevölkerungsteile zur Destabilisierung der antiken Gesellschaften. 9 In instabilen und sich durch starke Migration in Bewegung befindenden Gesellschaften kommt es wiederum häufiger zu Raubüberfällen (vgl. Lk 10,25-37) und organisiertem Banditentum mit den damit verbundenen Schädigungen von Personen; vor allen Dingen aber zählten kriegerische Auseinandersetzungen inklusive Plünderungen und Brandschatzungen zur wahrscheinlichen Realität, mit der man im Laufe seines Lebens zu rechnen hatte. In einer Welt, die geprägt war von Schadensfällen und Unglücken, von kleineren oder größeren Naturkatastrophen, von Krankheiten, chronischen Gebrechen oder Infektionen, mit denen wir es in der heutigen westlichen Welt angesichts des medizinischen Fortschritts, hoher Hygienestan‐ dards in Kliniken und insbesondere auch bei Geburten nicht mehr zu tun haben, gehörten Menschen mit sichtbaren Beeinträchtigungen zur Alltagswirklichkeit. Das wiederum wirft die Frage auf: „Was the other in the ancient world actually an other? “ 10 Das Problem, das in den Dis/ ability Studies in den letzten Jahren deutlich markiert wurde, ist nämlich, dass unser Blick auf die griechisch-römische Antike durch die in Museen ausgestellten perfekt modellierten Figuren und Büsten sowie ideale dekadente oder intellektuelle Szenen reicher Oberschichtangehö‐ riger auf Fresken oder Mosaiken geprägt ist. Selbstverständlich gibt es mytho‐ logische Ausnahmen wie etwa Hephaistos, den Sohn des Zeus und der Hera, der klein, hässlich und gelähmt (χωλός - chōlos, Homer, Ilias 18,397) auf die Welt kam und den seine Mutter deshalb vom Olymp ins Meer schleuderte 11 ; auch der Kyklop Polyphemos, der nur ein Auge besaß (vgl. Hesiod, Theogonie-139-145), von dem Homer aber betont, er sei der „göttlichste und stärkste von allen Ky‐ klopen“ (Homer, Odyssee 1,70), oder der blinde Seher Teiresias, der in zahlreichen antiken Werken begegnet, wären hier einzustellen. Doch eine normale blinde Frau, ein gewöhnlicher tauber Mann oder ein mobilitäseingeschränktes Kind begegnen uns nicht. 12 Und interessanterweise irritieren die zahlreichen beschädigten Figuren, die wir in Museen oder Bildbänden bestaunen können, und bei denen im Laufe der Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 Stereotype Fremde? 31 Zeit Gliedmaße oder ganze Köpfe verlorengegangen sind, diese Wahrnehmung nicht. Stattdessen substituieren wir automatisch die Beschädigungen - etwa die fehlenden Arme der Venus von Milo 13 oder den nicht mehr vorhandenen Kopf der Nike von Samothrake - und können sie ohne Probleme als perfekte, ikonische Kunstwerke feiern. Gerade die klassischen Marmorstatuen haben die Rezeption von vollkommenen Körpern und ihrer Wertschätzung in der Antike geprägt und führen automatisch zu der Annahme, behinderte Körper wurden marginalisiert. Das durch solche Prozesse evozierte Bild der antiken Gesellschaft ist aber unvollständig, wenn nicht falsch. Behinderungen und Krankheiten waren nicht die Ausnahme, sondern ein Alltagsphänomen, das einem überall begegnete und das einen auch selbst treffen konnte. Insbesondere die griechischen Papyri geben hier Aufschluss. 14 Denn auch für die Antike galt der Grundsatz, der heute immer noch virulent ist: Wer jung und gesund stirbt, kann Heldenstatus gewinnen. Wer aber alt wurde, machte zwangsläufig irgendwann in seinem Leben Erfahrungen mit Verwundungen, Krankheiten oder Behinderungen - sei es im physischen oder im mentalen Bereich. 15 Wenn diese Annahme stimmt, dann könnte es durchaus sein, dass wir in unseren heutigen westlichen Gesell‐ schaften Menschen mit Behinderungen, die im Straßenbild so gut wie nicht mehr vorkommen, deutlich mehr ausgrenzen, als es möglicherweise in der Antike der Fall gewesen ist: „So might the ‚other‘ actually be less othered than now? Would it be the case that there is not so much a forgotten other as there was a self that was only later othered as disability became less common? “ 16 Wenn das eine richtige Vermutung ist, müsste dies nicht zuletzt auch aus moralisch-ethischen Gründen zwingend einen Perspektivwechsel nach sich ziehen. 17 Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 32 Uta Poplutz 13 Dazu Amanda Kubic, Cripping Venus. Intersections of Classics and Disability Studies in Contemporary Receptions of the Venus de Milo, in: Anastasie Bakogianni/ Luis Unceta Gómez (Hg.), Classical Reception. New Challenges in a Changing World (Trends in Classics - Pathways of Reception-9), Berlin/ Boston-2024, 239-263. 14 Instrukiv dazu Peter Arzt-Grabner, Behinderungen und Behinderte in den griechischen Papyri, in: Rupert Breitwieser (Hg.), Behinderungen und Beeinträchtigungen/ Disability and Impairment in Antiquity (BAR International Series-2359), Oxford-2012, 47-55. 15 Vgl. Ellen Adams, Disability Studies and the Classical Body. The forgotten Other. Introduction, in: dies. (Hg.), Disability Studies (s.-Anm.-10), 1-36, hier-2. 16 Davis, Foreword (s.-Anm.-10), xvii. 17 Vgl. Adams, Introduction (s.-Anm.-15), 2. 18 Louise A. Gosbell, „The Poor, the Crippled, the Blind, and the Lame“. Physical and Sensory Disability in the Gospels of the New Testament (WUNT II/ 469), Tübingen 2015, 10. 19 Vgl. Lena Nogossek-Raithel, Dis/ ability in Mark. Representations of Body and Healing in the Gospel Narrative (BZNW-263), Berlin/ Boston-2023, 9. 20 Candida R. Moss, Mark and Matthew, in: Sarah J. Melcher/ Mikeal Carl Parsons/ Amos Yong (Hg.), The Bible and Disability. A Commentary (Studies in Religion, Theology, and Disability), Waco-2017, 275-301, hier-284. 21 Vgl. Moss, Mark and Matthew (s.-Anm.-20), 284. 3. Die Charaktere/ Figuren in den neutestamentlichen Heilungserzählungen Die neutestamentlichen Heilungserzählungen sind, wie das eingangs ange‐ führte Zitat von Dorothée Wilhelm veranschaulicht, in Bezug auf ein solches Othering insofern besonders problematisch, als sie nicht nur Menschen/ Figuren mit diversen körperlichen Beeinträchtigungen skizzieren, sondern dezidiert auf die Überwindung der Behinderungen abzielen: die Heilung, das heißt die Transformation in einen „gesunden“ physischen Zustand wird von der Textlogik her durchweg positiv bewertet und mit der Durchsetzung der Herrschaft Gottes verknüpft. „The removal of disability is thus seen as a foreshadowing of the full restoration of all humanity at the eschaton.“ 18 Das bedeutet, dass die Wechselbeziehung zwischen einem behinderten und einem kontrastierenden „normalen“ Körper nicht nur implizit begegnet, sondern dezidiertes Thema der Heilungserzählungen ist. Dass darüber hinaus diese Dis/ ability-Transformation auf der Ebene der story durch einen physisch aktiven Jesus durchgeführt wird, unterstreicht die körperliche Differenz zwischen Heiler und Geheilten. 19 In der Erzähllogik der neutestamentlichen Heilungsgeschichten sind die Kranken/ Behinderten somit tatsächlich die stereotypen Fremden, denen die Funktion zukommt, die Wundertätigkeit Jesu zu untermalen, indem ihr devianter Zustand nicht nur „korrigiert“, sondern gänzlich aufgehoben wird. Wenn dann noch körperliche Unversehrtheit und der Glaube an Jesus sachlogisch miteinander verknüpft werden (vgl. Mk 1,40; 9,23f.; 10,47-52; wörtlich in 5,34 und 10,52: „Dein Glaube hat dich gerettet“), führt das in der Rezeption zwangsläufig dazu, dass christusgläubige Personen/ Figuren immer auch gesunde Körper haben: „The prominence of these healing stories and the constant association of faith and wholeness has a marginalizing effect for persons of disability.“ 20 Denn indem die Erfahrungen von disability und Krankheit durch deren Überwindung quasi zum Verstummen gebracht werden, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass in der basileia Gottes kein Raum für Behinderungen ist. 21 Zieht man dann noch die Verbindung von Krankheit und Sünde hinzu, die bei Markus Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 Stereotype Fremde? 33 22 Moss, Mark and Matthew (s.-Anm.-20), 286. 23 Reinhard von Bendemann, „Many-coloured Illnesses…“ (Mk 1: 34). On the Significance of Illnesses in New Testament Therapy Narratives, in: Michael Labahn/ Bert Jan Lietaert ebenfalls prominent begegnet (Mk 2,1-12), ist der Effekt für heutige Leserinnen und Leser gravierend: „The role of Jesus as physician of souls and the portrayal of sinners as the sick is as striking as it is unsettling.“ 22 Vor dem Hintergrund des skizzierten griechisch-römischen Befundes lässt sich immerhin positiv hervorheben, dass in den neutestamentlichen Heilungs‐ geschichten ganz normale Charaktere mit Krankheiten/ Behinderungen be‐ gegnen, die durch Jesu Aktionen vom Rand ins Zentrum rücken. Dazu muss man sich nur das Figurenrepertoire des Markusevangeliums vor Augen führen, das Vorlage für die anderen synoptischen Evangelien ist: In der Synagoge von Kafarnaum sitzt ein Mann, der von einem unreinen Geist besessen ist (Mk 1,23-28); die Schwiegermutter des Petrus liegt mit Fieber im Bett (1,29- 31); ein Aussätziger fleht Jesus irgendwo in Galiläa um Hilfe an (1,40-42); zurück in Kafarnaum wird einer, der nicht gehen kann (paralytikós), durch das Dach des Hauses, in dem sich Jesus befindet, hinabgelassen (2,1-12); in einer Synagoge hält sich erneut an einem Sabbat ein Mann mit einer verdorrten Hand auf (3,1-6); im Gebiet von Gerasa lebt ein Mann in den Grabstätten und ist von einem unreinen Geist besessen, dessen Name Legion ist (5,1-20); ein Synagogenvorsteher mit Namen Jaïrus fleht für seine im Sterben liegende Tochter und zeitgleich wendet sich eine seit zwölf Jahren an Blutausfluss leidende Frau an Jesus (5,21-43); eine namenlose Syrophönizierin im Gebiet von Tyros bittet Jesus um die Heilung ihrer Tochter, die einen unreinen Geist hat (7,24-30); am See von Galiläa führt man einen Taubstummen zu Jesus (7,31-37); in Betsaida bringt man ihm einen Blinden, für dessen Heilung Jesus jedoch zwei Anläufe benötigt (8,22-26); ein von einem stummen Geist besessener Junge wird von seinem Vater zu den Jüngern gebracht, die ihn nicht heilen können, woraufhin Jesus selbst einen Exorzismus durchführt (9,17-29); und als Jesus und seine Jünger schließlich Jericho verlassen, begegnet ihnen der blinde Bettler Bartimäus, der Sohn des Timäus (10,46-52). Alle hier aufgezählten Charaktere werden von Jesus gesehen und geheilt. Sie halten sich an alltäglichen Plätzen und Orten auf und werden häufig von Angehörigen oder Bekannten begleitet, die sich um sie kümmern, sie zu Jesus bringen oder ihn stellvertretend um Hilfe bitten. Das signalisiert aber deutlich, dass die Kranken keineswegs automatisch zur Gruppe von sozial Marginalisierten oder Ausgeschlossenen zählen müssen. Dabei ist es interessant, wie Reinhard von Bendemann aufgezeigt hat, wie wenig Aufmerksamkeit die Exegese auf die genaue Art der Krankheiten oder Behinderungen in Heilungserzählungen gelegt hat. 23 Das spiegelt zum einen Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 34 Uta Poplutz Peerbolte (Hg.), Wonders never cease. The Purpose of Narrating Miracle Stories in the New Testament and its Religious Environment (LNTS 288), London/ New York 2006, 100-124, hier-100f. 24 Zu dieser Übersetzung vgl. Markus Schiefer Ferrari, Gestörte Lektüre. Dis/ abilitykri‐ tische Hermeneutik biblischer Heilungserzählungen am Beispiel von Mk 2,1-12, in: Bernd Kollmann/ Ruben Zimmermann (Hg.), Hermeneutik der frühchristlichen Wun‐ dererzählungen. Geschichtliche, literarische und rezeptionsorientierte Perspektiven (WUNT-I/ 339), Tübingen-2014, 627-646, hier bes.-639-643. 25 Vgl. Schiefer Ferrari, Gestörte Lektüre (s.-Anm.-24), 641. 26 Schiefer Ferrari, Gestörte Lektüre (s.-Anm.-24), 641. die erwähnte Textpragmatik wider, in der es in erster Linie um die Darstellung Jesu als vollmächtigen Wundertäter geht; es hängt aber auch mit der häufig unspezifischen Beschreibung der Notlage zusammen, die viele Interpretations‐ spielräume eröffnet. Nimmt man beispielsweise den Mann, der nicht gehen kann, aus Mk 2,1- 12, 24 wird deutlich, dass die Beeinträchtigung, die lediglich mit παραλυτικός (paralytikos) beschrieben wird, in keiner Weise eine genaue Diagnose der Krankheit zulässt. Der Mann kann nicht gehen, das ist alles, was wir erfahren. Die Ursachen dafür können vielfältig sein: er könnte einen Schlaganfall oder eine Kopfverletzung erlitten haben, die Lähmung ließe sich aber auch auf gebrochene Beine, Verwachsungen oder psychosomatische Störungen zurück‐ führen. 25 Ausschließen kann man mit großer Wahrscheinlichkeit moderne me‐ dizinische Diagnosen, die in der heutigen Rezeption des Textes aber vermutlich am häufigsten mit Mk 2,1-12 assoziiert werden: eine Querschnittlähmung (Paraplegie oder Tetraplegie) ist wohl eher unwahrscheinlich, da diese in der Antike meist letal verlief: Selbst wenn jemand das Anfangstrauma, etwa einen schweren Sturz, eine Schwert‐ verletzung oder eine pathogene bzw. autoimmune Störung, überlebt haben sollte, wäre er in einer Welt ohne Antibiotika bald an einer Infektion gestorben. 26 Doch wie gesagt, mehr als Annäherungen an eine Diagnose lässt der Text nicht zu, da diese für dessen Pragmatik irrelevant ist. Zurück zur Beobachtung, dass die Kranken im Markusevangelium häufig von Angehörigen oder Begleitern zu Jesus gebracht werden. Daraus lässt sich m. E. folgern, dass sie sozial zumindest nicht völlig isoliert waren. Nehmen wir erneut Mk 2,1-12 als Beispiel, so sehe ich es mit Markus Schiefer Ferrari überhaupt nicht als wahrscheinlich an, dass die Hilfe, die der gelähmte Mann von vier Männern (Mk 2,3) erhält, auf soziale Abhängigkeit und Armut schließen Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 Stereotype Fremde? 35 lassen. 27 Im Gegenteil: Vielleicht kann man daraus ableiten, dass der Mann wohlhabend war und sich professionelle Helfer leisten konnte. Wäre er schwer marginalisiert, verarmt und vereinsamt, hätte sich möglicherweise niemand bereit erklärt, ihn zu Jesus zu tragen. Natürlich wissen wir es nicht, erneut aus dem Grund, weil der Text daran kein Interesse hat. Aber es ist zumindest aufschlussreich - und darum geht es mir hier -, dass in der Rezeption sehr schnell Krankheit mit Armut und prekären Verhältnissen verknüpft wird und die Annahme, wir hätten es mit einem gepflegten reichen Mann, der lediglich nicht gehen kann, zu tun, eher abwegig erscheint. Erneut zeigt sich, dass das Othering auch nachträglich bei der Lektüre in den Text eingetragen werden kann. 28 Das wird von Peter Arzt-Grabners Analysen untermauert. 29 Er hat griechi‐ sche dokumentarische Papyri, Ostraka und Wachstäfelchen untersucht und anhand einschlägiger Beispiele den alltäglichen Umgang mit Menschen mit Be‐ hinderungen herausgearbeitet. Zunächst einmal fällt auf, dass die Bezeichnung der Art der Behinderung - wie ja zumeist auch in den Evangelien - ganz einfach durch das äußerlich wahrnehmbare Erscheinungsbild geschieht, so dass keine genaue medizinische Diagnose möglich ist. Dabei ist es mehr als interessant, dass in den Papyri Blinde, Lahme oder Gehörlose nur ausgesprochen selten als Bittsteller auftreten, die aufgrund ihrer körperlichen Beeinträchtigung einen besonderen Anspruch auf irgendeine Unterstützung oder Rücksichtnahme erheben […]. Eher begegnen sie unter der arbeitenden und geschäftstreibenden Bevölkerung wie andere auch. 30 Als auch für Mk 2,1-12 besonders erhellendes Beispiel kann man einen ge‐ wissen Athenodoros anführen, der einen Mann namens Seleukos im Brief BGU XVI 2614 (21 v. Chr.-5 n. Chr.) darum bittet, ihm „Herakles, den Lahmen (‘Ηρακλῆν τὸν χωλόν - Hēraklēn ton chōlon), zu schicken“ (Z. 11-13), um kleinere Erledigungen für ihn auszuführen. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 36 Uta Poplutz 27 So etwa völlig spekulativ Hanna Roose, Hindernisse überwinden (Die Heilung eines Gelähmten), in: Ruben Zimmermann u. a. (Hg.), Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen, Bd. 1: Die Wunder Jesu, Gütersloh 2013, 559-564, hier 562: „Der Kranke auf der Bahre ist scheinbar vollständig gelähmt. Er ist nicht (mehr) in der Lage, sich seinen eigenen Lebensunterhalt zu verdienen, und ist abhängig von der Fürsorge anderer.“ 28 Vgl. Apg 9,33, wo es heißt, Aeneas habe acht Jahre lang das Bett nicht verlassen: er muss also professionell gepflegt worden sein, vgl. Schiefer Ferrari, (Un)gestörte Lektüre (s.-Anm.-3), 20. 29 Vgl. zum Folgenden Arzt-Grabner, Behinderungen (s.-Anm.-14), bes.-48-50. 30 Arzt-Grabner, Behinderungen (s.-Anm.-14), 48. In einer ähnlichen Fluchtlinie liegt der nur noch bruchstückhaft erhaltenen Brief P.Berl.Möller 11 vom 30. Januar 33 n. Chr.; hier wird in Zeile 2 ein namen‐ loser „Lahmer im Lagerbezirk“ erwähnt, der dort als Handwerker tätig war. Für seine Identifizierung war die Behinderung offensichtlich ausreichend, so dass auf die Namensnennung zugunsten des körperlichen Erkennungsmerkmals verzichtet werden konnte 31 : und der Lahme im Lagerbezirk (ὁ ἐν τῆι παρεμβολῆι χωλός - ho en tēi parembolēi chōlos), der dir die drei Ruhebetten (τρεῖς λεκτείκας - treis lekteikas) gegeben hat, schreit und sagt nichts anderes, als dass es ein Jahr her ist, seit du sie bekommen hast und ihm nicht das Geld geschickt hast“ (Z.-2-5). Diese beiden Beispiele bekräftigen exemplarisch, wie vorsichtig man bei der Einschätzung der Art der Behinderung des Mannes, der nicht gehen konnte, aus Mk 2,1-12 sein sollte. Denn der inschriftliche Befund, den Arzt-Grabner aufgearbeitet hat, lässt über die soziale und wirtschaftliche Relevanz von Behinderungen einige Schlussfolgerungen zu: Abgesehen von Befreiungen von der Kopfsteuer und von Liturgien, scheinen Behin‐ derungen im Allgemeinen weder mit einer expliziten Diskriminierung noch mit einer Privilegierung oder einem besonderen Schutz verbunden gewesen zu sein. 32 Offensichtlich waren Menschen mit Behinderungen über ihr äußeres Erschei‐ nungsbild identifizierbar, so dass die Nennung der Einschränkung den Eigen‐ namen überformen konnte. Darüber hinaus lässt sich schlussfolgern, […] dass die individuelle Identität von Behinderten im Alltag der griechisch-römi‐ schen Antike weitaus mehr über ihre Behinderung definiert wurde als über die familiäre Abstammung oder den Beruf. Dies hatte aber offensichtlich nicht zur Folge, Behinderte automatisch als minderwertige Arbeitskräfte anzusehen. Eindrückliche Beispiele belegen, dass Behinderte für Tätigkeiten eingesetzt wurden, für die wir sie heute häufig als ungeeignet einstufen würden. 33 Und ein letzter Punkt. Wie zweideutig bestimmte Annahmen sind, lässt sich auch am verwendeten Terminus κράββατος (krabbatos) ablesen, den man mit „Tragebett“, „Pritsche“ oder „Matratze“ übersetzen kann (Mk 2,4.11f.); die Seitereferenten ändern diesen Terminus in κλίνη (klinē, Mt 9,2.6; Lk 5,18) bzw. κλινίδιον (klinidion, Lk 5,24), was ebenfalls „Tragebett“ oder „kleineres Bett“ Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 Stereotype Fremde? 37 31 Weitere Belege: Arzt-Grabner, Behinderungen (s.-Anm.-14), 49f. 32 Arzt-Grabner, Behinderungen (s.-Anm.-14), 53. 33 Arzt-Grabner, Behinderungen (s. Anm. 14), 54; vgl. auch Schiefer Ferrari, Gestörte Lektüre (s.-Anm.-24), 642f. bedeuten kann, aber auch für andere Möbel wie Speisesofas, Ruhebetten oder sogar Totenlager verwendet wird und damit ein breiteres Bedeutungsspektrum aufweist. 34 Aufgrund dessen aber für Markus zu folgern, dass krabbatos das „Bett des armen Mannes“ 35 sei, trägt die Bedeutung vom markinischen Text her in den Begriff ein und nicht aufgrund antiker Belege. Bei Epiktet wird mit krabattos nämlich das Bett in einem Gasthaus (πανδοκεῖον - pandokeion) bezeichnet, das dem Schlafen auf dem nackten Boden kontrastiert wird (Dissertationes-1,24,14). Dass krabbatos „derber“ und klinē bzw. klinidion „eleganter“ 36 seien, geben die wenigen antiken Quellen schlichtweg nicht her. Hält man hingegen den Gedanken offen, dass der Mann, der nicht gehen kann, wohlhabend sein könnte, würde es durchaus Sinn machen, dass mit krabbatos einfach ein leichteres Bett bezeichnet wird: dieses wäre weitaus besser für den Transport geeignet, als ein massives Holzbett. Über die Wertigkeit ist damit aber nichts gesagt. 4. Perspektivwechsel Wie dargelegt, interessieren sich die neutestamentlichen Heilungserzählungen nur marginal bis gar nicht für die genaueren Umstände der kranken/ behinderten Figuren, weder vor der Heilung noch danach. Vielmehr dienen diese Figuren vorrangig der Charakterisierung Jesu als wirkmächtiger Wundertäter. 37 Aus diesem Grunde hat Nancy Eiesland einen Perspektivwechsel vorge‐ schlagen. In ihrer Monografie „The Disabled God“ entwickelt sie eine „Befrei‐ ungstheologie der Behinderung“. 38 Biografische Initialzündung war dabei nach eigener Darstellung die Lektüre einer Passage der Emmauserzählung (Lk 24,36- 39) sowie ihre eigene spirituelle Entfremdung, die sie als behinderte Theologin zunehmend empfand. 39 Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 38 Uta Poplutz 34 Vgl. Liddell-Scott, 961. 35 Joachim Gnilka, Das Evangelium nach Markus (Mk 1-8,26) (EKK 2,1), Neukir‐ chen-Vluyn 5 1998, 98; auch Joel Marcus, Mark 1-8. A New Translation with Introduction and Commentary (AncB 27), New Haven 1999, 216. Die Belege, die Liddell-Scott anführen, geben das nicht her. 36 So Martin Ebner/ Bernhard Heininger, Exegese des Neuen Testaments. Ein Arbeitsbuch für Lehre und Praxis (UTB-Theologie-2677), Paderborn- 4 2018, 149. 37 Vgl. Warren Carter, „The blind, lame and paralyzed“ ( John 5: 3). John’s Gospel, Disability Studies, and Postcolonial Perspectives, in: Candida R. Moss/ Jeremy Schipper (Hg.), Disability Studies and Biblical Literature, New York-2011, 129-150, hier-131. 38 Nancy L. Eiesland, The Disabled God. Toward a Liberatory Theology of Disability, Nashville-1994. 39 Nancy L. Eiesland, Dem behinderten Gott begegnen. Theologische und soziale An‐ stöße einer Befreiungstheologie der Behinderung, in: Stephan Leimgruber/ Annebelle Während die trauernden Jünger über Jesus redeten, „trat er selbst in ihre Mitte und sagte zu ihnen: Friede sei mit euch! “ (24,36). Doch die Jünger erschraken und erkannten ihn nicht. Da sagte Jesus: Seht meine Hände und meine Füße, dass ich es (selbst) bin. Betastet mich und seht: Kein Geist hat Fleisch und Knochen, wie ihr seht, dass ich (sie) habe. Und dies sprechend, zeigte er ihnen die Hände und die Füße (24,39f.). Eiesland kommentiert dazu: „[…] hier löst der auferstandene Christus Gottes Verheißung ein, Gott würde mit uns sein, Leib geworden wie wir sind - behindert und göttlich.“ 40 Und in der Tat ist der den Emmausjüngern Erscheinende nur dadurch als Jesus zu identifizieren, dass er sich als Gekreuzigter zu erkennen gibt. Zwar wird es in Lk 24,39f. nicht explizit ausgesprochen (anders als in Joh 20,25), aber Voraussetzung des Erkennensprozesses der Jünger sind die sichtbaren Wundmale an Jesu Händen und Füßen. 41 Nochmal Eiesland: Der Urgrund christlicher Theologie ist die Auferstehung Jesu Christi. Dennoch wird der Auferstandene selten erkannt als Gottheit, deren Hände, Füße und Seite die Zeichen deutlicher körperlicher Versehrtheit tragen. Der auferstandene Christus der christlichen Tradition ist ein behinderter Gott. 42 Diese etwas provokante Rede vom „behinderten Gott“ erscheint mir nützlich. Denn sie hilft, den Abstand zwischen dem physisch gesunden Heiler Jesus, der in den Wundergeschichten zumindest auf der Oberfläche dominant ins Auge sticht, und den Menschen/ Figuren mit disabilities, denen er begegnet, abzuschwächen. Jesus wird - wenn wir nochmal das Markusevangelium als Referenztext heranziehen - von Anfang an als der wohlwollende und zugewandte Wunder‐ täter eingeführt (vgl. 1,40-45; 5,19), der mit der ihm innewohnenden Kraft und in Vollmacht heilt, und zwar überall: in Synagogen, in Privathäusern, am Wegesrand und in konkreten Begegnungen mit einem immer größer werdenden Radius. 43 Wenn man aber genauer hinsieht, erkennt man, dass die Begegnung mit Menschen, die bestimmte Arten von Behinderungen haben, auch auf Jesus selbst handfeste physische und soziale Auswirkungen hat, er also keineswegs Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 Stereotype Fremde? 39 Pithan/ Martin Spieckermann (Hg.), Der Mensch lebt nicht vom Brot allein (Forum für Heil- und Religionspädagogik-1), Münster-2001, 7-25. 40 Eiesland, Gott (s.-Anm.-39), 10. 41 Vgl. Michael Wolter, Das Lukasevangelium (HNT-5), Tübingen-2008, 790. 42 Eiesland, Gott (s.-Anm.-39), 10f. 43 Vgl. Nogossek-Raithel, Dis/ ability (s.-Anm.-19), 260f. der unberührte und über allem strahlende (antike) Held ist. Besonders stark ist diese Wechselwirkung in den Fällen, wo es sich um sozial Stigmatisierte handelt. So muss Jesus sich etwa nach der Heilung eines Aussätzigen physisch zurück‐ ziehen, weil der Geheilte gegen seinen Wunsch überall von dem Geschehenen erzählt, so dass sich Jesus in keiner Stadt mehr zeigen kann, sondern einsame Orte aufsuchen muss (Mk 1,44f.); der Zulauf ist sogar so groß, dass er zu seinem Schutz ein Boot einsetzen muss, damit er von der Menschenmenge nicht erdrückt wird (3,9); nach der Heilung des Besessenen von Gerasa bitten die Bewohner Jesus, ihr Gebiet zu verlassen (5,17); zugleich führen die Dämo‐ nenaustreibungen (3,11.15) dazu, dass Jesus selbst mit einem Stigma belegt wird: seine Familie will ihn ergreifen, das heißt mit Gewalt nach Hause zurückbringen, weil er „außer sich“ sei (3,21), während die Jerusalemer Schriftgelehrten, die sich extra nach Galiläa aufgemacht haben, annehmen, er habe einen Pakt mit Beelzebul geschlossen (3,22). Die Begegnung Jesu mit Menschen/ Figuren mit Behinderungen erzeugt eine Wechselwirkung: beide Seiten bleiben dabei nicht unberührt. Die nicht zuletzt dadurch generierten Anfeindungen führen bekanntermaßen dazu, dass Jesus sich und seine Jünger selbst auf Leiden und Tod vorbereiten muss (8,31; 9,31; 10,33). Die Rede vom „behinderten Gott“ hilft, diese Wechselwirkung deutlicher in den Vordergrund zu stellen, wodurch die zumeist namenlosen Menschen/ Fi‐ guren mit Behinderungen meines Erachtens eine Aufwertung erfahren. Denn auch Jesus hat nach seiner Auferweckung einen versehrten Körper, der in der christlichen Rezeption aber nicht durchgängig präsent war und ist. Wie beim oben skizzierten Umgang mit antiken beschädigten Statuen, ist es problemlos möglich, diese Versehrtheit zu substituieren und ein unversehrtes Christusbild des Auferstandenen zu zeichnen. Doch die Evangelien berichten unmissver‐ ständlich davon, dass auch am Auferstehungsleib Christi die Wundmale deutlich sichtbar waren und als Erkennungszeichen für seine Jüngerinnen und Jünger dienten (Lk-24,39f.; vgl. Joh-20,20: „… da zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite. Da freuten sich die Jünger, dass sie den Herrn sahen“). Noch dezidierter erzählt es die Thomas-Episode Joh 20,24-29: Da Thomas bei der Erscheinung vor dem Zwölferkreis ( Joh 20,19-23) nicht anwesend war, sagt er: „Wenn ich nicht an seinen Händen das Mal der Nägel sehe und meinen Finger in das Mal der Nägel und meine Hand in seine Seite lege, werde ich nicht glauben“ (20,25); da fordert Jesus ihn auf, seine Wunden zu berühren (20,27), woraufhin Thomas ihn erkennt und sein Glaubensbekenntnis formuliert: „Mein Herr und mein Gott“ (20,28). Wenn man so will, kann man hier einen Rollentausch erkennen: Die Men‐ schen mit Behinderungen wurden von Jesus geheilt, er selbst wurde verwundet Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 40 Uta Poplutz und trägt diese Wunden auch nach seiner Auferstehung sichtbar am Leib. Lässt man sich auf die Logik dieses Perspektivwechsels ein, trägt das dazu bei, die in den Heilungserzählungen auftretenden Personen mit Behinderungen nicht einfach als stereotype Fremde zu sehen, sondern als prophetische Figuren, die davon künden, dass das Heil eben nicht unter allen Umständen und zwangs‐ läufig mit körperlicher Unversehrtheit einhergehen muss. Uta Poplutz ist seit 2024 Lehrstuhlinhaberin für Neutes‐ tamentliche Wissenschaften an der Otto-Friedrich-Univer‐ sität Bamberg. Zuvor war sie seit 2010 Universitätspro‐ fessorin für Biblische Theologie mit dem Schwerpunkt Exegese und Theologie des Neuen Testaments an der Ber‐ gischen Universität Wuppertal. Ihre Forschungsschwer‐ punkte sind unter anderem die johanneische Literatur, frühchristliche Wun‐ dererzählungen und narratologische Zugänge zu den neutestamentlichen Texten. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 Stereotype Fremde? 41 Paulus aus der Perspektive der Dis/ ability Studies Dierk Starnitzke 1. Einführung Im Kontext der dis/ ability Studies ist zuerst das diesem Beitrag zugrundlie‐ gende Verständnis von dis/ ability zu klären. Hilfreich dafür ist zunächst die Unterscheidung zwischen Krankheit und Behinderung. Behinderung hat im Vergleich mit Krankheit, die mehr oder weniger individuell diagnostizierbar ist, einen stärkeren Bezug auf soziale Fragen. Seit dem „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderung“ der Vereinten Nationen, das in Deutschland 2009 ratifiziert wurde, ist zunächst zu berücksichtigen, dass „das Verständnis von Behinderung sich ständig weiterentwickelt“, es handelt sich um ein „evolving concept“. Das bedeutet, dass herkömmliche Verständnisse von Behinderung zurzeit in einer starken Veränderung begriffen sind. Für die Definition von Behinderung im besagten „Übereinkommen“ ist dabei die Wechselwirkung von persönlichen Beeinträchtigungen und gesellschaftlichen Barrieren konstitutiv. In der Präambel heißt es dazu: in der Erkenntnis, (…) dass Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht, die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern (Präambel, e). Behinderung ist also prioritär eine Form der Ausgrenzung vom Leben in der menschlichen Gemeinschaft und der Verhinderung von Teilhabe an der Gesellschaft. Zu einer Behinderung kommt es dabei erst, wenn die individuelle Beeinträchtigung eines Menschen so unzureichend unterstützt wird, dass ge‐ sellschaftliche Barrieren wie z. B. Treppen, aber auch mentale Einstellungen, von ihm nicht überwunden werden können. Anders herum betrachtet entsteht Behinderung erst dadurch, dass die Gesellschaft Barrieren verschiedenster Art, z. B. Sprachbarrieren, aufbaut, die bestimmte Menschen aufgrund ihrer Eigenschaften nicht überwinden können und dadurch an der Teilhabe an menschlicher Gemeinschaft gehindert werden. Beeinträchtigung lässt sich dabei Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 1 Hans-Walter Schmuhl, Welt in der Welt. Heime für Menschen mit geistiger Behinderung in der Perspektive der Disability History (Beiträge zu diakonisch-caritativen Disability Studies-6), Stuttgart-2013,-14. 2 Schmuhl, Welt in der Welt (s.-Anm.-1),-14. 3 Als authentische Paulusbriefe betrachtet dieser Beitrag 1Thess, 1Kor und 2Kor, Gal, Phil, Phlm und Röm. mit dem Bundesteilhabegesetz, Sozialgesetzbuch IX, § 2, Abs. 1 definieren als eine Abweichung von dem für das Lebensalter typischen Körper- und Gesundheitszustand. Mit dieser Definition wird gründlich mit einem defizito‐ rientierten Behinderungsbegriff gebrochen, der einzelne Personen unter dem Aspekt fehlender Fähigkeiten betrachtet. Stattdessen wird zentral die Frage in den Blick genommen, wie sich soziale Beziehungen unter der Voraussetzung diversifizierter Eigenschaften und Fähigkeiten beteiligter Menschen so gestalten lassen, dass niemand dabei ausgeschlossen wird. Dieser Ansatz lässt sich auf der Basis der dis/ ability Studies noch stärker akzentuieren. Man kann Behinderung dann darüber hinaus auch als eine soziokulturelle Konstruktion verstehen, durch die in Form von kommunikativen sozialen Zuschreibungsakten eine Behinderung eines Menschen mit gewissen Beeinträchtigungen oder Abweichungen von einer Norm erst konstituiert wird. Der Konstruktionsprozess ist dabei rekursiv: „So wie ‚Behinderung‘ in Abgrenzung von der Norm kulturell konstruiert wird, so wird gleichzeitig auch die soziokulturelle Norm durch den Blick auf ‚verkörperte Andersheiten‘ definiert.“ 1 In Forschungen der Dis/ ability History wurde deutlich, dass Behinderungen bei Personen, die gar nicht besonders beeinträchtigt sind, gerade erst durch solche Zuschreibungsprozesse entstehen können. Demnach werden aus ‚verkörperten Andersheiten‘ (embodied difference) in kom‐ plexen Zuschreibungs-, Deutungs- und Benennungsprozessen Begriffe von ‚Behinde‐ rung‘ abgeleitet. Dieser Ansatz hat gegenüber streng materialistischen Interpretati‐ onsmodellen den großen Vorteil, dass er die diskursive Eben der Begrifflichkeiten und Sprachregelungen, der Topoi und Narrative, der Argumentationsmuster, der emotionalen Ressourcen und des moralischen Kapitals (…) in den Blick nimmt. 2 Dieses differenzierte Verständnis der Unterscheidung von ability und disability wird im Folgenden als hermeneutischer Zugang zu den biblischen Texten und besonders den authentischen Paulusbriefen vorausgesetzt. 3 Zuvor wird jedoch in einer kurzen Betrachtung etwas allgemeiner auf den Zugang zu den Themen Beeinträchtigung und Behinderung in anderen biblischen Texten eingegangen. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 44 Dierk Starnitzke 2. Menschen mit Beeinträchtigungen in der Bibel 2.1. Im Alten Testament Im Alten Testament werden vor allem vier Menschengruppen mit konkreten körperlichen Beeinträchtigungen benannt: Stumme (z. B. Ps 38,14; Spr 31,8); Taube (z. B. Jes 29,18; Ps 38,14); Blinde (z. B. 2Sam 5,6-8; Jes 29,18; 42,16-18; 59,10, Ps 146,8) und Gelähmte (z. B. 2Sam 5,6-8; 9,13; Jes 33,23; Spr 26,7, sowie die summarische Benennung dieser vier Gruppen in Jes-35,5f.). Es kann betont werden, dass die Menschen von Gott so geschaffen wurden (Ex 4,11). Dabei wird für die Thematisierung solcher Beeinträchtigungen nicht in erster Linie auf die körperlichen Phänomene abgehoben. Es kommen vor allem die sozialen Beziehungen zur Sprache. Damit geht es im Kern um Fragen der Ausgrenzung aus der Gemeinschaft und damit der Behinderung von Menschen mit Beeinträchtigungen. Die Einbeziehung von Menschen mit Beeinträchtigungen kann durch reli‐ giöse Institutionen und Prozesse entweder befördert oder überwunden werden. Offenbar gab es z. B. laut 2Sam 5,8 eine Regel, Blinde und Gelähmte nicht ins Haus zu lassen. Ausgrenzend wirkt auch eine Textstelle im Dtn, nach der Kas‐ traten keinen Zutritt zur Gemeinde haben sollen (Dtn 23,2, genau gegen diese Position spricht sich allerdings Jes-56,3-5 aus). Gerade in Bezug auf bestimmte heilige Orte können dann noch bestimmte Erwartungen an die Unversehrtheit der handelnden Personen hinzukommen. So werden z. B. in Lev 21,17-23 zwölf verschiedene Formen von Beeinträchtigungen oder Krankheiten genannt, die einen Priester vom Opferdienst ausschließen können. Demgegenüber wird in der Tora der Schutz von Blinden und Tauben ge‐ boten (z. B. Lev 19,14) und die schlechte Behandlung eines Blinden verflucht (Dtn 27,18). Die Unterstützung von Menschen mit Beeinträchtigungen wird besonders positiv dargestellt und angeraten, z. B. von Blinden und Gelähmten (Hi 29,15) oder von Stummen (Spr 31,8). Ein Gelähmter kann deshalb auch in einer Königsfamilie Akzeptanz finden (z. B. 2Sam 4,4; 9,1-13; 16,1-4; 21,7). Ein Mensch mit Sprachbeeinträchtigung kann sogar als Prophet tätig sein (Ez 3,26f.; 24,27; 33,22; siehe auch Ex-4,10-16). 2.2. Im Neuen Testament Die Darstellungen im Neuen Testament knüpfen an die alttestamentlichen an. Es ist bemerkenswert, dass Jesus nach den Traditionen der Evangelien sich oft längerfristig beeinträchtigten Menschen besonders zuwendet, die durch diese Beeinträchtigung bleibend geprägt und von Behinderung bedroht sind, z. B. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 Paulus aus der Perspektive der Dis/ ability Studies 45 Taubstumme (Mk-7,31-37), Blinde (Mk-8,22-26), Gelähmte (Mk-2,1-12 mit den Parallelen bei Mt und Lk; Joh 5,5-13). Hinzu kommen seelische oder geistige Beeinträchtigungen, sie werden vielfach mit unreinen Geistern oder Dämonen in Verbindung gebracht (vgl. z.-B. Mk-1,23-28; 5,1-20; 9,14-28 mit Parallelen). Auch im Neuen Testament werden bei der Darstellung von Personen mit Behinderung regelmäßig aber nicht nur die physischen oder psychischen Ein‐ schränkungen, sondern auch die sozial-gesellschaftlichen Fragestellungen mit in den Blick genommen. So werden Menschen mit seelisch-geistiger Beeinträch‐ tigung als Einsame dargestellt (Mk 5,2-5), Gelähmte als in ihrer Bewegungslo‐ sigkeit Hilflose (Mk 2,14; Joh 5, 2-7), von Haut-Aussatz Betroffene als von der Gemeinschaft Ausgeschlossene (Lk-17,11f. in Verbindung mit Lev-13,45f.) usw. Einerseits kann die Vorstellung zitiert werden, dass das Vorhandensein einer Beeinträchtigung wie z. B. Blindsein mit den Sünden des betreffenden Menschen oder nahestehender Personen in Verbindung steht. Andererseits wird genau diese Verbindung von Sünde und Beeinträchtigung bzw. Behinderung entschieden zurückgewiesen ( Joh 9,1-7). Die in den Evangelien dargestellten Wunder Jesu haben oft den Sinn, nicht nur der Beeinträchtigung, sondern auch der Behinderung entgegen zu wirken, das heißt den betreffenden Menschen wieder in seine Gemeinschaft zurückzuführen (z.-B. Mk-5,18-20). Die grundlegende Aussage in den neutestamentlichen Texten ist, dass be‐ einträchtigte Menschen von Jesus grundsätzlich aufgenommen sind und dass keine Beeinträchtigung denkbar ist, die aus der menschlichen Gemeinschaft ausschließen sollte. Dem hochgradig seelisch-geistig Beeinträchtigten wird durch die Begegnung mit Jesus wieder die Möglichkeit gegeben, in seiner Familie zu leben (vgl. Mk 5,19). Die Aussätzigen werden rein gesprochen und wieder in die Gemeinschaft integriert (Lk 17,14). Programmatisch für die christliche Gemeinschaft ist darüber hinausgehend die Aussage des Äthiopiers in Apg 8,36. Nachdem er als Eunuch, also insofern als Mensch mit Beeinträch‐ tigung, gemäß Dtn 23,2 nicht der jüdischen Gemeinde angehören kann, versteht er durch die Predigt des Philippus die Bedingungslosigkeit der Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinschaft und fragt: „Was hindert es (ti kōlyei), dass ich mich taufen lasse? “ Die Taufe als formelle Aufnahme in die Gemeinschaft folgt zur großen Freude des Eunuchen auf dem Fuße. Sie kann also grundsätzlich bedingungslos, ohne irgendwelche Einschränkungen aufgrund persönlicher Beeinträchtigungen erfolgen. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 46 Dierk Starnitzke 4 Siehe dazu ausführlich Michael Tilly, Behinderung als Thema des paulinischen Den‐ kens, in: Wolfgang Grünstädl, Markus Schiefer Ferrari (Hrsg.), Gestörte Lektüre. Disa‐ bility als hermeneutische Leitkategorie biblischer Exegese (Behinderung - Theologie - Kirche. Beiträge zu diakonisch-caritativen Disability Studies-4), Stuttgart 2012, 67-80. 5 Wenn nicht anders angegeben, wird im Folgenden für die zitierten Bibelstellen die aktuelle Lutherübersetzung herangezogen. 6 Tilly, Behinderung als Thema (s.-Anm.-4), 72. 7 Martin Albl, „For Whenever I Am WEAK, Then I Am Strong“. Disability in Paul’s Epistles, in: Hector Avalos, Sarah J. Melcher, Jeremy Schipper (Hrsg.): This Abled Body. Rethinking Disabilities in Biblical Studies (SBL Semeia Studies 55), Leiden/ Boston-2007,-145-158, dort-154. 3. Behinderung und Beeinträchtigung bei Paulus 3.1. Terminologische Beobachtungen Für die allgemeine Beschreibung von Beeinträchtigungen werden bei Paulus verschiedene Begriffe verwendet. Der prominenteste Begriff ist astheneia als Gegenteil von Stärke, dynamis; daneben kommt auch aphrōn im Gegensatz zu phronēsis, Klugheit vor, alternativ dazu mōros. Die Begriffe werden jedoch in vielfältigster Weise gebraucht und erlauben deshalb an und für sich keinen spezifischen Zugang zu den Fragestellungen der dis/ ability Studies. 4 Astheneia kann als Grundbestimmung menschlichen Daseins benannt werden, die in der Auferstehung aufgehoben wird: „Es wird gesät in astheneia und wird auferstehen in dynamis.“ (1Kor 15,43) 5 In diesem Falle wird gerade keine Unterschiedlichkeit verschiedenster Menschen aufgrund bestimmter persönli‐ cher Beeinträchtigungen thematisiert, die dann zu der Frage führt, wie damit umgegangen werden kann. Und auch in Röm 5,6; 6,19 und 8,26 bezeichnen die Begriffe asthenēs und astheneia in verallgemeinernder Weise die generelle natürliche körperliche Gebrechlichkeit und Schwachheit des sarkischen Menschen in dieser Welt sowie seine Anfälligkeit für Unreinheit und widergesetzliche Taten. 6 An einer Stelle kann Paulus dann dem geläufigen Verständnis seiner Zeit folgend sogar ein grundsätzlich erst einmal negatives und theologisch sogar problematisches Verständnis von astheneia anführen. So kann er nach einer Kritik der Abendmahlspraxis bei den Korinthern behaupten: „Deshalb sind auch viele Schwache (astheneis) und Kranke unter euch, und nicht wenige sind entschlafen.“ (1Kor 15,29) Das führt Martin Albl zu der Aussage: „Sin causes disability.“ 7 Und Michael Tilly betont, dass Paulus insofern zunächst „die griechisch-römischen Vorstellungen hinsichtlich der negativen Qualifikation Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 Paulus aus der Perspektive der Dis/ ability Studies 47 8 Tilly, Behinderung als Thema (s.-Anm.-4),-77. 9 Tilly, Behinderung als Thema (s.-Anm.-4), 74. 10 Gegen Peter von der Osten-Sacken, Der Brief an die Gemeinden in Galatien (ThKNT 9), Stuttgart 2019, 209, der hier kausal übersetzt: „Die Wendung ‚einer Krankheit wegen‘ gibt den Grund des anscheinend nicht geplanten Aufenthalts des Apostels in Ga‐ latien wieder.“ Zurecht meint dazu Francois Vouga, An die Galater (HNT 10), Tü‐ und der daraus resultierenden sozialen und religiösen Diskriminierung von Behinderten kennt und sie in seinen Briefen rezipiert.“ 8 3.2. Die persönliche Beeinträchtigung des Paulus Im Hinblick auf die von Paulus selbst verfassten Briefe ist zunächst bemer‐ kenswert, dass er offenbar selbst eine Beeinträchtigung hatte und dadurch zum einen von Behinderung im Sinne der Ausgrenzung aus der menschlichen Gemeinschaft bedroht war und sich zum anderen mit Zuschreibungsakten aus‐ einandersetzen musste, die dazu geeignet waren, seine Behinderung geradezu erst soziokulturell zu konstruieren. Der Quellenbefund stellt sich dazu folgendermaßen dar: Paulus litt wohl unter einer chronischen Erkrankung, die ihn erheblich beeinträchtigte. Die Diagnose ist unklar. In neuerer Zeit wurde dabei zumeist an eine Epilepsie, an eine chronische Migräne oder an eine Trigeminusneuralgie gedacht, vielleicht verbunden mit einer Sehstörung (…) und möglicherweise verursacht durch eine Hirnschädigung, etwa aufgrund einer erlittenen Steinigung oder sonstigen Misshandlung (vgl.-2Kor-11,25). 9 Eine hohe Plausibilität scheint die Annahme einer Sehschwäche zu haben, auf die der Galaterbrief hinweist: „Denn ich bin euer Zeuge: Ihr hättet, wenn es möglich gewesen wäre, eure Augen ausgerissen und mir gegeben.“ (Gal 4,15) Auch die eigenhändige Unterschrift unter den Galaterbrief könnte ein Hinweis darauf sein: „Seht, mit wie großen Buchstaben ich euch schreibe mit eigener Hand.“ (Gal 6,11) Offenbar hat Paulus seine Briefe ansonsten diktiert, wie z. B. Röm 16,22 mit dem Briefschreiber Tertius zeigt. Auch die Darstellung der Erblindung des Paulus nach der an ihn ergangenen Christusoffenbarung in der Apostelgeschichtete könnte ein Hinweis auf eine Sehbeeinträchtigung sein (vgl. Apg 9,8f.; 22,11-13). Nicht zuletzt diese Beeinträchtigung ließ ihn bei persönlichen Besuchen hilfsbedürftig erscheinen: „Ihr wisst doch, dass ich euch zuvor in Schwachheit des Leibes das Evangelium gepredigt habe. Und obwohl meine leibliche Schwäche euch eine Anfechtung war, habt ihr mich nicht verachtet oder vor mir ausgespuckt“. (Gal 4,13f) 10 Von einigen Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 48 Dierk Starnitzke bingen 1998, 108: „Zum einen gibt aber dia + Akkusativ nicht nur den Grund und den Zweck an, sondern auch die Mittel (…) oder die begleitenden Umstände (…). Zum anderen hat astheneia Sg. bei Paulus immer die Bedeutung der menschlichen Schwachheit“. Gemeindegliedern in Korinth wird ihm deshalb eine schwächliche Erscheinung vorgeworfen: „Denn seine Briefe, sagen sie, wiegen schwer und sind stark; aber wenn er selbst anwesend ist, ist er schwach (asthenēs) und seine Rede kläglich.“ (2Kor 10,10). Seine Gegner in Korinth versuchten offenbar, ihn mit solchen Argumenten als Führungspersönlichkeit der Gemeinde zu diskreditieren und zu verdrängen. Gegenüber mindestens den Gemeinden in Galatien sowie der Gemeinde in Korinth hatte diese Verbindung von persönlicher Erkrankung und Beeinträch‐ tigung, von Ausgrenzungsproblematik und defizitorientierten soziokulturellen Zuschreibungsakten die Folge, dass seine Autorität als Apostel von bestimmten Personen und Gruppierungen in den Gemeinden in Frage gestellt wurde und damit auch seine Möglichkeit der dortigen Verkündigung des Evangeliums gefährdet wurde. Er sollte offenbar von seinen Gegnern mit solchen Zuschrei‐ bungsprozessen aus den Gemeinden ausgegrenzt oder gar ausgeschlossen werden. Es ging hier offenbar um einen Wettbewerb des Rühmens, um möglichst großen Einfluss in der Gemeinde zu haben. In 2Kor 11 scheint Paulus sich sogar für einen Moment auf die Logik des persönlichen Rühmens einzulassen, mit denen die sogenannten „Falschapostel“ (2Kor 11,13) ihn auszubooten ver‐ suchten. Paulus spielt hier in Selbstzuschreibung mit den Begriffen aphrōn, aphrōsynē und paraphronōn, um diese Zugangsweise dann jedoch grundlegend zu modifizieren. Er sei weitaus mehr ein Diener Christi als seine Konkurrenten, weil er mehr durch seinen Dienst gelitten habe (2Kor 11,22-28). Er sei dabei aber gleichzeitig zu schwach gewesen (ēsthenēkamen), um durch seine Stärke als Apostel andere auszunutzen (2Kor 11,20-21). Stattdessen führe ihn seine Schwäche dazu, sich mit anderen schwachen Menschen solidarisch zeigen zu können: „Wer ist schwach (asthenei) und ich werde nicht schwach (asthenō)? Wer wird zu Fall gebracht und ich brenne nicht? “ (2Kor-11,29). Auf dieser Grundlage setzt sich Paulus dann mit dieser Problematik seiner persönlichen Beeinträchtigung und der daraus resultierenden Ausgrenzungsge‐ fahr in 2Kor 12 in zweifacher Weise theologisch auseinander. Erstens sorgt nach seiner Überzeugung seine chronische Erkrankung und die daraus resultierende Beeinträchtigung dafür, dass er angesichts der an ihn ergangenen göttlichen Offenbarungen (Gal 1,16 und eventuell auch 2Kor 12,1-6) und der dadurch erlangten Bedeutung als Apostel nicht überheblich werden kann: „Und damit ich mich wegen der hohen Offenbarung nicht überhebe, ist mir gegeben ein Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 Paulus aus der Perspektive der Dis/ ability Studies 49 Pfahl ins Fleisch, nämlich des Satans Engel, der mich mit Fäusten schlage, damit ich mich nicht überhebe“ (2Kor 12,7). 11 Unter dieser Krankheit und Beeinträch‐ tigung hat er deshalb offenbar sehr gelitten. „Seinetwegen habe ich dreimal zum Herrn gefleht, dass er von mir weiche“ (2Kor 12,8). Theologisch ist hier zunächst interessant, dass einerseits mit dem „Satansengel“ eine Gott widerstreitende Macht ins Spiel gebracht wird. Die Beeinträchtigung bzw. Behinderung des Paulus könnte in dieser Perspektive als eine böse Macht verstanden werden, die dem guten Schöpferwillen widerspricht. Andererseits wird diese zunächst anscheinend negative Konnotation in eine theologisch positive Sicht gewendet. Das Leiden unter der Beeinträchtigung führt zur Erkenntnis in die Begrenztheit und Endlichkeit der eigenen Kräfte und stellt dadurch ein Selbstverständnis grundlegend in Frage, das durch die eigenen Eigenschaften und Fähigkeiten bestimmt ist. An die Stelle des „Rühmens“ kann dadurch ein Selbstverständnis treten, das gerade auf der Erfahrung beruht, dass die eigenen Kräfte und Fähigkeiten nicht zur Begründung der eigenen Existenz ausreichen. Paulus konstruiert auf dieser Basis zweitens durch eine christologische Argumentation eine Form der Selbstzuschreibung, die ihn in seiner Beeinträch‐ tigung gerade stark erscheinen lässt und ihn damit gegenüber den Angriffen seiner Gegner, die ihn ausgrenzen möchten, und den durch sie beeinflussten Gemeindegliedern stärkt. „Wenn ich mich denn rühmen soll, will ich mich meiner Schwachheit rühmen“ (2Kor 11,30). Er zitiert dazu ein von Christus an ihn gerichtetes Wort: „Dir reicht meine Gnade, denn die Kraft kommt in Beeinträchtigung (astheneia) zur Vollendung“ (2Kor 12,9a, eigene Übersetzung). Der griechische Begriff astheneia für Krankheit, Beeinträchtigung und damit verbunden Behinderung wird für Paulus zu einem konstitutiven Bestandteil seiner Existenz. Die Begründung ist christologisch. Gerade die eigene Beein‐ trächtigung und Krankheit gibt die Möglichkeit, für die Stärke Christi offen zu werden: „Sehr gerne will ich mich nun vielmehr meiner Beeinträchtigungen (astheneiais) rühmen, damit die Kraft Christi bei mir einziehe“ (2Kor 12,9b, eigene Übersetzung). Die Möglichkeit, in der Begrenztheit der eigenen Kräfte und Fähigkeiten eine neu begründete Existenzweise zu eröffnen, ergibt sich also für Paulus durch seine Beziehung zu Christus. Sie wurde für Paulus durch die Offenbarung initiiert, die er in Gal 1,15f. beschreibt: „Als es aber Gott wohlgefiel, (…) dass er seinen Sohn offenbarte in mir“. Das en emoi bezeichnet dabei die intensive ge‐ genseitige Verbindung von Paulus und Christus: Christus erscheint „in“ Paulus Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 50 Dierk Starnitzke 11 Manche Interpreten vermuten hier eine Anspielung auf eine mögliche Epilepsieerkran‐ kung. und dadurch wird für Paulus eine Neukonstitution der Existenz ermöglicht. Umgekehrt geschieht die Neubegründung der Existenz für Paulus dadurch, dass sie außerhalb seiner selbst „in Christus“ konstituiert wird. Noch tiefgehender reflektiert Paulus diese neu begründete Existenzweise im Römerbrief. 12 Das führt ihn in Röm 8,2 zu der Aussage: „Jetzt also gibt es keine Verurteilung mehr für die, welche in Christus Jesus sind“ (nach Einheitsübersetzung). Durch die unauflösliche Verbindung mit Christus wird nun für Paulus gerade die Möglichkeit eröffnet, die eigene vermeintliche Schwäche, die sich durch seine Beeinträchtigung und Behinderung ergibt, als Stärke zu interpretieren. Denn Christus selbst hat nicht den Weg der Stärke gewählt, sondern sich bewusst in die Schwäche menschlicher Existenz hineingegeben. Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, Gott gleich zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz“ (Phil-2,6-8 nach Einheitsübersetzung). An Christus selbst lässt sich deshalb genau diese neue Existenzweise erkennen, die nicht auf der eigenen Stärke beruht, sondern auf der Kraft Gottes: „Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen“ (Phil 2,9 nach Einheitsübersetzung). Die Fähigkeit des Paulus, die Schwächung durch die eigene Beeinträchtigung als Stärke zu interpretieren, beruht also letztlich auf seiner direkten Verbindung zu dem gestorbenen und auferstandenen Jesus Christus. „Ich bin mit Christus gekreuzigt worden. Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,19f. nach Einheitsüberset‐ zung). Eine weitere Selbstreflexion angesichts seiner persönlichen Beeinträchti‐ gungen findet sich in Bezug auf die an Paulus ergangene Christusoffenbarung neben Gal 1 und 2 in 1Kor 15,3-10. Hier wird eine (chronologische) Reihenfolge derjenigen aufgestellt, denen Christus als der Auferstandene erschienen ist: Kephas (= Petrus), die Zwölf, danach fünfhundert Glaubensgeschwister auf einmal, dann Jakobus, dann alle Apostel. Paulus schreibt dann: „Zuletzt erschien er auch mir, gleichsam der Missgeburt“ (nach Einheitsübersetzung). Der Begriff ektrōma ist hier schillernd, vielleicht zu übersetzen mit „missratener Geburt“. Er könnte zunächst auf eine Missbildung des Paulus hinweisen, die ihm auch als Schimpfwort entgegengehalten wurde. 13 Zugleich wendet Paulus diese Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 Paulus aus der Perspektive der Dis/ ability Studies 51 12 Siehe dazu im Detail Dierk Starnitzke, Die Struktur paulinischen Denkens im Römer‐ brief. Eine linguistisch-logische Untersuchung (BWANT-163), Stuttgart-2004, 265-285. 13 So Anton Fridrichsen, Paulus abortivus. Zu 1Kor 15,8, in: Ders. Exegetical Writings (WUNT/ I-76), Tübingen 1994, 211-216. Sicht aber ähnlich wie in Gal 2 christologisch um. Denn ektrōma bedeutet eigentlich „Totgeburt“. Andreas Lindemann verschärft deshalb das Verständnis dieses Begriffes noch im Sinne der oben dargestellten Argumentation: „Die Erscheinung des Auferstandenen gegenüber dem ektrōma signalisiert also das völlig Neue, die Vermittlung des Lebens an ein totes Wesen“. 14 Analog zu 2Kor 11 hebt Paulus deshalb auch in 1Kor 15,10 auf die Gnade (charis) ab, die seine eigentliche Stärke ausmacht, obwohl er selbst der geringste (elachistos) unter den Aposteln ist. Auf dieser Grundlage habe er auch mehr als Apostel gearbeitet als alle anderen. Indem Paulus diese theologische Argumentation in seinen Briefen anführt, bewirkt er also durch Selbstzuschreibungsakte, die bei seiner Schwäche und Beeinträchtigung ansetzen, eine Gegenstrategie, die es ihm gerade erlaubt, seine Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinschaft und seinen besonderen Status in den Gemeinden als Apostel zu stärken. Diese Selbstzuschreibungen werden dann in den gemeindlichen Kommunikationsprozessen sozial wirksam, indem er sie in seinen Briefen artikuliert und sie dann durch die Diskussion seiner Briefe in den angeschriebenen Gemeinden rezipiert werden. Dass er mit dieser Strategie der Stärkung trotz Beeinträchtigung Erfolg gehabt hat, zeigt allein schon die Tatsache, dass mit sieben authentischen Briefdokumenten seine wesentlichen theologischen Gedanken in das Neue Testament aufgenommen wurden und außerdem noch seine Tätigkeiten in der Apostelgeschichte sehr ausführlich dargestellt werden (Apg 13,4-28,30). Selbst die zum Teil gegenüber seiner Person aufgrund seiner Beeinträchtigung und den polemischen Zuschrei‐ bungsakten seiner Gegner sehr skeptisch eingestellten Gemeindeglieder in Korinth hat er offenbar damit überzeugen können. Wie die Notiz am Ende des Römerbriefes zeigt, sind die Korinther seiner in 2Kor 8f. formulierten Spendenbitte für die christliche Gemeinde in Jerusalem gefolgt und haben eine Geldsammlung unternommen, die Paulus auf seinem Besuch den römischen christlichen Gemeinschaften zu übergeben gedenkt. „Doch jetzt gehe ich nach Jerusalem, um den Heiligen einen Dienst zu erweisen. Denn Mazedonien und Achaia haben beschlossen, eine Sammlung als Zeichen ihrer Gemeinschaft für die Armen unter den Heiligen in Jerusalem durchzuführen“ (Röm-15,25f.). Die Argumentation des Paulus, in der er sich auf seine eigenen Beeinträch‐ tigungen bezieht, hat also erstens eine selbststärkende und zweitens eine konfliktstärkende Funktion. Ausgehend von dem zentralen Gedanken der Neu‐ begründung der Existenz durch die Verbindung mit Christus zieht Paulus seine eigene Stärke als Apostel aus der theologisch begründeten Selbsterkenntnis, Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 52 Dierk Starnitzke 14 Andreas Lindemann, Der Erste Korintherbrief (HNT-9/ I), Tübingen 2000, 334. dass diese Stärke nicht aus dem Aufbringen eigener Kräfte, sondern aus der Gnade Gottes bzw. Christi entsteht. Persönliche Beeinträchtigung ist insofern eine Chance, sich diese theologische Logik immer wieder vor Augen zu führen. Diese aus Gnade geschenkte Stärke befähigt Paulus dann aber, mit großem Eifer und auch mit Erfolg hart als Apostel zu arbeiten. Ausgehend von dieser persönlichen Existenzbegründung ergibt sich für ihn auch die Möglichkeit, in harten Konfliktlagen mit Konkurrenten Stärke zu beweisen und sich ihnen gegenüber auch durchzusetzen. 4. Inklusion als zentrales theologisches Paradigma des Paulus Über die eigene Person hinausgehend entwickelt Paulus einen grundlegenden theologischen Gedanken, der im Kern darauf zielt, eine menschliche Gemein‐ schaft zu konstituieren, in der potentiell alle Menschen inkludiert sind. Wenn man Inklusion zunächst einmal als Überwindung der Unterscheidung behin‐ dert/ nichtbehindert bzw. beeinträchtigt/ nicht beeinträchtigt versteht, dann im‐ pliziert die zentrale theologische Botschaft des Paulus, dass alle Menschen un‐ abhängig von ihren Eigenschaften zusammen sein können und sollen, also auch unabhängig von bestimmten Beeinträchtigungen oder Behinderungen. Alle eta‐ blierten, sozial konstruierten Unterscheidungen können durch ein theologisch begründetes neues Verständnis einer inklusiven Gemeinschaft aller Menschen aufgehoben werden. Das entfaltet Paulus gedanklich in zwei Schritten, die im Folgenden skizziert werden sollen: Zunächst an seinem Verständnis von christlicher Gemeinde als inklusiver Gemeinschaft und dann anhand seiner Vorstellung einer inklusiven Gemeinschaft aller Menschen. 4.1. Die Gleichwertigkeit aller Mitglieder der christlichen Gemeinschaft Eine inklusive Gemeinschaft beschreibt Paulus zunächst in Gal 3,28 in Bezug auf das Zusammensein der an Christus Glaubenden. „In Christus“ wird für ihn eine Gemeinschaft konstituiert, in der alle herkunftsmäßigen, sozialen und biologischen Unterscheidungen aufgehoben sind: „Hier ist weder Grieche noch Nichtgrieche, weder Sklave noch Freier, nicht Mann und Frau; denn ihr seid alle einer in Christus“ (eigene Übersetzung). Auf dieser Basis befasst sich Paulus in 1Kor 12 mit dem Verhältnis der Mitglieder der christlichen Gemeinschaft untereinander, indem er dafür die Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 Paulus aus der Perspektive der Dis/ ability Studies 53 15 Jörn Winter verdanke ich den Hinweis, dass man in diesem Sinne die Ausführungen des Paulus in 1Kor 12,12-27 auch einmal nicht metaphorisch, sondern wörtlich lesen könnte. Paulus reflektiert dann die eigene leibliche Erfahrung eines Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen. Die Aussage wäre dann, dass man auch mit den eigenen „schwächeren“ Körperteilen sorgsam und liebevoll umgehen soll. Metapher des Leibes und seiner Glieder heranzieht. Wiederum fungiert hier der Begriff asthenēs zur Bezeichnung „schwächerer“ Mitglieder: Vielmehr sind die Glieder des Leibes, die uns schwächer (asthenestera) erscheinen, die nötigsten und die uns weniger ehrbar erscheinen, die umkleiden wir mit besonderer Ehre; und die wenig ansehnlich sind, haben bei uns besonderes Ansehen (1Kor 12,22f.). Es liegt nahe, dass gerade aufgrund der oben dargestellten persönlichen Beein‐ trächtigungen Paulus mit dieser Beschreibung unter anderem auch andere Gemeindeglieder mit Beeinträchtigungen gemeint sind. Man wird, wie gerade der Konflikt des Paulus mit seinen Gegnern in Korinth zeigt, davon ausgehen können, dass Menschen mit Beeinträchtigungen auch in den christlichen Ge‐ meinden in der Gefahr standen, als „schwach“, „weniger ehrbar“ und „wenig ansehnlich“ zu erscheinen und damit nicht als vollwertige Mitglieder der Gemeinschaft anerkannt zu werden. Möglicherweise schwingt in diesen For‐ mulierungen auch die oben skizzierte persönliche Erfahrung des Paulus mit. 15 Die Fürsorge für die Schwachen entspricht auch der Paraklese, die Paulus bereits in 1Thess 5,14 anspricht: „nehmt euch der Schwachen (asthenōn) an! “ (Einheitsübersetzung). Die Begründung dafür, auch Gemeindeglieder, die mit dem Begriff astheneia beschreibbar sind, voll in der christlichen Gemeinschaft zu akzeptieren, ist wiederum theologisch und christologisch. Zum einen ist der gleichberechtigte Zusammenhang aller Mitglieder der Gemeinschaft durch Gott selbst geschaffen. „Gott aber hat den Leib so zusammengefügt, dass er dem benachteiligten Glied umso mehr Ehre zukommen ließ, damit im Leib kein Zwiespalt (schisma) entstehe, sondern alle Glieder einträchtig füreinander sorgen“ (1Kor 12,24f nach der Einheitsübersetzung). Schismata im Sinne der Ausgrenzung Einzelner oder ganzer Gruppen sind damit ausgeschlossen. Zum anderen wird mit der Taufe die enge Verbindung aller Gemeindeglieder mit Christus konstituiert, indem sie jeweils „in Christus“ hineingelangen. Durch das „in Christus sein“ sind sie damit zugleich aufs engste miteinander verbunden. „Durch den Geist wurden wir in der Taufe alle in einen einzigen Leib aufgenommen, Juden und Griechen, Sklaven und Freie; und alle wurden wir mit dem einen Geist getränkt“ (1Kor 12,13, Einheitsübersetzung). „Ihr aber seid der Leib Christi und jeder Einzelne ist ein Glied an ihm“ (1Kor 12,27 nach Einheitsübersetzung). Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 54 Dierk Starnitzke 16 Lindemann, Der Erste Korintherbrief (s.-Anm.-14), 276. 17 Röm-3,9f., mit Bezug auf Ps-14,1. 18 Siehe dazu im Detail Starnitzke, Die Struktur paulinischen Denkens (s. Anm. 12), 242-263. Damit ist ausgeschlossen, dass einzelne Gemeindeglieder andere für überflüssig halten und aus der christlichen Gemeinschaft ausgrenzen können. „Das Auge kann nicht zu der Hand sagen: Ich brauche dich nicht. Der Kopf wiederum kann nicht zu den Füßen sagen: Ich brauche euch nicht“ (1Kor 12,21 nach Einheitsübersetzung). Mit dieser Argumentation wird also von Paulus eine Gleichwertigkeit aller Gemeindeglieder und insofern eine inklusive christliche Gemeinschaft begründet. „Paulus versteht die Gemeinde als ein sōma; sie ist aber ein sōma, in dem alle Glieder als aufeinander bezogene prinzipiell gleich sind.“ 16 4.2. Das universale Erbarmen Gottes als Letztbegründung von Inklusion Diese Argumentation wird dann von Paulus in weiteren Schritten im 1.-Korin‐ therbrief und im Römerbrief über die christliche Gemeinschaft hinausgehend auf die gesamte Menschheit ausgeweitet. Der Grundgedanke der Inklusion, dass niemand aufgrund seiner Eigenschaften und (fehlenden) Fähigkeiten nicht nur aus der christlichen, sondern auch aus der menschlichen Gemeinschaft insgesamt ausgeschlossen werden soll, findet damit einen wesentlichen Prot‐ agonisten im Apostel Paulus mit seiner Lehre vom bedingungslosen und umfassenden Erbarmen Gottes. Vor allem im Röm zeigt Paulus in seiner detaillierten Analyse menschlicher Existenz zunächst, dass kein Mensch aus eigenem Vermögen vor Gott gerecht werden kann. Das führt ihn dann zu der universalen Aussage: „Wir haben soeben bewiesen, dass alle (…) unter der Sünde sind, wie geschrieben steht: ‚Da ist keiner, der gerecht ist, auch nicht einer.‘“ 17 Hier liegt ein tiefer Gedanke der Inklusion zugrunde. Er besteht theologisch gesehen erst einmal darin, einzusehen, dass alle Menschen insofern gleich sind, als sie sündig sind. Was das heißt, analysiert Paulus eingehend in Röm 7: Die Menschen sind seit Adam und Eva zerrissen in sich selbst und tun nicht, was ihnen von Gott geboten ist und was sie eigentlich auch selbst wollen (Röm 7,7-25a). Das führt am Ende der Argumentation der Kapitel 1-7 des Röm das typisierte menschliche „Ich“ zum Schrei der Verzweiflung: „Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem Leib des Todes? “ (Röm 7,24) Inklusion bedeutet also zunächst einmal, dass alle Menschen in der Sünde eingeschlossen sind. 18 Wie Paulus es am Ende Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 Paulus aus der Perspektive der Dis/ ability Studies 55 19 Thomas H. Tobin, Paul’s Rhetoric in its Context. The Argument of Romans, Peabody Massachusetts-2004,-98-103 und-376f. 20 Dass diese Formulierung im Sinne einer universalen Heilsaussage für alle Menschen zu verstehen ist, betont auch Lindemann, Der Erste Korintherbrief (s.-Anm.-14),-344. der gesamten Argumentation in Röm 11,32 summarisch feststellt: „Gott hat alle in den Ungehorsam eingeschlossen“. Der griechische Begriff ist hier synekleisen, der lateinische concludit. Inklusion bedeutet deshalb erstens die Inklusion aller Menschen in den Ungehorsam gegenüber Gott. Aber Paulus geht im gleichen Satz noch weiter. Er sagt: „Gott hat alle in den Ungehorsam eingeschlossen, damit er sich aller erbarme.“ In seiner umfangreichen Untersuchung des Römerbriefes zeigt Thomas H. Tobin sehr überzeugend, 19 dass dieser Satz in Röm 11,32 zugleich der Ziel- und Endpunkt der gesamten theologischen Argumentation des Römerbriefes ist. Man kann die Argumentation des Briefes als einen der grundlegenden Texte des Chris‐ tentums insgesamt und besonders des Protestantismus folgendermaßen zusam‐ menfassen: Die wahre Inklusion bedeutet also im vollen theologischen Sinne, dass Gott alle Menschen, die zunächst nicht anders können als gegen sich und Gott zu sündigen, in sein universales Erbarmen einschließt und dass dies im tiefsten Sinne den Zusammenhang der ganzen Menschheit begründet. Der zitierte Text aus Röm 11 stellt insofern eine Spitzenaussage dar, als Paulus damit zugesteht, dass auch alle Juden, die nicht an Christus glauben, in dieser Weise gerettet werden (vgl. Röm-11,26-und-31). In diesem Sinne kulminiert die gesamte Argumentation von Kap. 1-11 damit in der universalen Heilsaussage von-11,32 mit der anschließenden Doxologie: „O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! (…) Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen“ (Röm-11,33 und-36). Dieser universale Gedanke findet sich anders formuliert bereits in 1Kor 15,21f: „Denn da durch einen Menschen der Tod gekommen ist, so kommt auch durch einen Menschen die Auferstehung der Toten. Denn wie sie in Adam alle sterben, so werden sie in Christus alle lebendig gemacht werden.“ 20 Das führt Paulus an dieser herausgehobenen Stelle in Röm 11,32 sogar so weit, dass er sich eine Rettung Israels auch ohne den Glauben an Christus vorstellen kann. Das Vertrauen auf die inklusive Universalität des Erbarmens Gottes übersteigt insofern sogar den Christusglauben! Diese Argumentation dürfte Paulus, verglichen mit der Position in seinen früheren Briefen, nicht leichtgefallen sein. Die Einsicht in das universale Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 56 Dierk Starnitzke 21 Dieser alttestamentliche Satz aus Lev 19,18 wird im Neuen Testament außer in Röm 13,9 noch sieben Mal aufgenommen: Bei Paulus in Gal 5,14, in der synoptischen Tradition in Mk 12,31 mit den Parallelen in Mt 22,39 und Lk 10,27 sowie außerdem in Mt 5,43 und-19,19 und schließlich in Jak-2,8. Erbarmen Gottes führt ihn aber dazu, das Heil auch jenseits des eigenen Chris‐ tusglaubens denken zu können. Paulus entwickelt damit eine auf der Gotteslehre fußende Heilslehre von der Versöhnung aller Menschen mit Gott, die über die Begrenzungen der Christologie hinaus geht, den Christusglauben transzendiert und sich damit sogar für Menschen mit anderen Glaubensüberzeugungen öffnet - und zwar aus zutiefst theologischen Gründen. In dieser radikal gedachten Perspektive sind alle sozio-kulturellen Unter‐ scheidungen aufgehoben, also auch die zwischen Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen. Um es einmal (vielleicht zu sehr? ) pointiert im Zusammen‐ hang der hier behandelten Fragestellung der dis/ ability Studies zu formulieren: Die disability aller Menschen, im Einklang mit sich selbst und den göttlichen Geboten leben zu können, führt zu der universalen Aussage, dass Gott sich aller Menschen trotz dieser disability erbarmt und sie insofern in einer inklusiven Gemeinschaft miteinander verbunden sind. So gesehen bietet diese Argumen‐ tation einen entscheidenden theologischen Orientierungsrahmen auch für eine Behandlung von spezielleren Fragen zu dis/ ability im engeren Sinne, also zum Umgang mit Beeinträchtigung und Behinderung. Alle ethischen und persönlichen Aussagen in Röm-12-16 hängen von dieser grundlegenden Feststellung in Röm 11,32 ab. In diesem Sinne ist auch das in Röm 13,8-10 formulierte Liebesgebot konsequent inklusiv zu verstehen. „Seid niemanden etwas schuldig, außer dass ihr einander liebt.“ (Röm 13,8) Dieser Ansatz bezieht sich nicht nur auf die eigene christliche Gemeinschaft, sondern auf alle Menschen und gipfelt in der Aussage: „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst.“ (Röm 13,9) Er ist deshalb nicht zuletzt zu einem der entscheidenden Leitsätze für diakonisches Handeln vor allem auch in der Eingliederungshilfe für Menschen mit Beeinträchtigungen in Geschichte und Gegenwart geworden. 21 Diese paulinische Argumentation zeigt damit insgesamt, dass es ihm darum geht, Menschen mit unterschiedlichsten Eigenschaften, Fähigkeiten, Herkünften, ja sogar Religionen unter der Perspektive des einen sich aller erbarmenden Gottes als eine umfassende Gemeinschaft zu begreifen, die deshalb auch liebevoll mit sich selbst und anderen umgehen sollen. Das schließt auch den Umgang mit Beeinträchtigung und Behinderung voll mit ein. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 Paulus aus der Perspektive der Dis/ ability Studies 57 22 Tilly, Behinderung als Thema (s.-Anm.-4), 79. 23 Siehe dazu Dierk Starnitzke, Diakonie in biblischer Orientierung. Biblische Grundlagen - Ethische Konkretionen - Diakonisches Leitungshandeln, Stuttgart 2011, 127-136 sowie-164-169. 5. Aktualisierungsmöglichkeiten Abschließend kann man fragen, welche Anregungen die hier vorgetragene In‐ terpretation biblischer Texte für den aktuellen Umgang mit Problemstellungen von dis/ ability geben könnten. Das Beispiel des Paulus zeigt: Die Beeinträchti‐ gungen von Menschen können einerseits bewirken, dass sie vom Ausschluss aus menschlichen Gemeinschaften und religiösen Kontexten und damit von Behinderung bedroht sind und dass man mit dieser Bedrohung permanent rechnen muss. Mit der Ambivalenz von aufrichtigen Versuchen der inklusiven Beteiligung von Menschen mit Beeinträchtigungen und ihren gesellschaftlich vorhandenen Grenzen wird man auch in der Gegenwart weiterhin umgehen müssen. Insofern könnte eine mögliche Konsequenz des paulinischen Standpunktes für die aktuelle Diskussion hinsichtlich der Notwendigkeiten und Möglichkeiten einer christlich fundierten Rehabilitation, Integration und Inklusion von Menschen mit Behinderung in der Wahrnehmung der prinzipiellen Relationalität und im Durchhalten der Ambi‐ valenz ihrer Disability bestehen. 22 Andererseits kann gerade die vertiefte theologische Reflexion dazu verhelfen, dass diese Ausgrenzungsproblematiken im Sinne einer offenen und potentiell alle Menschen umfassenden Gemeinschaft überwunden werden können. Hier wäre es z. B. spannend, Bezüge zum Gedanken der allgemeinen Menschenrechte zu untersuchen. 23 Die paulinische Argumentation zeigt starke Konvergenzen mit den neuen Bestimmungen des „Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“, dass alle Menschen gleiche Rechte in Bezug auf ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben besitzen und dies deshalb auch zwingend zur Geltung gebracht werden muss. Die paulinischen Gedanken könnten deshalb hilfreich sein, um aktuelle Ausgrenzungsprobleme in unserer Gesellschaft, aber auch in den christlichen Gemeinschaften von Kirche und Diakonie zu bearbeiten. Kirche und Diakonie wären dann als Wirkräume zu verstehen, in denen der Gedanke der inklusiven Gemeinschaft aller unter Gottes Erbarmen stehender Menschen am Beispiel von Menschen mit Beeinträchtigungen besonders deutlich werden und in die Gesellschaft hineinwirken könnte. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 58 Dierk Starnitzke © Anja Kruse Entscheidend dafür ist die gelebte Praxis. Einerseits gibt es in Diakonie und Caritas und gerade in der so genannten Eingliederungshilfe tief geprägte Traditionen und eine breit aufgestellte kirchliche Sozialarbeit zur Förderung der Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen am gesellschaftlichen Leben. Andererseits erscheinen viele Begegnungsorte in Kirche und Diakonie nicht gerade als Paradebeispiele für das selbstverständliche Miteinander von Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen. Daran wird weiter konsequent zu arbeiten sein. Schließlich kann die paulinische Argumentation aber auch dazu beitragen, dass Menschen angesichts eigener Beeinträchtigungen ein Selbstbewusstsein und eine Stärke entwickeln können, die sie in die Lage versetzen, sich möglichen Ausgrenzungen aus der menschlichen Gemeinschaft - auch in Kirche und Diakonie - entgegenzustellen und ein möglichst eigenständiges Leben zu führen. Das setzt aber voraus, dass ihnen diese Argumentationsmuster zum einen vermittelt werden und dass sie bei ihren Bemühungen zum anderen von Menschen unterstützt werden, die diese Überzeugung teilen. Dierk Starnitzke, geb. 1961, studierte Theologie an den Universitäten Münster und Göttingen sowie der Kirchli‐ chen Hochschule Bethel in Bielefeld, wo er auch 1994 zum Dr. theol. promoviert wurde und 2002 habilitierte. Seit 2006 ist er als Pfarrer hauptberuflich Vorstandssprecher der Diakonischen Stiftung Wittekindshofes, eines großen Trägers der Eingliederungshilfe in Westfalen. Zugleich lehrt er als Außerplanmäßiger Professor an der Universität Bielefeld am Institut für Diakoniewissenschaft und Diako‐ niemanagement in den Bereichen Biblische Theologie und Unternehmens‐ führung. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Zusammenhänge von diakonischer Leitungspraxis und wissenschaftlicher Reflexion, die nor‐ mativen und vornormativen Grundlagen diakonischer Arbeit, die biblischen Schriften des Paulus sowie die Systemtheorie Niklas Luhmanns. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 Paulus aus der Perspektive der Dis/ ability Studies 59 1 Ulrich Bach, Hand aufs Herz, in: Ders. (Hg.), Volmarsteiner Rasiertexte, Gladbeck 1979, 37. Assisting Jesus - wider eine Heilungsökonomie im Markusevangelium Kristina Dronsch I. Mit seinen Volmarsteiner Rasiertexten hat der Theologe Ulrich Bach, lange bevor Dis/ ability Studies in Deutschland bekannt wurden, lange bevor die UN-Behindertenrechtskonvention in Kraft trat und lange bevor der Begriff Inklusion am gesellschaftlichen Horizont auftauchte, ein sehr feines Gespür gehabt, implizite Normalitätsvorstellungen explizit zu machen und herauszuar‐ beiten, welchen Beitrag diese zu Ungleichheitserfahrungen leisten. In seinem Text „Hand aufs Herz“ 1 geht Bach dem Sichtbarmachen von impliziten Normalitätsvorstellungen sprachlich nach, die durch seine Zeilen „verrückt“ werden: Martin ist eigentlich so ein Typ wie Sie. Nur, daß Sie die Treppe hochsteigen, und er sitzt im Rollstuhl und hofft auf den Aufzug. Martin ist eigentlich so ein Typ wie Sie. Nur Sie sagen Butter, und er sagt B---b---b---ut--utter. Martin ist eigentlich so ein Typ wie Sie. Nur Ihre Hände können Sie frei bewegen, und seine sind ganz verkrampft. Martin ist eigentlich so ein Typ wie Sie-- bis auf so kleinere Unterschiede. Ich weiß nicht-- vielleicht sind Sie schon mal dahintergekommen. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0004 2 Philipp Sarasin, „Mapping the body“. Körpergeschichte zwischen Konstruktivismus, Politik und „Erfahrung“, in: Philipp Sarasin, Geschichtswissenschaft und Diskursana‐ lyse, Frankfurt/ Main-2003, 100-121, hier 102f. 3 Eine Ausnahme bilden die Arbeiten von Markus Schiefer Ferrari (vgl. seinen Beitrag im vorliegenden Heft), der sich (durchaus kritisch) auf die Schriften von Ulrich Bach bezieht. 4 Ulrich Bach, Ohne die Schwächsten ist die Kirche nicht ganz. Bausteine einer Theologie nach Hadamar, Neukirchen-Vluyn-2006, 21. Ich meine: Warum bei Ihnen manches so ganz anders ist als bei Martin. In „Hand aufs Herz“ spielt Bach mit Zuschreibungen von disability und ability und legt die ontologisierende Differenzierung zwischen dem normierenden „Uns“ (Menschen ohne Behinderung) und „den anderen“ (Menschen mit Be‐ hinderung) offen, indem er den Fokus auf die körperbezogene Andersheit „verrückt“. Bachs Zeilen lassen deutlich werden, dass Behinderung nie ein aus‐ schließlich körperliches Phänomen ist. Behinderung wird immer in Abgrenzung von nicht behinderten Körpern und Körperpraktiken, die dadurch den Status des Normalen erhalten, hergestellt. Der Körper selbst wird zum Ort der erfahrenen Differenz. Der Körper ist historisch und empirisch kein gemeinsamer Ausgangspunkt der Menschheit schlechthin, keine universelle Basis der Verständigung. Vielmehr nehmen, worauf insbesondere Michel Foucault insistiert hat, die härtesten Differenz‐ diskurse in der Moderne ihren Ausgangspunkt immer beim Körper, 2 wie Philipp Sarasin mit Blick auf Class, Race und Gender aber eben auch Behinderung festhält. Es ist Ulrich Bachs Verdienst, nicht nur eine differenzierte (Sprach-)Kritik von impliziten Normalitätsvorstellungen geleistet zu haben, sondern er ist im deutschsprachigen Raum einer der Ersten gewesen, der diese Differenzdiskurse mit Blick auf Behinderung zu einem biblisch-theologisch relevanten Thema machte. Leider wird er diesbezüglich nur marginal in den neutestamentlichen Arbeiten zu Dis/ ability aufgegriffen, 3 was bestimmt seiner klaren Positionalität und Perspektivität geschuldet ist, die herausfordert. Bach skaliert den Umgang von Menschen mit Behinderungen in theologi‐ schen Diskursen als geprägt von „Apartheidsdenken“. 4 Sein zentraler Ansatz ist eine „Theologie nach Hadamar“: Ob ein Mensch Mann ist oder Frau, blind oder sehend, schwarz oder weiß, dyna‐ misch-aktiv oder desorientiert-pflegeabhängig, ist theologisch (von Gott her, im Blick Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0004 62 Kristina Dronsch 5 Bach, Ohne die Schwächsten (s.-Anm.-4), 26. 6 Nancy Eiesland, Der behinderte Gott. Anstöße zu einer Befreiungstheologie der Behin‐ derung, Würzburg-2018, 87. 7 Eiesland, Der behinderte Gott (s.-Anm.-6), 113. 8 Eiesland, Der behinderte Gott (s.-Anm.-6), 123. auf Heil oder Unheil) absolut ohne Bedeutung. Von Bedeutung ist allein, dass das alles ohne Bedeutung ist. Das allerdings ist von Bedeutung; denn es entscheidet darüber, ob wir noch „dem Alten“ [der Theologie vor Hadamar; Anm. KD] zugehören (wir alle, ich denke jetzt etwa nicht nur an die Ausgegrenzten, sondern besonders stark an die unbewusst und ungewollt Ausgrenzenden), oder ob es unter uns „neue Kreatur“ gibt: alle allzumal einer in Christus, die Familie Gottes, der Leib Christi, die Gemeinde als „Gegenwirklichkeit zur Apartheid“ 5 . So wie Bachs Ansatz sich einem theologisch-anthropologischen Nachdenken über Behinderung verpflichtet weiß, fordert auch der Ansatz von Nancy Eies‐ land in ihrem Buch „The Disabled God. Towards a Liberatory Theology of Disability“ (1994), das seit 2018 in deutscher Übersetzung vorliegt, die theo‐ logische Anthropologie mit ihren impliziten Körpervorstellungen heraus. In bewusster Abgrenzung zu paternalistischen Tendenzen in der theologischen Anthropologie wird Gott von ihr selbst als behindert gedacht. Ähnlich wie Bach kritisiert auch Eiesland die verschiedenen Spielarten einer „behindernden Theologie“ 6 und stellt ihnen das Bild des am Kreuz gebrochenen Leibes Christi als Verkörperungen des „behinderten Gottes“ gegenüber. Dieses ermögliche es, „Menschen mit Behinderungen als theologische Subjekte und Akteure“ 7 wahrzunehmen. Die Verkörperung Christi als behinderter Gott hat das Ziel die „Dekonstruktion von vorherrschenden symbolischen Bedeutungen und eine Einführung von Symbolen, die eine befreienden Wirkung für die marginalisierte Gruppe und eine verunsichernde für die herrschende Gruppe haben“, 8 voranzu‐ treiben. Was Bach und Eiesland zudem eint, ist zum einen ein Menschenbild, das nicht mehr dem aufklärerischen Ideal von Freiheit, Selbstbestimmung und Autonomie folgt, sondern den Menschen als ein grundsätzlich vulnerables und angewiesenes Wesen wahrnimmt. Diese anthropologische Einsicht in die vul‐ nerable Grundsituation des Menschen, die jedem einzelnen inhärent ist, und die Akzeptanz dieses Aspekts vermögen nach Bach und Eiesland eine der stärksten Quellen zu bilden, Behinderung nicht mehr über eine Defizitperspektive zu denken. Vielmehr betone der Fokus auf Vulnerabilität gemeinsames Menschsein und biete eine Grundlage für Solidarität in der theologischen Praxis. Zum anderen eint sie eine Kritik an theologischen Überzeugungen und Ideologien, Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0004 Assisting Jesus - wider eine Heilungsökonomie im Markusevangelium 63 9 Lena Nogossek-Raithel, Dis/ ability in Mark. Representations of Body and Healing in the Gospel Narrative (BZNW 263), Berlin/ Boston 2023, 5 f. (vgl. die Buchbesprechung im vorliegenden Heft). die Menschen mit Behinderung für theologische Zwecke instrumentalisieren und die eine gesundheits- und leistungsorientierte Apartheidstheologie bzw. „behindernde Theologie“ offenbaren, die sich tief in das theologische Sprechen, Schreiben und Denken über Gott bzw. Jesus im gegenüber zum Menschen ein‐ geschrieben haben. Erhellend und parteilich zeigen die Arbeiten der beiden, dass das Phänomen der Behinderung nicht mehr als körperlich basiertes individuelles Leiden, sondern als Ergebnis sozialer Ausgrenzungen und Diskriminierungen zu thematisieren ist und in seinen unterschiedlichen Repräsentationen in theolo‐ gischen Diskursen (auch) als Produkt der Phantasien, Ängste und Projektionen der nichtbehinderten Mehrheit in Kirche, Theologie und wissenschaftlichen Kontexten der Theologie zu verstehen ist. Die Perspektiven von Bach und Eiesland heben hervor, dass ein unverkenn‐ barer Zusammenhang zwischen der theologisch relevanten Wissensorganisa‐ tion, wie sie in theologischen Hochschulen, Kirche und Diakonie produziert werden, und den impliziten Normalitätsdiskursen besteht. Die Theologie und allenthalben auch die neutestamentliche Wissenschaft ist diesen Diskursen eben nicht enthoben - weder gibt es eine objektive, unbeteiligte neutestamentliche Wissenschaft, noch gibt es eine in Kirche, Diakonie und Hochschule sich entfal‐ tende Theologie, die ohne Verstrickungen in ihre kulturellen und ideologischen Vorannahmen auskommt. Für Bach und Eiesland geschieht dies aus einer Betroffenenperspektive. Diese ist unumgänglich, weil sie theologisches Reden und Handeln in seinen pluriformen Kontexten zu einer Rechenschaft zwingt, wie und mit welchem Interesse die Schriften des Neuen Testaments gelesen werden. Aus diesem Grund ist das von Nogossek-Raithel formulierte primäre historische Ansinnen zur Bestimmung von Behinderung in den biblischen Schriften als hermeneutisch verkürzt anzusehen: A primary step before shifting the focus to a modern interpretation [d. h. von Dis/ ability; Anm. KD] offers an open historical approach without determined advocacy or ecclesiological and theological implication. (…) A historical analysis of the texts forms the hermeneutical basis of their following (re)appropriation, (re)evaluation, and (re)interpretation and their sociopolitical power in the spirit of dis/ ability studies. 9 Die eigenen wissenschaftlichen Traditionen und Vorverständnisse - dazu gehört eben auch ein „historical approach“ - in der neutestamentlichen Wis‐ senschaft sind zu reflektieren durch die auslegende Instanz, denn sie sind Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0004 64 Kristina Dronsch keineswegs Garanten, Behinderung in den neutestamentlichen Texten einfach selbst sprechen zu lassen, sozusagen ohne interpretierende Überformungen, sondern zeigen nur auf, durch welche Fragehorizonte die Auslegerin geprägt ist, wenn sie sich dem Thema Dis/ ability nähert. Eine große Aufgabe sehe ich darin, die Dis/ ability Studies aus der Nische einer „Betroffenenwissenschaft“ (nicht nur innerhalb der Theologie) heraus‐ zubewegen. Diese Aufgabe ist zum einen in die Dis/ ability Studies selbst zurückzuspielen, um den eigenen, vielschichtigen und widersprüchlichen Ge‐ genstand, die Differenzkategorie Behinderung begreifen zu können, und zum anderen in die umgebenden wissenschaftlichen Diskurse der Theologie, um die Standortgebundenheit des akademischen (theologischen) Wissens und die Machtförmigkeit der wissenschaftlichen Diskurse in der Theologie, respektive der neutestamentlichen Wissenschaft, konsequent immer wieder in den Mit‐ telpunkt zu rücken und die Perspektivität jeder Wissensformation zu Behinde‐ rungsdiskursen zum Thema zu machen. Deshalb möchte ich in einem ersten Schritt dieser Perspektivität der Wissensorganisation in der neutestamentlichen Wissenschaft nachgehen, die nach Aussage von Bach und Eiesland Menschen mit Behinderung für ihre Zwecke instrumentalisiert und die von ihnen als eine gesundheits- und leistungsorientierte Apartheidstheologie bzw. „behindernde Theologie“ gebrandmarkt werden. II. Ein besonderes Augenmerk in den Dis/ ability Studies lag von Anfang an und liegt bis heute auf den sogenannten Heilungserzählungen - vornehmlich in der Evangelienliteratur. Auch die Überlegungen von Bach und Eiesland nehmen die sogenannten Heilungserzählungen in den Fokus und arbeiten anhand dieser heraus, dass es bei der Interpretation dieser Texte entscheidend sei, wie über Jesus und sein Wirken gesprochen wird: Die in der neutestamentlichen Wissenschaft vorherrschenden Vorstellungen über Jesus, die Art und Weise über Jesus zu sprechen und Aussagen zu treffen, entscheiden darüber, ob die Apart‐ heidstheologie bzw. behindernde Theologie fortgesetzt wird oder nicht. Damit zeigt sich in der Arbeit der Interpretation sogenannter Heilungserzählungen in einer behinderungssensiblen Lektüre, dass gerade literarische Repräsentationsformen an der Hervorbringung und Verfesti‐ gung kultureller und sozialer Differenzvorstellungen einer Gesellschaft und damit auch an einer narrativen Konstruktion von Behinderung als negativer Differenzkate‐ Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0004 Assisting Jesus - wider eine Heilungsökonomie im Markusevangelium 65 10 Markus Schiefer Ferrari, Gestörte Lektüre. Dis/ abilitykritische Hermeneutik bibli‐ scher Heilungserzählungen am Beispiel von Mk 2,1-12, in: Bernd Kollmann/ Ruben Zimmermann (Hg.), Die Hermeneutik der frühchristlichen Wundererzählungen. Ge‐ schichtliche, literarische und rezeptionsorientierte Perspektiven (WUNT I/ 339), Tü‐ bingen-2014, 627-646, hier 631. 11 Bach, Ohne die Schwächsten (s. Anm. 4), 409. 12 Vgl. dazu ausführlich John N. Collins, Diakonia. Re-Interpreting the Ancient Sources, New York 1990 sowie Anni Hentschel, Diakonia im Neuen Testament. Studien zur Semantik unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der Frauen (WUNT II/ 226), Tübingen-2007. gorie beteiligt sind, in dem sie das kulturell Selbstverständliche und Normale auf der Folie des kulturell Anderen und Fremden besonders plastisch erfahrbar machen. 10 Die Aussage impliziert, dass auch die neutestamentliche Wissenschaft Aussagen zu Behinderung aus ihrer Umwelt bzw. kulturellen Bezogenheit aufnimmt und diese in einem theologischen wissenschaftlichen Diskurs mit Blick, wie über Menschen mit Behinderung und wie über Gott bzw. Jesus gesprochen wird, unhinterfragt fortführt. Auf diese Weise reproduziert Theologie allgemein und neutestamentliche Wissenschaft im Besonderen Behinderungsvorgänge (Disability), indem sie Interpretationen biblischer Textwelten in der Theologie bzw. neutestamentlichen Wissenschaft mittels immanenter, aus der Umwelt etablierter Annahmen und Setzungen zu Behinderung fortführt. Dadurch wird Theologie bzw. neutestamentliche Wissenschaft gleichzeitig zu einem Ort, der auf diese Weise selbst „Behinderung“ produziert. Für Bach stellt sich die größte Herausforderung deshalb in der Arbeit an einer behinderungssensiblen Inter‐ pretation in der theologischen Wissenschaft, Kirche und Diakonie: „Nur, wenn wir die Heilungsgeschichten so verstehen, daß unsere Auslegung behinderte Menschen nicht kränkt, verstehen wir sie auch für uns selbst richtig“. 11 Daher ist es hilfreich, sich grundsätzlich zu vergegenwärtigen, in welche im‐ pliziten Normalitätsdiskurse die neutestamentliche Wissenschaft - respektive historisch-kritische Exegese - sich eingebunden weiß und wusste. Dies möchte ich an einem aus meiner Sicht neuralgischen Wort „Heilung“ in gebotener Kürze und wohl wissend, nicht mehr als eine grobe Skizze zu liefern, darlegen. Meine These lautet dabei schlicht: „Heilung“ ist in der Interpretation neutestamentli‐ cher Texte ein ungeklärtes Gepäckstück, das ähnlich wie das Lexem diakonia vor allem viel über die Perspektivität, Standortgebundenheit und Machtdiskurse theologischer Wissenschaft aussagt und einer ähnlich dringenden Klärung bedarf, wie es zu diakonia durch die Arbeiten von Collins und Hentschel geschehen ist. 12 Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0004 66 Kristina Dronsch 13 Zum Ganzen vgl. Stefan Alkier, Wunder, Wundererzählungen, Wunderdiskurs, in: RAC (im Druck). 14 Darauf weist ebenfalls John J. Pilch, Healing in the New Testament. Insights from Medical and Mediterranean Anthropology, Minneapolis 2000, 73, wenn er festhält: „Many studies of healing in the Bible unquestioningly accept biomedicine as the only legitimate view of reality“. 15 Deutlich sensibler geht der kultur- und literaturwissenschaftliche Ansatz von No‐ gossek-Raithel, Dis/ ability in Mark (s. Anm. 9) 14f., vor, zeigt jedoch dennoch die physikalisch-biologische Reduktion der Zuordnung behinderter Körper auf, wenn sie festhält: „…the term dis/ ability as established, refers to the textual representation of deviating bodies in interrelation to an ‚other,‘ an implied norm from which it deviates, sourrounding other physical characters but also the healing body of Jesus. (…) Hence, ‚healing‘ and ‚health‘ denote, for lack of a better word, open, maybe even polyphone signifiers for physical condition(s) beyond the presented deviances.“ Da der Großteil der neutestamentlichen Arbeiten aus dem Feld Dis/ ability Studies an den sogenannten „Heilungserzählungen“ der neutestamentlichen Evangelien ansetzt, sei daran erinnert, dass schon der nichtbiblische Begriff „Heilungserzählungen“ anzeigt, dass es sich hierbei um eine vermeintliche Selbstverständlichkeit handelt, die jedoch durch die neutestamentliche Wissen‐ schaft, respektive die Wunderforschung, selbst gesetzt worden ist. Luzide zeigt Stefan Alkier 13 auf, wie durch die Etablierung der exegetischen Methode der Formgeschichte seit dem frühen 20. Jahrhundert in der neutestamentlichen Ex‐ egese die historisch-kritische Wunderforschung weitgehend auf solche narra‐ tiven Texte eingegrenzt wurde, die dem Aufbau der sogenannten neutestament‐ lichen Heilungserzählungen entsprechen. Der Gewinn dieser Reduktion ist ein doppelter: Man entledigt sich der unliebsamen Wunderfrage zu großen Teilen und wähnt sich bei neutestamentlichen Heilungserzählungen in historisch sicheren Gefilden in der Wunderforschung. Beides ist wichtig zu beachten, denn es beeinflusst maßgeblich die Wahrnehmung der in den Heilungserzählungen dargestellten beeinträchtigten und behinderten Körper. Mit der Separierung der als historisch angesehenen Heilungserzählungen von den als unhistorisch erachteten Wundergattungen passiert eine wichtige Verschiebung der Wahr‐ nehmung der erzählerisch dargestellten Körper. Sie sind nun nicht mehr im Kontext des „Numinosen“ verhaftet, sondern werden zur dinghaften Materie. 14 Der behinderte und beeinträchtigte Körper wird in die Biologie eingeordnet. 15 Mit einer gravierenden Konsequenz für die Interpretation solcher Erzählungen, darauf weist Rosemary Garland Thomson hin, die der Bedeutung der von ihr titulierten „außergewöhnlichen Körper“ kulturgeschichtlich nachgegangen ist. Sie argumentiert aus kulturwissenschaftlicher Perspektive, „that the extra‐ ordinary body is fundamental to the narratives by which we make sense of Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0004 Assisting Jesus - wider eine Heilungsökonomie im Markusevangelium 67 16 Rosemarie Garland Thomson, Introduction. From Wonder to Error - A Genealogy of Freak Discourse in Modernity, in: Dies. (Hg.), Freakery. Cultural Spectacles of the Extraordinary Body, New York-1996, 1-19, hier-1. 17 Garland Thomson, Introduction (s.-Anm.-16), 1. 18 Vgl. dazu Ronald D. Gerste, Die Heilung der Welt. Das Goldene Zeitalter der Medizin 1840-1914, Stuttgart- 3 2021. ourselves and our world“. 16 Garland arbeitet heraus, dass mit der Moderne ein bemerkenswerter Wandel in den Narrativen um den außergewöhnlichen Körper stattgefunden habe. Während in den Jahrhunderten vor der Aufklärung körperliche Besonderheiten als Wunder und göttliche Zeichen interpretiert worden seien, gälten sie nunmehr als Abweichung und damit als Fehler: „wonder becomes error“. 17 Diese Verschiebung lässt sich m. E. nachvollziehen an der formgeschichtlichen Größe „Heilungserzählung“, die schon sprachlich eine Setzung vornimmt: nämlich dass etwas der Heilung bedarf. Indem das Wunderbare in den Heilungserzählungen bis auf ein Minimum reduziert wird und sich auch sprachlich durch den Begriff „Heilungserzählung“ nicht mehr herstellen lässt, werden - angestoßen durch die formgeschichtliche Exegese - die in den sogenannten Heilungserzählungen dargestellten außergewöhnlichen Körper nun zu defizitären und fehlerhaften Körpern, die der Fehlerbehebung bedürfen. Die sogenannten Heilungserzählungen boten in diesem Licht einen Schauplatz der Fehlerbehebung durch den historischen Jesus. Die Verschiebung in der Interpretation dieser Erzählungen, die narrative Akteur: innen mit kör‐ perlichen Differenzen in der Begegnung mit Jesus darstellten, nutzte vor allem der historischen Jesusforschung. Leicht wird vergessen, dass die Blütezeit der historisch-kritischen Bibelinterpretation in Europa zusammenfällt mit der goldenen Zeit der Innovation in Medizin sowie Technik und der beispiellosen Fortschrittsgläubigkeit dieser Epoche. 18 Ganz nach dem Motto, wer heilt, ver‐ ändert die Welt, wurden die neutestamentlichen Heilungserzählungen zu Er‐ folgsgeschichten, die für die Überwindung einer als pathologisch angesehenen Situation stehen. Die Fortschrittsgläubigkeit des 19./ 20. Jahrhunderts sprach eine große Einladung zur Mitwirkung an der Überwindung der pathologischen Zustände aus. Jesus wurde einer ihrer Mitstreiter. Das Jesusbild, das sich in der neutestamentlichen Wissenschaft etablierte im Zusammenhang mit den Heilungserzählungen erschuf einen Jesus, der an einer neuen, besseren Welt aktiv mitwirkte. Dieses Jesusbild beruhte auf den unhinterfragten Annahmen der Fehlerhaf‐ tigkeit von außergewöhnlichen Körpern, wie sie in den Heilungserzählungen narrativ eingespielt werden, sowie der ebenfalls unhinterfragten Annahme, dass Heilung ein selbstverständlicher Wunsch aller Menschen ist - ganz besonders Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0004 68 Kristina Dronsch derer, die von Beeinträchtigung und Behinderung betroffen sind. Zu Hilfe kam diesem Jesusbild eine heilszentrierte Theologie, die in Verbindung mit den Heilungserzählungen gesetzt wurde und im Ergebnis zu einem theologisch konnotierten Fortschrittsglauben führte: Jesu heilendes Handeln wurde in eine Vision des zukünftigen Heils eingeordnet - in eine Vision von einem Himmel, in dem es keine Menschen mit Behinderung mehr geben wird. Heil(svision) und Heilung fielen im Wirken des historischen Jesus, das sich in den Heilungs‐ erzählungen wiederfand, zusammen: „Er [der historische Jesus; Anm. KD] sah in ihnen den Anbruch der neuen Welt“. 19 Zugleich waren die Heilungserzählungen der tatkräftige Nachweis, dass auch Jesus mit dem Fortschrittsglauben des 19./ 20. Jahrhunderts Schritt halten konnte. Damit zementierte sich theologisch eine Sichtweise auf Behinderung, die Behinderung nicht anders als ein Defizit und als ein individuelles Problem des Einzelnen begreifbar werden ließ. Die sogenannten Heilungserzählungen boten ein erzählerisches, historisch glaub‐ würdiges Fenster in die wunderwirkende Praxis des historischen Jesus, der den individuellen Defiziten der Einzelnen Abhilfe brachte. Wie sehr die mit den Heilungserzählungen verbundenen Kategorisierungs‐ prozesse im Lichte dieser Heilungsökonomie des historischen Jesus mit aus‐ grenzenden Wissensordnungen operieren, kommt selbst in dem Klassiker der historischen Jesusforschung „Der historische Jesus. Ein Lehrbuch“ von Gerd Theißen/ Annette Merz zum Ausdruck - bzw. wird als Verlegenheit spürbar, wenn dort festgehalten wird, dass die Wunder Jesu „einen Protest gegen die menschliche Not“ sein wollen. Wo immer man diese Geschichten [Heilungserzählungen; Anm. KD] erzählt, wird man sich von aussichtslosen Kranken nicht abwenden. Die Wundergeschichten sind immer auch als ein Protest „von Unten“ gegen das menschliche Leid zu lesen. Wie dieses Aufbegehren gegen Leid, gegen die Zerstörung durch Hunger, Krankheit und Not sich dazu verhält, daß wir auch in unvermeidliches Leid und nicht aufhebbare Behinderung einwilligen müssen, ist ein Problem. 20 Es ist vor allem deshalb ein Problem, weil die neutestamentliche Wissenschaft in vielerlei Hinsicht mit höchst voraussetzungsreichen Begriffen operiert, ohne Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0004 Assisting Jesus - wider eine Heilungsökonomie im Markusevangelium 69 19 Gerd Theißen/ Annette Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 2 1997, 282. 20 Theißen/ Merz, Der historische Jesus (s. Anm. 19), 283. In der Neufassung Gerd Theißen/ Annette Merz, Wer war Jesus? Der erinnerte Jesus in historischer Sicht (UTB 6108), Göt‐ tingen 2023, 294 wird dieser Impuls noch verstärkt, wenn dort sogar vom Heilcharisma des historischen Jesus gesprochen wird und seinen Grenzen: „Die Wundergeschichten sind ‚von unten‘ als Protest gegen menschliches Leid zu lesen. (…) Das NT signalisiert selbst die Grenze jedes Heilcharismas.Trotz des Aufbegehrens gegen Hunger, Krankheit und Not führt es uns vor Augen, dass wir Leid ertragen müssen.“ 21 Markus Dederich, Körper, Kultur und Behinderung, Bielefeld-2007, 31. die eigene Standortgebundenheit ihres Wissens noch viel konsequenter in die eigene Arbeit zu rücken, um so die Perspektivität neutestamentlicher Wis‐ sensformation zu Behinderungsdiskursen in der Auslegung neutestamentlicher Texte zum Thema zu machen. Um dem Anspruch der Dis/ ability Studies zu genügen, den Dederich wie folgt umschreibt: Zusammenfassend gesagt, geht es in den unterschiedlichsten Verzweigungen der Disability Studies darum, dem traditionell individualisierenden, defekt-, defizit- oder schädigungsbezogenen Verständnis von Behinderung ein weit über das ambivalente Integrationsgebot hinausgehendes theoretisches Modell entgegenzusetzen, das mit dem Anspruch verknüpft ist, den gesellschaftlichen und politischen Umgang mit der Differenz zu verändern, 21 führt der Weg in der neutestamentlichen Wissenschaft unabdingbar zu einer Inventarisierung ihrer mitgeführten Begriffe - vor allem der als selbstverständ‐ lich angesehenen, wie eben „Heilung“ in „Heilungserzählungen“. III. In dem nun folgenden Abschnitt möchte ich die Perspektiven von Bach und Eiesland aufgreifen, die beide auf je eigene Weise mit aller Deutlichkeit festge‐ halten haben, dass die Theo-Logie, die Art und Weise, wie über Gott bzw. über Jesus gesprochen wird, anzeigt, was Menschen mit Behinderungen in theologischen Diskursen, in theologischer Wissenschaft, Kirche und Diakonie zu erwarten haben. Jedoch geht es mir weniger um die soziale Positionie‐ rung der Betroffenen sowie deren Perspektiven in hegemonial begründeten Diskursen und sozialen Praxen in neutestamentlicher Wissenschaft, sondern meine Überlegungen möchten vielmehr eine alternative Verhältnisbestimmung jenseits einer Heilungsökonomie bieten, bei der die soziale Positionierung des narrativen Akteurs „Jesus“ im Text des Markusevangeliums in den Blick rückt. Diese soziale Positionierung des narrativen Akteurs Jesus in den Evangelien, in diesem Fall aufgezeigt am Markusevangelium, fragt nach der interessege‐ leiteten Funktionalität von Begegnungen mit narrativen Akteur: innen, die eine verkörperte Differenz aufweisen. Da der Begriff der Behinderung in den Schriften des Neuen Testaments keine unmittelbaren Entsprechungen hat, werde ich ihn im Folgenden nicht verwenden, sondern den Vorschlag von Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0004 70 Kristina Dronsch 22 Anne Waldschmidt, Warum und wozu brauchen Disability Studies die Disability History? Programmatische Überlegungen, in: Elsbeth Bösl/ Anne Klein/ Anne Wald‐ schmidt (Hg.), Disability History. Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte. Eine Einführung, Bielefeld-2010, 13-27, hier-14f. 23 Der Begriff der Assistenz, vor allem der persönlichen Assistenz ist innerhalb der Arbeit mit Menschen mit Behinderungen ein Modell, das den entmündigenden und entmächtigenden Strukturen entgegenwirken soll: „Bei dem Modell der Persönlichen Assistenz handelt es sich um ein Unterstützungskonzept, das sich explizit gegen diese in der traditionellen Behindertenhilfe erfahrene Ohnmacht, Entmündigung und Fremdbestimmung behinderter Menschen …“ wendet (Karsten Altenschmidt/ Lakshmi Kotsch, „Sind meine ersten Eier, die ich koche, ja“. Zur interaktiven Konstruktion von Selbstbestimmung in der Persönlichen Assistenz körperbehinderter Menschen, in: Anne Waldschmidt/ Werner Schneider [Hg.], Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld, Biele‐ feld-2007, 225-247, hier-229). Waldschmidt aufgreifen, statt von Behinderung von „verkörperter Differenz“ zu sprechen: Mit dem Begriff „verkörperte Differenz“ (Engl.: embodied difference) werden in den Disability Studies die vielfältigen Auffälligkeiten bezeichnet, die als „Behinderung“ figurieren: Alle werden mittels des Körpers ausgedrückt und können nur über diesen wahrgenommen werden. 22 Was an dieser Definition deutlich wird, ist der Stellenwert der Differenz. Sie ist untrennbar mit der Tatsache verbunden, dass die in den neutestamentlichen Texten narrativ eingespielten Unterschiede immer auch Ergebnis von Zuschrei‐ bungen sind und der Herstellung von Hierarchien dienen. Daher ist diese Differenz nicht einfach nur im Köper verankert und ‚an‘ ihm manifest, sondern sie ist verkörpert. Zugleich ermöglicht die Rede von „verkörperter Differenz“ den Raum zu öffnen, die „Beziehung“ zwischen dem markinischen Jesus und den narrativen Akteur: innen mit verkörperter Differenz neu zu beschreiben, die nicht in der Defizitperspektive in paternalistische Fürsorglichkeit gegenüber verkörperter Differenz zurückfällt. Es wird deutlich werden, dass im Lichte des Botengangs die Beziehung zwischen dem markinischen Jesus und den Ak‐ teur: innen mit verkörperter Differenz eine gravierende Wandlung erfährt: Sie ist dann keineswegs eine Machtdemonstration überbordender göttlicher Hand‐ lungsfähigkeit des markinischen Jesus gegenüber nicht Handlungsfähigen, sondern das Primat der Begegnung mit dem „Anderen“ steht im Fokus. Zwar ist immer noch die Begegnung zwischen dem markinischen Jesus und den narrativen Akteur: innen verkörperter Differenz im Fokus dieser sogenannten Heilungserzählungen, aber sie erfährt eine wichtige inhaltliche Verschiebung, die ich mit dem Begriff der „Assistenz“ 23 zu fassen versuche und die m. E. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0004 Assisting Jesus - wider eine Heilungsökonomie im Markusevangelium 71 24 Vgl. zum Folgenden ausführlich: Kristina Dronsch, In Wunder verstrickt. eine medio-theologische Pointe der Wundergeschichten im Markusevangelium, in: Koll‐ mann/ Zimmermann (Hg.), Die Hermeneutik der frühchristlichen Wundererzählungen (s.-Anm.-10), 445-467. 25 Grundsätzliches zum Botenamt in der Antike ist zu finden in: Jan A. Bühner, Der Gesandte und sein Weg im 4. Evangelium. Die kultur- und religionsgeschichtlichen Grundlagen der johanneischen Sendungschristologie sowie ihre traditionsgeschicht‐ liche Entwicklung (WUNT II/ 2), Tübingen 1977, bes. 118-267; Samuel A. Meier, The Messenger in the Ancient Semitic World (Harvard Semitic Monographs 45), Atlanta 1989. Sowie in dem Aufsatzband von Horst Wenzel (Hg.), Gespräche - Boten - Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter, Berlin-1997. eine tragfähige Alternative zur bisherigen theologischen Instrumentalisierung verkörperter Differenz erlaubt. Wer etwas über die Geschichten wissen will, die von verkörperter Differenz handeln, kann dies sachgemäß nur durch Einbeziehung des Gesamttextes des Evangeliums tun. Da innerhalb der sogenannten Heilungserzählungen, aber auch innerhalb der gesamten Schrift des Evangeliums sich ein dominanter anwesender Protagonist ausmachen lässt - nämlich der markinische Jesus, ist es notwendig zu bedenken, dass die markinischen Erzählungen, die von ver‐ körperter Differenz handeln, ihre Funktion aus dem Erzählzusammenhang des gesamten Evangeliums erhalten. Deshalb hat ihre Interpretation von der Ana‐ lyse des Gesamterzählzusammenhangs des Markusevangeliums auszugehen, in der dem Hauptprotagonisten eine dominante Rolle zukommt. Seine Rolle und Funktion sind als erstes zu klären. Die Funktion des markinischen Jesus im Evangelium ist als Bote zu be‐ schreiben. Boten sind ein fester Bestandteil von Gesellschaften und Zeiten, in der nichtpersonale Techniken der Botschaftsübermittlung nicht vorhanden sind. 24 Ganz elementar kann festgehalten werden, dass Boten zwischen verschieden‐ artigen Welten stehen und Kraft ihrer Position in deren Mitte und als deren Mittler einen Austausch in Gang bringen. Wo immer das Botenamt thematisch wird, geht es um eine Vermittlung zwischen verschiedenartigen Welten. 25 Damit ist ihre Funktion am besten als ein Dazwischengehen zu beschreiben. Zu jedem Boten gehört sein Botengang, der eine performative und aktionale Dimension hat und mit einer Beauftragung beginnt. Diese Beauftragung des markinischen Jesus wird sogleich mit dem ersten Auftreten des Hauptprotagonisten legiti‐ miert und in Szene gesetzt (Mk 1,9-13). Durch die Geistbegabung, die Jesus nicht nur markiert, sondern die ihn als Sohn Gottes identifizierbar werden lässt, wird die Beauftragung wirkmächtig in Szene gesetzt und durch die himmlische Stimme bestätigt, die über den mit göttlichem Geist Begabten sagt: „Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen“ (Mk-1,11). Mittels der Gabe Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0004 72 Kristina Dronsch 26 Die Übersetzung der markinischen Textstellen folgt Stefan Alkier/ Thomas Paulsen, Die Evangelien nach Markus und Matthäus. Neu übersetzt und mit Überlegungen zur Sprache des Neuen Testaments, zur Gattung der Evangelien und zur intertextu‐ ellen Schreibweise sowie mit einem Glossar (Frankfurter Neues Testament 2), Pader‐ born-2021. 27 Dass der Inhalt der Botschaft des Evangeliums Gottes an einem Botenmodell orientiert ist, wird auch von Rudolf Pesch, Das Markusevangelium. I. Teil: Einleitung und Kommentar zu Kap. 1,1-8,26 (HThK 2), Freiburg 1976, 100 gesehen, wenn gesagt wird, dass dies „im Stil prophetischer Heroldsrufe“ geschieht. 28 Frank J. Matera, New Testament Theology. Exploring Diversity and Unity, Louisville/ London-2007, 9. des Geistes wird der so als Sohn Gottes proklamierte Bote erkennbar und wird als der von göttlicher Seite Beauftragte eingeführt. Zugleich wird ein weiteres Strukturmerkmal des Botenamtes deutlich: Aufgrund seiner Mittlerstellung ist der Bote nicht autonom, er handelt nicht selbsttätig, sondern er untersteht einem „fremden Gesetz“, er handelt im Auftrag eines anderen. Er ist daher heteronom und von „außen gesteuert“ angemessen zu beschreiben. In Mk 1, 14f. wird prominent zu Beginn des Botenamtes des markinischen Jesus seine Botschaft, die er zu übermitteln hat, eingespielt. In Mk 1,14f. heißt es: „Nach der Auslieferung des Johannes kam Jesus nach Galiläa, verkündend die Frohbotschaft Gottes: ‚Gefüllt ist der Augenblick und nahe gekommen ist die Kö‐ nigsherrschaft Gottes. Denkt um und vertraut auf die Frohbotschaft! ‘“ 26 Dieses Umdenken ist das Programm, das die gesamte Erzählung des Markusevange‐ liums wie ein roter Faden durchläuft. Es beinhaltet ein Umdenken über Macht (exousia), über Gemeinschaft und über die Nächste/ den Nächsten. Markus 1,14f. bilden den Beginn des Botenganges, 27 in denen nun die performative und aktionale Dimension des Botenamtes des markinischen Jesus eingespielt wird. Dieser Bote wird gesendet, um eine gute Nachricht zu übermitteln, nämlich die frohe Botschaft Gottes. Häufig wird in Kommentaren darauf hingewiesen, dass das „Evangelium Gottes“ in zweifacher Weise verstanden werden kann. If the phrase is construed as a subjective genitive, God is the subject of the phrase, and it refers to God’s own good news. […] If the phrase is construed as an objective genitive, God is the object of this phrase, and it refers to the good news about God. 28 Beide Verständnismöglichkeiten sind in der Botenperspektive notwendig prä‐ sent zu denken: Es geht bei dem Dazwischentreten, beim Mittlersein Jesu einerseits darum, dass der markinische Jesus als Bote Gottes die Botschaft über Gottes wirklichkeitsveränderndes Handeln übermittelt, gleichzeitig ist aber auch festgehalten, dass diese Botschaft, die der markinische Jesus zu ver‐ kündigen weiß, sich eines göttlichen Auftraggebers verdankt. Der markinische Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0004 Assisting Jesus - wider eine Heilungsökonomie im Markusevangelium 73 29 Matera, New Testament Theology (s. Anm. 28), 9. 30 Meier, The Messenger (s. Anm. 25), 237 mit Verweis auf den Amarna Corpus (EA 16: 43- 55). Jesus stellt somit die Extension des göttlichen Wirkbereichs dar, so dass der markinische Jesus den göttlichen Auftraggeber nicht nur repräsentiert, sondern auch gegenwärtig macht. Es ist die frohe Botschaft Gottes, die Jesus bringt „as the herald of the gospel“ 29 und die er präsent macht. Schon lange ist in der Markus-Exegese die prominente räumliche Struktur erkannt worden, die den gesamten Plot des Evangeliums organisiert und sich einem Wegmotiv verdankt: Im Wesentlichen werden drei Räume als das Evangelium strukturierend ausgemacht: (1) in und um Galiläa (Mk 1,16- 8,21); (2) auf dem Weg (Mk 8,22-10,52); (3) in Jerusalem (Mk 11,1-15,39). In und um Galiläa zeigt sich der göttliche Bote als bevollmächtigt in Wort und Tat sein Botenamt auszuführen. In diesem Teil sind mehrheitlich die sogenannten Heilungserzählungen angesiedelt. Gleich zu Beginn der ersten Station des Boten hält der Erzählerkommentar fest, dass der markinische Jesus wie einer lehrte, „der Bevollmächtigung (exousia) hat“ (Mk 1,22) - es geht in der Botenperspektive nicht um autonome Macht, sondern um bevollmächtigende Macht, so dass exousia nicht mit „Vollmacht“ wiederzugeben ist, sondern mit „Bevollmächtigung“, um diesen heteronomen Aspekt zu unterstreichen. Es ist also eine Bevollmächtigung, hinter der eine beauftragende Macht steht. Doch was trägt die Botenperspektive des markinischen Jesus zum Verstehen der sogenannten Heilungserzählungen aus? Während wir bisher den beauftra‐ genden Aspekt des Botenamtes des markinischen Jesus in den Blick genommen haben, ist es ebenso unabdingbar sich die Empfänger: innenseite anzuschauen, also die Seite zu denen der markinische Jesus gesandt ist. Denn zum Weg des Boten gehört, dass das Botenamt eng verknüpft ist mit denen, zu denen er gesandt wurde. So bemerkt Samuel A. Meier: „Messengers can not in any sense be pictured as having diplomatic immunity, even among those to whom they are sent. Indeed, the messenger is a pawn whom one may dispose of as one wishes“. 30 Es gehört zur Signatur des Botenamtes, dass der Gesendete durch sein Dazwischentreten auf die Empfänger: innen und deren Rezeption der Botschaft angewiesen bleibt. Nicht der Bote Jesus hat die Kontrolle über die Effekte seiner Botschaft, sondern die Verantwortung liegt ganz auf Seiten der Emp‐ fänger: innen. In der Erzählwelt des Markusevangeliums sind es die narrativen Akteur: innen, an denen sich zeigt, wie das Dazwischentreten des markinischen Boten aufgenommen wird. In der Konzentration auf die narrativen Akteur: innen mit verkörperter Differenz wird deutlich, dass sie im gesamten Evangelium die einzigen Erzählfiguren sind, die sowohl das markinische Botenamt nicht nur Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0004 74 Kristina Dronsch erkennen, sondern es für ihre Anliegen zu nutzen vermögen. Im Evangelium ist zwar regelmäßig von den Reaktionen auf Jesu Wunder wirkendes Handeln die Rede. Staunen und Entsetzen (vgl. z. B. Mk 1,27f.; 2,12; 4,40) gehören ebenso dazu wie Ablehnung (vgl. z. B. Mk 3,6.22), aber es sind im Kontext von Heilungserzählungen besonders die Akteur: innen mit verkörperter Differenz, die nicht auf Jesus exousia reagieren, sondern agieren, weil sie wissen, dass der markinische Jesus der bevollmächtigte Bote ist. Innerhalb der markinischen sogenannten Heilungserzählungen lässt sich dabei aufzeigen, dass es im gesamten Evangelium vornehmlich Akteur: innen mit verkörperter Differenz sind, die nicht nur den markinischen Jesus als bevollmächtigten Boten erkennen, sondern die vor allem diesbezüglich in Aktion gehen, um ihr Anliegen vor diesen Boten zu bringen, wie in Mk 1,40-42: Und es kommt zu ihm ein an Aussatz Erkrankter, ihn zu Hilfe rufend und auf die Knie fallend und zu ihm sprechend: „Wenn Du willst, kannst Du mich reinigen.“ Und in Bestürzung geraten, die Hand ausstreckend, berührte er ihn und sagt zu ihm: „Ich will, werde rein! “ Und sofort ging weg von ihm der Aussatz und er wurde rein. Vor dem bevollmächtigenden Handeln des Boten Jesus steht die Aktion des Akteurs mit verkörperter Differenz, die überhaupt erst das Handeln des mark‐ inischen Jesus ermöglicht. Durch seine Aktion des Hilferufens, des Niederfallens und des Sprechens gibt er nicht nur zu verstehen, dass er den markinischen Jesus als den bevollmächtigten Boten erkennt, sondern er adressiert auch klar seine Erwartung an den markinischen Jesus in seiner Funktion als göttlichen Boten: „Wenn Du willst, kannst Du mich reinigen.“ Der markinische Jesus wird in Auftrag genommen durch den an Aussatz Erkrankten, der ihn als den bevollmächtigten göttlichen Boten erkennt. In der Perspektive des Botenamtes erscheint das Handeln Jesu dann weniger durch Autonomie geprägt, sondern durch eine doppelte Fremdbestimmung: durch den, der ihn gesandt hat, und durch den, an den er sich als wirkmächtiger Bote adressiert. Als Bote tritt der markinische Jesus zwischen seinen göttlichen Auftraggeber und den an Aussatz Erkrankten und handelt auf Anweisung des an Aussatz Erkrankten. In dieser sogenannten Heilungserzählung steht keineswegs eine paternalistische Fürsorglichkeit im Zentrum, sondern der markinische Jesus assistiert in der Funktion als göttlicher Bote und ausgehend vom Kontaktaufbau durch den an Aussatz Erkrankten. Auch die sogenannte Heilungserzählung in Mk 5,25-34 zeigt eine narrative Akteurin mit verkörperter Differenz, die ebenfalls darum weiß, dass Jesus der bevollmächtige Bote ist und auch ihr Handeln ist durch Aktion gekennzeichnet, indem sie in Kontakt mit dem bevollmächtigten Boten geht und sein Gewand Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0004 Assisting Jesus - wider eine Heilungsökonomie im Markusevangelium 75 berührt. Auch sie nutzt ihr Wissen, um den göttlichen Boten für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, aber diesmal ohne die Einwilligung des bevollmächtigten Boten. Während sie weiß, was sie von der Berührung des Gewandes des markinischen Boten will, weiß Jesus als der bevollmächtigte Bote nichts von der Frau, stellt ihr das Gewünschte jedoch zur Verfügung, wie Mk 5,30 betont: „Und Jesus, sofort erkennend in sich die aus ihm herausgekommene Macht, sich in der Masse umwendend, sprach: ‚Wer hat mir die Gewänder berührt? ‘“ Sein Botenamt weist ihn als den bevollmächtigten göttlichen Boten aus, den die Frau nicht nur erkennt, sondern ebenso kann festgehalten werden, dass sie durch den markinischen Jesus Assistenz erfährt hinsichtlich ihres Wunsches nach Beendigung des Blutflusses. Diese „herausgekommene Macht“ (V. 30) ist somit keine hierarchische, sondern gibt sich als eine positive Möglichkeit zu erkennen, Einfluss auf die Gestaltung des Zusammenlebens zu gewinnen. Sie ist nicht in dem göttlichen Boten allein gespeichert, sondern wird der narrativen Akteurin mit verkörperter Differenz zur Verfügung gestellt, die hinsichtlich der Gestaltung ihres Zusammenlebens aufgrund ihres Blutflusses Beeinträch‐ tigungen erfahren hat, wie V. 26 verdeutlicht: „und vieles erlitten von vielen Ärzten, und ausgegeben alles von sich und in keiner Weise Nutzen empfangend, sondern mehr ins Schlechtere gekommen“. Sie nutzt die durch ihre Berührung „herausgekommene Macht“ des markinischen Jesus und bedarf deswegen nicht mehr der in „keiner Weise Nutzen“ empfangenden Interventionen durch die Ärzte. Zuletzt sei die sogenannte Heilungserzählung in Mk 10,46-52 erwähnt, die in der Botenperspektive nicht als Schauplatz der Korrektur eines blinden, defizitären Körpers erscheint, sondern einen markinischen Jesus zeigt, der im Sinne von Assistenz interagiert und so den Blick auf den am Weg sitzenden blinden Bettler Bartimäus verändert. Bartimäus, als er hört, dass Jesus da ist, beginnt aktiv zu schreien „Sohn Davids, Jesus, hab jetzt Mitleid mit mir“ (Mk 10,47). Mit dieser Aktion qualifiziert der blinde Bettler (vgl. Mk 10,46) sein Wissen um Jesus und erkennt ebenfalls in dem markinischen Jesus den bevoll‐ mächtigten Boten. Das aktive Schreien des Akteurs mit verkörperter Differenz steht auch hier vor jedem Handeln des bevollmächtigten Boten, der als „Sohn Davids, Jesus“ adressiert wird. Bartimäus aktives, an den bevollmächtigten Boten adressiertes Schreien lässt erkennen, dass er nicht nur den markinischen Jesus als den bevollmächtigten Boten erkennt, sondern er auch klar seine Erwartung an den markinischen Jesus in seiner Funktion als göttlichen Boten adressieren kann: „habe jetzt Mitleid mit mir.“ Bartimäus, der Sohn des Timäus, fordert ein Sich-in-Beziehung-Setzen zu ihm durch den „Sohn Davids“ ein und hält dieses auch gegen Widerstände der „Vielen“, die ihn zurechtweisen, Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0004 76 Kristina Dronsch aufrecht (vgl. V. 48). Im Gespräch zwischen Bartimäus und Jesus geht es um ein Sichtbarmachen, Sich-zum-Anderen-Verhalten, in deren Mittelpunkt die Frage Jesu steht: „Was willst du, soll ich dir tun? “ (Mk 10,51). In der Perspektive des Botenamtes agiert der markinische Jesus nicht autonom, sondern weiß sich in der Logik des Botenamtes gebunden an den blinden Bettler Bartimäus. Er stellt als bevollmächtigter Bote Gottes sich nicht über Bartimäus Anliegen, sondern weiß sich als Vermittler gebunden an die, zu denen er gesandt ist. Jesus erfragt somit seine Zuständigkeit als göttlicher Bote und lässt den Raum für die Bestimmung des an ihn adressierten Auftrags offen, den Bartimäus sodann mit: „Rabbi, dass ich wieder sehe.“ (Mk 10,51) wiedergibt. Die Antwort Jesu in V. 52: „Mach dich auf! Dein Vertrauen hat dich gerettet“ fokussiert gänzlich auf die Gelingensseite des assistierenden Handelns Jesu - aber in der Perspektive von Bartimäus. Die Worte des markinischen Jesus „Dein Vertrauen hat dich gerettet“, die wortwörtlich auch in Mk 5,25-34 vorkommen, zeigen ebenfalls an, dass das zwischen dem markinischen Jesus und Bartimäus geknüpfte soziale Band des Vertrauens von Bartimäus aktiv ausgeht, in dem er in Jesus den bevollmächtigten Boten erkennt. Wer die sogenannten Heilungsgeschichten in der Botenperspektive auf‐ merksam liest, wird gewahr, wie wenig das Botenamt ein Fehlerbehebungsamt von verkörperter Differenz ist. Es ist angemessen zu beschreiben als ein Bezie‐ hungsamt, in dem der markinische Jesus durch die Akteur: innen verkörperter Differenz in Auftrag genommen wird, die ihn als den bevollmächtigten göttli‐ chen Boten erkennen. Die Interpretation der sogenannten Heilungsgeschichten in der Perspektive des Botenamtes des markinischen Jesus ist ein erster Schritt, um die Beziehungsverhältnisse zwischen dem markinischen Jesus und Ak‐ teur: innen mit verkörperter Differenz in den sogenannten Heilungsgeschichten jenseits von defizitärer Fehlerbehebung neu zu ordnen. Kristina Dronsch, geb. 1971, Studium der Evangelische Theologie in Deutschland und der Schweiz, ist Profes‐ sorin für Diakoniewissenschaften an der Evangelischen Hochschule Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Armuts- und Reichtumsforschung, Macht- und Herrschaftsdiskurse sowie neutestamentliche Hermeneutik. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0004 Assisting Jesus - wider eine Heilungsökonomie im Markusevangelium 77 1 Vgl. zu diesen Deutungsschemata Markus Schiefer Ferrari, (Un)gestörte Lektüre von Lk 14,12-14. Deutung, Differenz und Disability, in: Wolfgang Grünstäudl/ Markus Schiefer Ferrari (Hg.), Gestörte Lektüre. Disability als hermeneutische Leitkategorie biblischer Exegese (Behinderung - Theologie - Kirche. Beiträge zu diakonisch-caritativen Disa‐ bility Studies 4), Stuttgart 2012, 13-47, hier 18-35. Kontroverse Behinderung als „narrative Prothese“? Einführung in die Kontroverse Susanne Luther Insbesondere die neutestamentlichen Wundererzählungen stehen unter der Perspektive einer dis/ ability-sensiblen Hermeneutik im Fokus. Die exegetische Fachliteratur orientiert sich noch immer häufig an klassischen Deutungssche‐ mata wie Kontrastierung (Menschen mit Behinderung werden Menschen ohne Behinderung gegenübergestellt), Subsumierung (Menschen mit Behinderung werden undifferenziert unter eine größere Gruppe gefasst), Infantilisierung (Menschen mit Behinderung werden ihre Fähigkeiten und Kompetenzen abge‐ sprochen), Anonymisierung (sie werden nicht als Individuen wahrgenommen) oder Stigmatisierung (sie werden mit negativen Konnotationen belegt). 1 Die Perspektive der Betroffenen findet bislang in der Auslegung häufig wenig Berücksichtigung. Um die biblischen Texte für heutige Rezipient: innen verant‐ wortet auszulegen, bedürfen Exeget: innen einer der jeweiligen Auslegungssitu‐ ation angemessenen Hermeneutik, die unreflektierte Auslegungen verhindert, die leibliche Unversehrtheit nicht als das Ideal vorstellt oder gar als Ausdruck der Beziehungsfähigkeit (auch zu Gott) bestimmt. Der Ansatz der dis/ ability studies tritt der herkömmlichen Auslegung mit einer Hermeneutik entgegen, die darauf abzielt, diese über die Jahrhunderte hin etablierten Konzeptionen und Machtstrukturen zu dekonstruieren, um der Stigmatisierung, der Diskriminierung und dem Unsichtbarmachen von Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0005 2 Vgl. unten S. 87. 3 Vgl. David T. Mitchell/ Sharon L. Snyder, Narrative Prosthesis. Disability and the Dependencies of Discourse, Michigan-2000. 4 Vgl. unten S. 87. 5 Vgl. unten S. 101. Individuen, die nicht dem soziokulturell konstruierten Ideal von Normalität und Selbstbestimmung entsprechen, die Grundlage zu entziehen und einer dis/ ability-sensiblen, inklusiven Lesart der Texte den Weg zu bereiten. In der folgenden Kontroverse, die die Erzählung der Heilung eines Blinden in Joh 9 und ihre Auslegungsgeschichte in den Blick nimmt, fordert Marie Hecke eine dis/ ability-sensible und ableismuskritische Hermeneutik und Theologie für den (praktisch-)theologischen Umgang mit neutestamentlichen Heilungserzäh‐ lungen. Sie problematisiert die negative, pejorative Verwendung der Metapher der Blindheit, die Behinderung „mit Mangel, Defekt, Dummheit oder Nichtver‐ stehen assoziiert und darin instrumentalisiert“. 2 Anhand des Konzeptes der „narrativen Prothese“ von Mitchell und Snyder 3 kritisiert sie die „symbolische Indienstnahme“ von Menschen mit Behinderung in den neutestamentlichen Erzählungen, d. h. ihre Funktionalisierung mit dem Ziel der Erzeugung von Be‐ deutung. 4 In Aufnahme des Mottos der Behindertenrechtsbewegung „Nothing about us without us - Nichts über uns ohne uns“ fordert sie die Einbeziehung von Betroffenen in religionspädagogischen und homiletischen Auslegungen von Heilungserzählungen und die Etablierung einer dis/ ability-sensiblen und ableismuskritischen Hermeneutik in der Exegese. Angela Standhartinger nimmt diese Forderungen wie auch die Kritik an der bisherigen Auslegungsgeschichte zustimmend auf und führt anhand einer konkreten Auslegung von Joh 9 eine mögliche dis/ ability-sensible Interpreta‐ tion vor. Sie argumentiert, dass nicht das Heilungswunder im Zentrum der Erzählung steht, sondern vielmehr die besondere Seh- und Erkenntnisfähigkeit des ‚Blindgeborenen‘, der gegenüber den vermeintlich Sehenden als der ideale Jünger präsentiert wird. Im Gegenüber zu Auslegungen, die Blindheit nur als narrative Prothese betrachten, steht der ‚Blinde‘ in dieser Auslegung im Fokus der Aufmerksamkeit, denn die Heilung des Blindgeborenen kann „als Allegorie auf das menschliche Erkennen überhaupt gelesen werden“ und Blindheit als „eine komplexe Metapher für den Weg des Glaubens zur Erkenntnis“. 5 Wenn wir heute neutestamentliche Heilungserzählungen auslegen wollen, ist eine dis/ ability-sensible Hermeneutik vorauszusetzen. Wir wünschen Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, eine Ihre eigene Hermeneutik inspirierende Lektüre der beiden Positionen! Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0005 80 Susanne Luther 1 Hierbei wird die Dramatik und auch die unmittelbare Überzeugungskraft für vermeid‐ lich Gesunde/ nicht Behinderte dadurch unterstrichen, dass Beeinträchtigungen jede und jeden von uns zu jedem Zeitpunkt unseres Lebens betreffen kann: Ein falscher Schritt im Straßenverkehr, eine unerwartete Diagnose einer chronischen Erkrankung. Vgl. Rebecca Maskos, Identität und Identitätspolitik. Welche Bedeutung haben sie für behinderte Menschen? , in: Anne Waldschmidt. Unter Mitarbeit von Sarah Karim (Hg.), Handbuch für Disability Studies, Wiesbaden-2022, 485-499. 2 Vgl. dazu Reinhard von Bendemann, Christus der Arzt. Frühchristliche Soteriologie und Anthropologie im Licht antik-medizinischer Konzepte (BWANT-234), Stuttgart-2022. „Sind etwa auch wir blind? “ Joh 9 ableismuskritisch und disabilitysensibel gelesen Marie Hecke Wenn ich ehrlich sein soll, ich mag neutestamentliche Heilungsgeschichten nicht sonderlich gern - egal wie sehr man die Heilung historisch-kritisch einordnet, ob man sie symbolisch oder körperlich liest, eine Tatsache bleibt leider immer bestehen und stellt uns insbesondere im praktisch-theologischen Gebrauch vor eine große Herausforderung: Neutestamentliche Heilungsge‐ schichten enden (leider) immer mit der körperlichen Heilung, die in der Aufhe‐ bung der körperlichen Beeinträchtigung liegt. Heilungsgeschichten erzählen plastisch und aus der Perspektive der vermeintlich Gesunden einleuchtend 1 von einem körperlichen Mangel, der meist durch Jesus, als Arzt oder als Wunder‐ heiler gelesen, 2 behoben und beseitigt wird - so auch in Joh 9: Blinde Menschen sehen, gehörlose Menschen hören und gehbehinderte Menschen gehen. Damit vermitteln sie das Ideal eines heilen, idealen, nicht beeinträchtigten Körpers. Aus der Perspektive einer Theologin mit einer unsichtbaren Behinderung gehen Heilungsgeschichten an meiner Realität und Wirklichkeit mit dieser vorbei und tragen nicht durch ein Leben mit Behinderung. Sie liefern dem Ideal des indivi‐ duellen bzw. medizinischen Modells von Behinderung Argumente, welches die Reduzierung bzw. Heilung der körperlichen Beeinträchtigung von Menschen mit Behinderung anstrebt und fragen wenig die gesellschaftlichen, ableistischen Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0006 3 Für die Modelle von Behinderung vgl.: Marianne Hirschberg, Modelle von Behinde‐ rung in den Disability Studies, in: Waldschmidt (Hg.), Handbuch Disability Studies (s.-Anm.-1), 93-108. 4 Den Anspruch an Theologie, dass sie neben disabilitysensibel ebenso ableismuskritisch sein sollte, übernehme ich von Anna Neumann. Sind disabilitysensible Ansätze inzwi‐ schen schon weiter verbreitet, steht eine Etablierung von Ableismuskritik innerhalb der Theologie an vielen Stellen noch aus. Vgl. Anna Neumann, Zwischen lebensunwertem und selbstbestimmtem Leben. Impulse des 20. Jahrhunderts für eine ableismuskriti‐ sche Religionspädagogik, in: Richard Janus/ Naciye Kamcili-Yildiz/ Marion Rose/ Harald Schroeter-Wittke (Hg.), Katastrophen. Religiöse Bildung angesichts von Kriegs- und Krisenerfahrungen im 19.-und 20.-Jahrhundert, Leipzig-2023, 323-335. 5 Vgl. Rebecca Maskos, Was heißt Ableismus? Überlegungen zu Behinderung und bürgerlicher Gesellschaft, in: Arranca! 43 (2010), 30-33; dies., Ableismus und Behinder‐ tenfeindlichkeit. Diskriminierung und Abwertung behinderter Menschen, in: Bundes‐ zentrale für politische Bildung (Hg.), Dossier „Behinderungen“ (https: / / www.bpb.de/ themen/ inklusion-teilhabe/ behinderungen/ 539319/ ableismus-und-behindertenfeindlic hkeit/ ; letzter Zugriff am 13.05.2024). 6 Eine breitere Diskussion des Begriffes in der Diskussion fand auf der ersten Netzwerkta‐ gung „Disability & Theologie“ statt. Vgl. dafür den Sammelband zur Dokumentation der Tagung: Marie Hecke/ Katharina Kammeyer/ Anna Neumann (Hg.), Andere Geschichten erzählen. Schöpfung, Heilung und die Rede von Gott in disabilitysensibler Theologie. Dieser erscheint in der Reihe Behinderung - Theologie - Kirche im Kohlhammer-Verlag Ende des Jahres. Strukturen, die Menschen behindern, an. 3 Deswegen stellen neutestamentliche Heilungsgeschichten eine disabilitysensible und ableismuskritische Theologie 4 vor eine enorme Herausforderung und es braucht für den (praktisch-)theologi‐ schen Umgang mit neutestamentlichen Heilungsgeschichten eine ableismukri‐ tische und disabilitysensible Hermeneutik. Ich werde zunächst Grundsätze dieser Hermeneutik erläutern (1.), dann eine ableismuskritische Lesart von Joh 9 vorstellen (2.) und abschließend Elemente eines disabilitysensiblen Umgangs mit Heilungsgeschichten skizzieren-(3.). 1. Ableismuskritische und disabilitysensible Hermeneutik Unter Ableismus versteht man die Diskriminierung von Menschen mit Behin‐ derung und/ oder chronischer Erkrankung. Der Begriff wurde erst 2010 von Rebecca Makros in die deutsche Debatte eingebracht. 5 In der Theologie wird er bisher wenig bis fast gar nicht rezipiert. 6 Der Ausdruck Ableismus stammt aus dem Englischen (ableism) und wird von dem Wort able abgeleitet, das mit „fähig/ imstande sein“ übersetzt werden kann. Unter Ableismus werden gesellschaftliche Denk- und Handlungsmuster verstanden, die eine bestimmte Form von Körper und Geist hervorbringen, die als perfekt, arttypisch und deshalb für den Menschen in seinem Sein wesentlich und vervollkommnend Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0006 82 Marie Hecke 7 Tobias Bucher/ Lisa Pfahl/ Boris Traue, Zur Kritik der Fähigkeiten: Ableism als neue Forschungsperspektive der Disability Studies und ihrer Partner_innen, in: Zeitschrift für Inklusion 2 (2015) (abrufbar unter: https: / / www.inklusion-online.net/ index.php/ in klusion-online/ article/ view/ 273; letzter Zugriff am-7.5.2024). 8 Dies verdeutlichen schon die Zahlen zu Behinderung: Nur rund 3% der Behindeurngen sind angeboren, 89% durch chronische Erkrankungen im Laufe des Lebens erworben und 1% durch Unfälle. Behinderung ist also nicht statisch, sondern verändert sich im Leben von Menschen. Menschen mit Behinderung ist außerdem mit Rund 15% die größte marginalisierte Gruppe in Deutschland. Siehe dazu https: / / www.bpb.de/ kurz -knapp/ zahlen-und-fakten/ soziale-situation-in-deutschland/ 61823/ schwerbehinderte/ ; letzter Zugriff am 8.5.2024. 9 Werner Schneider/ Anne Waldschmidt, Disability Studies. (Nicht-)Behinderung anders denken, in: Stephan Moebius (Hg.), Kultur. Von den Cultural Studies bis zu den Visual Studies. Eine Einführung, Bielefeld-2012, 128-150, hier 149. vorgestellt werden. Behinderung wird aus dieser Perspektive nicht mehr in Differenz zur Norm oder Normalität verstanden, „sondern als zwischenmensch‐ liches und gesellschaftliches Verhältnis, das in der Bestimmung von Fähigkeiten seinen Ausdruck findet.“ 7 Aus dieser Perspektive wird gefragt: Wer gilt unter welchen Bedingungen als fähig? Demnach ist die Untersuchung von Ableismus, wie diejenige von Sexismus und Rassismus, die Aufdeckung und Kritik an gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen. Disability ist demgegenüber eine Vielfaltsdimension des menschlichen Kör‐ pers. Behinderung wird demnach nicht als eine körperliche Differenz, die ne‐ gativ bewertet wird, verstanden. Gegenstand der Disability Studies ist nicht die „Behinderung an sich“, sondern die historische, soziale, kulturelle Konstruktion von Normalität von Körpern und Anderssein als Behinderung, also das Dif‐ ferenzverhältnis und die Konstruktion von Behinderung/ Nicht-Behinderung. Eine große Unterscheidung ist dabei die zwischen sichtbarer und unsichtbarer Behinderung. Meist wird sich unter Behinderung der: die schon ikonographische Rollstuhlfahrer: in vorgestellt. Behinderungen sind aber viel vielfältiger: Sie reichen von körperlichen bis zu geistigen Behinderungen, können aber auch chronische Erkrankung und/ oder Schmerz bis zu psychischen Einschränkungen umfassen. Disability ist also ein ‚Umbrella-Begriff ‘, der sehr viele völlig unter‐ schiedliche Facetten und Aspekte zusammenfasst. Behinderung ist zudem ein körperliches Merkmal, das nicht statisch ist, sondern ein Kontinuum darstellt, 8 deswegen verwendet z. B. Anne Waldschmidt die Schreibweise dis/ ability mit einem Schrägstrich, um „die Verschränkungen und Verknüpfungen, das Wechselspiel von ‚normal‘ und ‚behindert‘“ 9 zu verdeutlichen. Öffnet man die Bibel sind Behinderungen omnipräsent: Mose stottert und hält sich für nicht geeignet als Prophet; Isaaks Blindheit ermöglicht es Rebecca, ihrem jüngeren Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0006 „Sind etwa auch wir blind? “ 83 Lieblingssohn den Segen zukommen zu lassen; die Propheten versprechen eine bessere Welt, in der die Blinden sehen und die Lahmen gehen werden; Jesus ‚heilt‘ Kranke und Menschen mit Behinderung als Anfang dieser besseren Welt und Paulus, selbst chronisch erkrankt, stellt die Körper der Menschen und ihre Geschichten in den Mittelpunkt, wenn er über Auferstehung spricht. 10 Doch wurden diese biblischen Geschichten über Jahrhunderte von The‐ olog: innen interpretiert und gepredigt, die Behinderung als Missgeschick, als Mangel, der überwunden werden muss, und als minderwertig ansehen. Die Wirkungs- und Auslegungsgeschichte dieser Texte ist also vielfältig von Ableismus geprägt. Es braucht daher für einen differenzierten Umgang mit bi‐ blischen Texten sowohl eine ableismuskritische als auch eine disabilitysensible Hermeneutik: Ableismuskritische Hermeneutik problematisiert die vielmals von Ableismus geprägte Wirkungs- und Auslegungsgeschichte von biblischen Texten und auch den Ableismus in biblischen Texten selbst. Disabilitysensible Hermeneutik fragt demgegenüber nach „anderen Geschichten“ 11 über Behin‐ derung oder kraftvolle Aspekte, die diese nicht als defizitäre, sondern als produktive Kategorie und selbstverständlichen Aspekt der Identität erschließen und damit einen Perspektivwechsel initiieren. Beide Aspekte müssen jedoch zusammengedacht werden. Gleichzeitig ist bei dem einen Text der eine Aspekt stärker und bei dem anderen der andere. Für die Exegese und Auslegung von Heilungsgeschichten braucht es sowohl eine disabilitysensible als auch eine ableismuskritische Hermeneutik. Dabei entscheidet je die Verwendung von Behinderung im Text, welcher Aspekt insbesondere benötigt wird. Für die Auslegung von Joh 9 tritt zunächst eine ableismuskritische Lesart in den Mittelpunkt. In einem zweiten Schritt frage ich nach einem disabilitysensiblen Umgang mit Heilungsgeschichten. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0006 84 Marie Hecke 10 Marie Hecke/ Julia Watts Belser, Mose stottert. Gott fährt Rollstuhl. Crip Culture im Gespräch mit der Bibel, in: ZDS 1 (2024), 1-12, 2. https: / / zds-online.org/ wp-content/ upl oads/ 2024/ 04/ ZDS_2024_1_2_Hecke_Belser.pdf; letzter Zugriff am 8.5.2024. Siehe dazu auch ausführlicher: Julia Watts Belser, Loving Our Own Bones. Disability Wisdom and the Spiritual Subversiveness of Knowing Ourselves Whole, Boston-2023. 11 Rosemarie Garland-Thomson, Andere Geschichten, in: Petra Lutz/ Thomas Macho/ Gisela Staupe/ Heike Zirden (Hg.), Der [Im-]Perfekte Mensch. Metamorphosen von Normalität und Abweichung, Köln 2003, 418-425, hier-419. 12 Dorothee Wilhelm, Wer heilt hier wen? Und vor allem: wovon? Über biblische Hei‐ lungsgeschichten und andere Ärgernisse, in: Schlangenbrut-62 (1998), 10-12, hier-10. 13 Vgl. für diese Interpretation auch Marie Hecke, „There is more than one way to be whole and holy“ - Elemente einer intersektionalen Homiletik am Beispiel von Joh 9, in: Marie Hecke/ Katharina Kammeyer/ Anna Neumann (Hg.), Andere Geschichten erzählen. Schöpfung, Heilung und die Rede von Gott in disabilitysensibler Theologie. Im Erscheinen. 2. Ableismuskritische Lesart von Joh 9 Für eine ableismuskritsche Lesart von Joh 9 skizziere ich zunächst die Norma‐ lisierung des behinderten Körpers in der Heilungsgeschichte und dann die sog. Blindheit als pejorative Metapher. 2.1. Normalisierung des behinderten Körpers Die Heilungsgeschichte in Joh 9,1-7 endet mit der Aufhebung bzw. „Heilung“ der körperlichen Beeinträchtigung, in diesem Falle der Blindheit. Diese stellt demnach einen konkreten Negativ- und Defizitstand des Körpers dar, der behoben werden muss. Aus der Perspektive der vermeintlich Gesunden und sinngemäß „Vollständigen“ wird über die vermeintliche körperliche Wahrheit von Blindheit gesprochen. Die Leibes- und Lebenserfahrung blinder Menschen selbst kommt dabei nicht zu Wort. Der namenlose, blinde Mensch wird nicht gefragt, ob er sehen möchte, sondern es wird normativ angenommen, dass er sehen möchte. Dorothee Wilhelm, eine Theologin, die sich selbst als Krüppelfrau bezeichnet, nennt Heilungsgeschichten deswegen auch „Normalisierungsge‐ schichten“. 12 Joh 9 charakterisiert den Nichtsehenden in Vers 1 als „blind von Geburt an“. Angesichts dessen stellen die Jünger: innen Jesus die Frage, ob der Blinde selbst oder seine Eltern gesündigt haben, sodass er blind geboren wurde (V. 2). Der Text stellt also eine Verbindung von Schuld und Behinderung her, die Jesus allerdings mit der Begründung zurückweist, dass an dem Blindgeborenen die Werke Gottes offenbart werden sollen (V. 3). Zwar verneint er damit die höchst problematische Verbindung von Sünde und Behinderung - die in anderen Heilungsgeschichten begegnet - aber aus einer disabilitysensiblen und ableismuskritischen Perspektive ist die Antwort Jesu trotzdem kritikwürdig: Sie instrumentalisiert sowohl die Erblindung als auch den Blinden. Beide fungieren als Demonstrationsobjekte für die Werke und die Größe Gottes und besitzen dadurch keinen Selbstzweck, keinen Eigenwert und verfügen kaum über eigene Handlungsmacht. 13 „Never“, so drücken es Koosed/ Schumm in Bezug auf die Funktion von Krankheit oder Behinderung in den Heilungsgeschichten aus, Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0006 „Sind etwa auch wir blind? “ 85 14 Jennifer Koosed/ Darla Schumm, Out of the Darkness. Examining the Rhetoric of Blindness in the Gospel of John, in: Disability Studies Quarterly 25 (2005), 77-91, hier 80. 15 Aus historisch-kritischer Perspektive ist zu beachten, dass die Heilung selbst nach damals anerkannten medizinischen Behandlungen beschrieben wird: Sowohl die Ver‐ wendung von Spucke und Lehm als Gemisch als auch das Abwaschen entspricht antiken Behandlungsmethoden von Augenkrankheiten. Vgl. Anna Rebecca Solevåg, Negotia‐ ting the Disabled Body. Representations of Disability in Early Christian Texts (ECL 23), Atlanta 2018, 73; Bernd Kollmann, Jesus und die Christen als Wundertäter. Studien zu Magie, Medizin und Schamanismus in Antike und Christentum (FRLANT 170), Göttingen-1996, 234-238. 16 Hecke, Elemente (s.-Anm.-13), im Erscheinen. 17 Urte Helduser, Literatur- und Sprachwissenschaften in den Disability Studies, in: Waldschmidt (Hg.), Handbuch Disability Studies (s.-Anm.-1), 219-233, hier 220. is the condition simply an expression of the various possibilities inherent in the human body. Never is the condition an accident. And never is the condition seen as a positive gift of God. Rather, the disability is always present for some other reason or purpose. 14 Die Behinderung und ihre Heilung werden, auch mit Blick auf die folgende Aus‐ einandersetzung, ob Jesus der wahre Messias ist, funktionalisiert. Dies überdeckt eine mögliche alternative Bedeutung für den Betroffenen selbst. Behinderungen werden damit zum Objekt göttlichen Handelns und für Menschen mit Behinde‐ rung wird der Status als autonomes Subjekt damit zumindest angefragt. Der Blinde wird auch nicht gefragt, ob oder was er möchte. Stattdessen streicht Jesus ihm den Spuckbrei fast schon übergriffig auf die Augen. 15 2.2. Blindheit als pejorative Metapher Blindheit wird am Ende des Textes als pejorative Metapher für die Unfähigkeit oder auch Unwilligkeit zu erkennen und zu verstehen verwendet. „Diese metaphorische Bedeutung der ‚Blindheit‘ baut auf dem ableistischen Vorurteil auf, welches körperliche Normabweichungen mit kognitiven Einschränkungen verknüpft.“ 16 In Joh 9,39-41 sagt Jesus zu den Pharisäer: innen, dass er in die Welt gekommen sei, damit die nicht-Sehenden anfangen zu sehen und die Sehenden blind werden, worauf diese fragen: „Sind wir etwa blind? “ Die Verwendung von Blindheit wird metaphorisch verstanden. Sehen/ Blindheit wird mit der Fähigkeit bzw. Bereitschaft verknüpft etwas zu erkennen, zu begreifen und zu verstehen oder nicht. Konkret geht es um die Frage, wer Jesus als Messias anerkennt oder nicht. Der vorher Blinde kann dies auch erst wahrnehmen, nachdem er körperlich geheilt wurde. Behinderung wird dabei „als Element eines kulturellen Symbolsystems verstanden, das für die Konstitution von sozialen Verhältnissen und Identitäten maßgeblich ist.“ 17 Für die Analyse vermag Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0006 86 Marie Hecke 18 Helduser, Literatur- und Sprachwissenschaften (s.-Anm.-17), 224. 19 Helduser, Literatur- und Sprachwissenschaften (s.-Anm.-17), 224. 20 Vgl. David T. Mitchell/ Sharon L. Snyder, Narrative Prosthesis. Disability and the Dependencies of Discourse, Michigan-2000. 21 Vgl. Helduser, Literatur- und Sprachwissenschaften (s.-Anm.-17), 225. 22 Helduser, Literatur- und Sprachwissenschaften (s.-Anm.-17), 225. der Blick in die Literatur- und Sprachwissenschaften in den Disability Studies hilfreich sein. So stellt Urte Helduser fest, dass Behinderung in literarischen Werken zwar einerseits marginalisiert wird, sie aber demgegenüber über eine herausragende symbolische Dimension verfügt. „Zudem wird“, so Helduser, der behinderte Körper symbolisch eingesetzt oder gedeutet: So steht etwa Blindheit entweder für Erkenntnismangel oder umgekehrt für besondere ‚Sehergabe‘ (wie im Fall des blinden Teiresias in Sophokles’ Dramen König Ödipus und Antigone); der ‚Hinkefuß‘ gilt als diabolisches Zeichen - etwa bei Mephisto in Goethes Faust - und die literarische Figur des ‚Kriegskrüppels‘ dient als Bild für die Gewalt des Krieges oder die ‚Versehrtheit der Nation‘ der Nachkriegsgesellschaft. 18 Problematisch ist dabei die negative, pejorative Verwendung der Metapher. Die Behinderung wird meist mit Mangel, Defekt, Dummheit oder Nichtver‐ stehen assoziiert und darin instrumentalisiert. Die gesellschaftliche Realität, die Person, der Mensch mit Behinderung verschwindet hinter der „symbolischen Indienstnahme“ 19 . Dieser besondere Gebrauch von behinderten Körpern und ihrer Funktion, um Normalität zu konstituieren, steht auch im Zentrum des Konzeptes der „Narrativen Prothese“ von Mitchell und Snyder. 20 Sie betonen die Funktionalisierung von behinderten Körpern für die Erzeugung von Bedeutung. Dabei stellen sie ein Spannungsfeld zwischen der Vereinnahmung auf der einen und der gesellschaftlichen Realität von Menschen mit Behinderung auf der anderen Seite fest. 21 Die Materialität von Körpern mit Behinderung und den Metaphern ermöglicht einen bildlichen Verweis auf die universale körperliche Materialität. In diesem Sinne betrachten Mitchell und Snyder Behinderung als ‚narrative Prothese‘, nämlich als ein Hilfsmittel, durch das der literarische Text mit einer außerhalb der sprachlichen Zeichen liegenden Materialität vermittelt wird. 22 Problematisch an der narrativen Prothese in Joh 9 ist, dass sie in der Regel pejorativ ist. Sie ist auch gesellschaftlich etabliert. So wird das Wort ‚blind‘ oft verwendet und dabei nur indirekt über Sehbehinderung gesprochen. Es gibt den ‚blinden Fleck‘, die ‚blinde Liebe‘ ebenso wie den ‚blinden Hass oder Gehorsam‘. Es existieren der ‚Blindfisch, Blindgänger, Blindtext‘ - um nur einige Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0006 „Sind etwa auch wir blind? “ 87 23 Für eine ganze Liste solcher körperlichen Metaphern vgl. Rebecca Maskos, Bewun‐ dernswert an den Rollstuhl gefesselt - Medien und Sprache in einer noch nicht inklusiven Gesellschaft, in: Theresia Degener/ Elke Diehl (Hg.), Handbuch Behinder‐ tenrechtskonvention. Teilhabe als Menschenrecht - Inklusion als gesellschaftliche Aufgabe, Bonn-2015, 308-319, hier-308. 24 Hecke/ Watts Belser, Mose (s.-Anm.-10), 4. 25 Vgl. Hecke, Elemente (s.-Anm.-13), im Erscheinen. Beispiele zu nennen. 23 „Wenn Behinderung zur gängigen Metapher wird“, so Belser/ Hecke, wie etwa Blindheit als Symbol für Nichtverstehen, Verkennen, Dummheit oder Ignoranz, dann hat das reale Konsequenzen: Es etikettiert, bewertet und beurteilt Blindheit, baut Barrieren auf, prägt Normalität und ableistische Denkmuster. 24 In Joh 9 ist darüber hinaus kritisch, dass die Metapher der Blindheit in einem zweiten Schritt auf die Pharisäer: innen angewandt wird und in der weiteren Deutungsgeschichte dann zur pejorativen Metapher für Jüd: innen mit einer langen antisemitischen Wirkungsgeschichte wurde. Bildlich dargestellt wurde dies in dem mittelalterlichen Figurenpaar Ekklesia und Synagoga, so zum Beispiel am Straßburger Münster zu finden. Das Motiv der Blindheit ist somit intersektional zu analysieren und zu problematisieren. 25 3. Disabilitysensibler Umgang mit Heilungsgeschichten Abschließend möchte ich nach einem disabilitysensiblen Umgang mit Heilungs‐ geschichten in der Exegese, aber auch in der Praxis fragen, der sich ergibt, wenn wir Methoden und Inhalte der Disability Studies einbeziehen. Die Disability Studies vollziehen erstens einen Perspektivwechsel: Behin‐ derte Menschen sind keine Objekte, sondern autonome Subjekte. Da, wo neutestamentliche Heilungsgeschichten einen Objektstatus vermitteln, sollte dem widersprochen werden. In Joh 9 sollen an der Behinderung die Werke Gottes offenbart werden und der Blinde wird nicht nach seinem Willen gefragt. Die Behinderung wird also objektiviert und instrumentalisiert. Gleichzeitig ist der namenlose Blinde Subjekt, wenn er selbstständig zum Teich geht und sich wäscht. Dieses Spannungsfeld muss wahrgenommen werden. „Nothing about us without us - Nichts über uns ohne uns“ ist der Leit‐ spruch der weltweiten Behindertenrechtsbewegung. Dieser sollte zweitens auch Leitspruch für einen disabilitysensiblen Umgang mit neutestamentlichen Heilungsgeschichten werden. In der Auslegung - und noch mehr im religions‐ pädagogischen und homiletischen Umgang mit ihnen - sollten ambige Stimmen Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0006 88 Marie Hecke 26 Nancy Mairs, Waist high in the world, Boston-1996, 9f. zu Heilung von Menschen mit chronischer Erkrankung bzw. Behinderung miteinbezogen werden. Menschen mit Behinderung bzw. chronischer Erkran‐ kung beschreiben diese oft als ein Fragment ihrer Identität, ohne die sie sich nicht denken können. So hatte die Autorin Nancy Mairs (1943-2016) ab ihrem 28. Lebensjahr die Diagnose Multiple Sklerose und war rund um die Uhr auf Assistenz angewiesen als sie in ihrer Autobiografie „Waist high in the world“ schrieb: Ich könnte mir eine Nancy ohne MS vorstellen. … Ich wäre sicher nicht die Schriftstel‐ lerin geworden, die ich jetzt bin. So wie sich die Läsionen in meinem zentralen Ner‐ vensystem ausgebreitet haben, so haben sie jeden Teil meiner Existenz durchdrungen. MS ist genauso die Essenz meines ‚Ichs‘ wie der Tod meines Vaters und die zweite Ehe meiner Mutter, meine Yankee-Jugend, meine Konvertierung zum Katholizismus, mein Doktor in Englischer Literatur. Ich könnte die MS nicht abstreifen, ohne das Lebewesen zu beschneiden, das die MS in sich trägt. 26 Mairs zeigt ihren Leser: innen einen Blick auf ihren Körper, auf sich selbst, der vielleicht aus der Perspektive eines vermeintlich gesunden Körpers überrascht: Ihr gelähmter, abhängiger Körper ist etwas positives, was selbstverständlich zu ihrem Leben dazu gehört. Der Weg dahin, das kann man zwischen den Zeilen lesen, war kein einfacher: Ebenso einschneidend wie der Tod des Vaters. An einer anderen Stelle schreibt sie davon, dass sie ihren Körper tragen muss. Aber ihre Behinderung ist ein Teil von ihr. Zudem werden drittens Behinderungen in biblischen Texten, aber noch mehr in ihrer Auslegung, metaphorisiert. Mit den Metaphern ist allerdings Vorsicht geboten: In Joh 9 wird blind sein und sehend werden als pejorative Metapher für erkennen, wahrnehmen und begreifen verwendet. Mit Macht und Missbrauchsanfälligkeit von der pejorativen Metapher der Blindheit sollte bewusst umgegangen werden. Dabei muss vielleicht auch zunächst ausgehalten und nicht aufgelöst werden, dass diese Metaphern in unserer Sprache fehlen und eine Leerstelle hinterlassen, die nicht so schnell gefüllt werden kann, dass Körpermetaphern in ihrer Materialität und Existentialität nicht einfach ersetzt werden können. Dieses ist aber produktiver als Metaphern auf Kosten von Menschen mit Behinderung und ihrer körperlichen Realität zu verwenden. Die Frage nach einer disabilitysensiblen und ableismuskritischen Auslegung von neutestamentlichen Heilungsgeschichten stellt die Frage nach Körpern in ihrer Vieldimensionalität und Disability als Querschnittsthema der Theologie. Dies zu etablieren, steht auf unterschiedlichen Ebenen noch aus. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0006 „Sind etwa auch wir blind? “ 89 Marie Hecke studierte Evangelische Theologie und Ju‐ daistik in Leipzig, Münster, Jerusalem und Berlin, promo‐ vierte in Göttingen in Vergleichender Religionspädagogik und arbeitete anschließend als Postdoc am Lehrstuhl von Neues Testament und Theologische Geschlechterfor‐ schung und am Institut für feministische Theologie, Theo‐ logische Geschlechterforschung und soziale Vielfalt der Kirchlichen Hochschule Wuppertal. Zu ihren Forschungsschwerpunkte ge‐ hören antisemitismuskritische Religionspädagogik, Theologische Disability Studies und biblische Hermeneutik und Didaktik. Derzeit ist sie Vikarin der EKBO. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0006 90 Marie Hecke 1 Anna Rebecca Solevåg, Negotiating the Disabled Body. Representations of Disability in Early Christian Texts (ECL 23), Atlanta 2018, 64 f. Vgl. auch Jörg Frey, Sehen oder Nicht-Sehen? (Die Heilung des blind Geborenen). Joh 9,1-41, in: Ruben Zimmermann (Hg.), Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen 1: Die Wunder Jesu, Gütersloh-2013, 725-741, hier-726. Wer sieht hier was und vor allem von wem? Eine (andere) disability-kritische Lesart von Joh 9,1-38 Angela Standhartinger Mose stottert, Gott fährt im Rollstuhl, aber Jesus heilt alle und negiert dabei Behinderung als Teil des Menschseins. Ich kann Marie Heckes Kritik an neu‐ testamentlichen Wundergeschichten aus ableismuskritischer Perspektive gut verstehen. Jesus scheint auch in Joh 9 die Blindheit eines Namenlosen zu in‐ strumentalisieren. Das körperliche Merkmal kann als abwertende Metapher für die, in der Rahmenhandlung auftauchenden, pharisäischen Gesprächspartner gelesen werden und damit auch noch antijüdische Lesestrategien befeuern. Die Erzählung ist über Jahrtausende so gelesen worden und wird es leider bis heute. Ich möchte aber trotzdem oder gerade deshalb zeigen, dass auch andere Lesestrategien möglich sind. Die Heilung des namenlosen ‚Blindgeborenen‘ gilt als längste Heilungser‐ zählung im Neuen Testament. 1 Schon der Name, den die Bibelausgaben diesem Menschen geben, scheint ihn auf seine Behinderung, „blind von Geburt“ ( Joh 9,1), zu reduzieren. Das Heilungswunder selbst ist allerdings bereits nach drei Versen erzählt ( Joh 9,1.6-7). Die übrigen 35 oder 38 Verse - die unterschiedlichen Zahlen ergeben sich aus der Frage, ob man das Gespräch mit den Jesu nachfolgenden Pharisäern in Joh 9,37-39 als Einleitung in die Hirtenrede interpretieren möchte oder als Abschluss der Heilungserzählung Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0007 2 So Klaus Wengst, Das Johannesevangelium (ThKNT 4.1), Stuttgart 2004, 308 f. In Vers 39 wechselt abrupt die Szene mit einem Gerichtswort Jesu, das an Jes 6,9f anknüpft, und führt eine neue Figurenkonstellation ein. Der ehemals Blinde kommt nicht mehr vor. Allerdings liegt eine Stichwortanknüpfung über das Stichwort „sehen“ (blepō; vgl. 9,7.15.19.21.25) und „blind“ (tuphlos 9,1f.13.17-20.24f.32) vor. Die Pharisäer, „die mit ihm waren“ (met᾽ autou ontes) sind, wie die anderen so bezeichneten Gruppen der Jüngerinnen und Jünger ( Joh 6,66; 18,26 vgl. 11,25), Nachfolgerinnen und Nachfolger und nicht nur einfach „Pharisäer in der Nähe“, wie es Jean Zumstein, Das Johannes‐ evangelium (KEK-2), Göttingen-2016, 381, auffasst. 3 Solevåg, Negotiating (s. Anm. 1), 73 entdeckt auch in Joh 4,52 und 5,2 eine Anspielung auf antikes medizinisches Wissen. 4 Zumstein, Johannesevagenlium (s.-Anm.-2), 357. 5 Solevåg, Negotiating (s. Anm. 1), 65 mit Bezug auf die literaturwissenschaftliche Untersuchung von David T. Mitchell/ Sharon L. Snyder, Narrative Prosthesis. Disability and Dependencies in Discources, Ann Arbor 2001. versteht - enthalten vor allem die besonders ausführliche Demonstration der geglückten Heilung. 2 Die Heilung enthält allerdings kaum wunderhafte Züge. Vielmehr handelt es sich um eine typische, medizinische Therapie eines Augenleidens in der Antike, wie sie von Ärztinnen und Ärzten und/ oder im Kontext eines antiken Heilkultes durchgeführt wurde. Nach dem Auftragen der Medizin folgt der Mensch den therapeutischen Anweisungen und wäscht sich im Teich Schiloah, beteiligt sich also am Therapieprozess oder heilt sich gar selbst. 3 In Johannes 9, so meine These, geht es also gar nicht um das Heilungswunder, sondern um die Frage, wie man die Wirklichkeit am besten wahrnimmt und ob und was die vermeintlich uneingeschränkt Sehenden tatsächlich sehen und warum vermeintlich Blinde ein nachahmenswertes Vorbild für gelungene Wahrnehmungsprozesse sind. Meines Erachtens erzählt Johannes 9 von der besonderen Sehfähigkeit eines Menschen, der weiß und reflektiert, was er erfährt und was nicht und aus eben dieser zur Erkenntnis kommt, wer und was der Menschensohn ist. 1. Revision der Auslegungsgewohnheiten Die These setzt eine kritische Revision gewohnter Auslegungsmuster voraus. Zentriert man die Lesestrategie in diesem sechsten „Zeichen“ im Johannesevan‐ gelium, wie üblich auf Jesus, so bleibt die Figur des namenlosen Menschen, der erst nicht und dann doch auch mit den Augen sieht, eine Metapher, die die An‐ kunft des „wahren Lichts“ in der Welt ( Joh 1,9) illustriert. 4 Jesu Erklärung, seine Blindheit diene dazu, „dass die Werke Gottes offenbar werden“ ( Joh 9,3), scheint diesen Menschen als narrative Prothese zu gebrauchen, die der Offenbarung Jesu schöpferischer Kräfte zur Darstellung verhilft. 5 Viele Auslegungen entdecken Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0007 92 Angela Standhartinger 6 Frey, Sehen (s. Anm. 1), 737. Vgl. auch Jes 29,18; 35,4f. Dann werden die Augen der Blinden geöffnet. 7 Vgl. Joh 9,41. Allgemeine Sünder sehen Tertullian und Augustin angesprochen, siehe Jennifer Koosed/ Darla Schumm, Out of Darkness. Examining the Rhetoric of Blindness in the Gospel of John, in: Darla Schumm (Hg.), Disability in Judaism, Christianity, and Islam. Sacred Texts, Historical Traditions, and Social Analysis, New York 2011,77-92, hier-80f. 8 Koosed/ Schumm (s.-Anm.-7), Darkness, 80. 9 Koosed/ Schumm (s.-Anm.-7), Darkness, 82. 10 Lutherübersetzung-2017. 11 Ps-145,8 LXX: kurios sophoi tuflous. 12 Jaime Clark Soles, John, First-Third John, and Revelation, in Sarah Melcher u. a. (Hg.), The Bible and Disability. A Commentary, Waco-2017, 346-354, hier-346-348. in dem Menschen zudem eine Illustration des zweiten Ich-bin-Wortes: „Ich bin das Licht der Welt“ ( Joh 8,12). Mit der Heilung der Blindheit scheint das Psalmenwort „Gott öffnet die Augen der Blinden! “ (Ps 146,8) erfüllt. Die Gegenwart Jesu ist der „Tag“ ( Joh 9,4), an dem die „Werke Gottes“ getan werden können. Damit ist die Verheißung vom Öffnen der Augen der Blinden erfüllt. 6 Der Blindgeborene illustriert für viele außerdem die Gegenposition zu den Pharisäern oder gar allen sündigen Menschen, die nur meinen zu sehen, aber eigentlich blind sind. 7 Angesichts der Begegnung mit dem Offenbarer werde zwischen den in der Sünde oder gar im Judentum bleibenden Menschen und den vom Licht des Offenbarers von der Blindheit alias Unglauben Befreiten un‐ terschieden. 8 In diesen Interpretationsstrategien werden sowohl die Exklusion von blinden Menschen als auch antijüdische Stereotype verstärkt. 9 Die „Werke Gottes“ oder „Taten Gottes“ (ta erga tou theou) werden in Johannes 9 allerdings nicht definiert. Eine Definition findet sich in Joh 6,29, wo Jesus sagt: „Dies sind die Werke Gottes, dass ihr vertraut auf den, den jener (Gott) gesandt hat“ oder, wie es traditioneller übersetzt wird: „Das ist Gottes Werk, dass ihr an den glaubt, den er gesandt hat“ 10 . Es geht also um Vertrauen, nicht um körperliche Unversehrtheit. Und es ist auch interessant, dass die Septuaginta den Psalmvers „Der Herr macht Blinde weise“ übersetzt. 11 So gelesen ist der Mensch, der aufgrund eines körperlichen Merkmals als ‚der Blindgeborene‘ bezeichnet wird, derjenige, der hier vorbildlich die Taten Gottes vollbringt und demonstriert ( Joh 9,38). 12 Die Erzählung, so meine These, enthält Potenziale für eine andere Wahrnehmung der besonderen Befähigung, die anders als mit den Augen erkennt. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0007 Wer sieht hier was und vor allem von wem? 93 13 Hinzutritt die Idee einer Kollektivschuld, im Sinne des Sünde = Fremdgötter‐ kult-Exil-Zusammenhangs (Tob 3,3f.; Flavius Josephus, Bellum Judaicum 3.375) und die Selbstverfluchung (Dtn 28,18-25) im Falle der Nichteinhaltung des göttlichen Gesetzes. 14 Am weitestgehenden in Mk 2,1-12. In Joh 5,14 ist nicht ganz deutlich, ob sich in Jesu im Tempel ausgesprochener Aufforderung „Sündige nicht mehr, damit dir nicht Schlimmeres geschehe“, das „Sündigen“ auf die Ursache der 38 Jahre währenden Lähmung bezieht oder auf das Tragen der Bahre am Schabbat ( Joh 5,9f.) oder auf einen möglichen Tat-Folgezusammenhang in der Zukunft und ob das „Schlimmere“ die Krankheit oder etwas anderes meint. Einige entdecken in Joh 5,14 die Quelle der Frage der Jüngerinnen und Jünger. Zum Vergleich von Joh 5 und Joh 9, siehe Kerry H. Wynn, Johannine Healings and the Otherness of Disability, in: Perspectives 2. Den Menschen ins Zentrum stellen Um die Deutungsmöglichkeiten jenseits des Lesens von Blindheit als Metapher und narrativer Prothese zu erheben, ist es entscheidend, den Menschen mit den besonderen Erkenntnismöglichkeiten ins Zentrum zu stellen. Die Erzählung selbst legt das eigentlich an. Während der Mensch in 38 Versen des neunten Kapitels im Johannesevangelium Subjekt und Objekt der Handlung ist, erscheint Jesus lediglich in neun. Anders gesagt, Jesus tritt nur in der ersten und der letzten der insgesamt sechs Szenen auf, die jeweils durch Orts- und Figurenwechsel markiert sind. Der neu-sehende Mensch steht dagegen in allen Szenen im Zentrum. Nicht die Gegenüberstellung von Blindheit und Sehen, Erkennen und Verkennen, Tag und Nacht, Licht und Dunkelheit, sondern die Frage, wie sich Sehen und Erkennen zur eigenen Wahrnehmung und zur Wahrheit verhält, ob und in welcher Weise der Augenschein zur Erkenntnis verhilft, ist die Pointe der Geschichte. Der erste, der in der Geschichte etwas wahrnimmt, ist allerdings Jesus. Jesus sieht „im Vorbeigehen“ einen von Geburt an Blinden ( Joh 9,1). Angesichts des allwissenden Charakters Jesu in allen Evangelien sind geübte Lesende nicht verwundert, dass Jesus das ganze Leben des Menschen im Blick hat. Woher seine Schülerinnen und Schüler dies zu wissen meinen, bleibt ungesagt. Sie setzen scheinbar eine Verbindung von Sünde und Krankheit voraus. Diese Verbindung ist in der Antike allerdings überhaupt nicht so offensichtlich, wie es die Auslegungstradition suggeriert. Zwar heißt es in den Zehn Geboten, dass Gott die Verehrung von anderen Göttern in Bildern in den Generationen von Kindern und Kindeskindern verfolgt (Num 14,8). Dies wird jedoch nicht nur in Jer 31,29f. und Ez 18,2-4 korrigiert, es wird auch nirgends mit Krankheit oder Behinderung von Kindern oder Enkeln in Verbindung gebracht. 13 Die Behauptung eines Zusammenhangs von Sünde und Krankheit ist überhaupt nicht häufig. 14 Die griechische Mythologie kennt einen von Athene geblendeten Priester, der eine ihr gewidmete Weihegabe zer‐ Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0007 94 Angela Standhartinger in Religious Studies 34 (2007), 61-75, hier 62, der einen direkten Bezug der beiden Heilungen in Joh 5 und Joh 9 entdeckt. 15 Quintus Smyrnaeus, Posthomerica 12.395-415; Apollodorus, Bibliotheka 3.69f. vgl. Homer, Ilias 1.139. Siehe auch Frederik van den Abeele, Blindness. Visual Impairment in Antiquity, in: Christian Laes (Hg.), A Cultural History of Disability in Antiquity, London-2020, 67-83, hier-77. 16 Siehe Nicole Kelley, The Theological Significance of Physical Deformity in the Pseudo-Clementine Homilies, in: Perspectives in Religious Studies 34 (2007), 77-90, die vor allem auf zwei Stellen in der Midraschsammlung verweist, Genesis Rabba-36,7 und Genesis Rabba 23,6 und damit auf rabbinische Texte aus dem 5.-6. Jh. Bereits Aristoteles beobachtet die Vererbung von besonderen Körpermerkmalen (Über die Entstehung der Tiere 585b; 721b). Die Idee liegt auch hinter der Erzählung von der Entstehung der Riesen aus der Verbindung von Menschentöchtern mit Engeln (TestRub-5,6; vgl. Gen-6,1-4). 17 PsClem H 19.22.6: «oute houtos ti ēmarten oute hoi goneis autou, all’ hina di’ autou [ Joh 9,4: ( Joh 9,3 BNT) en autō nachgestellt] phanerōthē hē dunamis [ Joh 9,4 ta erga tou theou] tou theou» tēs agnoias iōmenē ta hamartēmata. 18 „Und wahrhaftig, der Grund der dieser Unwissenheit ist, dass nicht weiß, wann man sich mit der Ehefrau vereinigen darf, ob sie rein ist von der Menstruation.“ (PsClem H 19.22.7; vgl. Lev 18,19; PsClem H 7.8.2; 11.33.4) Die Trägergruppe des Clemensromans hält dies für eine gruppenspezifische, sonst aber unübliche Regel (PsClem-H-11.28.1-2). störte und die geblendeten Seher Laokoon und Teiresias, die ihre prophetische Macht missbrauchen und sich ungebührlich gegenüber den Göttern verhalten. 15 Überall hier strafen die Götter Frevel an sich selbst oder ihrem Kult. Aber der von den Jüngerinnen und Jüngern gezogene Zusammenhang von abstrakter Sünde in einer vergangenen Generation und ‚unnormalen‘ Körperformationen ist hier eher originell und wird dann erst im frühen Mittelalter häufiger rezipiert. 16 Eine der ersten Schriften, die einen Zusammenhang zwischen Sünde und Tod, Leiden und Behinderung zieht, ist der frühchristliche Klemensroman aus dem 4. Jh. n. Chr. und zwar in einer Auslegung von Joh 9,3. In seiner Disputation mit dem Erzketzer Simon Magus führt Petrus als Erwiderung zur Frage nach dem Warum von Tod, Seuchen und Leiden in der Welt an, dass auch der Herr auf die Frage der Jünger geantwortet habe: „Weder dieser hat gesündigt noch seine Eltern, sondern damit durch ihn die Macht Gottes offenbar werde, die heilt alle Sünden der Unwissenheit.“ 17 Die Sünde, die hier Krankheit und Leiden in die Welt bringt und deren Folge hier exemplarisch zur Offenbarung der Sünden heilenden Macht Gottes dient, ist im Klemensroman konkret als Beischlaf mit einer menstruierenden Ehefrau definiert. Damit, so meint die Gruppe, vertrete sie eine besonders sich von allen in der Umwelt abgrenzende rigoristische Ethik. 18 Viele disability-kritische Auslegungen sehen den von den Jüngerinnen und Jüngern scheinbar implizierten Zusammenhang von Blindheit und elterlicher Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0007 Wer sieht hier was und vor allem von wem? 95 19 John Hull, In the Beginning There was Darkness. A Blind Person’s Conversations with the Bible, London-2001, 49f. 20 John C. Poirier, Another Look at the “Man Born Blind” in John 9, in: Journal of Religion, Disability-&-Health-14 (2010), 60-65. Siehe auch Clark-Soles, John (s.-Anm.-12), 347f. 21 Anders Koosed/ Schumm, Out of the Darkness (s.-Anm.-14), 85f. 22 Solevåg, Negotiating (s. Anm. 1), 73. Vgl. Plinius, Naturgeschichte 28.37.86; Marcellus Empiricus, Über die Heilmittel, 8.42.66. Rudolf Herzog, Die Wunderheilungen von Epidauros (Philologus Suppl 22.3), Leipzig 1931, Nr. 4. Jüdische Quellen bei Wengst, Das Johannesevangelium (s. Anm. 2), 297 f. Bernd Kollmann, Jesus und die Christen als Wundertäter. Studien zu Magie, Medizin und Schamanismus in Antike und Christentum (FRLANT-170), Göttingen 1996, 236-286. 23 Einige Auslegungen entdecken eine Anspielung auf Gen 2,7. Aber Schöpfungstermino‐ logie wird in Joh 9 kein zweites Mal aufgegriffen. Der erste, der in einer Verteidigung der leiblichen Auferstehung Joh 9,6 als Anspielung auf Gen 2,7 auslegte, ist Irenäus, Contra haereses 5.15.2. Er greift dabei eine auch in Qumrantexten belegte Tradition auf, nach der Gott das erste Menschenkind aus Lehm und Spucke schuf. Vgl. Daniel Frayer-Griggs, Spittle, Clay, and Creation in John 9: 6 and some Dead Sea Scrolls, in: JBL-132 (2013), 659-670. 24 Joh 9,7. Der letzte Satzteil bleibt unvollständig. Man könnte auch ‚heraus aus dem Teich‘ ergänzen. Die Heilungsmethode kennt auch Elisa, siehe-2Kön-5,10. Sünde verneint. 19 Nicht wenige setzten einen Punkt zwischen „weder er hat gesündigt noch seine Eltern“ und der Fortführung „sondern…“, was textkritisch möglich ist. 20 Zu Recht beobachten sie, dass der ‚Blindgeborene‘ viel mehr als nur funktionales Werkzeug der Offenbarung ist, nämlich ein exemplarischer Jünger. 21 3. Die Perspektive des jetzt sehenden Menschen In der knapp erzählten (Re-)stitution des Augenlichts handelt Jesus zunächst ganz medizinisch ( Joh 9,6). Er produziert aus Lehm und Spucke ein Gemisch, streicht dies dem blinden Menschen auf die Augen und fordert ihn auf, sich im Teich Schiloah zu waschen. Ähnliches empfiehlt auch Plinius in seiner Naturkunde und Marcellus Empiricus (4.-5. Jh.), Asklepius in seinem Heiltempel in Epidauros für verschiedene Augenkrankheiten. 22 Man kann es modern auch Medizin aus der „Dreckapotheke“ nennen. Anders als Bartimäus (Mk 10,46-52) und anders als die Nachbarn oder Angehörigen des Blinden aus Mk 8,22-26 bittet in Joh 9 allerdings niemand um Heilung. Dies sticht angesichts der ausführlichen Beschreibung der Prozedur ins Auge. 23 Aber der Mensch folgt der vorgeschlagenen Therapie und wäscht sich. Vielleicht möchte er auch einfach nur die klebrig-säuerlich riechende Schmiere aus dem Gesicht entfernen. Es wäre ihm kaum zu verdenken. Und er „kommt sehend“ (zurück). 24 Die Medizin Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0007 96 Angela Standhartinger 25 Vgl. Mk-5,25-34; 7,24-30. 26 Martha L. Rose, The Staff of Oedipus. Transforming Disability in Ancient Greece, Ann Arbor 2003, 79-94; hier 79f.; 90-92. Lisa Trentin, Exploring Visual Impairment in Ancient Rome, in: Christian Laes u. a (Hg.), Disabilities in Roman Antiquity (Mnemosyne Supplements), Leiden-2013, 89-114. 27 Cicero, Gespräche in Tusculum 5.38, 111 f., behauptet in einer ganzen Sammlung von vergleichbaren Aussprüchen verschiedener Philosophen, Epikur habe gesagt: „Das Nachdenken des Weisen aber benötigt zum Forschen gewöhnlich nicht die Hilfe der Augen“ (Übers. Ernst Alfred Kirfel). 28 Diogenes Laertius, Leben und Meinungen-6.56. hat ihre Wirkung nicht verfehlt. Bei aller Betonung des Wunderhaften im Johannesevangelium, diese hier kann man als Selbstheilung bezeichnen. 25 Jetzt erst wird der Beruf des neu-Sehenden benannt. Er ist ein Bettler ( Joh 9,8). Wegen Bartimäus (Mk 10,46-52) denken viele Bibellesende, alle blinden Menschen in der Antike wären Bettler. Dieses Vorurteil ist historisch falsch. Neben Ependichtern wie Homer sind viele blinde Propheten, Senatoren, sogar Kaiser bekannt. 26 Ja, viele Philosophen und Staatsmänner werden dafür gerühmt, dass sie ihre Weisheit ohne Augenlicht noch viel besser zur Geltung bringen konnten, weil sie von aller sonstigen, aber im Grunde überflüssigen Wahrnehmung befreit waren. 27 Außerdem war Blindheit die verbreitete körper‐ liche Einschränkung überhaupt, wie auch die Anekdote (Apophthegma) des legendären Kynikers Diogenes von Sinope zeigt: „Auf die Frage, warum man den Bettlern (Geld) gebe, den Philosophen aber nicht, erwiderte er: ‚Weil sie erwarten könnten Blinde und Lahme zu sein, aber nicht zu philosophieren.‘“ 28 Ohne moderne Augenheilkunde und optische Hilfsmittel widerfuhr teilweise oder gänzliche Erblindung den meisten Menschen mit dem Alterungsprozess. Dass dies vielen Menschen, die nicht in die höchsten Schichten hineingeboren waren und ihre früheren Berufe nicht weiter ausführen konnten, die Möglich‐ keit ihrer vorherigen Berufstätigkeit nahm, mag die Gebefreudigkeit gegenüber Menschen mit eingeschränktem Augenlicht befördert haben. Der neu-Sehende aus Johannes 9 bekommt aber mit der eingetretenen körperlichen Veränderung ein anderes Problem. Seine Nachbarn und Bekannten entzweien sich über die Frage, ob er der ist, den sie kennen, oder ob er ein anderer ist, also ob und inwiefern seine spezifische körperliche Phänomenologie zu seiner Identität gehört oder nicht ( Joh 9,8-9). Er dagegen ist sich ganz sicher und sagt: „Ich bin“. „Ich bin“ ist nun im Johannesevangelium ein christologisch besetzter Satz. Er erinnert an Offenbarungsworte wie „Ich bin das Brot, das Licht der Welt“ Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0007 Wer sieht hier was und vor allem von wem? 97 etc. 29 Wie Anna Rebecca Solevåg beobachtet, entsteht hier eine provokative Überschneidung der Identitäten: The confusion around identity is a characteristic that Jesus and the formerly blind man share. Just like with Jesus, people are unclear about the identity of the man, and the phrase egō eimi functions as a bold revelation in the face of a skeptical crowd… It seems, therefore, that the character not only serves as narrative prosthesis, used to reveal Jesus’s close connection to the Father, but in some fashion may also function as a Christological representative. 30 Bei so viel verblüffender Klarheit über seine eigene Identität bleibt für die Nachbarn nur noch die Frage nach dem Wie (9,10). Und ab hier bleibt sich der „einstmals Blinde“, wie er in Joh 9,13 genannt wird, ganz treu. Er referiert genau, was ihm widerfahren ist, was er gesehen und erlebt hat: „Ein Mensch, der Jesus genannt wird, machte einen Brei, rieb ihn mir auf die Augen und sagte, gehe dich im Schiloah zu waschen. Da ging ich und als ich mich gewaschen hatte, sah ich“ (9,11). 31 Die Frage, wo jener sei, hat er nicht wahrgenommen, deshalb kann er sie auch nicht beantworten. Die Nachbarn sind mit der Antwort des neu-Sehenden nicht zufrieden und veranlassen eine Untersuchung durch die (hier als juristisches Gremium dargestellten) Pharisäer. Die Vorstellung, dass die religiöse Reformbewegung der Pharisäer, die auch die synoptischen Evangelien und der jüdische Historiker Josephus kennen, eine Behörde mit Gerichtsbarkeit ist, ist einmalig und hat zu Versuchen geführt, das Johannesevangelium zu lokalisieren und zu datieren, ohne dass die genauen historischen Hintergründe bisher aufgehellt werden konnten. Der Erzählung ist aber vor allem wichtig, dass der neu-Sehende auch in gerichtlicher Untersuchung sich treu bleibt und genau berichtet, was er erlebt hat. Er erzählt jetzt in protokollgerechter Stakkatoform: „Er legte mir Lehm auf die Augen und ich wusch mich und sah“ (9,15). Die Pharisäer interessieren sich zunächst nicht weiter für den Menschen, sondern diskutieren, ob jemand, der am Schabbat Lehmbrei herstellt, von Gott kommen kann oder nicht. Dabei wird Jesus ebenfalls als „Mensch“ bezeichnet, der entweder von Gott kommt oder sündig ist. Da die Pharisäer diese juristische Frage auch nicht klären können, Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0007 98 Angela Standhartinger 29 Manche Auslegungen entdecken sogar auch absolute Ich-Bin-Worte ohne metaphori‐ sche Erweiterung in Joh 4,26; 8,18; 8,24, 8,28.58; 13,19; 18,6.8. Allerdings ergibt sich überall die notwendige Ergänzung des elliptischen Satzes aus dem Kontext. Zum Ganzen siehe Silke Petersen, Brot, Licht und Weinstock. Intertextuelle Analysen Johanneischer Ich-bin-Worte, NovT.S-127, Leiden-2008. 30 Solevåg, Negotiating (s. Anm. 1), 71 mit Verweis auf Clark-Soles, John (s. Anm. 12), 348. 31 Das an dieser Stelle gebrauchte Verb anablepō, wieder sehen oder auf (zum Himmel? ) blicken, eröffnet noch einige weitere Verstehensdimensionen. Vgl. auch Joh-9,18. fragen sie nun doch noch den neu-Sehenden, was er eigentlich „über ihn, der ihm die Augen geöffnet habe, sage“ (9,17). Und ganz logisch erschließt der ehemals Blinde, dass wer anderen die Augen öffnet, wohl ein Prophet ist (9,17). 32 In V.-18 tritt eine neue Gruppe auf, die das Johannesevangelium οἱ Ἰουδαῖοι, die Judäer oder die Juden nennt, und die in den Kapiteln 5, 7-8 und 12 als eine in ihrer Mehrheit feindliche Gruppe vorgestellt werden. Einige der Joudaioi wechseln allerdings auch auf die Seite Jesu und „kommen zum Glauben“. 33 Auch die Joudaioi führen eine weitere Untersuchung durch und rufen die Eltern des „Sehenden,“ wie jener Mensch in Vers 18 heißt. Die Eltern werden befragt, ob er ihr Sohn sei, ob er blind geboren sei und auf welche Weise er jetzt wieder sieht. Die ersten beiden Fragen bejahen die Eltern, aber auf die letzte verweigern sie die Antwort und verweisen auf das hinreichende Alter ihres Sohnes, der ja für sich selbst sprechen könnte. Diese Art der Aussageverweigerung oder noch genauer Verweigerung der Fürsprache für das eigene Kind erscheint der Erzählstimme des Texts so hart, dass er sie zu begründen sucht. Die Eltern fürchteten sich vor einem Ausschluss aus der Synagoge, der allen angedroht worden sei, „die ihn ( Jesus) als Christus“ bekennen. Nachdem die Eltern das gewünschte Zeugnis nicht liefern, wird der „Blind‐ gewesene“, wie der Mensch jetzt in Joh 9,24 heißt, erneut vorgeladen. Er soll nun vor Gott bekennen, dass „dieser Mensch“ - gemeint ist Jesus - ein Sünder sei. Aber der Mensch, der immer klarer sieht, bleibt weiterhin bei seiner Erfahrung und wird gerade damit zum eigentlichen Theologen der Szene. Ob derjenige, der ihn geheilt hat, ein Sünder sei, wisse er nicht, aber er wisse, dass er blind war und jetzt sehe (V. 25). Und eine nochmals geforderte Erzählung verweigert er, da man ihm gar nicht zuhöre (9,27). Dennoch unternimmt er einen letzten Versuch der Erklärung, der zugleich die tiefgründigste, theologische Reflexion des Kapitels bietet (9,30-33). Da Gott auf Sünder nicht höre, erweise sich, dass es sich um einen frommen Menschen handeln muss. Außerdem habe man noch nie gehört, dass jemand die Augen eines Blinden geöffnet habe, daher müsse dieser Mensch von Gott gesandt sein. Solch theologische Belehrung ist zu viel für das auf seine Gelehrsamkeit und Mose-Schülerschaft bewusste Kollegium. Sie werfen ihn hinaus. Und jetzt, in der sechsten und letzten Szene, tritt Jesus noch einmal auf. „Jesus hörte, dass man den Menschen hinausgeworfen hatte.“ Wie und wo, wird nicht gesagt. Er findet ihn, wie er zu Beginn des Evangeliums seinen dritten Jünger Philippus findet ( Joh 1,43). Dann stellt er ihm eine eigentlich Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0007 Wer sieht hier was und vor allem von wem? 99 32 Dies ist keine falsche Antwort. Vgl. Joh-4,19.44. 33 Vgl.-8,31; 11,45. Siehe auch-9,40: „Pharisäer, die bei ihm ( Jesus) waren“. rätselhafte Frage: „Glaubst du an den Menschensohn? “ Warum heißt es nicht: „Glaubst Du an mich? “, wie es die meisten Auslegungen im Grunde auch interpretieren. Soll mit dem Menschensohn die johanneische Erhöhungs- und Aufstiegschristologie nachgetragen werden, die der Mensch bisher nicht gelernt hatte? 34 Oder solidarisieren sich hier der Mensch, der einst blind war (9,1.24.30) und der Mensch, der dessen Augen mit einem Brei aus Lehm und Spucke bestrich (9,11.16.24) und bestärken sich die beiden gegenseitig in ihrem Vertrauen auf die menschliche Wahrnehmung? Der Mensch sagt nun nicht, wie der Vater des Epileptikers „Ich glaube, hilf meinem Unglauben“ (Mk 9,24). Im Gegenteil, der längst sehende Mensch bleibt sich treu und fragt weiter: „Wer ist das, damit ich an ihn glaube? “ oder anders übersetzt „Wer ist es, damit ich ihm vertraue“. Das griechische Wort pisteuō heißt eigentlich vertrauen, erhält erst im Laufe der christlichen Religionsgeschichte die Bedeutung „glauben“. Die Rückfrage ist nach all der Erfahrung mit den Nachbarn, den Pharisäern, den Eltern und den Judaioi mehr als verständlich. Alle wollten ihm und seiner Wahrnehmung nicht trauen und glauben. Und dabei hat er doch die ganze Zeit nur wahrheitsgemäß berichtet, was er gesehen, erlebt, gerochen, gefühlt und gehört hatte. Und nun an dieser Stelle spricht Jesu zum zweiten Mal mit dem Menschen. „Du hast ihn gesehen, der mit dir spricht, jener ist es“ (9,37). Das griechische Perfekt von „sehen“ (eōraka) ist gerade auch im Johannesevangelium ein Offenbarungsterminus. „Ich habe den Herrn gesehen“, verkündet Maria von Magdala ihren Geschwistern am Ostermorgen, nachdem sie Jesus am leeren Grab begegnet war ( Joh 20,18). 35 Das Sehen-Lernen ist ein Prozess der Wahrneh‐ mung, der Fühlen, Hören, Riechen und Tasten einbezieht. Das Sehen-Lernen ist nichts Punktuelles und es bezieht sich immer auf einen Prozess der Erfahrungen, die die Ostererfahrung einbeziehen. Das „du hast gesehen“ beginnt an dem Tag, als die Gruppe von Jesus und Jüngerinnen und Jüngern vorbeigeht, führt in den Teich Schiloah und hinaus und setzt sich fort in den vielen Befragungen und theologischen Reflexionen, die darauf folgen. Und erst jetzt, nach diesem langen Prozess kann der Mensch den österlichen Kyrios mit einer körperlichen Geste, dem Niederknien, verehren. 36 Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0007 100 Angela Standhartinger 34 Die Menschensohnchristologie verweist im Johannesevangelium überall sonst in bi‐ blischen Metaphern auf das Hinab- und Hinaufsteigen ( Joh 1,51; 3,13f.; 6,62) und die Erhöhung des Offenbarers ( Joh 3,14; 8,28). Hier scheint sie dagegen weder mit biblischen Metaphern noch christologisch aufgeladen. 35 Vgl. auch 1Kor-9,1 für Paulus oder Joh-3,16 von der johanneischen Gemeinde. 36 Zu „verehren“ (proskuneō) vgl. Joh-4,20-24. 37 Vgl. Joh-2,22; 12,16. 38 Solevåg, Negotiating (s.-Anm.-1), 71. © Markus Farnung 4. Ein Repräsentant johanneischer Christologie Die Heilung des Blindgeborenen, der seiner Wahrnehmung traut und diese in den Auseinandersetzungen immer tiefer durchdenkt, kann als Allegorie auf das menschliche Erkennen überhaupt gelesen werden. Tatsächlich ist hier die Blindheit etwas, was alle anderen - mit Ausnahme des ‚Blindgeborenen‘ und des anderen Menschen, Jesus - befallen hat. Alle, die meinen, mit Augenlicht geboren zu sein, sehen viel weniger, als der, von dem sie denken, er sei blind geboren. Die Blindheit ist daher kein defizitäres und auch nicht nur eines unter anderen möglichen Körpermerkmalen. Sie ist das entscheidende Merkmal, das den jetzt wirklich Sehenden von den schon immer vermeintlich Sehenden un‐ terscheidet. Blindheit ist eine komplexe Metapher für den Weg des Glaubens zur Erkenntnis. Nur wer merkt, was er nicht sieht und noch nicht wahrgenommen hat und wer dieser Wahrnehmung vertraut, findet diesen Weg und wird auf ihm gefunden. Weil der nun längst nicht mehr Blinde seiner Wahrnehmung vertraut, begegnet ihm der Offenbarer als Mensch unter Menschenkindern. Wie dieser Menschensohn kommt der Mensch mit seiner Wahrnehmung der Wirklichkeit in Konflikt mit anderen Wahrnehmungen. Wie die Jüngerinnen und Jünger braucht er Zeit für die Reflexion seiner Erfahrungen. Zeit, die möglicherweise auch die Ostererfahrung einschließt. 37 Der ‚Blindgeborene‘ ist daher mehr als eine Metapher, er ist der Repräsentant johanneischer Christologie. 38 Angela Standhartinger studierte Evangelische Theo‐ logie in Frankfurt, München und Heidelberg, promovierte und habilitierte in Frankfurt, wo sie auch ihr Vikariat abschloss. Nach einem halbjährigen Gastaufenthalt am Union Theological Seminar in New York wurde sie 2000 als Professorin für Neues Testament nach Marburg be‐ rufen. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Früh‐ jüdische Literatur, paulinische und nachpaulinische Theo‐ logie, Kulturgeschichte und Entstehung des Abendmahls und Genderstudies. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0007 Wer sieht hier was und vor allem von wem? 101 1 Dieser Aufsatz verdankt wesentliche Anstöße den fruchtbaren Diskussionen und daraus entstehenden Anregungen, die ich von meinen Studierenden am Evangelischen Institut der Universität Würzburg erhalten habe, die vielfach in sonderpädagogischen Lehramtsstudiengängen studieren und dadurch sowie durch diverse schulische Prak‐ tika wertvolle Perspektiven beigetragen haben. 2 Vgl. z. B. Sarah J. Melcher, Prophetic Disability. Divine Sovereignty and Human Bodies in the Hebrew Bible (Studies in Religion, Theology, and Disability Series), Waco 2022; Sarah J. Melcher/ Mikeal C. Parsons/ Amos Yong (Hg.), The Bible and Disability. A Commentary (Studies in Religion, Theology, and Disability Series), Waco 2017; Saul M. Olyan, Disability in the Hebrew Bible. Interpreting Mental and Physical Differences, Cambridge 2008; Rebecca Raphael, Biblical Corpora. Representations of Disability in Hebrew Biblical Literature (LHB 445), London/ New York 2008; Jeremy Schipper, Disability Studies and the Hebrew Bible. Figuring Mephibosheth in the David story (LHB 441), New York 2006; Ders., Disability and Isaiah’s Suffering Servant (Biblical Refigurations), Oxford-2011. Hermeneutik Dis/ ability Studies und die Texte des Neuen Testaments Hermeneutische Anliegen und konzeptionelle Herausforderungen Ruben A. Bühner 1. Einführung Die interdisziplinär angelegten Dis/ ability Studies präsentieren nicht nur grund‐ sätzlich eine recht junge Forschungsperspektive, sondern sind v. a. in den bibel‐ wissenschaftlichen Fächern bisher nur von ausgewählten Vertreterinnen und Vertretern intensiv rezipiert worden. 1 Auffallend ist dabei, dass die Bezugnahme auf die Dis/ ability Studies in alttestamentlichen Studien bereits umfassender geschehen ist, 2 während im Neuen Testament die dahingehenden Publikationen noch überschaubar sind und sich mehrheitlich v. a. auf die Heilungserzählungen Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 3 Anne Waldschmidt (Hg.), Handbuch Disability Studies, Wiesbaden/ Heidelberg-2022. 4 Die Verwendung englischer Begrifflichkeit nimmt dabei nicht nur eine sprachliche Konvention auf, sondern hat den Vorteil, einen Verfremdungseffekt zu generieren, der vor vorschnellen und umgangssprachlich verankerten Assoziationen wie „Schaden“, „Unfähigkeit“ oder „Unglück“ warnt. 5 Vgl. zu dieser Begrifflichkeit etwa auch Anne Waldschmidt, Macht - Wissen - Körper. Anschlüsse an Michel Foucault in den Disability Studies, in: Anne Waldschmidt/ Werner Schneider (Hg.), Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld (Disability studies Körper, Macht, Differenz 1), Bielefeld 2007, 55-77, hier 57: Zu unterscheiden ist zwischen „der medizinisch oder psychologisch diagnostizierbaren Beeinträchtigung oder Schädigung (impairment)“ und „der aus ihr resultierenden sozialen Beeinträchtigung (disability)“. 6 Vgl. so etwa bei Louise A. Gosbell, „The Poor, the Crippled, the Blind, and the Lame“. Physical and Sensory Disability in the Gospels of the New Testament (WUNT/ II 469), Tübingen-2018. der Evangelien und die Person des Paulus konzentrieren. Bemerkenswerter‐ weise werden etwa im Handbuch Disability Studies von 2022 bibelwissen‐ schaftliche Arbeiten überhaupt nicht und theologische Studien nur am Rande erwähnt. 3 Naturgemäß entspricht es solch einer jungen und sich im Aufwind befindenden Disziplin, dass sie sich versuchsweise in verschiedene Richtungen entfaltet und sich unterschiedlicher Frageperspektiven und dazugehöriger Me‐ thoden bedient. In diesem Kontext verstehen sich die folgenden Ausführungen als hermeneutische Zwischenüberlegungen, welche unterschiedlichen Anliegen innerhalb der bibelwissenschaftlichen Bezugnahmen auf die Dis/ ability Studies vorherrschen, wie deren Relation zu beschreiben ist und welche Perspektiven sich daraus m. E. für die weitere Forschung und Applikation in der Lehre ergeben. Da in der Literatur ein mitunter verwirrendes Nebeneinander von unter‐ schiedlichen Begrifflichkeiten vorherrscht und gerade in den neutestamentli‐ chen Aufnahmen der Dis/ ability Studies diese sprachliche Varianz nicht selten auch mit einer konzeptionellen Unschärfe einhergeht, ist es zunächst ratsam, kurz die in diesem Beitrag gewählte Begrifflichkeit zu erläutern. Demnach verwende ich „Impairment“, um auf ein körperliches Merkmal zu verweisen, das in sozial-kultureller Hinsicht von der Mehrheitsgesellschaft oder einem litera‐ rischen Zeugnis als vom körperlichen Ideal abweichend betrachtet wird. 4 „Di‐ sability“ hingegen meint im Folgenden den negativen Effekt („Be-hinderung“), der sich aus dem Verhältnis zwischen einem Impairment und den gegebenen sozialen Umständen und Kontexten ergibt. 5 Impairment und Disability lassen sich dabei nicht scharf voneinander trennen, weshalb manche jüngere Studien dazu tendieren, die Unterscheidung aufzugeben. 6 Beide können sich auf ein und dieselbe menschliche Erfahrung beziehen, insofern die Identifizierung eines Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 104 Ruben A. Bühner 7 Vgl. so auch Heike Raab, Intersektionalität in den Disability Studies. Zur Interdependenz von Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht, in: Waldschmidt/ Schneider (Hg.), Disability Studies (s. Anm. 6), 127-148, 142; Markus Dederich, Körper, Kultur und Behinderung. Eine Einführung in die Disability Studies (Disability Studies 2), Bielefeld 2007, 20; sowie mit Blick auf das Neue Testament Isaac T. Soon, A Disabled Apostle. Impairment and Disability in the Letters of Paul, Oxford-2023, 10. 8 Vgl. Anne Waldschmidt/ Sarah Karim, Was sind Disability Studies? Profil, Stand und Vokabular eines neuen Forschungsfeldes, in: Anne Waldschmidt (Hg.): Handbuch Disability Studies (s. Anm. 3), 1-15, 3; einen luziden Überblick über die gängigen Modelle und ihre Abgrenzung zueinander vermitteln Gosbell, „The Poor, the Crippled, the Blind, and the Lame“ (s.-Anm.-6),-32-39; Dederich, Körper (s.-Anm.-7), 32-47. körperlichen Merkmals als vom sozial und kulturell konstruierten Ideal abwei‐ chend für sich genommen bereits einen negativen Effekt auf die betreffende Person haben kann. Auf diesen kulturellen Aspekt, wonach bereits die Charak‐ terisierung von etwas als Impairment oder Disability von kulturell bedingten Normvorstellungen abhängt, verweist die Schreibweise „Dis/ ability“. Trotz der Überschneidung ist die forschungssprachliche Differenzierung zwischen Impairment und Disability m. E. eine produktive heuristische Unterscheidung, die es erlaubt, verschiedene Faktoren einzeln zu fokussieren, die beim Phänomen der Behinderung eine Rolle spielen: Zum einen das Verhältnis zwischen körper‐ lich-kognitiver Realität und körperlich-kognitivem Idealbild der Gesellschaft, zum anderen die negativen Auswirkungen, die sich aus deren Verhältnis zur jeweiligen Umwelt ergeben sowie schließlich ganz grundsätzlich die kulturell bedingten Kategorisierungsprozesse, die zwischen „normal“ und „anormal“ unterschieden. 7 2. Was tun wir, wenn wir Dis/ ability Studies betreiben? Hinter dem, was als Dis/ ability Studies bezeichnet wird - Studien über oder zu Behinderung - verbirgt sich ein sehr breites Feld, das unterschiedliche Gegenstände und methodische Vorgehensweisen umfasst. Was die sehr diver‐ genten Entwürfe und ihre unterschiedlichen hermeneutischen Anliegen mit‐ einander verbindet, ist die Bezugnahme auf die Kategorie „Behinderung“ als einem sozialen und/ oder kulturellen Konstrukt. Gemeinsam sind den in den vergangenen Jahren zunehmend verfeinerten Zugängen dabei in erster Linie die Ablehnung älterer und medizinischer oder essentialistischer Modelle von Disability, wonach Behinderung ein quasi natürliches Problem des oder der jeweils Betroffenen sei. 8 Diese grundsätzliche Vielfältigkeit ist sicherlich charakteristisch für ein Forschungsfeld, das zwar nicht mehr ganz neu, aber immer noch dabei ist, sich Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 Dis/ ability Studies und die Texte des Neuen Testaments 105 9 Die Anfänge verbinden sich dabei u. a. mit dem (selbst behinderten) Medizinsoziologen Irving K. Zola sowie dem Sozialwissenschaftler Michael Oliver aus Großbritannien. Zu den Ursprüngen der Dis/ ability Studies vgl. Dederich, Körper (s. Anm. 7), 17-19; Waldschmidt/ Karim, Was sind Disability Studies? (s.-Anm.-8), 1-15. 10 Vgl. dazu Anne Waldschmidt, Selbstbestimmung als behindertenpolitisches Paradigma. Perspektiven der Disability Studies, in: APuZ 8 (2003), 13-20, hier 13; Dederich, Körper (s.-Anm.-7),-17. tastend in verschiedene Richtungen zu entfalten. Damit einher geht allerdings gerade in neutestamentlichen Adaptionen der Dis/ ability Studies mitunter eine Unklarheit darüber, was „Disability“ und verwandte Begriffe bezeichnen. Grundsätzlich unproblematisch ist die Tatsache, dass verschiedene begriffliche Definitionen und methodologische Herangehensweisen parallel existieren. Aus hermeneutischer Perspektive sind m. E. jedoch die nicht reflektierte Verqui‐ ckung unterschiedlicher Fragehorizonte zu thematisieren, die sich teilweise in den bibelwissenschaftlichen Bezugnahmen auf die Dis/ ability Studies ergeben, und die in der Gefahr stehen, anachronistisch gegenwärtige Konzepte in die neutestamentlichen Texte zu projizieren. Deshalb geht es zunächst darum, diese unterschiedlichen hermeneutischen Anliegen zu benennen, um dann ihr Verhältnis zueinander in den Blick zu nehmen. 2.1. Die hermeneutischen Anliegen des Ansatzes Hinter neutestamentlichen Studien, die sich den Dis/ ability Studies zuwenden, lassen sich bei genauerem Hinsehen mindestens drei voneinander zu unter‐ scheidende hermeneutische Anliegen identifizieren, verbunden mit ihren je eigenen methodischen Zugängen. Die Differenzierung jüngerer Publikationen anhand verschiedener erkenntnisleitender Interessen ist dabei freilich häufig nicht eindeutig und mehrfache Zuordnungen sind meist die Regel. (1) Das primär leitende hermeneutische Anliegen der Dis/ ability Studies ist untrennbar mit ihrem Ursprung verbunden. Ihre maßgeblichen Anstöße hat diese Frageperspektive von der politischen Behindertenrechtsbewegung in Nordamerika erhalten. 9 Ähnlich wie verwandte Forschungsdisziplinen wie etwa die Gender Studies, Queer Studies oder der Childist Criticism, haben demnach auch die Dis/ ability Studies ihrem Ursprung nach ein emanzipatorisches An‐ liegen, indem sie auf die gesellschaftliche De-Marginalisierung von Menschen mit Behinderungen zielen. Neben der wissenschaftlichen haben sie somit von Anfang an auch eine politische Zielperspektive. 10 Ein zentraler Motivations‐ grund für die in den vergangenen Jahrzehnten stets zunehmenden Arbeiten zu Dis/ ability Studies ist das - mehr oder weniger offen genannte - Ziel, Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 106 Ruben A. Bühner 11 Vgl. etwa Wolfgang Grünstäudl/ Markus Schiefer Ferrari (Hg.): Gestörte Lektüre. Disa‐ bility als hermeneutische Leitkategorie biblischer Exegese (Behinderung - Theologie - Kirche 4), Stuttgart 2012; Markus Schiefer Ferrari, (Un)gestörte Lektüre von Lk 14,12-14. Deutung, Differenz und Disability, in: dies. (Hg.), Gestörte Lektüre 11-47; Louise J. Lawrence, Sense and Stigma in the Gospels. Depictions of Sensory-Disabled Characters (Biblical Refigurations), Oxford 2013 sowie (zumindest mit einem starken rezeptionsgeschichtlichen Blick) Adela Y. Collins, Paul’s Disability. The Thorn in His Flesh, in: Candida Moss/ Jeremy Schipper (Hg.), Disability Studies and Biblical Literature, New York-2011, 165-183. 12 Vgl. so etwa Martin C. Albl, Hebrews and the Catholic Letters, in: Melcher/ Par‐ sons/ Yong (Hg.): The Bible and Disability (s. Anm. 2), 427-457; Jaime Clark-Soles, John, Forst-Third John, and Revelation, in: Melcher/ Parsons/ Yong (Hg.): The Bible and Disability (s. Anm. 2), 333-378. Verwandt mit solch einem Ansatz ist auch Martin C. Albl, „For Whenever I am Weak, then I am Strong“. Disability in Paul’s Epistles, in: Hector Avalos/ Sarah J. Melcher/ Jeremy Schipper (Hg.), This Abled Body. Rethinking Disabilities in Biblical Studies, Atlanta-2007, 145-158. 13 Vgl. etwa ausgehend von Joh 1,3 Clark-Soles, John (s. Anm. 12), 336: „Verse 3 implies that ‚good bodies‘ come in a variety of forms. Rather than ‚fixing‘ bodies that deviate from the ‚norm,‘ the concern should be to fix society to make it inclusive of all bodies.“ gegenwärtigen Diskriminierungen, Marginalisierungen und Be-hinderungen von Menschen mit unterschiedlichen körperlichen oder geistigen Beeinträchti‐ gungen entgegenzutreten. Bezogen auf die Bibelwissenschaften und insbesondere auf das Neue Tes‐ tament zeigt sich solch ein hermeneutisches Anliegen am deutlichsten in Publikationen, die - trotz unterschiedlicher Ansätze - letztlich auf eben solch eine gegenwärtige gesellschaftliche Debatte zielen. Dies sind zum einen Studien, die im weitesten Sinne mit einem rezeptionsgeschichtlichen Ansatz die Wir‐ kungsgeschichte neutestamentlicher Perspektiven auf Disability und ihre inhä‐ renten Normalisierungstendenzen aufzeigen und problematisieren, entweder mit Fokus auf antike Rezeption biblischer Erzählungen oder deren Anwendung in gegenwärtigen homiletischen oder religionspädagogischen Kontexten. 11 Eine weitere Gruppe von Studien, die sich dem Phänomen der Behinderung in neutestamentlichen Texten mit einem vorrangig gegenwärtigen Interesse zu‐ wendet, lässt sich mit einem im weitesten Sinne befreiungstheologischen Ansatz beschreiben, der die neutestamentlichen Texte bzw. die darin identifizierten Konzepte und Vorstellungen unmittelbar dazu verwendet, um davon ausge‐ hend gegenwärtige Probleme zu adressieren 12 oder neutestamentliche Texte als Fürsprecher für die Anliegen der Inklusion zu verstehen. 13 So schlussfolgert etwa M. Albl in seiner Untersuchung zu Disability im Hebräerbrief und den katholischen Briefen: Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 Dis/ ability Studies und die Texte des Neuen Testaments 107 14 Albl, Hebrews (s.-Anm.-12), 454f. 15 Ähnliches lässt sich auch in alttestamentlichen Studien finden, die sich den Dis/ ability Studies zuwenden; vgl. etwa die Beiträge in Avalos/ Melcher/ Schipper (Hg.), This Abled Body (s.-Anm.-12). 16 Vgl. Jennifer Koosed/ Darla Schumm. Out of the Darkness. Examining the Rhetoric of Blindness in the Gospel of John, in: Darla Schumm/ Michael Stoltzfus (Hg.), Disability in Judaism, Christianity, and Islam. Sacred Texts, Historical Traditions, and Social Analysis, New York 2011, 77-92; Markus Schiefer Ferrari, Dis/ abilitykriti‐ sche Hermeneutik biblischer Heilungserzählungen am Beispiel von Mk 2,1-12, in: Bernd Kollmann/ Ruben Zimmermann (Hg.), Hermeneutik der frühchristlichen Wun‐ dererzählungen. Geschichtliche, literarische und rezeptionsorientierte Perspektiven (WUNT/ I 339), Tübingen 2014, 627-646; Dorothee Wilhelm, „Normal“ werden - war’s das? Kritik biblischer Heilungsgeschichten, in: Bibel und Kirche 61 (2006), 2.103; Kerry H. Wynn, Johannine Healings and the Otherness of Disability, in: Perspectives in religious studies-34 (2007),-1.61-75. 17 Vgl. so etwa bei Anna R. Solevåg, Hysterical Women? Gender and Disability in Early Christian Narrative, in: Christian Laes (Hg.), Disability in Antiquity (Rewriting antiquity), London/ New York-2017, 315-327. There is often a striking correspondence between the ethical values frequently expressed in disability studies and the Christian values expressed in the General Epistles. […] Disability Studies and the Epistles call not only for a transformation of values at a theoretical level but for practical social changes as well. 14 Verbunden damit sind ferner Publikationen, die vor dem Hintergrund gegen‐ wärtiger gesellschaftlicher Debatten um Dis/ ability eine kritische Perspektive auf bestimmte neutestamentliche Texte und deren Erzählungen werfen. 15 In jenen wird dabei meist eine „nicht-behinderte“ (engl.: „ableist“) Perspektive identifiziert, insofern sie etwa behinderte Personen nicht selbst zu Wort kommen lassen (z. B. Lk 14,2-4), sie paternalistisch behandeln (z. B. Mt 11,5), ihnen jede eigene Fähigkeit absprechen (z. B. Joh 5,5-8), bestimmte Formen von Behinderung in einem metaphorischen und pejorativen Sinne verwenden (z. B. Lk 5,31) oder wenn behinderte Menschen lediglich als Objekte und Mittel von nicht behinderten Menschen vorkommen (z. B. Lk 14,13f.). 16 Dies verbindet sich gelegentlich auch mit einem betont intersektionalen Fokus in Kombination mit anderen Kategorien wie Gender oder Ethnizität. 17 Viele Studien konzentrieren sich dabei auf die Heilungserzählungen in den synoptischen Evangelien (v. a. Lukas und Johannes), die als Vorwegname einer eschatologischen Heilung von behinderten Menschen und damit durch die Verknüpfung von Heil und Heiligung eine angleichende „Normalisierung“ darstellen und damit nicht nur zugleich implizieren, dass behinderte Menschen „anormal“ sind, sondern sich auf die medizinisch-körperliche Dimension des/ der jeweils Betroffenen fokus‐ Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 108 Ruben A. Bühner 18 Vgl. dazu einführend Elsbeth Bösl/ Anne Klein/ Anne Waldschmidt (Hg.), Disability History. Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte; eine Einführung (Disa‐ bility Studies 6), Bielefeld 2010; Elsbeth Bösl/ Bianca Frohne, Disability History, in: Waldschmidt (Hg.), Handbuch Disability Studies (s.-Anm.-3), 127-142. 19 Vgl. etwa beispielhaft aus jüngerer Zeit Anna Rebecca Solevåg, Negotiating the Disabled Body. Representations of Disability in Early Christian Texts (SBLECL 23), Atlanta 2018; Gosbell, „The Poor, the Crippled, the Blind, and the Lame“ (s. Anm. 6); einen knappen Forschungsüberblick zu neutestamentlichen Studien, die sich mit einem vorrangig his‐ torischen Anliegen auf die Dis/ ability Studies beziehen, bietet Isaac T. Soon, Disability and New Testament Studies: Reflections, Trajectories, and Possibilities, in: Journal of Disability & Religion-25 (2021), 4.374-387. 20 Vgl. etwa z. B. Wolfgang Grünstäudl, Das Auge der Braut. Zur Metaphorik des Nicht/ Sehens bei Didymus von Alexandrien, in: Grünstäudl/ Schiefer Ferrari (Hg.): Gestörte Lektüre (s.-Anm.-11), 160-179; Schipper, Disability (s.-Anm.-2). 21 Vgl. Soon, Disabled Apostle (s. Anm. 7); Chad Hartsock, Sight and Blindness in Luke-Acts. The Use of Physical Features in Characterization (BiInS 94), Boston 2008; Walter T. Wilson, Healing in the Gospel of Matthew. Reflections on Method and Ministry, Minneapolis-2014. sieren, nicht aber auf die gesellschaftlichen Barrieren oder auf Behinderung als kulturelles Konstrukt. (2) Davon zu unterscheiden ist ein zweites hermeneutisches Anliegen, das auch in anderen historisch arbeitenden Disziplinen vorkommt, die Ansätze der Dis/ ability Studies aufnehmen, 18 und das v. a. in den bibelwissenschaftli‐ chen Disziplinen dem Fach gemäß dominiert. Gegenstand der Untersuchung wird hier das Phänomen Behinderung in seinen jeweiligen historischen oder literarischen Kontexten. 19 Die meisten bisherigen Studien fokussieren dabei auf einen bestimmten neutestamentlichen Text oder eine Textgruppe, es existieren aber auch vereinzelt vergleichende Studien mit zeitgenössischen Vorstellungen. Neben Detailfragen geht es häufig darum, durch den Fokus auf neutestamentliche Phänomene von Behinderung bisherige Klischees zu hinterfragen, wonach Menschen mit Behinderungen in der Antike etwa grund‐ sätzlich sozial ausgegrenzt gewesen seien o. ä. 20 Verwandt damit sind schließlich literaturwissenschaftlich angelegte Arbeiten, die sich auf einzelne behinderte literarische Figuren konzentrieren und diese Beobachtungen mit antiken Per‐ spektiven auf Dis/ ability ins Gespräch bringen. 21 Das hermeneutische Anliegen jener vorrangig historisch interessierten Gruppe an Studien lässt sich dabei freilich nicht gänzlich von den zuvor genannten und um den gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskurs bemühten Anliegen trennen. Ohne letzteres wäre das jüngst gesteigerte Interesse an Dis/ ability in antiken Kontexten kaum zu erklären. (3) Eine dritte und in den Bibelwissenschaften eher schwächer vertretene Gruppe an Studien lässt sich als rezipientenorientiert im engeren Sinn be‐ Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 Dis/ ability Studies und die Texte des Neuen Testaments 109 22 Vgl. Janet Lees, Enabling the Body, in: Avalos/ Melcher/ Schipper (Hg.), This Abled Body (s. Anm. 12), 161-172; sowie den explizit formulierten Anspruch von Sarah J. Mel‐ cher, Genesis and Exodus, in: Melcher/ Parsons/ Yong (Hg.), The Bible and Disability (s. Anm. 2), 29-556, hier 14: „to read the Bible through the lens of disability, informed by the experiences of human beings with disabilities“ (auch wenn die einzelnen Beiträge des Bandes dann nicht in gleicher Weise dieses Anliegen durchführen). Vgl. auch Schiefer Ferrari, (Un)gestörte Lektüre von Lk-14,12-14 (s.-Anm.-11), 14. 23 Vgl. so mit Blick auf Dis/ ability im Estherbuch Kerry H. Wynn, First and Second Chronicles-Esther, in: Melcher/ Parsons/ Yong (Hg.), The Bible and Disability (s. Anm. 2), 121-157, hier-150-156. 24 Dorothee Wilhelm, Wer heilt hier wen? Und vor allem: wovon? Über biblische Hei‐ lungsgeschichten und andere Ärgernisse, in: Schlangenbrut-62 (1998), 10-12, hier-11. schreiben. Sie fragt explizit nach der Perspektive und Leseerfahrung von behin‐ derten Menschen auf und bei bestimmtem neutestamentlichen Texten. 22 Ver‐ wandt damit sind Lesestrategien von biblischen Texten, die über deren histori‐ sche Perspektive hinausgehend, diese in metaphorischer Weise so (um-)deuten, dass sich darin Erfahrungen von Menschen mit Behinderungen widerspiegeln lassen. 23 Auch hier dominieren dann überwiegend kritische Bewertungen der neutestamentlichen Texte. So urteilt etwa stellvertretend die im Rollstuhl sitzende Dorothee Wilhelm zu Lk 14,12-14 aus der Perspektive von behinderten Leserinnen und Lesern, dieser sei einer der schlimmsten Texte, vielleicht der behindertenfeindlichste - ich sage dazu ‚normalistischste‘ der Bibel. Auf Kosten meiner und meinesgleichen sollen die Gast‐ geber spirituelles Kapital ansammeln; es geht um unsere spirituelle Ausbeutung. 24 Angesichts der Vielfalt dieser interesseleitenden Ansätze und der Existenz unterschiedlicher Paradigmen in den neutestamentlichen Disability Studies wird deutlich, wie mannigfaltig der sich am Schnittpunkt zwischen Exegese und Disability Studies entspinnende Diskurs ist. So sehr man diese Anliegen für sich genommen auch als wissenschaftlich erstrebenswert oder gar als ethisch geboten betrachten mag, entspringen ihrer nicht hinreichend reflektierten Vermengung jedoch stellenweise Konzepte, die zum einen hinsichtlich ihrer historisch-methodologischen Vorgehensweise als fraglich erscheinen müssen und die zum anderen umgekehrt auch für deren Nutzen im Hinblick auf gegenwärtige gesellschaftliche Diskurse hinderlich sind. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 110 Ruben A. Bühner 25 Dass die alttestamentlichen Schriften dennoch auch ein Konzept „Behinderung“ hätten, argumentiert ausgehend von sprachlich-grammatischen Beobachtungen Thomas Hieke, Die Eignung der Priester für ihren Dienst nach Lev 21,16-24. Mūm, körperlicher Schaden, als Kriterium des Ausschlusses vom Priesterdienst, in: Grünstäudl/ Schiefer Ferrari (Hg.), Gestörte Lektüre, (s.-Anm.-11), 48-66, hier-48. 26 Davon ausgehend übersetzen manche dann etwa griechische Wendungen wie anapeiroi als „Behinderte“; vgl. etwa zu Lk 14,13 Michael Wolter, Das Lukasevangelium (HNT 5), Tübingen-2008, 507. 2.2 Sprachliche und konzeptionelle Unschärfen: Einige kritische Perspektiven In den biblischen Schriften finden sich analog zu anderen Texten dieser Zeit bekannterweise nicht das Konzept bzw. das Abstraktum „Behinderung“ sowie körperlich behinderte Menschen im Allgemeinen, sondern immer nur konkrete Menschen mit körperlichen oder kognitiven Einschränkungen Erwähnung, wie etwa Blinde, Taube, oder Menschen mit defekten Gliedmaßen. 25 Insgesamt scheint den frühjüdischen und neutestamentlichen Texten ein umfassendes Konzept von „Behinderung“, im Unterschied etwa zu temporärer oder län‐ gerfristiger „Krankheit“, zu fehlen. Einige summarische Auflistungen von un‐ terschiedlichen körperlichen Gebrechen legen gelegentlich nahe, dass diese paradigmatisch für eine bestimmte Gruppe an stärker beeinträchtigten Personen stehen und insofern trotz fehlender sprachlicher und konzeptioneller Schärfe nicht automatisch auf jede Form von Krankheit verweisen. 26 Wenn wir von „Behinderung“ oder „Dis/ ability“ sprechen, handelt es sich demnach nicht um quellensprachliche Begriffe, sondern um eine moderne Forschungstermino‐ logie, um bestimmte Aspekte antiker Konzepte zu beschreiben. Wie bei anderen historischen Sachverhalten ist auch hier nicht die gewählte fachwissenschaft‐ liche Metasprache automatisch anachronistisch, wohl aber der Umstand, wenn über die Wahl moderner Beschreibungssprache unreflektiert auch moderne Konzepte auf antike Texte übertragen werden. Dies lässt sich jedoch an einigen jüngeren Studien beobachten, die die oben genannten hermeneutischen An‐ liegen miteinander vermengen. Die vielfach geäußerte Kritik an neutestamentlichen Texten und deren Umgang mit bzw. Darstellung von behinderten Menschen ist aus der Perspektive gegenwärtiger Diskurse meist zutreffend. Die biblischen Heilungsgeschichten setzen implizit häufig die Behinderung als Negativfolie von Heil und Heilung voraus. V. a. in den synoptischen Evangelien findet sich eine Infantilisierung von Menschen mit Behinderung, indem ihnen jede Eigenständigkeit und Fähigkeit abgesprochen wird, oder Menschen mit Behinderung werden lediglich als „Mittel“ verzweckt, durch das nicht Betroffene einen Lohn im Himmel erwerben Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 Dis/ ability Studies und die Texte des Neuen Testaments 111 können (vgl. etwa Lk 14,13f.). 27 Diese und ähnliche Kritik an neutestamentlichen Texten und an deren Wirkungsgeschichte ist dabei zwar nachvollziehbar und sollte auch nicht einfach abgetan werden, 28 in historischer Hinsicht läuft diese kritische Perspektive jedoch Gefahr, die antiken Texte einseitig durch eine gegenwärtige Brille hindurch wahrzunehmen, die die zeitgeschichtliche Veran‐ kerung der Texte in verschiedener Hinsicht nicht hinreichend berücksichtigt. Dies gilt nicht nur in Bezug auf die Tatsache, dass heutige technische oder institutionelle Möglichkeiten der Inklusion für die Zeit des Neuen Testaments in der Regel nicht zur Verfügung standen, 29 sondern mehr noch in hermeneutischer Hinsicht. Denn paradoxerweise bringen solch anachronistische Zugänge das Risiko mit sich, genau jene Aspekte zu verstärken, die sie eigentlich kritisieren und mit Blick auf die Gegenwart aufbrechen wollen. Dies zeigt sich zum einen im Hinblick auf das jeweilige Modell von Dis/ ability. Gemeinsam ist allen jüngeren Arbeiten im Rahmen der Dis/ ability Studies, dass sie ein älteres und individualistisches oder medizinisches Modell von Behinderung überwinden möchten, d. h. Disability ist nicht zu verstehen als ein quasi naturgegebenes körperliches Merkmal, sondern als Ergebnis einer gesellschaftlichen Übereinkunft. 30 Solch ein älteres medizinisches Modell wird dabei nicht selten in den neutestamentlichen Schriften identifiziert und kriti‐ siert. Deren Umgang mit behinderten Menschen zeige eine Sichtweise von Behinderung, die diese als Defizit und als individuelles Problem des Einzelnen begreift. Veränderung bzw. Besserung geschieht nur als „Normalisierung“ der Behinderten, nicht an der Umgebung oder der Gesellschaft als Ganzem. Ironi‐ scherweise setzen Studien, die solch eine Kritik äußern, dabei jedoch unbewusst gelegentlich selbst ein medizinisches Modell von Behinderung voraus. Denn versteht man Behinderung als ein soziales und kulturelles Konstrukt, dann lässt sich nicht einfach von bestimmten Impairments, die wir heutzutage als Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 112 Ruben A. Bühner 27 Vgl. Hermann-Josef Venetz, „Und du wirst selig sein …“: kritische Beobachtungen zu Lk 14,14, in: Dieter Böhler/ Philippe Hugo/ Innocent Himbaza (Hg.): L’écrit et l’esprit. Études d’histoire du texte et de théologie biblique en hommage à Adrian Schenker (OBO 214), Göttingen/ Fribourg (Suisse) 2005, 394-409, hier 407: „Die Armen und Krüppel sind nicht Subjekte einer Gemeinschaft von Gleichgestellten; sie sind Objekte, denen die Reichen Gutes tun.“ 28 Vgl. so aber bei Albl, „For Whenever I am Weak, then I am Strong“ (s.-Anm.-12), 158. 29 Vgl. dazu zu Recht Tobias Nicklas, Gottesbeziehung und Leiblichkeit des Menschen. Frühjüdische und antik-christliche Perspektiven, in: Grünstäudl/ Schiefer Ferrari (Hg.), Gestörte Lektüre (s.-Anm.-11), 127-140, hier-137. 30 Zu den unterschiedlichen Modellen vgl. ausführlich Waldschmidt, Macht (s. Anm. 5), 55-77; Dederich, Körper (s. Anm. 7), 26-47; Marianne Hirschberg, Modelle von Behin‐ derung in den Disability Studies, in: Waldschmidt (Hg.), Handbuch Disability Studies (s.-Anm.-3), 93-108. Disability beschreiben, darauf zurückschließen, dass dies in der Antike bzw. in einem konkreten antiken Text oder Kontext auch so gewesen sein muss. 31 D.-h. wir können nicht allein auf Grund der Tatsache dessen, dass wir heute beispiels‐ weise Blindheit als Disability beschreiben - weil wir in unserer gegenwärtigen Gesellschaft Blindheit als Abweichung vom körperlichen Ideal definieren und aus diesem Impairment in unserem heutigen Kontext Nachteile für betroffene Personen erwachsen - darauf schließen, dass das Gleiche für das 1. Jh. n. Chr. in jüdisch geprägten Gegenden Palästinas galt. Oder anders ausgedrückt, wo solch eine Kontinuität unreflektiert angenommen wird, werden damit nicht nur ungewollt bestimmte Klischees verstärkt, sondern wird unbewusst auch einem medizinischen Modell von Behinderung Vorschub geleistet, das mit Verweis auf das körperliche Merkmal (z. B. Blindheit), anders als soziale oder kulturelle Modelle, ohne nähergehende Begründung von einer historischen Kontinuität ausgehen kann. Nun lässt sich berechtigt einwenden, dass bei dem gewählten Beispiel der Blindheit einiges dafür spricht, dass dies auch in der Antike nachteilige Effekte für die Betroffenen hatte und insofern eine ausführliche Begründung, dass es sich dabei auch in neutestamentlichen Kontexten um Disability handelt, nicht notwendig sei. Doch in vielen anderen Fällen ist die Situation entschieden undeutlicher. Woher etwa nehmen wir die Gewissheit, dass beispielsweise der „Wassersüchtige“, den Jesus in Lk 14,1-6 heilt, nach antiken Maßstäben bzw. nach dem sozio-kulturellen Bild des Lukasevangeliums als behindert zu bezeichnen ist? Natürlich lässt sich (zu Recht) kritisieren, dass der „Wassersüch‐ tige“ in der Perikope nicht selbst zu Wort kommt, dass Jesus ihn sogar heilt, ohne danach zu fragen, ob dieser geheilt werden möchte. 32 Wo jedoch vorrangig nach den medizinischen Details und dem Krankheitsbild eines „Wassersüchtigen“ oder anderen Personen, die Jesus in den Evangelien heilt, gefragt wird, werden die sozial-kulturelle Dimensionen solch eines Impairments weitgehend unre‐ flektiert von gegenwärtigen Konzepten übernommen. Schließt man sich dem Anliegen der Dis/ ability Studies an, wonach es um eine „Inversion der vorherrschenden Sichtweise“ 33 geht, dann können in neutestamentlich angelegten Studien gegenwärtige Konzepte nicht leitend sein. Wo neutestamentliche Texte aus einer gegenwärtigen Perspektive heraus kritisiert werden, geht letztlich die Chance verloren, in den antiken Texten kulturell bedingte Kategorisierungsprozesse zu entdecken, die gerade nicht unseren heutigen Normvorstellungen entsprechen, und umgekehrt können die Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 Dis/ ability Studies und die Texte des Neuen Testaments 113 31 Siehe dazu auch Schipper, Disability (s.-Anm.-2), 20. 32 Vgl. etwa Schiefer Ferrari, (Un)gestörte Lektüre von Lk-14,12-14 (s.-Anm.-11), 26f. 33 Waldschmidt/ Karim, Was sind Disability Studies? (s.-Anm.-8), 4. 34 Anne Waldschmidt, Warum und wozu brauchen die Disability Studies die Disability History? Programmatische Überlegungen, in: Disability History (2014), 13-28, hier 14. 35 Albl, „For Whenever I am Weak, then I am Strong“ (s.-Anm.-12), 149. neutestamentlichen Texte dann auch nicht länger als horizonterweiternd für gegenwärtige Debatten dienen. Hierbei handelt es sich nicht nur um sprachliche Ungenauigkeiten, die allein der geforderten Kürze wissenschaftlicher Publikationen zuzuschreiben sind. Denn mit dieser Anwendung moderner Kategorien auf neutestamentliche Texte wird mitunter das eigentliche Anliegen der Dis/ ability Studies selbst unterlaufen und deren Potential nicht gehoben. Setzt man ein kulturelles Modell von Dis/ ability voraus, dann wird deutlich, dass es sich bei der Kategorie „Behinderung“ eben gerade nicht um eine eindeutige oder eine historisch konstante Zuschrei‐ bung handelt, sondern „um einen höchst komplexen, eher unscharfen Oberbe‐ griff, der sich auf eine bunte Mischung von unterschiedlichen körperlichen, psychischen und kognitiven Merkmalen bezieht, die nichts anderes gemeinsam haben, als dass sie mit negativen Zuschreibungen wie Einschränkung, Schwäche oder Unfähigkeit verknüpft werden.“ 34 Verwendet man jedoch gegenwärtige Konzepte und fragt davon ausgehend nach analogen Darstellungen in den neutestamentlichen Texten, dann kann es auch nicht mehr gelingen, durch die Dis/ ability Studies als hermeneutischer Brille, Kategorisierungsprozesse und Machtstrukturen im Neuen Testament oder unserer gegenwärtigen Gesellschaft aufzudecken, die ansonsten nicht sichtbar werden. Die Lektüre biblischer Texte aus der Perspektive gegenwärtiger Diskurse führt zudem bisweilen auch dort zu einer sprachlichen und konzeptionellen Unschärfe, wo eben diese Unschärfe gebraucht wird, um nicht kritische, sondern positive oder befreiungstheologische Bezüge zwischen einem biblischen Text und gegenwärtigen Anliegen herzustellen. Innerhalb des neutestamentlichen Kanons ist es v. a. Paulus, bei dem manche Exegeten eine Position erkennen wollen, die aktuelle Bemühungen um eine Demarginalisierung von Behinderten und das Hinterfragen kulturell bedingter Kategorien unterstützt. So will etwa M. Albl ausgehend von 1Kor 1,18 und der Kreuzigung Jesu bei Paulus die Vorstellung von einem behinderten Jesus identifizieren: „In the ancient world, a crucified person was the ultimate example of ‚disability‘.“ 35 Doch auch dort, wo argumentiert wird, dass manche Texte des Neuen Testaments bereits eine in‐ klusive Perspektive im modernen Sinne aufweisen, ist die sprachliche Unschärfe letztlich Ausdruck eines konzeptionellen Defizits. Zwar gibt es zahlreiche Hinweise dafür, dass die frühen Anhänger des christlichen Glaubens von ihren Zeitgenossen für die Verehrung eines Gekreuzigten belächelt wurden, dies macht aber Paulus selbst und seine Christologie nur dann zu einer „Christologie Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 114 Ruben A. Bühner 36 Dass im Hintergrund dieser konzeptionellen Unschärfe die Absicht steht, einen neutes‐ tamentlichen Text positiv in Bezug zu setzen zu einem gegenwärtigen gesellschaftlichen Anliegen, wird beispielsweise bei Albl dort deutlich, wo er abschließend zusammen‐ fasst: „Paul’s gospel called for nothing less than a radical rethinking of the whole concept of ‘disability’.“ (Albl, „For Whenever I am Weak, then I am Strong“ [s. Anm. 12], 158). Dagegen scheinen Stellen wie 2Kor 12,10 weniger eine grundsätzliche Umkehrung des Konzepts der Dis/ ability anzuzeigen, (noch weniger im Sinne eines modernen Inklusionsgedankens), sondern sie verweisen auf die spezifisch paulinische und in diesem Sinne sicherlich auch ein Stück weit innovative Erfahrungsdeutung des Paulus; vgl. dazu auch Michael Tilly, Behinderung als Thema des paulinischen Denkens, in: Grünstäudl/ Schiefer Ferrari (Hg.): Gestörte Lektüre (s.-Anm.-11), 67-80, hier-79. 37 Vgl. so aber Albl, „For Whenever I am Weak, then I am Strong“ (s.-Anm.-12), 152. der Behinderung“, wenn man Disability so weit fasst, dass es auch jede Form der sozialen Verachtung oder Benachteiligung miteinschließt, die nicht von körperlichen oder kognitiven Merkmalen, sondern von bestimmten Ereignissen ausgeht. Zwar geht eine Kreuzigung mit körperlichen Schäden einher, aber der Spott nimmt nicht in erster Linie an diesen körperlichen Wunden Jesu seinen Anstoß, sondern an dem Ereignis der Kreuzigung an sich. Welche forschungs‐ sprachlichen Begriffe auch immer man dafür verwendet, die Unterscheidung zwischen jenen Dingen, die meist als „Impairment“ und „Disability“ bezeichnet werden, sowie - in diesem Fall - die Umstände oder Handlungen, die zu einem Impairment führen, ist wesentlich. 36 Ähnliches gilt etwa, um ein weiteres Beispiel anzuführen, für die „Schwach‐ heit des Fleisches“, von der Paulus in Gal 4,13f. schreibt. In der Kommen‐ tarliteratur finden sich unterschiedliche Vorschläge, welche Krankheit oder Einschränkung damit gemeint sein könnte. In jedem Fall handelt es sich jedoch um ein Impairment und Paulus betont geradezu wörtlich, dass ihm dies bei den Galatern nicht zur „Disability“ wurde: Ihr wisst aber, dass ich euch einst in Schwachheit des Fleisches das Evangelium verkündigt habe, und meine Versuchung an meinem Körper habt ihr nicht verachtet noch verabscheut, sondern wie einen Engel Gottes nahmt ihr mich auf. Insofern ist es auch nicht hilfreich, ausgehend von diesen Versen von einem „Disabled Paul“ 37 o. ä. zu reden. Überspitzt formuliert, wenn alles Disability ist, dann ist nichts mehr Disability und wir können weder die antiken Zeugnisse adäquat beschreiben noch diese gewinnbringend mit gegenwärtigen Diskursen ins Gespräch bringen. Verbunden damit ist die weitreichende und grundsätzliche Frage nach der Unterscheidung zwischen „Behinderung“ und „Nichtbehinderung“. Folgt man einem sozial-kulturellen Modell, dann stellen Dis/ ability Studies Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 Dis/ ability Studies und die Texte des Neuen Testaments 115 38 Waldschmidt, Warum (s.-Anm.-33), 19. 39 Es gibt mittlerweile vielfache Arbeiten zu Heilungen in den synoptischen Evangelien oder zu dem „blind Geborenen“ in Joh 9, wohingegen andere neutestamentliche Texte und Phänomene, die (möglicherweise) ebenfalls unter das Schlagwort Dis/ ability fallen, bisher kaum bis gar nicht bearbeitet worden sind. 40 Vgl. Soon, Disabled Apostle (s.-Anm.-7). 41 Vgl. auch Adam Booth, A Circumcising Mission to the Gentiles and Hazing Cultures, in: Susan R. Holman/ Chris L. de Wet/ Jonathan L. Zecher (Hg.), Disability, Medicine, and Healing Discourse in Early Christianity. New Conversations for Health Humanities (Religion, Medicine and Health in Late Antiquity Series), Milton-2024, 30-46, hier-31f. nicht nur Behinderung, sondern auch ‚Nicht-Behinderung‘ (sprich: Normalität, Ge‐ sundheit, Funktionsfähigkeit etc.) in Frage; die beiden Pole erweisen sich als höchst kontingente, im Grund arbiträre Kategorien, deren Konturen eben gerade nicht trennscharf sind. 38 Dies bedeutet aber, dass es nicht nur anachronistisch ist, moderne Kategorien von Behinderung auf neutestamentliche Texte zu übertragen, sondern dass die Vermengung historischer und gegenwärtiger hermeneutischer Anliegen es ebenso erschwert, in den neutestamentlichen Schriften Phänomene als Disability zu identifizieren, die nach heutigen Maßstäben nicht darunter fallen. Die vielfältigen Studien, die sich in jüngster Zeit durch die Bezugnahme auf die Dis/ ability Studies auch auf dem Gebiet der neutestamentlichen Wissenschaft ergeben, bleiben jedoch gelegentlich noch bei einem medizinischen oder rein sozialen Modell von Behinderung stehen. Es ist geradezu auffallend, dass die überwiegende Mehrheit jüngerer Publikationen sich mit neutestamentlichen Texten befasst, in deren Zentrum „klischeehafte“ Behinderungen stehen, wie etwa blinde, taube oder lahme Menschen. 39 Gegenwärtige Konstruktionen von Behinderung müssen aber keineswegs abschließend das umfassen, was nach den Maßstäben (mancher) antiker Kulturen als Disability zu bezeichnen ist. So hat beispielsweise jüngst Isaac Soon 40 in einer bemerkenswerten Studie zu Paulus herausgearbeitet, dass die Beschneidung des Paulus nach heutigen wie auch nach antik-jüdischen Kategorien überwiegend nicht als Behinderung verstanden wird, dass allerdings aus griechisch-römischer Perspektive eine Beschneidung durchaus konträr zum körperlichen Idealbild steht und Juden wie Paulus aufgrund ihrer Beschneidung Stigmatisierung und Benachteiligung erfahren haben. D. h. nicht nur, dass die Beschneidung des Paulus in manchen antiken Kontexten als Disability zu verstehen ist, sondern Soon gelingt es auch aufzuzeigen, wie sich durch solch eine Dis/ ability-Perspektive, die sich in ihren Kategorien gerade nicht durch moderne Perspektiven leiten lässt, die Rhetorik des Paulus in Teilen seiner Briefe besser verstehen lässt. 41 Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 116 Ruben A. Bühner Als ähnlich produktiv-irritierend im Hinblick auf gegenwärtige kulturelle Vorstellungen von Behinderung erweist sich die Studie von Gosbell. Sie liest die Perikope der sog. „blutflüssigen Frau“ in Mk 5,25-34 mit einer Dis/ ability-Per‐ spektive vor dem Kontext griechisch-römischer medizinischer Literatur und den sozialen Folgen solch einer Krankheit 42 und kann dabei überzeugend herausar‐ beiten, dass es sich dabei wohl entgegen moderner Kategorisierung im antiken Kontext um ein Phänomen handelt, dass sich als Disability beschreiben lässt. 43 Ähnliches wurde auch schon mit Blick auf den in verschiedenen biblischen Texten vorkommenden Aspekt der Unfruchtbarkeit von Frauen herausgear‐ beitet. 44 Nur dort, wo gegenwärtige Diskurse und Anliegen von der Frage nach neutestamentlichen bzw. historischen Perspektiven auf Dis/ ability zumindest heuristisch voneinander getrennt werden, kann es gelingen, zu einem vertieften Verständnis der Kategorisierungsprozesse zu kommen und nicht nur „Behinde‐ rung“, sondern auch das damit immer verbundene Konzept von „Normalität“ in den Blick zu nehmen. 45 Oder anders formuliert, wer von dem Anliegen ge‐ leitet ist, gegenwärtige gesellschaftliche und politische Debatten um Dis/ ability durch Arbeiten an neutestamentlichen Texten zu unterstützen, der muss diese zunächst einmal möglichst unabhängig von späteren Diskursen und Kategorien in den Blick nehmen. Damit einher geht die Notwendigkeit, die in den Dis/ ability Studies gewonnenen Einsichten um die (zumindest auch) kulturelle Bedingtheit von Behinderung und die damit verbundenen Frageperspektiven in neutestamentlichen Studien zu etablieren, um sich nicht länger unbewusst doch von älteren Modellen leiten zu lassen, die Behinderung als relativ eindeutige Kategorie wahrnehmen. Diese Grundsätzlichkeit der Frageperspektive, die mit Anne Waldschmidt danach fragt, „Wie, warum und wozu wird historisch, sozial und kulturell ‚Andersheit‘ als Behinderung hergestellt, verobjektiviert und praktiziert? “, 46 gilt es in dieser Weite auch in neutestamentlichen Bezugnahmen auf die Dis/ ability Studies zu implementieren. Heilungstexte und die Hoffnung auf eine bessere Welt sind nicht aufzugeben. Aber hermeneutisch ist dabei die immer gegebene und begrenzte Perspektivität Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 Dis/ ability Studies und die Texte des Neuen Testaments 117 42 Vgl. Gosbell, „The Poor, the Crippled, the Blind, and the Lame“ (s.-Anm.-6), 229-277. 43 Vgl. Gosbell, „The Poor, the Crippled, the Blind, and the Lame“ (s. Anm. 6), 276: „Within her circumstances then this woman with the flow of blood was most certainly ‚disabled.‘“ 44 Vgl. Melcher, Genesis and Exodus (s.-Anm.-22), 29-56. 45 Vgl. dazu noch einmal Anne Waldschmidt, Disability Studies. Individuelles, soziales und/ oder kulturelles Modell von Behinderung, in: Psychologie und Gesellschafts‐ kritik-29 (2005), 1.9-31, hier-25. 46 Anne Waldschmidt, Disability Studies zur Einführung, Hamburg-2020, 12. der eigenen Position sowie der neutestamentlichen Texte anzuerkennen. Zuge‐ spitzt formuliert: Sich den Himmel als eine Welt ohne Behinderung vorzustellen, entspricht der begrenzten Perspektive von nichtbehinderten Menschen als Au‐ toren neutestamentlicher Schriften. Ebenso entspricht die Wirkungsgeschichte dieser Texte in weiten Teilen der dominanten Perspektive von nicht-behin‐ derten Exegeten, die auf diesem Auge gerade deshalb blind sind. Nur wo diese Perspektivität historischer wie gegenwärtiger Äußerungen mitbedacht wird, kann es gelingen, dass solche Texte und Vorstellungen nicht länger implizit normalisierend und damit exkludierend wirken. Zugleich heißt das aber, erst wenn man sich dieser historischen Distanz und Fremdheit bewusst ist, lassen sich unsere gesellschaftlichen Annahmen, was ein „normaler“ oder „gesunder“ Körper ist, durch den Bezug auf antike und neutestamentliche Texte kritisch hinterfragen. 47 3. Fazit und Ausblick Insofern die Mehrheit der Exegetinnen und Exegeten und überhaupt der Le‐ serinnen und Leser neutestamentlicher Texte selbst nicht von Behinderung betroffen ist, können die Dis/ ability Studies wesentlich dazu beitragen, un‐ bewusste Leseperspektiven der Mehrheitsgesellschaft aufzudecken und eine „Normalisierungslektüre“, d. h. eine dominante Interpretation der Texte aus den Augen derer, die nicht vom Phänomen Behinderung betroffen sind, aufzu‐ brechen. Bisherige Publikationen haben dabei bereits erstaunliche Einsichten hervorgebracht und weitere werden sich sicherlich anschließen. Die Dis/ ability Studies als hermeneutische Leitkategorie haben gerade auch im Hinblick auf die Texte des Neuen Testaments das Potential, auf soziale und kulturelle Machtstrukturen aufmerksam zu machen und vermeintlich feststehende oder essentialistisch dargestellte Gruppenidentitäten zu hinter‐ fragen, die ansonsten unentdeckt bleiben. Dies setzt allerdings voraus, dass sich die Untersuchung an den antiken Texten in ihren Kategorisierungen und Konzepten nicht von gegenwärtigen gesellschaftlichen Perspektiven und Normvorstellungen leiten lässt. Nur wo jeweils gesondert nach der kulturellen Bedingtheit der in einem Text impliziten Kategorisierung von „behindert“ und Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 118 Ruben A. Bühner 47 Vgl. dazu auch den programmatischen Satz von Hector Avalos/ Sarah J. Melcher/ Jeremy Schipper, Conclusion, in: Avalos/ Melcher/ Schipper (Hg.), This Abled Body (s. Anm. 12), 197-199, hier 197: „We want readers to think in new ways about what it means to be abled-bodied or disabled in the Bible and the ancient Near East. In so doing, we discover more about what it means to be disabled and abled of body today, and how those ancient texts have influenced, for better or for ill, our present embodied experience.“ 48 Vgl. dazu in Bezug auf Paulus bereits Soon, Disabled Apostle (s.-Anm.-7). „normal“ gefragt wird, tragen die Dis/ ability Studies in exegetischer Hinsicht zu einem vertieften Verständnis der neutestamentlichen Texte bei und haben dann durch das Erhellen fremder Kategorisierungsprozesse auch das Potential, unre‐ flektierte Differenzkategorien in gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskursen zu enttarnen und damit aufzubrechen. Diese Linie stärkend werden sich zukünftig die Dis/ ability Studies, gerade auch im Hinblick auf neutestamentliche Texte, weiterentwickeln, indem sie noch grundsätzlicher nach historischen, literarischen und rezeptionsgeschicht‐ lichen Prozessen der „Normalisierung“ und „Besonderung“ fragen, die auch über die - ohnehin unscharfe - Kategorie der Behinderung hinausgehen. Dies schließt eine Ausweitung in textlicher und konzeptueller Hinsicht mit ein. So gibt es bislang - von wenigen Ausnahmen abgesehen - kaum Studien zu Dis/ ability in den antikjüdischen Kontexten des Neuen Testaments wie etwa zu Qumran, zu den alttestamentlichen Pseudepigraphen, zu Josephus oder Philo. Gerade im Hinblick auf die neutestamentlichen Texte und die darin vorfindlichen Kontraste zu gegenwärtigen Konzepten, drängt es sich zudem auf, dass zukünftige Forschung sich über „klassische“ Formen der Behinderung hinaus auch auf andere körperliche oder kognitive Merkmale fokussiert, die in (manchen) antiken Kontexten als Dis/ ability zu beschreiben sind. Insbesondere mit Blick auf das Neue Testament scheint die Untersuchung der Verbindung von menschlichem Körper und der Welt der Geister und Dämonen sowie anderen nichtpersonalen, aber übermenschlichen Entitäten noch neue Entdeckungen in Aussicht zu stellen: Im Neuen Testament wohnen Dämonen in menschlichen Körpern, in ihnen herrscht die „Begierde“ (Röm 1,24 u. ö.), sie besitzen einen „Leib der Sünde“ (Röm 6,6) und „des Todes“ (Röm 7,24). Diese und verwandte biblische Vorstellungen machen deutlich, dass möglicherweise auch jene Phä‐ nomene in manchen Kontexten mit der Kategorie „Behinderung“ verbunden sind. 48 Ferner stellt es ein Desiderat dar, die historischen und bibelwissenschaftli‐ chen Einsichten auch in didaktisch-methodischer Hinsicht für schulische und kirchliche Kontexte zu implementieren. Dazu gilt es zunächst grundsätzlich, in entsprechenden Lehrveranstaltungen zukünftige Pfarrerinnen und Pfarrer sowie Religionslehrerinnen und Religionslehrer für die mit Dis/ ability verbun‐ denen Herausforderungen auch im Hinblick auf die Texte des Neuen Testaments zu sensibilisieren. Während dies v. a. in sonderpädagogischen Studiengängen von Seiten der Religionspädagogik bereits geschieht, fehlt es nach meiner Wahrnehmung noch an spezifisch neutestamentlichen Lehrkonzepten oder Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 Dis/ ability Studies und die Texte des Neuen Testaments 119 49 Dederich, Körper (s.-Anm.-7), 177. überhaupt Lehrbüchern, die die Einsichten der Dis/ ability Studies im Hinblick auf das Neue Testament aufnehmen und zu einer kritischen Haltung anleiten. Schließlich bedienen sich zukünftige Theologie und Bibelwissenschaften idealerweise nicht nur der konsequent interdisziplinär angelegten Disability Studies, sondern bringen auch ihre eigene Stimme mit ein. Durchaus berechtigte Anliegen und Fortschritte der Medizin, individuelle körper‐ liche Defizite zu heilen oder Beeinträchtigungen zu kompensieren, führen auf der Basis eines molekularbiologischen Paradigmas zunehmend zu Vorstellungen von der Perfektibilität des Menschen und der Kontrollierbarkeit möglicher Abweichungen. Implizit verbunden ist damit die ‚Abwertung unheilbar kranker und behinderter Menschen‘. 49 Hier kann - ohne deshalb die hermeneutischen Probleme beiseitezuschieben - gerade eine theologisch und biblisch geprägte Anthropologie einen Gegenpol setzen, indem sie die Annahme des Menschen durch Gott auch in seinen körperlich-kognitiv unterschiedlichen und teilweise als fragmentarisch wahr‐ genommenen Formen betont. Ruben A. Bühner studierte Evangelische Theologie in Heidelberg, Princeton (NJ) und Tübingen. Nach Promotion (2020), Vikariat und einer Zeit als Pfarrer der Württem‐ bergischen Landeskirche folgte die Habilitation (2023) in Zürich. Im Sommersemester 2024 übernahm er eine Lehrstuhlvertretung für Neues Testament in München. Gegenwärtig arbeitet er als Postdoctoral Fellow an einem Forschungsprojekt zur Krisenrhetorik in apokalyptischen Texten an der Uni‐ versität Bonn. Er hat zudem Lehraufträge an den Universitäten in Würzburg sowie in Zürich. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 120 Ruben A. Bühner Buchreport Christine Jacobi Lena Nogossek-Raithel Dis/ ability in Mark. Representations of Body and Healing in the Gospel Narrative Berlin/ Boston: De Gruyter, 2023 (Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft 263) XIV+326-S. ISBN 9783111180861 Das vorzustellende Buch ist die überarbeitete Fassung der Dissertation von Lena Nogossek-Raithel, die im Wintersemester 2021/ 22 von der Humboldt- Universität angenommen wurde. Nogossek-Raithel untersucht darin die Funk‐ tion von Körperdarstellungen und Heilungserzählungen im Markusevangelium im Rahmen des hermeneutischen Modells der Dis/ ability Studies. Ein Schwer‐ Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0009 punkt liegt auf der Frage, wie die Heilungserzählungen zur Charakterisierung der Gestalt Jesu beitragen. Die Verfasserin entwickelt die interessante These, dass nicht nur die Geheilten, sondern auch Jesus selbst als „dis/ abled protago‐ nist“ aufzufassen und das MkEv insgesamt als „gospel of dis/ ability“ (S. 211) zu verstehen sei. Die Dis/ ability Studies befassen sich seit den 1970er Jahren mit der Kon‐ struktion und Diskursivität von Körpern und Devianz. Die Disziplin ist aus politischen Bewegungen im angelsächsischen Raum hervorgegangen und be‐ trachtet Körperbilder als historisch, kulturell und sozial geprägte Phänomene. Dis/ ability Studies analysieren körperliche Devianz als Produkt symbolischer Systeme und gesellschaftlicher Diskurse, die vor dem Hintergrund wechselnder normativer Körperbilder entworfen werden und kritisch zu reflektieren sind, statt als vorgegebene Eigenschaft eines Individuums verstanden zu werden. In den Bibelwissenschaften werden Ansätze und Einsichten der Dis/ ability Studies seit etwa 20 Jahren rezipiert, gleichwohl gibt es bisher nur erste über‐ blicksartige oder Einzelaspekte erfassende Untersuchungen neutestamentlicher Texte in diesem Forschungsfeld (vgl. S. 5-9). Nach wie vor stehen ihnen überholte und teilweise diskriminierende Auffassungen von Körperbildern in der älteren Exegese gegenüber. Umfassende Analysen ganzer neutestamentli‐ cher Schriften, die die Einsichten der Dis/ ability Studies auch mit anderen hermeneutischen Zugängen vermitteln, fehlen jedoch. Die vorliegende Arbeit kann diese Forschungslücke mit Blick auf das MkEv schließen. Sie trägt entscheidende neue Einsichten zur Markusforschung bei und er‐ schließt darüber hinaus auch die Dis/ ability Studies weiterführende Erkennt‐ nisse: So werden im MkEv nicht nur Protagonisten mit körperlichen Abwei‐ chungen dargestellt, sondern auch deren Transformation zu einem im Text positiv bewerteten körperlichen Zustand (S. 9). Dieser Prozess kann geradezu als Definition von „Heilung“ im MkEv bezeichnet werden. Auch die Gestalt des mk Jesus kommt in diesem Zusammenhang und unter der Hermeneutik der Dis/ ability Studies auf eine neue Weise in den Blick. Jesus wird als eine körperlich aktive Figur beschrieben, deren Fähigkeit in ihrer transformierenden Kraft liegt. Die Heilungsaktivität, die Jesus in den einzelnen Erzählungen ausübt, korrespondiert dabei jeweils mit den geschilderten Krankheiten und Beeinträchtigungen. Auf die Einführung folgen sieben Hauptkapitel, in denen die Verfasserin zunächst die mk Heilungssummarien und anschließend die Einzelheilungen in Mk 1-10 unter dem Zugang des narrative und literary criticism untersucht. Jedes Kapitel beginnt mit einer Einführung in die jeweilige Heilungserzählung, widmet sich anschließend der Darstellung der je vorliegenden „Dis/ ability“ Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0009 122 Christine Jacobi sowie des Heilungsvorgangs und kommt abschließend zu einer Interpretation. Die gleichbleibende Vorgehensweise ermöglicht eine gewisse Vergleichbarkeit der verschiedenen Textpassagen. Wechselnde spezifische Schwerpunkte in den Heilungserzählungen werden darüber hinaus in exkursartigen Abschnitten untersucht. Im Folgenden sollen einige zentrale Aspekte zusammengefasst werden. Kapitel 2: „The Markan Summaric Accounts as Showcases for Markan Dis/ ability“ Die mk Heilungssummarien bündeln zentrale und allgemeine Aspekte der Heilungen Jesu. Die zusammenfassend dargestellten Krankheiten und Beein‐ trächtigungen werden als körperliche Schwäche und Abhängigkeit beschrieben. Ein gemeinsames Merkmal der meisten Kranken ist z. B. ihre eingeschränkte Mobilität, sie werden oft von anderen zu Jesus gebracht. Verwendete Begriffe wie „kakōs echontes arrōstoi“ und „asthenountes“ lassen den generalisierenden, allgemein gehaltenen Charakter der Darstellung erkennen. Die Heilung erfolgt durch physischen Kontakt mit Jesus und durch aktiven Glauben der Menschen (vgl. 5,21-24 und 35-43; 6,5). Damit wird ein zentrales Motiv der mk Heilungs‐ erzählungen aufgerufen, die „embodied Pistis“. Dem entspricht auf Seiten der Jesusfigur die enge Verbindung zwischen Jesu Heilungsfähigkeit und seiner Verkündigung. Jesus erscheint als Träger einer Macht, die er auch an seine Jünger weitergibt. Die Summarien lassen außerdem Jesu zunehmende Bekannt‐ heit und Öffentlichkeit seines Wirkens hervortreten - die Kranken kommen aus den unterschiedlichsten Regionen zu Jesus, während dieser selbst Rückzug und Geheimhaltung sucht. Kapitel 3: „Mark-1: Jesus in a Dis/ abled World“ Das dritte Kapitel befasst sich mit der Austreibung eines unreinen Geistes, einer Fieberheilung und der Heilung eines Aussätzigen (1,21-28.29-31 und 40- 45). In die Analyse der Austreibung eines unreinen Geistes ist ein Abschnitt über Vorstellungen von Dämonen und widergöttlichen Mächten im größeren kulturellen und religiösen Kontext eingefügt (vgl. entsprechende frühjüdische Traditionen und Texte, S. 57-64). Die besprochenen Parallelen bieten wichtige Einblicke in die Welt antiker Dämonologie und Exorzismen und in frühjüdische Konzeptionen einer dualistischen Sphäre des Heiligen und Unreinen. Im Hinter‐ grund der mk Exorzismen werden auf diese Weise die zeitbedingten Konstrukte abweichender Körperlichkeit erkennbar: Die widergöttlichen Mächte wirken so Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0009 Buchreport 123 auf die Besessenen ein, dass sie sie einschränken, „verhärten“, lähmen oder starr machen, zu sozial abweichenden und selbstzerstörerischen Verhalten führen („dis/ abling effects“, S. 54) und letztlich auch ihre soziale Isolation verursachen. Die verwendete Terminologie bei der Austreibung (exerchomai, ekballō, pemptō, apostellō) weist darauf hin, dass - obwohl Körper und Geist nicht getrennt aufgefasst werden - insbesondere der Körper der Besessenen als Kampfplatz zwischen der Herrschaft Gottes und der des Satans gedeutet wird. Nicht nur der Körper insgesamt, sondern auch einzelne Körperteile bzw. Organe können nach Nogossek-Raithel in den Heilungserzählungen akzentuiert werden. So stellt die Heilung des Lepra-Kranken in 1,40-45 die Bedeutung der Haut als kommunikatives Organ des Körpers in den Mittelpunkt. Die Haut symbolisiert die Schnittstelle zwischen Individuum und Gemeinschaft, zwischen dem Heiligen und dem Profanen. Kapitel 4: „Mark-2: 1-3: 6: A Plot in Motion” Die Heilung des Gelähmten und die Heilung des Mannes mit der „verdorrten“ Hand werden in Kapitel 4 behandelt. Beide Heilungen sind mit den Themen der Vollmacht zur Sündenvergebung und der Sabbatobservanz dergestalt verwoben, dass sie Jesu provokante Haltung jeweils legitimieren. Im ersten Fall heilt Jesus durch seine Aufforderung an den Gelähmten: egeire. Der Begriff egeirō (aufstehen) ist zunächst im eigentlichen Sinne zu verstehen, erhält dann aber auch die eschatologische Konnotation des Auferstehens. Die verdorrte Hand des Mannes in Mk 3 wird mit dem griechischen Begriff xērainō beschrieben, der normalerweise das Austrocknen von Pflanzen bezeichnet, aber hier auf den körperlichen Zustand des Mannes angewendet wird. Dies lässt auf eine chronische Krankheit schließen, die einen Teil des Körpers unbeweglich macht. Der physisch unbeweglichen Hand des Mannes entsprechen die geistig verhärteten Herzen der anwesenden Schriftgelehrten. Sie repräsentieren eine eigene Form von Unbeweglichkeit, die im Gegensatz zu der Heilung der verdorrten Hand nicht geheilt wird. Auch in Mk 3 begegnet eine auffällige Wortwahl: sōzein und apokathistēmi. Wie in Mk 2 verweisen diese Begriffe subtil über die physische Heilung im vordergründigen Sinne hinaus auf eine besondere, eschatologische Qualität der Heilungen Jesu, die sein Wirken am Sabbat zusätzlich rechtfertigen. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0009 124 Christine Jacobi Kapitel 5: „Mark-5: The Physical Protagonist between Pathologization and Pistis” Kapitel 5 befasst sich mit dem Exorzismus in Mk 5,1-20 sowie mit den ineinander verwobenen Heilungen der Jaïrustochter und der blutflüssigen Frau (5,21-43). Die letztgenannten Protagonistinnen weisen schwerwiegende Leiden auf, die als unheilbar, potenziell sogar tödlich gelten. Auch diese Heilungserzählungen besitzen auf mehreren Ebenen Bedeutung, wie die Verfasserin herausarbeitet. Das Lexem sōzein begegnet in Mk 5,34 im Zusammenhang mit der pistis der blutflüssigen Frau: „Dein Glaube hat dich gerettet“. Ebenso zeichnet sich auch Jaïrus, der Vater des für tot gehaltenen Mädchens, durch pistis aus. Beide Heilungen führen zu einer vollständigen Wiederherstellung, d. h. zu einer Funktionalität im Sinne der vorausgesetzten normativen Körperlichkeit. Sie umfassen darüber hinaus aber auch alle anderen Aspekte des menschlichen Seins - die emotionale, soziale und geistige Dimension. Vor allem aber sind sie offen für ein Verständnis, wonach die Heilung der Beginn neuen Lebens in einem eschatologischen Sinne ist. Die blutflüssige Frau, die lange Zeit unter ihrer Krankheit und der daraus resultierenden sozialen Isolation gelitten hat, erlebt ihre Reintegration in die Gemeinschaft als neues Leben, und noch mehr wird diese Ebene bei der Tochter des Jaïrus erkennbar, die von einem Zustand des Todes zu einem aktiven Dasein findet. Kapitel 6: „Mark-7: 24-37: Transitional Dis/ ability“ In diesem Kapitel behandelt Nogossek-Raithel die Austreibung eines Dämons aus der Tochter einer Syrophönizierin (7,24-30) und die Heilung eines Taub‐ stummen (7,31-37) durch Berührung und Speichel. Die Besonderheit des Exor‐ zismus liegt darin, dass er aus der Distanz heraus erfolgt. Die vorausgehende Diskussion zwischen Jesus und der Syrophönizierin legt den Schwerpunkt dieser Exorzismuserzählung auf die Reichweite und Inklusivität der Heilungs‐ tätigkeit Jesu, die sich nun auch auf Nichtjuden ausdehnt. Wie bereits in Kap. 3 erarbeitet, liegt dem Wirken der Dämonen gemäß antiker Vorstellung ein Konzept räumlich-physischer Okkupation und Inbesitznahme zugrunde. Wenn nun Mk 7 von einem Exorzismus an einer Nichtjüdin erzählt, so seien damit nach Nogossek-Raithel die Themen der Grenzziehung zwischen Juden und Nichtjuden sowie der Teilhabe und Integration in das mit Jesus gekommene Heilsgeschehen verhandelt (S.-195). Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0009 Buchreport 125 Kapitel 7: „Mark 8-10: Beyond Dis/ ability“ In Mk 8-10 begegnen die letzten Heilungserzählungen, bevor sich Markus dem Wirken Jesu in Jerusalem und seiner Verhaftung, Verurteilung und Kreuzigung zuwendet. Sie haben deshalb summierenden und abschließenden Charakter, es werden noch einmal zentrale Themen gebündelt (etwa die ganzheitliche Hei‐ lung mit eschatologischer Qualität). Die Beschreibungen der Kranken schildern verschiedene Grade sensorischer Beeinträchtigungen, wie die Sehbehinderung des Blinden in Bethsaida und die Auswirkungen des stummen Dämons auf den Jungen. Diese unterschiedlichen Grade verdeutlichen, dass Beeinträchtigungen nicht einfach in Kategorien wie „gesund“ oder „krank“ eingeordnet werden können, sondern ein Spektrum von Zuständen umfassen. Auch die vollzogenen Heilungen durchbrechen vorgegebene Erwartungen und stellen traditionelle Vorstellungen von Norm und Abweichung in Frage. Indem sie die Komplexität und Vielfalt von Beeinträchtigungen und Heilungen illustrieren, überschreiten die Heilungserzählungen binäre Konzepte von Krankheit und Gesundheit. Das Buch wird durch eine Ergebnisbündelung, Ertragssicherung und einen Ausblick abgerundet (vgl. Kapitel-8: „Conclusion: This Is (Not) the End“). Als wesentliche Einsicht der Arbeit kann erstens genannt werden, dass die mk Darbietung der Heilungen Jesu durch verschiedene, teils gegenläufige Bewegungen geprägt ist: Sind die beeinträchtigten Menschen zunächst aus dem öffentlichen Raum verdrängt und isoliert, so holt Jesu Heilen, etwa durch Berührung, sie wieder ins Zentrum des gesellschaftlichen Lebens und befähigt sie zu eigener Bewegung. Den dämonischen Wirkbereich in den Körpern der Besessenen zwingt Jesu Aktivität dagegen zum Rückzug, er verliert an Raum. Die starr machende, verhärtende, widergöttliche Macht muss der Bewegung und Leben fördernden göttlichen Macht weichen. Zweitens ist die Darstellung des heilenden Jesus vieldimensional. Einerseits offenbaren die Heilungen Jesu göttliche, machtvolle Identität, andererseits erweist sich sein Körper, das Instrument der Heilungen, selbst als verletzlich. Wie die blutflüssige Frau in Mk 5, deren Blutfluss unkontrolliert von ihrem Körper ausgeht, verlässt auch Jesu heilende Dynamis seinen Körper in einer von ihm nicht intendierten Weise (5,30). Wie das Leben der Kranken, die zu ihm drängen, ist auch seine Existenz vom Tod bedroht (vgl. 3,6). Und auch er wird, wie die Besessenen, isoliert, an den Rand gedrängt und dem Vorwurf ausgesetzt, er sei „von Sinnen“ und „habe den Beelzebul“ (3,21f.). Dem entspricht andererseits, dass das neue Leben der Geheilten bereits Aspekte der eschatologischen Heilsfülle vorwegnimmt, ebenso wie Jesus bereits in seiner Heiltätigkeit das kommende Reich Gottes repräsentiert. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0009 126 Christine Jacobi Neben diesen exegetischen und narratologischen Einsichten in die Tiefen‐ strukturen der mk Heilungserzählungen bietet die Arbeit ausführliche Ab‐ schnitte zu medizinhistorischen, religiösen und kulturellen Hintergründen der dargestellten Krankheitsbilder und Heilungspraktiken. Dazu werden eine Fülle von jüdischen und griechisch-römischen Primärtexten herangezogen, die die mk Krankheitsschilderungen einzuordnen helfen. Nicht zuletzt zeigt das Buch, wie die mk Heilungserzählungen soziale Patho‐ logisierungen kritisieren und herausfordern. Jesu Heilungen richten sich darauf, Stigmatisierung und Ausgrenzung zu überwinden. Die Monographie leistet damit zugleich einen zentralen Beitrag zu aktuellen Diskursen über Krankheit und Beeinträchtigung und begegnet Vorurteilen und Diskriminierungen, die leider in Teilen der Bibelwissenschaften noch immer anzutreffen sind. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0009 Buchreport 127 Herausgegeben von Jan Heilmann Susanne Luther Michael Sommer in Verbindung mit Stefan Alkier Kristina Dronsch Ute E. Eisen Werner Kahl David Mofitt Tobias Nicklas Heidrun Mader Hanna Roose Angela Standhartinger Christian Strecker Manuel Vogel Anschrift der Redaktion Susanne Luther Georg-August-Universität Theologische Fakultät Platz der Göttinger Sieben 2 37073 Göttingen Manuskripte Zuschriften, Beiträge und Rezensionsexemplare werden an die Adresse der Redaktion erbeten. Eine Verpflichtung zur Besprechung unverlangt eingesandter Bücher besteht nicht. ZNT Heft 54 · 27. Jahrgang · 2024 Impressum Bezugsbedingungen Die ZNT erscheint halbjährlich (April und Oktober) Einzelheft: € 35,zzgl. Versandkosten Abonnement jährlich (print): € 55,- Abonnement jährlich (print & online): € 69,- Abonnement (e-only): € 58,- Bestellungen nimmt Ihre Buchhandlung oder der Verlag entgegen: Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 D-72015 Tübingen Telefon: +49(0) 70 71 97 97 0 eMail: info@narr.de Internet: www.narr.de Anzeigen Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Telefon: +49(0) 70 71 97 97 10 © 2024 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG ISBN 978-3-381-12391-9 ISSN 1435-2249 Die in der Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieser Zeitschrift darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Fotokopie, Mikrofilm oder andere Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsanlagen, verwendbare Sprache übertragen werden. BUCHTIPP Das Lehrbuch erschließt mit seinem innovativen Ansatz erstmals die Erkenntnisse interdisziplinärer Forschung zu Gedächtnis und Erinnerung für die Interpretation des Neuen Testaments. Jenseits der Frage wie es gewesen ist, werden die Texte des Neuen Testaments nicht als historische Berichte, Geschichtsschreibung oder Augenzeugenerinnerung, sondern als Zeugnisse frühchristlicher Identitätsbildung gelesen, die sich sozialen Aushandlungsprozessen verdanken. Neben einer grundlegenden Einführung in die Grundbegriffe kulturwissenschaftlicher Gedächtnistheorie, die auch jenseits der Arbeit mit der Heiligen Schrift stimulierend ist, bietet es exemplarische Lektüren neutestamentlicher Texte als Identitätstexte, an die Leser: innen mit ihren eigenen Erfahrungen anknüpfen können, und einen Ausblick in das Potential kulturwissenschaftlicher Exegese. Sandra Huebenthal Gedächtnistheorie und Neues Testament Eine methodisch-hermeneutische Einführung 1. Au age 2022, 372 Seiten €[D] 29,00 ISBN 978-3-8252-5904-4 eISBN 978-3-8385-5904-9 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de 54 www.narr.digital Eine Hermeneutik, die neutestamentliche Texte unter der Perspektive der Dis/ ability Studies liest, hinterfragt kritisch die darin vermittelten Wertungen und Konnotationen von Behinderung und fragt nach den Implikationen für betroffene Leserinnen und Leser: Was bedeutet es, wenn Krankheit auf sündiges Verhalten zurückgeführt wird? Aufgrund welcher Kriterien, Ideologien oder Diskurse werden in einer Gesellschaft die Kategorien ‚behindert‘ und ‚normal‘ konstruiert und werden Menschen damals und heute der einen oder anderen Kategorie zugerechnet? Wie sind die neutestamentlichen Texte für heutige Leserinnen und Leser aus der Perspektive der Dis/ ability Studies zu interpretieren? Mit Beiträgen von Ruben A. Bühner, Kristina Dronsch, Marie Hecke, Christine Jacobi, Susanne Luther, Uta Poplutz, Markus Schiefer Ferrari, Angela Standhartinger und Dierk Starnitzke. DIS/ ABILIT Y ZNT Heft 54 · 27. Jahrgang · 2024 ZNT Zeitschrift für Neues Testament Das Neue Testament in Universität, Kirche, Schule und Gesellschaft Jan Heilmann, Susanne Luther, Michael Sommer (Hrsg.) 54 DIS/ ABILIT Y ISBN 978-3-381-12391-9
