ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
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1998
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Dronsch Strecker VogelKriterien für echte Jesusworte?
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1998
Klaus Berger
znt110052
Klaus Berger Kriterien für echte Jesusworte? Die Frage nach der Echtheit von Jesusworten ist neu zu diskutieren, weil ständig neue Kriterien genannt werden, die Hypothesen über Echtheit oder Unechtheit stützen sollen. Ich selbst hatte wiederholt angemahnt, die Frage wegen Unentscheidbarkeit vorerst auf sich beruhen zu lassen. Mit dieser »radikalen« Lösung ist die Zunft erkennbar unzufrieden, und so werden Rettungsversuche angeboten, um die jahrzehntelange Mühe des Sortierens und Unterscheidens im Grunde zu rehabilitieren, zumindest in der Haupt- K sache. Man kann sich denken, daß Fachwissenschaftler, die ihr Leben lang nichts anderes getan haben als Echtheitsfragen zu diskutieren, hier nach jedem Strohhalm greifen werden. Zumindest bietet es sich an, zunächst einen Kompromiß anzustreben, für den man dann aber eben doch Kriterien nennen müßte. - Aus meiner Sicht sind diese Bemühungen ich lasse mich gerne eines möglichen besseren belehren nicht erfolgversprechend. Zunächst zur Begründung des Verzichts darauf, nach Echtheit oder Unechtheit überhaupt zu fragen: Kein Kriterium der bisherigen Diskussion hat sich- und sei es auch nur zum Zweck der Hypothesenbildung als tragfähig erwiesen. Insbesondere lagen der älteren Fragestellung häufig Zirkelschlüsse zugrunde. Die mutmaßlichen Kriterien sind kurz zu nennen und zu besprechen: a) Gemeindebildungen aufgrund verschobener Interessenlage. Gemeint war: Jesus habe sich zum Beispiel mit Fragen von Kindern und Ehescheidung (Stoff von Mk 10,1-15) nicht beschäftigt, da dieses bei Wanderradikalen kein Problem gewesen sei. Dagegen: Wer sagt eigentlich, daß Jesus monothematisch nur die Rede vom Reiche Gottes auf höchster theologischer Ebene im Blick gehabt habe und nicht auch die Konsequenzen daraus für das alltägliche Leben? b) Parusieverzögerung. Gemeint war; Worte, die mit einer längeren noch ausstehenden Dauer dieses Äons rechnen, passen 52 nicht in den Rahmen der Naherwartung, die für Jesus typisch ist. Beispiel: Im Gleichnis von den zehn Jungfrauen wird mit einem Ausbleiben des Bräutigams gerechnet (Mt 25,5). Dagegen: Parusieverzögerung und Naherwartung sind zwei Seiten derselben Medaille. Die gründlichen Arbeiten von K. Erlemann 1 haben nicht nur dieses erbracht, sondern auch gezeigt, daß Naherwartung im frühen Christentum nicht den Charakter einer eigenständigen Dogmatik hat, vielmehr funktional zu betrachten ist. c) Differenz zum Judentum. Gemeint war: Nur das ist sicher echt, was keine Parallele im Judentum hat. Dieses sogenannte Differenzkriterium hat eine bedeutende Geschichte gehabt. 2 Dagegen: Der Ertrag der religionsgeschichtlichen Erforschung des Neuen Testaments ist: Alles und jedes hat eine Analogie im Judentum und in der hellenistischen Umwelt, und alles und jedes hat auch seinen eigenen Charakter. Weil es hier nur um ein mehr oder weniger geht, ist das Kriterium unbrauchbar. Für viele spielten hier massive theologisch-systematische Grundentscheidungen wie der Gegensatz von Gesetz und Evangelium eine bedauerlich große Rolle. d) Seltene Bezeugung. Gemeint war: Wenn z.B. ein Wort so selten bezeugt ist wie Mt 19,12 (Eunuchen-Wort), dann mag es wohl aus einer Sonderüberlieferung kommen, entspricht aber keinem Grundzug der Verkündigung Jesu. Dagegen: Häufige Rezeption kann immer auch aus späteren Interessen erklärt werden, seltene Rezeption aus späteren Hindermssen. e) Stimmigkeit der Jesusüberlieferung in sich selbst (Widerspruchsprinzip). Gemeint war: Man müsse von Grundlinien der Verkündigung Jesu ausgehen, in die etwas einzuordnen sei. Dagegen: Die Gefahr von Zirkelschlüssen ist hier evident. Man kann das gut daran verfolgen, wie trotz nur einmaliger Bezeugung das Gleichnis vom verlorenen Sohn zum Evangelium ZNT 1 (1998) schlechthin erklärt wird, die Gerichtsaussagen Jesu dagegen für unecht erklärt werden. 3 Anstelle solcher Zirkelschlüsse ist m. E. das Modell eines offenen Mosaiks das vorerst methodisch angemessenste. f) Ereignisse, die nicht im Rahmen der Naturgesetze erklärbar seien, hält man für unhistorisch. 4 Konsequenzen aus der Ablehnung der Echtheitsfragen Die Konsequenz aus diesem Ansatz besteht nicht darin, alles für echt zu halten. Sie besteht auch nicht darin, »die historische Frage« überhaupt auszuschalten. Die historische Frage wird nicht ausgeblendet, sondern auf mehreren Ebenen beantwortet. So kann man den Versuch unternehmen, die Aktualität bestimmter Traditionen in verschiedenen Phasen der Geschichte des Urchristentums zu bestimmen. 5 Gewiß: Man darf sich darüber Gedanken machen, ob vielleicht nicht alle Worte J esu, die die Evangelien bieten, echt in dem Sinne sind, daß Jesus sie so und nicht anders einmal gesagt hat. Zumindest die apokryphen Evangelien lassen da Zweifel aufkommen. Allerdings sind die meisten apokryphen Evangelien von vornherein als Gespräche Jesu mit seinen Jüngern nach der Auferstehung auf dem Ölberg formuliert. Nur wenige Evangelien sind offenbar in der Art der vier vorhandenen verfaßt worden, dazu gehören P. Egerton und P. Oxy 864. Diese Beschränkung läßt aufmerken. So bleiben außer diesen beiden Sprüchesammlungen wie ThomasEv, PhilippusEv und die Agrapha als Stoffe, deren Echtheit hier problematisch ist. Ich sehe es kommen, daß man am Ende doch die schlichte historische Abfassungszeit als einziges mögliches Kriterium wird gelten lassen können. Von hier aus gesehen ergibt sich vielleicht für die Beurteilung apokrypher Materialien eine Chance: Historisch interessant für die Frage nach Jesus sind sie, sofern sich von Fall zu Fall Brücken zu den J esusüberlieferungen des 1. Jh. Erkennen und beweisen lassen. Im ThomasEv ist das z.B. sehr oft der Fall. ZNT 1 (1998) Neu diskutierte »Kriterien« Das Kriterium der Plausibilität hatte ich selbst als das einzige verbleibende zuerst zur Sprache gebracht. 6 Gemeint war: Wenn bei Bestreitung der Echtheit der Gesamtverlauf der Geschichte des Urchristentums unverständlich wird, sollte eine solche Bestreitung unterbleiben. Es ist aber ganz klar: Zu negativem Ende, d.h. zur Bestreitung einer fraglichen Echtheit, ist dieses Kriterium nicht verwendbar. Begründung: Man kann wohl feststellen, ob eine gegebene Überlieferung in das (meist traditionelle) Bild von der Geschichte des Urchristentums, das sich die Forschung gemacht hat, paßt. Aber wenn die Überlieferung da nicht hineinpaßt, was dann? Es ist doch wohl nicht möglich, sie für unecht zu erklären, wenn sie sich unserem Bild nicht einfügen will. Neuerdings wird nun dieses Kriterium von D. Winter und G. Theißen aufgegriffen und erweitert. Es lautet: historische Kontextplausibilität. Gemeint ist: »Was aus dem damaligen Judentum nicht ,abgeleitet< werden kann, ist wahrscheinlich nicht historisch. Anders ausgedrückt: Jesus kann nur das gesagt und getan haben, was ein jüdischer Charismatiker im 1. Jh. hätte sagen oder tun können«. Auch Kritik am Judentum müsse kontextuell nachvollziehbar sein.7 Dagegen: Dieses Kriterium scheitert bei jeder denkbaren Anwendung. Begründungen: a. Das »damalige Judentum« ist in so vielfältiger Hinsicht offen gegenüber seiner Umwelt und in sich so inhomogen, daß es als historisches Ausschlußkriterium nicht verwendbar ist. Jedenfalls im Blick auf frühchristliche Überlieferungen gilt: Alles, was in der »Weisheit« der hellenistischen Antike und in den Völkern rings um das Volk der Juden möglich war, konnte auch von Israel rezipiert werden. Ich kann nicht ein Wort wie Mk 7,15 deshalb für unjesuanisch erklären, weil die nächste Analogie bei Plato liegt. Seit Jahrhunderten wurde Plato von Juden rezipiert. Selbst wenn Jesus den Gedanken also von Plato hätte (was nicht auszuschließen ist), was spricht denn dagegen, daß er so geredet haben kann? Und wenn Lukas 16,19-31 seine nächste Entsprechung im 53 ägyptischen Setne-Roman hat, 8 warum soll nicht Jesus diese Geschichte auch und im Rahmen seiner Botschaft leicht modifiziert erzählt haben? 6. Die Eingrenzung auf »jüdische Charismatiker« ist unverständlich. Unbestritten hat Jesus Züge jüdischer Charismatiker, jedoch ist er gewiß nicht nur das gewesen. Zum Beispiel Schriftgelehrte und Philosophen sind gleichfalls zum Vergleich heranzuziehen. c. Wieso soll »kontextuelle Nachvollziehbarkeit« denn nur für Jesus und die Frage nach der Echtheit seiner Worte gelten, nicht aber für die frühe Gemeinde? Hier liegt m. E. ein unheilbarer Bruch in der Argumentation vor. d. Das Postulat der »kontextuellen Nachvollziehbarkeit« bezieht sich vermutlich auf steilere dogmatische Aussagen wie Gottheit, Jesu etc. Darf man wirklich frühchristliche Überlieferungen in jüdische und unjüdische aufteilen? Es gibt keine unjüdische; im Zweifelsfalle wird stets etwas jüdisch durch jüdische oder judenchristliche Rezeption. Und zugleich ist jede Aussage auch christlich, d. h. sie ist immer auch »neu«, »originell« und im Rahmen des Judentums irgendwie ohne Vergleichbares. Immer gilt beides. Manchmal kommt es darauf an, wieweit man den Vergleich strapaziert, das Vergleichbare oder das Abweichende betont. Kontextuelle Individualität meint nach G. Theißen und A. Merz: Unterscheidbarkeit in einem gemeinsamen Kontext. Jesus werde »im Judentum profiliert. Seine Individualität ist . . . kontextgebundene Besonderheit«. 9 Laut Beispiel soll sich Jesus z.B. (am Ende doch offenbar wohltuend) vom Reich-Gottes-Verständnis einer bestimmten jüdischen Schrift unterscheiden. Gehen wir einmal davon aus, daß diese Beobachtungen richtig sind. Was folgt daraus für die Echtheit der Jesus-Überlieferung in diesem Punkt? Doch wohl gar nichts, und zwar aus folgenden Gründen: a. Es gibt andere Schriften des zeitgenössischen Judentums, deren Reich-Gottes-Verständnis sehr wohl mit dem Jesu übereinstimmt oder ihm nahekommt. 6. Bei allen Fragen hinsichtlich des Judentums gilt, daß Jesu Jünger aus »demselben Holz geschnitzt waren« wie ihr Meister. Warum muß denn eine Profilierung wenn es denn eine ist 54 Klaus Berger Klaus Berger, Jahrgang 1940, nach Promotion und Habilitation 1970 Universitätsdozent in Leiden/ Holland. Seit 1973 Professor für Neues Testament an der Universität Heidelberg. Zahlreiche Veröffentlichungen. immer von Jesus ausgehen, warum nicht von den Jüngern? Hier liegt bei Theißen/ Merz möglicherweise ein implizites Schema zugrunde, nach welchem Jesus das Genie, die Jünger die Epigonen waren. Diese Annahme und Ähnliches wären nicht zu begründen. Wenn man also sagt: »Je kontextueller, desto echter«, bezogen auf das palästinische Judentum der Zeit J esu bzw. des 1. Jh. n. Chr., so finde ich darin folgende Schwierigkeiten: Das palästinische Judentum ist nicht abzuriegeln vom Rest der (jüdischen) Welt. Auch und gerade die »palästinischen« Texte von Qumran zeigen ein hohes Maß von Hellenisierung. Das Denkmodell »mehr oder weniger (palästinisch-)jüdisch« ist fragwürdig. Alles J esuanische ist sowohl jüdisch als auch ganz neu. Unsere Kenntnis des Judentums (z.B. in Palästina) ist sehr begrenzt. Man darf nur vorsichtig fragen: Was für Quellen hätten wir überhaupt, gäbe es die Funde von Qumran nicht? Der Hinweis auf die Sammlung von Strack/ Billerbeck mag zur Genüge zeigen, wie sehr wir vom jeweiligen Quellenbestand abhängig sind, der sich im Falle der Qumrantexte ganz zufällig erweitert hat. Und auch bezüglich dieser Texte ist man uneins: Geht es nur um Schriften einer Sekte, die alles andere als repräsentativ sind? Die Mehrheit der deutschen Forscher denkt wohl noch immer an eine Sekte. ZNT 1 (1998) Das zusätzliche neue Kriterium der Wirkungsplausibilität soll meinen: Einmal: »Was in von einander unabhängigen Quellen mehrfach bezeugt ist, kann eine Wirkung des historischen Jesus sein« (aaO., 118). So gesagt ist das vorsichtig und richtig. Aber daraus einen »Querschnittsbeweis« zu machen, geht wieder über das Beweisbare hinaus. Ein Wort, ein Tag, ein Motiv muß keineswegs deswegen »historisch« sein, weil viele es bezeugen. Es kann sich doch um eine frühe Überlieferung handeln, die für viele attraktiv war. D. Zeller (mdl., 13. 6. 97) macht darauf aufmerksam, daß die liberale Forschung die Totenerweckungen Jesu trotz Mehrfachbezeugung aus anderen Gründen ablehnt. Auch hier gilt: Ein Ausschlußkriterium ist hier ebensowenig zu gewinnen wie ein Beweis. Es bleibt bei dem »kann«, das aber eben generell gilt und eine Hypothesenbildung nicht erleichtert. Zum anderen: » Wirkungsplausible Tendenzwidrigkeit« soll meinen: Mehrfachbezeugtes läßt sich »besonders dann als Auswirkung des historischen Jesus in den Quellen plausibel machen«, wenn es »nicht aus bekannten Tendenzen des Urchristentums erklären« läßt oder »sogar ausgesprochen tendenzspröde« sei. 10 Als Beispiele werden genannt: »die Taufe Jesu durch Johannes, sein Konflikt mit der Familie, der Teufelsbundvorwurf, Verrat und Flucht der Jünger, die Kreuzigung«. Dagegen: a. Die angeführten Beispiele sind wenn nicht unglücklich so doch zumindest leicht in ihrer Argumentationskraft in Frage zu stellen. Denn entweder handelt es sich um Dinge, die historisch einfach feststanden wie will man über Jesu Martyrium berichten, ohne die Kreuzigung zu erwähnen? -, oder aber, die nur für uns ein »Problem« sind, nicht aber für die frühen Christen. Oft hat die Exegese aufgrund von Prämissen des 19. Jh. angebliche Rivalitäten und Probleme an die Texte herangetragen, die ihnen selbst fremd sind. 11 Beispiel: Mk 9,1 mit der Ansage des Reiches Gottes zu Lebzeiten gilt für fast alle modernen Exegeten als Ausweis des Irrtums J esu. Hätte nach dieser Deutung der Stelle dieser Text nicht auch schon für Markus ein Problem sein müssen? Offenbar war er es nicht; erst aufgrund der Exegese des 19. Jh. wurde aus der Stelle ein Problem. Sollte man daher nicht zuerst fragen, ob z.B. unser ZNT 1 (1998) Verständnis von Reich Gottes der Textstelle angemessen ist? Selbst wenn es anders wäre, gilt: 6. Daß eine Überlieferung für bestimmte Menschen (es sind doch immer nur bestimmte! ) »unangenehm ist«, besagt nichts über deren Alter. Beispiel: Daß Jesus mit Salome ein Bett besteigt (ThomasEv 61) und Maria Magdalena häufig auf den Mund küßt (Evangelium der Maria), mußte für asketische Christen möglicherweise anstößig sein (oder auch nicht), jedenfalls aber geht in keinem Falle aus diesen Überlieferungen hervor, daß die Sache wohl »echt« war. Und wie ist es mit der Tradition über Judas? Sind die Exegeten im Recht, die sagen, das Ganze sei eine Erfindung, um die » Juden« (Judas als der Jude) zu belasten und die Römer zu entlasten - oder ist seine Figur als Abschreckung für spätere Jünger und Kontrast zu Jesus geradezu willkommen - oder ist der ganze Kranz von Erzählungen der Versuch, mit einer äußerst unangenehmen Tatsache fertig zu werden? Ich halte alle drei Lösungen für möglich und sehe das Kriterium »echt« weil »potentiell unangenehm« ohne wirkliche Chance. Wirkung Daß etwas wahrscheinlich »echt« sei, wenn es als »Wirkung Jesu« erklärbar sei, liegt als Argument einigen der oben genannten Kriterien zugrunde. Auch diese Auskunft reicht nicht für ein Kriterium. Wirkung Jesu sind außer allen vier Evangelien auch alle übrigen Phänomene des Christentums. In der Geschichte pflegt es so zu sein, daß nichts monokausal Wirkung von etwas anderem ist. Darin liegt stets das Problem. Rückläufige Prozesse nach Ostern Hat man nicht seit alters in der Exegese auch mit den nachösterlichen Phänomenen der Rejudaisierung und z.B. Re-Apokalyptisierung gerechnet, und wie steht es damit? Hier werden nun die Gefahren aus Zirkelschlüssen und die methodischen Schwierigkeiten noch größer. 55 Beispiel: Einern Kollegen »gefiel« in einem Disput Mt 5,14-16 nicht, und zwar wegen der missionarischen Wirkung der »Werke«. Unter Protest meinerseits erklärte er den Text für das Resultat nachösterlicher Rejudaisierung. Der Protest hatte folgende Gründe: 1. Eine klar erkennbare konfessionelle Position war der Hintergrund für dieses Urteil über Echtheit. 2. Das Urteil machte die unbewiesene Voraussetzung, Jesus habe sich vom Judentum entfernt, und zwar merkwürdigerweise gerade in diesem Punkt, der für den reformatorischen Disput über Paulus wichtig geworden wäre. Welcher historische Anlaß für Jesus bestanden hätte, wurde nicht erkennbar. 3. Auf die erste Hypothese wird eine zweite gestapelt: Trotz aller ihrer Erfahrungen mit den Juden hätten die Jünger nach Ostern sich wieder in die Arme des Judentums fallen lassen. Auch hier wird kein möglicher Grund erkennbar. 4. Der Hintergrund für die Hypothese der Rejudaisierung scheint vielmehr ausschließlich zu sein: Wenn der große Meister, der alles Bisherige in den Schatten gestellt hat, nicht mehr da ist, fallen sein Schüler in die alten Gewohnheiten und »Sünden« zurück. Frage: Ist »das Judentum« hier so einzuordnen? Ist noch immer »das Judentum« der große Widerpart Jesu? Noch schwieriger steht es mit der Re-Apokalyptisierung. Setzt doch diese These voraus, daß Jesus frei war von »apokalyptischen Spekulationen«. Vorausgesetzt ist ein negatives Bild von Apokalyptik, von der Jesus auf jeden Fall freizuhalten wäre. Dieses Bild von Apokalyptik (Berechnung, Festlegung Gottes) ist schon in sich religionsgeschichtlich Nonsens. Erst recht ist die rein apologetische Behauptung, Jesus müsse frei davon gewesen sein, völlig willkürlich. Überhaupt keine Kriterien? Man kann nun fragen: Wenn alles in den vier Evangelien (und anderen alten Texten wie dem Thomas-Evangelium) Überlieferte »echt« sein könnte, zerfällt dann nicht jeder wissenschaftliche Zugriff auf Worte und Wirken J esu? Benötigt man nicht doch, um argumentieren und verstehen zu können, bestimmte Haupt- und Grundlinien, damit nicht Beliebiges zum Zentrum erklärt werden kann? Die Forschungsgeschichte zeigt, daß es durchaus möglich ist, den Gesamtbestand der Jesusüberlieferung sehr eng konfessionell-dogmatisch zurechtzulegen. 56 Antwort: 1. Der beste Schutz gegen eine monologische und ideologisierende Deutung der Worte Jesu ist eine religionsgeschichtliche Auslegung. Die Bibel kann nur verstanden werden als fremder, abständiger Text. Angesichts unserer begrenzten Kenntnisse taugen religionsgeschichtliche Parallelen aber nicht als Ausschlußkriterium. Beispiel: Vom »Fleisch« des Messias sprechen weder die bisher bekannten alttestamentlichen und jüdischen Quellen noch die hellenistische Umwelt. Also müssen wir sorgsam rekonstruieren, was dieser wichtige Ausdruck hat bedeuten können. 2. Das erhaltene Material läßt rein statistisch betrachtet (! ) bestimmte Haupt-Trassen erkennen, zu denen auch die Verkündigung des Reiches Gottes gehört. Aber Existenz dieser Hauptströme oder mangelnde Möglichkeit, ein Wort diesen zuzuordnen, besagt nichts über die Echtheit. Auch hier erlaubt unsere begrenzte Kenntnis nicht die Verwendung als Ausschluß- Kriterium. Beispiel: Mk 9,50f. Man kann dieses Wort kaum auch nach langen Mühen einer Hauptlinie zuordnen. Trotzdem können wir nicht über die »Echtheit« oder» Unechtheit« befinden. Theologische Torheit Ein pseudo-religiöses Sicherheitsbedürfnis steht m. E. hinter dem Bestreben, echte oder unechte Jesusworte zu scheiden. Die Kirche hat es zur Zeit der Kanonbildung wagen können, vier Evangelien anzubieten. Man hat zweifellos gewußt, daß es vier recht unterschiedliche Evangelien waren. Aber offenbar konnte man sich die historische Unsicherheit, die dieses Mosaik mit sich brachte, leisten, weil es klar war: Das, was gelten soll, wählt die Kirche in ihrer jeweiligen Verkündigung aus dem Kanon aus. Nur eine starke kirchliche Autorität konnte sich den Kanon der vier Evangelien leisten. Diese hermeneutische Vorentscheidung hielt das Mittelalter hindurch und überstand auch die Reformationszeit. Sie wurde erst mit der Aufklärung brüchig. Denn als die Autorität »der Kirche« systematisch angreifbar wurde und zerfiel, mußte man anderswo »festen Halt« finden. Man suchte ihn in ZNT 1 (1998) historischen Argumenten. Die Suche nach der »echten Jesusüberlieferung« war die Suche nach der verbindlichen Norm, die man nun nicht mehr im gegenüber der Kirche zur Schrift fand, sondern innerhalb der Schrift selbst zu finden meinte. Hermeneutisch gesehen handelte es sich aus der Sicht der Untersucher bei der Frage nach den echten J esusworten um ein höchst bedeutsames Unternehmen. Daher meint man auch heute, darauf bestehen zu müssen, und zwar nicht nur aus historischer Neugier, sondern auf der Suche nach dem Kanon der Interpretation. Historische Forschung ist in meinen Augen mit dieser Fragestellung prinzipiell überfordert. Das kirchliche Modell war aus meiner Sicht nicht total unbrauchbar. Es ließ sich wenigstens von der richtigen Einsicht leiten, daß die Schriften des Urchristentums im Schoße christlicher Gemeinden und für diese entstanden. Daher besteht jedenfalls ein bleibender (kritischer) Bezug dieser Schriften zu jeder späteren kirchlichen Gemeinschaft. Und man darf fragen: Wer sollte sie sonst in ihrer Gesamtheit auslegen als die Gruppe, für die sie einst geschrieben worden ist? Dabei hätte Exegese einen bleibenden Auftrag: die Schrift vor jeder ideologischen Vereinnahmung zu schützen. Unechtheit christologischer Hoheitsaussagen? Die klassischen Argumente gegen die Echtheit vieler Jesusworte (insbesondere imJohEv) werden aus dem allgemeineren Urteil über das Verhältnis zwischen historischem Jesus und nachösterlichem Christus gewonnen. Diese ältere liberale Konzeption besagt: Jesus hat vom Reich Gottes (und eventuell vom Menschensohn als einem anderen) gesprochen, nicht aber über sich selbst. Mit dem Glauben an Jesus seien zugleich »das Christentum« und die Kirche entstanden. So ist der Ostergraben die wichtigste Scheidemöglichkeit zwischen echten und unechten Jesusworten. Das Kriterium heißt: Christologie. Alle christologische Einsicht, insbesondere titulare Formulierungen, seien erst nachösterlich. Diese simple Theorie, die auf ein paar höchst anfechtbaren Prämissen beruht, findet noch immer gläubige Anhänger. Immer wieder spricht man auch für die synoptischen Evangelien von rück- ZNT 1 (1998) projizierten Ostererfahrungen. Dazu rechnet man eigenartigerweise bei den Synoptikern bereits alle Sohn-Gottes-Aussagen. 12 Für das JohEv beruft man sich auf die Textstellen, die sagen, daß Jesu Jünger bestimmte Sätze erst nach Ostern verstanden hätten. 13 Keine dieser Stellen besagt allerdings, daß die christologische Einsicht überhaupt erst nach Ostern gekommen sei. Undifferenziert werden Aussagen über Präexistenz als Hoheitschristologie eingestuft. Erstaunlicherweise ist bisher noch nicht versucht worden, diese These exegetisch zu verifizieren. Unser Frage heißt daher: Lassen die Texte des Neuen Testaments etwas von der zentralen Wende im Glauben der Jünger durchscheinen? Hat sich irgendwo die Erinnerung daran erhalten, daß man eben erst nach Ostern und aufgrund von Ostern zu der entscheidenden Einsicht gelangt ist? In Wirklichkeit gibt es keinen einzigen neutestamentlichen Text aus dem hervorgeht, daß die entscheidende christologische Erkenntnis den Jüngern erst nach Ostern zuteil geworden wäre. Die Grundprämisse liberaler Exegese in der Frage der Christologie hält daher dem Textbefund des Neuen Testaments nicht stand. Sie ist anders, und zwar philosophisch entstanden und zu deuten. Es ist höchste Zeit, sie kritisch zu diskutieren. Für W. Wrede war das Gebot J esu, erst nach der Auferstehung des Menschensohnes von seiner christologischen Autorität zu erzählen, das klassische Argument für seine These, der Glaube an diese christologische Würde Jesu sei zu Ostern eben erst entstanden. Diese Aussage enthält der Text in Mk 9 nun freilich keineswegs. Er besagt vielmehr das Gegenteil: Die christologische Erkenntnis sei eben vorösterlich. Ostern markiert hier nur den Zeitpunkt, von dem ab verkündigt wurde, den terminus a quo der Verkündigung, nicht aber des Glaubens. Im Gefolge der These W. Wredes wurden dann zahlreiche Versuche unternommen, die Verklärung zu einer nachösterlichen Erfahrung zu machen. Diese Unterfangen können als gescheitert gelten. Das ganze Szenario findet sich in keiner Ostervision. Die Offenheit des Frühjudentums für visionäre und mystische Erfahrungen wurde nicht erst durch die Osterbotschaft begründet; diese gehört vielmehr in jene hinein. Berufen hat man sich immer auf die Stellen des 57 Joh, nach denen sich die Jünger nach der Erhöhung J esu an Worte J esu erinnert und sie dann erst verstanden hätten. Doch kein Text sagt etwas über die christologische Erkenntnis erst ab Ostern. Zweimal belehrt nach dem LkEv der Auferstandene Jünger über die Schrift, und zwar über Leiden und Herrlichkeit des Christus (Lk 24,26-27.45-46). Dieses, nicht daß Jesus der Christus sei, ist Inhalt der Schrifterkenntnis. Sie wird durch Visionen des Auferstandenen vermittelt, nicht durch die Osterereignisse selbst. Nicht die Jünger, wohl aber Außenstehende werden durch die Auferweckung Jesu und die sie bezeugenden Erscheinungen überwältigt und überzeugt, aus ihrer Unkenntnis befreit. Das betrifft einmal die frühen Judenpredigten nach Apg 2-5. Hier ist auch von der Unkenntnis die Rede, die die Juden veranlaßte, Jesus zur Kreuzigung auszuliefern. Vor allem aber Paulus erlangt durch die nachösterliche Offenbarung des Sohnes Gottes das Glaubenswissen über die Identität Jesu. Die Berufungsvision macht deutlich: Jesus ist Sohn Gottes (Ga! 1,16). Es scheint, daß die liberale Theologie wieder einmal von Paulus ausgegangen ist und ihn als den Maßstab für alles gewertet hat. Unbestritten gibt es auch weitere nachösterliche neue Erkenntnisse, nur beziehen sich diese nicht auf die christologische Frage. Die Tatsache, daß es keinerlei Erinnerung darüber gibt, daß Ostern etwa die christologische Erkenntnis begründet habe, läßt mißtrauisch gegenüber der Grundthese der liberalen Theologie werden. Sie entstammt offensichtlich keiner exegetischen Einsicht, sondern hermeneutischen Überlegungen. Anmerkungen 1 K. Erlemann: Naherwartung und Parusieverzögerung im Neuen Testament (TANZ 17), Tübingen 1995. ders.: Endzeiterwartungen im frühen Christentum (UTB 1937), Tübingen 1996. 2 Vgl. dazu: D. Winter: Das Differenzkriterium in der J esusforschung, Heidelberg 1995. 3 Trotz grober Zuspitzung symptomatisch für viele: G. Lüdemann: Ketzer. Die andere Seite des frühen Christentums, Stuttgart 1995, 214-216 »Was Jesus wollte und tat«. 4 Vgl. dazu meine Beiträge: Darf man an Wunder glauben? (Stuttgart 1996) und: Ist mit dem Tod alles aus? (Stuttgart 1997). 58 5 Dazu: K. Berger: Theologiegeschichte des Urchristentums, 2 1995, 13 f. 6 Vgl. z.B. in: H. Schmidinger (hg.): Jesus von Nazareth. Salzburger Hochschulwochen 1994, Graz 1995, 193-195. 7 G. Theißen, A. Merz: Der historische Jesus, 1 1996, 119. 8 C. Colpe, K. Berger: Religionsgeschichtliches Textbuch zum Neuen Testament, Göttingen 1987, Nr. 237, 141 f. 9 Theißen / Merz, Jesus, 119. 10 Ebd., 118. 11 Beispiel: Taufe Jesu durch Johannes. - Im JohEv fehlt diese Erzählung. Daraus hat man geschlossen, Joh unterdrücke sie absichtlich, um die unangenehme Tatsache der Taufe Jesu durch Joh »auszubügeln«. Eine recht naive Vorstellung über die kriminellen Methoden des Evangelisten Johannes. Könnte es nicht umgekehrt so sein, daß bei den Synoptikern die Tradition von der Taufe Jesu Konflikt mit der Familie spiegelt: Hier geht es erkennbar um einen Topos. Der Prophet ist nicht nur in der Vaterstadt, sondern besonders in der eigenen Familie untragbar. Beispiel: Teufelsbundvorwurf. - Dieser Vorwurf belastet weitaus mehr die Gegenseite als Jesus! Im übrigen war es sachlich naheliegend, wenn nicht geradezu notwendig, die Alternative aufzustellen, nach der Jesus entweder durch den Heiligen Geist oder durch Beelzebul die Geister austrieb. Beispiel: Verrat und Flucht der Jünger, besonders des Judas. Die breite Schilderung der Evangelisten läßt erkennen: Hier geht es um abschreckende Beispiele. Literarisch gesehen war das gut zu gebrauchen (vgl. die Patriarchen nach den TestPatr). Es stützt die einzigartige Rolle J esu und warnt die Gemeinde. Warum also unterdrücken? Es gibt exegetische Meinungen, nach denen man Judas, hätte es ihn nicht gegeben, geradezu hätte erfinden müssen. 12 Vgl. Theißen/ Merz, S. 104: »Nachösterlicher Glaube wird in das vorösterliche Leben eingetragen, wenn Jesus schon in ihm als »Sohn Gottes« proklamiert wird und als allmächtig und allgegenwärtig gilt«. Man darf fragen, woher die Verf. das nun so genau wissen wollen. Im übrigen ist das mit der Allmacht eine Fehlinterpretation von Mt 11,27 (der Ton liegt nicht auf »alles«, sondern auf »von meinem Vater übergeben«; es geht um eine Legitimations-, nicht um eine Allmachtsaussage), und die »Allgegenwart« ist eine Eintragung dogmatischer Kategorien aus späteren Katechismen dort, wo es um den jüdisch-alttestamentlichen »Namen« geht. 13 Vgl. Theißen/ Merz, Jesus, 51: »Jesus spricht und handelt als der sich seiner Präexistenz bewußte Offenbarer Qoh 8,58), als der er aber dessen ist sich der Verfasser bewußt erst nach Ostern und unter Wirken des Geistes erkannt ... werden kann« (vgl. 2,22; 7,39; 12,16; 13,7). ZNT 1 (1998)