eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 1/1

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
61
1998
11 Dronsch Strecker Vogel

Gibt es Kriterien für die Bestimmung echter Jesusworte?

61
1998
Walter Schmithals
znt110059
Walter Sehmithals Gibt es Kriterien für die Bestimmung echter Jesusworte? Zu einer Kontroverse mit den Ausführungen von Klaus Berger kann es nur in begrenztem Maße kommen. Ich habe mich der »Neuen Frage nach dem historischen Jesus« von Anfang an versagt, und ich stimme Berger darin zu, daß die Versuche, zureichende Kriterien für die Bestimmung einzelner Worte als ipsissima vox J esu festzulegen, methodisch unzureichend sind. Ich übrigen aber muß ich, sofern ich nicht nur mein Unverständnis kundtun kann, Berger fundamental widersprechen, und ich kann nicht verhehlen, daß dieser Widerspruch einen Zustand unserer neutestamentlichen Wissenschaft exemplarisch sichtbar macht, der kaum anders als mit dem Begriff »chaotisch« zu beschreiben ist. Berger schlägt vor, die Frage nach Echtheit oder Unechtheit von Jesusworten vorerst auf sich beruhen zu lassen. Wann und unter welchen Bedingungen soll die Fragen aber wieder aufgenommen werden? Seit mehr als 200 Jahren ist die historische Wissenschaft auf der Suche nach den echten Jesusworten, ohne bisher methodisch und sachlich zu unanfechtbaren Ergebnissen gekommen zu sein. Angesichts solcher Erfahrung kann diese Situation durch die historische Wissenschaft selbst nicht verändert werden, und auf eine archäologische Sensation wird Berger schwerlich hoffen. Wer also heute keine Möglichkeit sieht, die Frage nach den echten Jesusworten definitiv zu beantworten, wird auch für morgen mit einer solchen Möglichkeit nicht rechnen dürfen. Diese Erkenntnis ficht denjenigen nicht an, der mit Buhmann der Überzeugung ist, daß die Verkündigung Jesu nur zu den Voraussetzungen des christlichen Glaubens gehöre, nicht aber dessen Gegenstand bildet, weil nämlich das christliche Kerygma nicht die Verkündigung J esu wiederholt, sondern ihn selbst als den Gekreuzigten und Auferstandenen verkündigt. Da Berger dieser Feststellung und den ihr zugrunde liegenden historischen bzw. exegetischen Beobachtungen nicht zustimmt, stellt sich die Frage, unter welchen Voraussetzun- ZNT 1 (1998) gen er selbst die Suche nach dem »historischen Jesus« (vorerst) suspendieren kann. Offensichtlich setzt er auf »eine starke kirchliche Autorität«, die bis zur Zeit der Aufklärung bestimmt haben soll, was legitime Verkündigung ist, und er hält dies »kirchliche Modell« anscheinend nach wie vor für brauchbar, so daß der Exegese nur die Aufgabe bleibt, »die Schrift vor jeder ideologischen Vereinnahmung zu schützen«. Man würde freilich gerne wissen, wie dies Modell heute funktionieren soll und an welche starke kirchliche Autorität Berger denkt. Im einzelnen irritiert mich an Bergers Argumentation z.B., daß er, wenn er über Kriterien für echte J esusworte handelt, in erheblichem Maße mit der Erzählüberlieferung argumentiert, obschon doch zwischen dem »Gedächtnismäßigen« und dem »Reflexionsmäßigen« nicht nur systematisch, sondern im Hinblick auf die Spruchüberlieferung einerseits, das Markusevangelium andererseits auch traditionsgeschichtlich unterschieden werden muß, wie die von Berger im Prinzip akzeptierte Zwei-Quellen-Theorie zeigt. »Alles und jedes hat eine Analogie im Judentum und in der hellenistischen Umwelt«; »Alles, was( ... ) rings um das Volk der Juden möglich war, konnte auch von Israel rezipiert werden«; »Alles Jesuanische ist sowohl jüdisch als auch ganz neu« solche und andere Totalitätsaussagen Bergers zerstören den Charakter der differenzierten historischen Prozesse und sollen offenbar den kritischen Historiker einschüchtern. Aber man kann nicht zugleich Apokalyptiker und Platoniker sein, zugleich Pharisäer und Sadduzäer. Mich stört in diesem Zusammenhang auch, daß Berger plakativ mit der »Gefahr von Zirkelschlüssen« argumentiert, obschon doch keine historische Rekonstruktion auf den hermeneutischen Zirkel verzichten kann, so daß als kritisches Argument nur der Nachweis des unkritischen Vorurteils etwas taugt. Und wieso soll die Vorstellung einer Gemeindebildung oder einer redaktionellen Bildung generell 59 als Kriterium ausscheiden, wenn doch die entsprechenden Worte deutlich die Situation der nachösterlichen Zeit der zweiten oder dritten Generation oder die Sonderinteressen eines Redaktors widerspiegeln? Wenn Naherwartung im frühen Christentum funktional betrachtet worden ist, bedeutet das doch nicht, daß ein Visionär, der den Satan vom Himmel stürzen sieht, sich zugleich apologetisch mit der Parusieverzögerung auseinandersetzen kann. Ganz unbegreiflich ist mir auch, daß Berger, die Zwei-Quellen-Theorie ignorierend, nicht nur die drei synoptischen Evangelien traditionsgeschichtlich egalisiert, sondern daß er auch noch das Johannesevangelium in ihren Bund aufnimmt und sogar geneigt ist, mit apokryphen Evangelien ähnlich zu verfahren. Dieser Umgang mit den Überlieferungen der Evangelien erinnert an die in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts dominierenden Traditionshypothese, die Übereinstimmungen und Differenzen unserer ersten drei Evangelien auf ein ihnen zugrunde liegendes mündliches Urevangelium zurückführte. Sowohl die konservativen Verfechter der Traditionshypothese wie Gieseler als auch ihre kritischen Vertreter wie Strauß gaben aber traditionsgeschichtliche Gründe für ihre Auffassung von der vorliterarischen und der literarischen Überlieferungsgeschichte an, die man kritisch überprüfen und widerlegen konnte; die Zwei-Quellen-Theorie ist bekanntlich aus solcher Widerlegung herausgewachsen. Nach solchen Gründen sucht man bei Berger vergeblich. Hinsichtlich der mündlichen Überlieferung schließt er sich in einer diffusen Weise an die traditionsgeschichtlichen Vorstellungen der formgeschichtlichen Schule an, ohne die Argumente zu beachten, die schon Weisse gegen die entsprechenden Vorstellungen von Strauß vorgebracht hat; hinsichtlich der literarischen Überlieferung werden die quellenkritischen und die redaktionsgeschichtlichen Einsichten zwar nicht grundsätzlich bestritten, wohl aber ignoriert. In dem allen gibt sich ein methodisches Vorurteil zu erkennen, das auch die Gründe entwertet, die Berger gegen die mancherlei Kriterien ins Feld führt, mit deren Hilfe viele Forscher echte Jesusworte zu ermitteln versuchen. Mit dem zuletzt beschriebenen Manko hängt zusammen, daß Berger es unterläßt, zwischen dem Aufweis der Echtheit und dem der Unechtheit von 60 Jesusworten zu unterscheiden, obschon doch das methodische Vorgehen in beiden Fällen keineswegs identisch ist. Nur wer die gesicherten Erkenntnisse der Quellen- und Redaktionsanalyse unbeachtet läßt, kann jene Differenzierung mißachten. Die Ansicht, man könne die Echtheit eines Jesuswortes weder positiv noch negativ feststellen, führt dann zu der nun zwar nicht mehr verwunderlichen, wohl aber wunderlichen Feststellung, daß alles in den Evangelien Überlieferte echt sein könnte und daß erst die apokryphen Evangelien Zweifel an der allgemeinen Echtheit aufkommen lassen. Christologie Zu den »echten« Überlieferungen zählt Berger auch die christologischen Hoheitsaussagen. Daß diese österlichen Ursprungs sind, sei eine »simple Theorie«, die »noch immer gläubige Anhänger« finde, die aber »dem Textbefund des Neuen Testaments nicht stand« halte. Es liegt nahe, bei diesem wichtigen Gesichtspunkt zu verweilen. Nach Berger gibt es »keinerlei Erinnerung darüber« und »keinen einzigen neutestamentlichen Text, aus dem hervorgeht, daß die entscheidende christologische Erkenntnis den Jüngern erst nach Ostern zuteil geworden wäre«. Indessen ist z.B. die vorpaulinische Formel Röm 1,3-4 ein solcher Text. Diese Formel konstatiert, daß der irdische Jesus zwar die Bedingung für die Berufung in das messianische Amt erfüllt, daß aber seine Einsetzung in die Würde des Sohnes Gottes erst »aus der Totenauferstehung« erfolgt sei. Dementsprechend weiß das gleichfalls vorpaulinische Christuslied in Phil 2,5-11 vom irdischen Jesus nur zu sagen, daß er wie ein gewöhnlicher Mensch erfunden wurde, und es ist diese totale Erniedrigung, die Anlaß zu seiner österlichen Erhöhung zum Kyrios gab. Auch die in Gal 4,4-5 aufgegriffene und von Paulus kontextgemäß erweiterte Formel stellt fest, daß Jesus »vom Weibe geboren« sei, und verweist damit auf die Identität des irdischen Jesus mit den anderen Menschen, die auf diese Weise ihre Gotteskindschaft empfangen sollen. Solche traditionellen Formulierungen zeigen, daß das auf Petrus zurückgehende Urbekenntnis der Christenheit, Gott habe Jesus von den Toten auferweckt (Gal 1,1; Röm 4,24; 8,11; IIKor 4,14; Kol 2,12), nicht ZNT 1 (1998) auf ein Christusbekenntnis zurückblickt, sondern Ausgangspunkt der christologischen Bekenntnisbildung gewesen ist. Dem entspricht die schon im vorigen Jahrhundert gewonnene Erkenntnis, daß die älteste Spruchüberlieferung das Ostergeschehen noch nicht reflektiert und zugleich noch nicht christologisch geprägt ist. Die Messiasgeheimnis- Theorie kann, darin ist Wrede zuzustimmen, vernünftigerweise nur erklärt werden, wenn sie den Ausgleich zwischen einem nicht explizit christologischen Wirken Jesu und einer christologisch geprägten Jesusdarstellung herstellt, indem sie behauptet, die messianische HoheitJesu sei während seiner galiläischen Wirksamkeit in der Öffentlichkeit verborgen geblieben. Aus dem Gesagten folgt, daß die Christologie ein sicheres Kriterium darstellt, um negative Echtheitsentscheidungen fällen zu können. Darum ist z.B. auch die Verklärungsgeschichte, die Berger ausdrücklich anspricht, zwar nicht Ausdruck »einer nachösterlichen Erfahrung«, wohl aber eine österliche Erzählung, die von der Metamorphose der irdischen Leiblichkeit des Auferstandenen in die »verklärte« Leiblichkeit des Erhöhten berichtet. Daß sich diese Szene »in keiner Ostervision« findet, ist schon deshalb kein Argument, weil die Szene überhaupt keine visionäre Erfahrung wiedergibt, sondern ihren Ursprung theologischer Reflexion verdankt. Johannesevangelium: Berger stellt das Johannesevangelium auf eine Stufe mit den Synoptikern, soweit es um die Frage nach »echter« oder »unechter« J esusüberlieferung geht. Indessen zeigt die Gattung »Evangelium«, der auch das vierte Evangelium angehört, daß der Evangelist Johannes das eine oder das andere synoptische Evangelium gekannt haben muß; denn daß er diese singuläre literarische Gattung unabhängig von einer synoptischen Vorlage noch einmal erfunden haben soll, kann man unmöglich annehmen, und eine Abhängigkeit der Synoptiker vom Johannesevangelium wird auch Berger nicht behaupten wollen. Angesichts der durchgehend christologischen Ausrichtung des Johannesevangeliums ließe sich dann aber in dieser Schrift möglicherweise echte Überlieferung, die sich nicht einer synoptischen Vorlage verdankt, nur ausmachen, wenn sie sich deutlich als vorchristologisch zu erkennen gibt. Es liegt am Tage, daß dies bei keiner johanneischen Überlieferung der Fall ist. Überhaupt ist die Vorstellung, ZNT 1 (1998) Walter Schmith.: ils Gibt es Kriterien flir für die Bestimmung echter Jesusworte? Walter Sehmithals Walter Sehmithals, Jahrgang 1923, nach Promotion 1956 und Habilitation 1962 ordentlicher Professor für Neues Testament an der Kirchlichen Hochschule Berlin. Emeritiert. Zahlreiche Zeitschriften- und Buchpublikationen. daß das Johannesevangelium noch an einem Strom mündlicher J esusüberlieferung partizipiert, nicht zu verifizieren; denn einerseits lassen sich seine entsprechenden Stoffe in jedem Fall auf synoptische Vorlagen zurückführen, andererseits ist ein solcher mündlicher Überlieferungsstrom um die erste Jahrhundertwende nirgendwo nachzuweisen. Das bedeutet aber, daß das Johannesevangelium nicht in Betracht zu ziehen ist, wenn man nach authentischer Jesusüberlieferung sucht. Die Suche nach Kriterien für echte J esusworte ist insoweit negativ erfolgreich. Sondergut von Matthäus und Lukas Ein entsprechendes Urteil ist angesichts des Sondergutes der beiden späteren synoptischen Evangelien zu fällen, die das Markusevangelium und die Spruchquelle miteinander verbinden. Es läßt sich ausschließen, daß sie das Material, das ihnen diese beiden Quellenschriften vermitteln, zugleich noch in einer mündlichen Überlieferung besaßen. Denn in diesem Fall müßte sich der Einfluß solcher mündlichen Überlieferung bei der redaktionellen Bearbeitung des im Markusevangelium und in der Spruchquelle vorgefundenen Stoffes deutlich zu erkennen geben, zumal wenn die mündlichen Traditionen den beiden späteren Evangeli- 61 sten und ihren Lesern durch einen festen Sitz im Leben der Gemeinde vertraut waren. Auch müßten dann von Fall zu Fall signifikante Übereinstimmungen von Matthäus und Lukas gegen literarische Vorlagen begegnen. Beides ist nicht der Fall, und darum spielt auch der Rekurs auf mögliche mündliche Parallelüberlieferungen in der Synoptikerexegese selbst dort keine Rolle, wo man, den formgeschichtlichen Prämissen folgend, deren Existenz grundsätzlich behauptet. Entsprechende Folgerungen sind dann aber auch für das Sondergut zu ziehen, das Matthäus und Lukas je für sich haben und das höchstens in vereinzelten Ausnahmefällen aus der Spruchquelle stammen könnte, nämlich dann, wenn der andere Evangelist das eine oder andere Logion aus Q ausgelassen haben sollte. Daß das Sondergut bei Matthäus und Lukas sich in der Regel keiner christlichen Gemeindeüberlieferung verdankt, ergibt sich auch aus der Beobachtung, daß es sich, sieht man von dem Bekenntnis zur jungfräulichen Empfängnis Jesu als solchem ab, in keinem einzigen Fall überschneidet. Zugleich läßt sich das Sondergut durchweg bestimmten redaktionellen Interessen des jeweiligen Evangelisten zuordnen. Das bedeutet zwar nicht, daß das Sondergut auch ausnahmslos redaktionellen Ursprungs sein muß; die charakteristischen Beispielserzählungen des Lukasevangeliums (Lk 10,30-35; 12,16-20; 16,19-31; 18,9-14) dürften z.B. aus dem Lehrgut der hellenistischen Synagoge stammen, und der Erzählzyklus Lk 2,1-52 geht auf eine schriftliche Vorlage zurück. Aber es bedeutet, daß auch die Echtheit dieses Sondergutes prinzipiell unter ein negatives Vorzeichen zu stellen ist, so daß sich auch in diesem Fall erweist, daß negative Echtheitsentscheidungen durchaus möglich und für positive Entscheidungen nicht ohne Bedeutung sind. Markusevangelium und Spruchquelle Es sind solche negativen Beobachtungen, die den Weg zu positiven Urteilen öffnen. Denn es ergibt sich, daß Kriterien für echte J esusworte, jedenfalls sofern diese intern aus der Überlieferung selbst gewonnen werden, ausschließlich im Blick auf die Stoffe des Markusevangeliums und der Spruchquelle zu entwickeln sind. Denn niemand wird heute noch ernsthaft die Agrapha mehr als beiläu- 62 fig in Betracht ziehen, und den Versuchen, apokryphen Evangelien, namentlich dem koptischen Thomasevangelium echte Überlieferung zu entnehmen, die nicht durch die Synoptiker vermittelt wurde, steht anscheinend auch Berger mit gutem Grund skeptisch gegenüber. Nun darf man freilich auch die Überlieferungen des Markusevangeliums und der Spruchquelle traditionsgeschichtlich nicht über einen Kamm scheren, wie es seit dem Siegeszug der synoptischen Formgeschichte üblich geworden ist. Diese Formgeschichte geht nämlich davon aus, daß ein einheitlicher mündlicher Überlieferungsstrom bei seiner Verschriftlichung zunächst aufgeteilt wurde, und zwar derart, daß im Markusevangelium im wesentlichen das Erzählgut, in der Spruchquelle aber im wesentlichen die Logien gesammelt wurden. Im Fortgang der literarischen Überlieferung haben dann Matthäus und Lukas unabhängig voneinander das getrennte Gut zusammengeführt und insoweit wieder den Status der anfänglichen Überlieferungsgeschichte erreicht. Hat ein solcher Vorgang schon an sich keine Wahrscheinlichkeit für sich, so haben die Vertreter der Formgeschichte sich auch keine Gedanken darüber gemacht, daß die sortierende Aufteilung der mündlichen Stoffe auf das Markusevangelium und die Spruchquelle nur möglich gewesen wäre, wenn der Verfasser der späteren Schrift die frühere Schrift gekannt hat. Nun hat man aber zu bedenken, daß der Evangelist Markus die von ihm tradierten Stoffe nicht etwa sekundär christologisch überformt hat, sondern daß die Masse dieser Stoffe, angefangen von der Berufung Jesu zum Sohn Gottes bei der Taufe durch Johannes bis hin zu den Passions- und Osterberichten, ursprunghaft christologisch geprägt ist. Demgegenüber ist die Spruchüberlieferung, sieht man von einzelnen christologischen Ergänzungen ab, noch rein prophetisch oder weisheitlich ausgerichtet, und selbst die literarische Spruchquelle enthält das Kerygma von Kreuz und Auferstehung noch nicht. Angesichts dessen kann man von keinem einheitlichen synoptischen Traditionsstrang ausgehen, und in der Tat hat sich heute die Erkenntnis weithin durchgesetzt, daß für die Spruchüberlieferung und für das Markusevangelium unterschiedliche Trägerkreise anzusetzen sind. Diese Einsicht aber ist von nicht geringer Bedeutung für die Frage nach möglichen Kriterien ZNT 1 (1998) echter J esusworte. Denn weil eine ursprunghaft christologische Überlieferung das Ostergeschehen voraussetzt, fällt der wesentliche Stoff des Markusevangeliums zumindest für einen unmittelbaren Zugriff zur ipsissima vox J esu aus. Dies Urteil gilt auch dann, wenn meine Überzeugung, daß dieser Stoff schriftstellerischer Herkunft ist, nicht zutreffen sollte und das Markusevangelium als eine Sammlung mündlicher Einzelüberlieferungen zu erklären ist. Die Abfolge negativer Kriterien reduziert also die Frage nach möglichen Kriterien für echte Jesusworte im wesentlichen auf die synoptische Spruchüberlieferung, das heißt auf die aus Matthäus und Lukas rekonstruierte Spruchquelle Q nach Abzug ihrer deutlich erkennbaren, vor allem durch ihr Erzählgut repräsentierten christologischen Redaktion. Die Botschaft der Spruchüberlieferung Nun enthält diese Spruchüberlieferung vor allem Aussagen, die einem prophetisch-apokalyptischen Umfeld angehören, daneben allerdings auch einige Traditionen, in denen Jesus als Weisheitslehrer erscheint (z.B. Lk 6,31par; 12,6-7.22-34par; Mt 5,45par). Ob sich beides verträgt oder ob mit der vorliegenden Beobachtung ein weiteres »negatives« Kriterium zur Feststellung echter Jesusworte in den Blick tritt, war schon im vorigen Jahrhundert umstritten. In diesem Zusammenhang ist ein Blick auf die »Dubletten« des Markusevangeliums hilfreich, also auf jene Logien, die sich sowohl bei Markus als auch in der Spruchüberlieferung finden; sie begegnen im Zusammenhang mit der Messiasgeheimnis-Theorie des Markusevangeliums in dessen redaktioneller Schicht und exzerpieren mit Bedacht die ältere Spruchüberlieferung. In diesen »Dubletten« findet sich aber nichts von den weisheitlichen Logien der Spruchüberlieferung, obschon Markus an ihrem apokalyptischen Gedankengut gar nicht interessiert ist. Es liegt deshalb nahe anzunehmen, daß wir es bei den weisheitlichen Stücken der Spruchüberlieferung mit einer von ihrem Ursprung her nicht jesuanischen Nebentradition zu tun haben. Die Kette der negativen Kriterien führt also darauf, daß die authentische Jesusüberlieferung in den prophetisch-apokalyptischen Aussagen der synoptischen Spruchüberlieferung zu suchen ist. ZNT 1 (1998) Walter Sehmithals Gibt es iüiterien fiir für die Bestimmung i)chülr Je~osworte? Insoweit ist also weiterhin den Einsichten Raum zu geben, mit denen Johannes Weiß vor rund 100 Jahren das Ende der Leben-Jesu-Theologie einläutete und die auch von den wechselnden Konzepten der »Neuen Frage nach dem historischen Jesus« in keiner stichhaltigen Weise widerlegt worden sind. Es scheint mir allerdings nicht möglich zu sein, positive Kriterien auszumachen, die erlauben, einzelne der entsprechenden Logien und Gleichnisse als »echte J esusworte« auszugeben und insofern von Worten des Täufers oder einzelner Propheten zu unterscheiden. Vielhauer hat z.B. nachzuweisen versucht, daß Jesus von der kommenden Gottesherrschaft, nicht aber von dem kommenden Menschensohn-Richter gesprochen hat, doch scheinen mir auch in solchem Fall sichere Distinktionen nicht möglich zu sein. Nur insoweit stimme ich Berger also zu, daß wir keine Kriterien zur Bestimmung einzelner echter Jesusworte haben. Indessen halte ich seine Ansicht, daß »alles in den vier Evangelien (und anderen alten Texte wie Thomas-Evangelium) Überlieferte >echt, sein könnte«, für ebenso verfehlt wie sein methodisches Vorgehen, zwischen positiven und negativen Kriterien nicht zu differenzieren. Wir können zwar von einzelnen Worten nicht behaupten, daß sie uns aus dem Munde Jesu überliefert wurden; die Grundlinien der Verkündigung Jesu sind aber erkennbar. Gegenprobe Dies Urteil wird durch eine Gegenprobe bestätigt, die darauf beruht, daß zwischen der Botschaft des irdischen Jesus und dem Kerygma der U rgemeinde eine Kontinuität bestehen muß. Diese Kontinuität ist fundamental damit gegeben, daß das Urbekenntnis, das aller weiteren Bekenntnisbildung zugrundeliegt und dem zufolge Gott Jesus von den Toten auferweckt hat, anfänglich in einem apokalyptischen Bezugsrahmen gesprochen wurde; denn eine frühe und breite Überlieferung besagt, daß Jesus als der » Erstling der Entschlafenen« auferweckt wurde (IKor 15,20; vgl. Röm 6,lff.; IKor 6,14; Kol 1,18; Apk 1,5; Mt 27,52f.; Apg 26,23; IClem 24,1). Diese Vorstellung ist noch nicht christologisch, sondern sie verbindet die Naherwartung der allgemeinen Totenauferstehung mit dem Bekenntnis zur Auferweckung J esu. 63 Die Erfüllung der von Jesus selbst angesagten Erwartung des eschatologischen Heilshandelns Gottes bricht in seiner Auferweckung an. Erst in einem zweiten Schritt wird die Auferweckung J esu als ein exzeptionelles, seine christologische Hoheit begründendes Ereignis verstanden und interpretiert. Die entsprechende christologische Formel in Röm 1,3-4 läßt dabei den ursprünglichen apokalyptischen Bezugsrahmen noch deutlich erkennen, wenn sie konstatiert, daß die Einsetzung Jesu zum machtvollen Gottessohn »aus der Auferstehung der Toten« erfolgt ist. Es läßt sich also dann und nur dann die anfängliche Bekenntnisbildung kontinuierlich mit der Verkündigung Jesu verknüpfen, wenn diese Verkündigung anhand der prophetisch-apokalyptischen Spruchüberlieferung der synoptischen Tradition erhoben wird. Die interne, vor allem von »negativen« Kriterien geleitete Analyse der evangelischen Überlieferung und die externe, an der frühen Bekenntnisbildung orientierte Rekonstruktion der urchristlichen Theologiegeschichte führen also zum gleichen Ergebnis. Von keinem überlieferten Jesuswort läßt sich mit Sicherheit sagen, daß Jesus es selbst einmal so und nicht anders gesagt hat, und insoweit sollte man die Suche nach echten Jesusworten nicht »vorerst«, sondern überhaupt einstellen. Davon bleibt unberührt, daß sich die Grundzüge der Verkündigung Jesu hinreichend erkennen lassen, freilich als die Voraussetzung der christlichen Theologie, nicht als deren Gegenstand, der sich vielmehr in den Bekenntnissen ausspricht, die bis hin zu Apostolikum und Nizänum ihre Voraussetzung nicht zu ihrem Gegenstand machen. Kontakte- Beiträge zum religiösen Zeitgespräch Herausgegeben von Michael.Kessler Ziel der Reihe ist es, aktuelle Fragestellungen des religiösen und kirchlichen Lebens, der seelsorglichen Praxis, der Glaubensunterweisung und Theologie im Kontext heutiger Kultur und Gesellschaft problemorientiert und allgemeinverständlich zu behandeln. "Kontakte" will Impulse, Informationen und Hilfen für das religiöse, theologische und kirchliche Zeitgespräch geben und ermuntern, sich daran zu beteiligen. Michael Fischer / Alwin Hummel/ Franz Nagler/ Hans Ostertag (Hrsg.) Basisgemeindliche Kirche Dokumentation Band 1, 1996, 174 Seiten, DM 29,80/ ÖS 218,-/ SFr 29,80 ISBN 3-7720-2520-X 64 Michael Kessler (Hrsg.) Eucharistie Rückfragen zum Katechismus der Katholischen Kirche Band 2, 1996, 155 Seiten, DM 29,80/ ÖS 218,-/ SFr 29,80 ISBN 3-7720-2521-8 Albert Biesinger / Michael Kessler (Hrsg.) Himmel - Hölle - Fegefeuer Theologisches Kontaktstudium 1995 Band 3, 1996, 140 Seiten, DM 29,80/ ÖS 218,-/ SFr 29,80 ISBN 3-7720-2522-6 Michael Kessler (Hrsg.) Ordination - Sendung - Beauftragung Anfragen und Beobachtungen zur rechtlichen, liturgischen und theologischen Struktur Band 4, 1996, 140 Seiten, DM 29,80/ ÖS 218,-/ SFr 29,80 ISBN 3-7720-2523-4 Arno Schilson Medienreligion Zur religiösen Signatur der Gegenwart Band 5, 1997, VIII, 230 Seiten, DM 39,80/ ÖS 291,-/ SFr 39,80 ISBN 3- 7720-2524-2 Otto Baur / Michael Kessler (Hrsg.) Christus erkennen Ein Glaubensgespräch in Maibriefen von Wilhelm Geyer und Werner Oberle Band 6, 1997, 164 Seiten, DM 34,80/ ÖS 254,-/ SFr 34,80 ISBN 3- 7720-2525-0 A. Francke Verlag Tübingen und Basel PF. 2560 · D-72015 Tübingen ZNT 1 (1998)