eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 1/2

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
121
1998
12 Dronsch Strecker Vogel

Das Gesetz in den Gliedern - Paulus und das sexuelle Begehren

121
1998
Holger Tiedemann
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Holger Tiedemann Das Gesetz in den Gliedern - Paulus und das sexuelle Begehren 1. >The same old story<? Der verliebte Eduard Mörike, Dichter und evangelischer Vikar im Schwäbischen, wußte seinesgleichen noch in der Bibel wieder zu finden: »So ist die Lieb'! und war auch so, Wie lang' es Liebe gibt, Und anders war Herr Salomo, Der Weise, nicht verliebt.« 1 Dichter dürfen (fast) alles und daher sei auch das Recht dieser >poetischen Horizontverschmelzung, nicht bestritten. In den letzten beiden Jahrzehnten sind jedoch zunehmend weniger Historikerlnnen bereit, des Poeten Intuition zu folgen. Angesichts der Ergebnisse neuerer Geschichtsschreibung drängt sich die Erkenntnis auf, daß ,Herr Mörike< offensichtlich doch sehr anders verliebt war als > Herr Salomo<. Nicht nur, weil dieser in Jerusalem einen Harem besaß, der sich so für einen evangelischen Vikar in Schwaben schlecht denken läßt. Seit dem Ende der siebziger Jahre ist die Geschichtswissenschaft geradezu obsessiv mit einem Thema beschäftigt, das vorher eher am Rand ihres Geschäftsbereiches lag: Geschlechterverhältnisse. Stark vereinfachend ließe sich sagen: Sozialgeschichte, feministisch oder kulturanthropologisch inspirierte Geschichtsschreibung, Mentalitätengeschichte, Foucaults Diskursanalyse sie alle haben sich daran gemacht, Liebe, und das, was wir heute häufig in ihrem Gefolge sehen: nämlich Sexualität, zu historisieren. 2 Pointiert formuliert könnte man sagen: Die Geschichtsschreibung hat den Bereich der, Natur< annektiert. Mit mehr oder weniger signifikanter Verspätung hat sich auch die neutestamentliche Exegese die neuen Methoden und Einsichten zu eigen gemacht. 3 Nicht eigentlich das Thema ,Sexualität, ist für die Geschichtsschreibung neu die ,Sittengeschichten< des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts würdigen es durchaus. Neu sind vielmehr theoretische und methodische Grundeinsichten, die es erlauben, dem anvisierten Gegenstand >gerechter< zu werden, als es die Sittenge- 18 schichten, die häufig nichts anderes als ein sexualethisches Kuriositätenkabinett waren, vermochten. Zwei dieser Grundeinsichten seien hervorgehoben: a) Die Vorgängigkeit symbolischer Ordnungen. Es widerstrebt einer ersten Intuition, Sexualität zu historisieren. Ist es nicht immer die am Broadway oft besungene ,same old story" wenn jemand sagt: ,Ich begehre Dich,? Nein, denn so unmittelbar wie das Begehren daherkommt, ist es nicht. Wegweisend für diese Erkenntnis war die Kulturanthropologie. Mary Douglas etwa meinte (mit Marcel Mauss) zeigen zu können, »daß der menschliche Körper immer und in jedem Fall als Abbild der Gesellschaft aufgefaßt wird, daß es überhaupt keine >natürliche" von der Dimension des Sozialen freie Wahrnehmung und Betrachtung des Körpers geben kann.« 4 Gewiß wäre es übertrieben zu sagen, Liebe und Begehren seien ein Fall von angewandten gesellschaftlichen Wahrnehmungsrastern, aber sie sind es doch wohl auch. Nicht nur ist, bevor wir überhaupt begehren, schon eine Vorentscheidung darüber getroffen, wer als Objekt des Begehrens überhaupt in Frage kommt. Auch die Institutionalisierungen des Begehrens, sein sprachlicher Ausdruck und die Gesten, in denen sich Zuneigung und Leidenschaft manifestieren, verdanken sich zu einem Großteil einem Ordnungssystem, das in gesellschaftlicher Interaktion entstanden ist. b) Die Beständigkeit gesellschaftlicher Wahrnehmungsraster. Geschichtsschreibung hat seit jeher einen Hang zur >Veränderung,. Ihre Klassiker sind zumeist solche der Ereignisgeschichte. Niemand liest gerne eine geschichtliche Abhandlung, in der er erfährt, daß eigentlich alles beim Altengeblieben ist. Und doch: In den letzten Jahrzehnten hat die Geschichtsschreibung gelernt, Kontinuitäten neu zu würdigen. Wegweisend wurde hier Fernand Braudel, der verschiedene Zeitdimensionen der Geschichte unterschied und sich selber dabei auf die» longue duree« konzentrierte. 5 In den Blick der Geschichtsschreibung treten damit Phänomene, die von großer Beharrlichkeit sind. Was sich in ZNT 2 (1998) dieser Zeitdimension abspielt, ist vergleichsweise resistent gegenüber dem Wirken großer Persönlichkeiten oder der Durchschlagskraft politischer Ereignisse. Die Raster, in denen sexuelles Begehren wahrgenommen wird, sind von einer solchen »langen Dauer«. 6 Sie haben durchaus ein Verfallsdatum, sie setzen aber unserem Erfindungsreichtum (manchmal sinnvolle, manchmal schmerzliche) Grenzen. Eben diese Wahrnehmungsraster, die sich mit ihrem Beharrungsvermögen zwischen das Ich und das Begehren schieben, die dem Subjekt zugehören und auch wieder nicht, stehen im Mittelpunkt der Forschung, die Geschlechterverhältnisse historisch zu profilieren versucht. Wenn Paulus die Wendung nicht zu deutlich anders besetzt hätte, wäre man versucht zu sagen: Es ist das »Gesetz in den Gliedern« (Röm 7,23), dem diese Historikerinnen auf die Schliche zu kommen versuchen. 2. Drei Evidenzräume: Christus, Tora und Brauch Nicht >Herrn Salomo" sondern >Herrn Paulus< sei sich im folgenden zugewandt. >Verliebt, ist er wohl nicht gewesen, zumindest nicht im Sinne des zitierten evangelischen Vikars. Aber die Briefe des Apostels thematisieren eine solche Fülle sexualethischer Themen, daß es keineswegs aussichtslos erscheint, sie auf jene Raster hin zu befragen, in denen er Begehren wahrnimmt. Die Frage nach den Rastern der paulinischen Sexualethik dürfte nach wie vor für viele Theologlnnen prekär sein: Schrumpft so der große Theologe auf das Maß eines typischen antik-mediterranen Menschen? Immer noch werden die Grundanschaungen, die Paulus mit seinen Zeitgenossen teilt, als >Leihgut, oder >Eierschalen< denunziert. Wir sind es gewohnt, den Apostel als ethischen Innovator (vom »Christusereignis« her 7) oder aber als rigorosen Renovator (nämlich von der »eigentlichen Tora« her 8) zu denken. Doch mindestens für die Sexualethik ist die Sache komplizierter. Daß Frauen nicht sexuell miteinander verkehren sollen (Röm 1,26) steht weder in der Tora, noch wäre ersichtlich, daß sich die Meinung des Paulus aus einem Herrenwort oder gar aus Kreuz und Auferstehung J esu Christi herleiten ließe. Gelegentlich versucht Paulus zwar, Christologie in Se- ZNT 2 (1998) xualethik zu wenden, wie im Fall des Verkehrs mit einer Unzüchtigen/ Prostituierten (I Kor 6). Doch vor seiner Bekehrung wird er kaum anders über dererlei gedacht haben. >Theo-psychoanalytisch, könnte man von einer >sekundären Christologisierung, sprechen. Dieses Verfahren herrscht allerdings im Hinblick auf die Sexualethik keineswegs vor: Die Erörterung des Inzestfalles in I Kor 5 ist bar jeder Christologie. Und daß Männer nicht mit Männern verkehren sollen (Röm 1,27), ist Paulus zwar eine Erkenntnis, die er literarisch nach der Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes (Röm 1,17) plaziert aber war ihm diese wirklich nötig, um zu seinem Urteil zu gelangen? Dies dürfte ihm vielmehr von Kindesbeinen an spätestens nach der Lektüre von Lev 18,22 und 20,13 festgestanden haben. Also ist es doch die Tora bzw. Schöpfungstheologie, die die Richtschnur abgibt für die sexualethischen Weisungen des Apostels? Zumindest ist es nicht die schriftliche, uns bekannte Tora, die den Apostel für die Askese plädieren läßt (IKor 7), die ihn skeptisch sein läßt in Bezug auf eine Wiederheirat (I Kor 7,40), optimistisch hingegen angesichts von Mischehen (! Kor 7,12-16). Hier mündliche Tora zu postulieren hieße doch wohl, historischer Einbildungskraft zuviel zuzumuten. Kurzum: die Sexualethik des Paulus zeitigt ein schwer zu entwirrendes Geflecht von Anweisungen und beigesellten Begründungen. Die von ihm propagierte Ordnung der Geschlechter ist sowohl Reflex von Christologie und Tora, aber auch von Brauch und Kultur. Der Apostel steht in mindestens drei Evidenzräumen zugleich: Was ihm selbstverständlich geboten erscheint, ist wenigstens in Hinblick auf die Sexualethik nicht aus einem Grunddatum zu deduzieren. Macht man sich die genannten neueren historiographischen Bemühungen zunutze, muß man keineswegs beim Konstatieren eines disparaten Befundes stehenbleiben. Möglich wird es so, die Regelhaftigkeit der paulinischen Sexualethik neu zu bestimmen. Sie gehorcht antik-mediterranen Grundannahmen, die keineswegs zu einer Einheits-Sexualethik des homo mediterranaeus führen. Aber: Diese Grundannahmen reduzieren die Fülle möglicher sexualethischer Positionen und Anschauungen ganz erheblich. Und: Sie legen offen, daß die Rede von einem >paulinischen Sexualverständnis, nur ein begrenztes Recht hat. Wie 19 Holger Tiedemann Holger Tiedemann, Jahrgang 1966, promovierte 1998 mit seiner Arbeit zum paulinischen Sexualverständnis in Foucaultschcr Perspektive am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg. Zur Zeit arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am dortigen Fachbereich für Erziehungswissenschaft. Paulus sexuelles Begehren interpretiert, ist weder das Resultat akademischer Bildung noch Gegenstand der Christusoffenbarung vor Damaskus. Es ist zum überwiegenden Teil antik-mediterranes Geimeingut. 3. Zeitenwende: Die Beharrlichkeit von Sexualverständnissen und graduelle Transformationen Die späte römische Republik und das erste Jahrhundert des römischen Kaiserreichs stecken sowohl geographisch wie zeitlich die Grenzen ab, innerhalb derer hier nach den fraglichen Rastern gefahndet werden soll. Natürlich ließe sich weiter differenzieren (>jüdisch" ,hellenistisch" ,jüdischhellenistisch,). Doch die gewählte Makrooptik hat auch ihre Vorteile: Sie läßt das Ineinander der verschiedenen Kulturkreise gewahrwerden. Mentalitäten, grundlegende Anschauungen des alltäglichen Lebens (z.B. die Erfahrung und Interpretation von Geschlechterverhältnissen), machen nicht an Provinzgrenzen halt. Schon gar nicht im römischen Reich und erst recht nicht vor oder hinter den Mauern der Versammlungsstätten christlicher Ortsgemeinden. 20 Hierarchien des Begehrens Der signifikanteste Unterschied einer modernen Konzeption von sexuellem Begehren und der antik-mediterranen ist wohl der: Wir definieren nach gut 100 Jahren moderner Sexualwissenschaft Begehren über das biologische Geschlecht des Begehrten. Entsprechend lauten unsere ordnenden Kategorien ,hetero-<, ,homo-< bzw. ,bisexuell<. Dieses Raster (,biologische Objektwahl,) ist in der Antike weitgehend unbekannt. Die Achsen des Koordinatensystems lauten hier vielmehr >aktiv/ passiv" >alt/ jung< und >frei/ unfrei<. Der Unterschied der Koordinatensysteme wird deutlich, wenn man sich die öffentliche Meinung, den Klatsch und Tratsch, der etwa über die römischen Kaiser erzählt wird, die Traktate der Moralisten oder die Grafiti in Pompeji ansieht. Daß ein Mann einen Mann begehrt und zugleich vielleicht noch Frauen das ist so interessant wie die berühmten Reissäcke in China. Aber: Wenn jemand, der über das römische Reich herrschen soll, sich beim Sexualverkehr passiv verhält, also sich penetrieren läßt, cunnilingus oder fellatio praktiziert dann entsteht die Irritation bzw. der Skandal. 9 Mit anderen Worten: Das erwartete Sexualverhalten ist ein Abbild der sozialen Ordnung. Der freie, männliche Bürger soll aktiv sein (penetrieren), ist er es nicht wird er zum Gegenstand von Spott und Satire. Es gilt aber auch das Umgekehrte: Eine Frau oder ein Sklave, die >aktiv, werden, sind eine Ungehörigkeit, ja eine Monstrosität. 10 Begehrt etwa eine Frau eine Frau, dann geraten zwei aneinander, die passiv sein sollen. Ordnungsgemäßer Sexualverkehr setzt aber nach antikem Verständnis voraus, daß mindestens einer der Beteiligten aktiv ist. Wie verhält sich Paulus zu dieser asymmetrischen Konzeption von Begehren? Er teilt sie (a) und partizipiert zugleich an Transformationen, die auch andernorts zu beobachten sind (b ). ad a) Die Sexualparänese in IThess 4,3-6 richtet sich an Männer. Sie werden aufgefordert, mit ihren Frauen ordnungsgemäß (das heißt: nicht leidenschaftlich) zu verkehren. Frauen als aktiv Begehrende kommen hier nicht in den Blick. Paulus teilt die Anschauung, daß Frauen in besonderer Weise der Gefahr ausgesetzt sind, scham-los zu werden ( und verordnet daher den Schleier, I. Kor 11). Und ihm ist, wie vielen seiner Zeitgenossen, gewiß, daß Frauen, die Frauen begehren, etwas ZNT 2 (1998) Abb. Petrus und Paulus, Patmos, Kloster des HI. Johannes (16. Jh.) tun, was gegen die Ordnung der Natur verstößt (Röm 1,26f). ad b) Zu den kleinen Revolutionen der späten Republik bzw. frühen Kaiserzeit gehört die Tatsache, daß an ganz verschiedenen Orten das geschlechtsspezifische aktiv-passiv-Schema relativiert wird. Ein Denken der Gleichheit/ Reziprozität bricht sich Bahn (ohne allerdings dominierend zu werden). So etwa spielt der stoische Moralist Musonius (Diatr. XII) mit dem Gedanken, man möge doch einmal die Rolle des Ehegatten und die seiner Gattin austauschen. Für beide soll das Gleiche gelten (sie sollen keinen Ehebruch begehen). Der gleiche Moralist stellt die These auf, daß der Mann, der aktiv einen anderen begehrt, letztlich gar nicht aktiv sei, sondern >beherrscht, nämlich von seiner Leidenschaft. - Anders in der Stoßrichtung, aber im Effekt ähnlich die Poeten der römischen Elegie: Hier wird es plötzlich schick, daß erwachsene Männer sich als ,Sklaven< einer/ eines Geliebten inszenieren. So wünscht sich Tibull von seinem Geliebten Marathus (1,9.21f): »Lieber, versenge mein Haupt, schlage meinen Körper mit dem Schwert, mit geflochtenem Seil geißle meinen Rücken wund.« Auch im Judentum läßt sich beobachten, daß ZNT 2 (1998) die asymmetrische, geschlechtsspezifische Begehrenskonzeption relativiert wird. Signifikant ist etwa die Begründung, die die Essener dem Verbot einer Nichtenehe geben. Diese ist anders als die Neffenehe (Lev 18,12)-von der Tora nicht verboten. Die Essener übertragen die Bestimmung bezüglich der Neffenehe auf die von Onkel und Nichte, denn: »Das Recht der verbotenen Sexualbeziehungen ist zwar im Blick auf Männer geschrieben, doch die Frauen sind wie sie« (0 CD V,9f). »Die Frauen sind wie sie« unüberhörbar sind damit neue Töne im sexualethischen Diskurs angeschlagen. Die Relativierung (nicht: Beseitigung) der Geschlechterhierarchie ist nun ebenfalls bei Paulus zu beobachten. Verwiesen sei dafür nur auf Gal 3,28, aber auch auf I Kor 7: Dieses Kapitel zeigt (anders als IThess 4) ein auffallendes Bemühen des Paulus, seine sexualethischen Anweisungen reziprok zu formulieren: »Der Mann soll seine Pflicht gegenüber der Frau erfüllen und ebenso die Frau gegenüber ihrem Mann. Nicht die Frau verfügt über ihren Leib, sondern der Mann. Ebenso verfügt nicht der Mann über seinen Leib, sondern die Frau« (IKor 7,3f). Angemerkt sei, daß die Ehe hier als ein Verhältnis von Pflicht und Schuldigkeit aufgefaßt wird; in gleicher Terminologie wird Paulus das Verhältnis des Christen zum Staat charakterisieren (Röm 13). Im ganzen Kapitel I Kor 7 fällt das Stichwort ,Liebe, nirgends. Liebe in der Ehe - und diese Ansicht teilt Paulus mit vielen seiner Zeitgenossen ist eher etwas Unerwartetes. Der Körper der Gemeinschaft Wie jemand begehrt, erklären wir heute durch zu Rateziehen seiner Biographie (frühe Kindheit) oder durch kontingente Genbzw. Hormonmischungen. Unser Raster ist orientiert am je eigenen Geschick, das einen hetero-, homo-, bisexuell oder >pervers< begehren läßt. Dies sind nun aber für den antiken Sexualdiskurs ganz untergeordnete Fragen. Vorherrscht vielmehr etwas, was man >kommunitäres Sexualverständnis< nennen könnte: Spezifisches Sexualverhalten wird Völkern, Sozialverbänden zugeschrieben, nicht dem Einzelnen: Die Heiden begehren so (nämlich »widernatürlich«, Röm 1,26f), die Juden so (sie wissen, daß sie nicht ehebrechen sollen, tun es aber trotzdem, Röm 2,22). Natürlich weiß Paulus, daß diese Urteile im 21 höchsten Maße ungerecht sind und dem Einzelfall nicht gerecht werden. Doch weil Begehren für ihn (und seine Zeitgenossen) grundlegend die Eigenschaft eines Sozialverbandes ist, hat diese Verallgemeinerung für ihn ihr Recht. Der Konnex ist typisch antik-mediterran. Er findet sich bei jüdischen Autoren wie Philo ebenso wie bei paganen. 11 Sexuelles Begehren wird so zu einem Element bei der Ausformung einer kollektiven Identität: Wir sind die, die nicht so begehren wie jene. Abgrenzung nach außen, Identitätsaffirmierung nach innen sind zwei Funktionen dieser kommunitären Konzeption von sexuellem Begehren. Diese hat jedoch noch einen folgenreichen Nebenaspekt: Das Begehren des Einzelnen affiziert den ganzen Sozialverband. Bei Paulus tritt diese Anschauung besonders deutlich bei der Erörterung des Inzest-Falls (IKor 5) hervor: Wenn jemand mit seiner (Stief-)Mutter sexuell verkehrt, dann entsteht eine Frevelsphäre, die nicht nur die beiden Übeltäter umfaßt. Das Begehren ufert aus: Die ganze Gemeinde ist davon bedroht vom »wenigen Sauerteig« (II Kor 5,6) durchsäuert zu werden. Unrechtes Begehren evoziert eine Unreinheit, die sich, ist sie erst einmal in die Welt gesetzt, ausdehnt auf alles, was sich ihr nicht entschieden entgegenstellt. Daher kennt Paulus kein Pardon und befiehlt der allzu toleranten Gemeinde in Korinth: »Schafft den Übeltäter weg aus eurer Mitte! « (IKor 5,13). Es ist wohl auch diese unterstellte Dynamik der Unreinheit, die die Qumran-Essener zu ihrem ,Exodus aus Jerusalem< bewogen haben mag. Dort nämlich geschieht in den Augen der Essener Schandvolles: Männer nehmen »zwei Frauen in ihrem Leben« 12 (0 CD IV,21) und Onkel heiraten ihre Nichten (0 CD V,7f). Für die wahrhaft Frommen reicht es nun nicht zu wissen, daß man derlei nicht tut. Sondern: diese müssen sich absondern, sie müssen ausziehen »aus dem Land Judah und Wohnung nehmen im Lande Damaskus« (0 CD VI,5). Sogar die (unwillentliche) Autoerotik läßt eine Unreinheitssphäre entstehen, die die Reinheit der Gemeinde bedroht: Wer einen nächtlichen Samenerguß hat, muß sich einem siebentägigen Reinigungsritual unterziehen. Berühren andere ihn, sind sie ebenfalls unrein (4Q 274, Frag. 1,Sf). Die Programmschrift der Tempelrolle sieht vor, drei Plätze im Osten der Heiligen Stadt zu errichten: für die Aussätzigen, die Ausflußbehafteten und die Spermabefleckten ( 11 Q XLVI, 17f). 22 Als die geheime Mitte fast aller sexualethischen Dispute dieser Zeit läßt sich die Frage benennen: Wie potent ist das (Un-)Heilige? Auf menschlicher Ebene spiegeln sich die Antworten auf diese Frage in den verschiedenen Reinheitsvorschriften wider. Wenn man die Flüssigkeit aus einem reinen Gefäß in ein unreines gießt steigt dann die Unreinheit des unteren Gefäßes auf in das Ausgangsgefäß? Die Sadduzäer (und mit ihnen die Essener) meinen: Ja. Die Pharisäer lehnen dies ab. Für Paulus stellt sich eine analoge Frage in Hinblick auf Mischehen (IKor 7,12ff): Wenn ein Heide mit einer Christin verheiratet ist überträgt sich seine Unheiligkeit auf den christlichen Partner oder etwaige Kinder? Paulus antwortet: Nein. Die Heiligkeit ist so wirkmächtig, daß sie den Kontakt mit dem Unheiligen nicht zu scheuen braucht. Anders lautet die Auskunft allerdings im Hinblick auf den Inzest-Fall (I Kor 5 ): Hier ist die Potenz des Unreinen ungebrochen, der Kampf mit ihm noch nicht entschieden. Gleiches gilt für den Verkehr mit einer Unzüchtigen (I Kor 6), wo dem Christen nur eines bleibt: die Flucht vor der Porneia anzutreten. Die Römer lassen sich weniger durch ausgreifende dämonische Mächte schrecken, gleichwohl ist auch hier das sexuelle Begehren keineswegs Privatangelegenheit (schon deshalb nicht, weil mit Augustus der Staat zunehmend Geschlechterverhältnisse reglementiert). Mit dem Begehren stehen Scham und Ehre des ganzen Hauses (domus) auf dem Spiel. Kommt es etwa zum Ehebruch einer Frau, so hat sie nicht nur ihren Gatten geschädigt, sondern dessen Anverwandtschaft gleich mit. Die Auffassung von Persönlichkeit, die diesen Sexualethiken zugrundeliegt, ist von modernen Konzeptionen fundamental unterschieden. Im Mittelpunkt antiker Sexualethik steht nicht ein Individuum, das mit seinem Gewissen auszuhandeln hätte, wie es sein Begehren auf rechte Bahnen bringt, sondern die »dyadische Persönlichkeit« 13 : Das Ich ist immer eingebettet in einen Sozialverband; Rechtverhalten bedeutet demgemäß primär: den Erwartungen anderer zu entsprechen, sich keinen Scham- oder Ehrverlust zukommen zu lassen. Die Grenzen des zu kultivierenden Körpers fallen nicht mit denen von Fleisch, Blut und Knochen zusammen. ZNT 2 (1998) Metaphysiken des Begehrens Das Interpretationsraster, das Paulus und seine Zeitgenossen zur Geltung bringen, ist in hohem Maße von einer >Metaphysik des Begehrens< geprägt. Kommt es zu unrechtmäßigem Begehren, so haben dämonische Mächte ihre Finger im Spiel, vor denen die Frommen zu fliehen haben (IKor 6,18). Wer falsch begehrt, mag sich zudem noch dieses oder jenes zuschulden kommen lassen, vor allem jedoch ist er ein »Götzendiener« (Röm 1,18ff). Er ist in den Fängen Belials, Liliths oder unterliegt anderen Einflüßen, die sich seiner Intentionalität entziehen. Dieser unterstellte Konnex mit einer göttlich-dämonischen Sphäre ermöglicht es zugleich, deren Bewohner um Beistand und Hilfe zu bitten, stößt das eigene Begehren einmal auf seine Grenzen, z.B. wenn der oder die Begehrte nichts vom Begehrenden wissen will. Wie nah sich Diesseits und Jenseits in sexueller Erfahrung kommen können, dokumentieren die in reicher Zahl vorliegenden (z. T. christlichen) Zauberpapyri eindrücklich (und nicht selten in erschreckender Weise). Die unterstellte aufdringliche Nähe dieser beiden Wirklichkeitssphären führt zugleich zu männlichen Befürchtungen, die uns heute eher skurril erscheinen: Gelegentlich werden Paulus und seine Zeitgenossen von der Angst beschlichen, Frauen könnten sexuell mit Engeln verkehren. 14 Rechtmäßiges Begehren ist demgemäß nicht ein Verhalten wie viele andere auch. Es rückt ein in das Forum letzter Dinge. Das heißt: Hier steht nicht mehr und nicht weniger auf dem Spiel als das, was es mit Gott und der Welt auf sich hat. Ist jemand Asket, so ist dies nicht schlichte Veranlagung, sondern eine »Gabe Gottes« (IKor 7,7). Will jemand unbedingt heiraten, muß er sich von Paulus sagen lassen, daß damit das Erreichen des letzten Zieles die ungeteilte Sorge um den Herrn (I Kor 7,32) erschwert wird. Der Ehe wohlgesonnener sind Musonius und Epiktet, doch auch bei ihnen steht mit dem Begehren letztes auf dem Spiel: Ehe ist »Gottesdienst« 15 , wer heiratet und Kinder zeugt, kommt den göttlichen Naturgesetzen 16 nach. Die verschiedenen Metaphysiken des Begehrens unterscheiden sich inhaltlich natürlich beträchtlich. Vergleichbar sind sie jedoch strukturell: Eingesenkt in den Sexualakt wird die Möglichkeit, Menschsein schlechthin zu verfehlen bzw. schlechthin gelingen zu lassen. ZNT 2 (1998) Selbstverhältnisse Stellt man sich die Geschichte der Geschlechterverhältnisse als ein Schauspiel vor, so stünde vor dem Akt, der hier zu betrachten ist, die Regieanweisung: >Auftritt: Jungfrau, Asket, Ehepaar.< Nicht, daß diese dem Publikum nicht schon bekannt wären. Sie haben in den vorangegangenen Akten durchaus bereits ein Stelldichein gegeben. Allein: Jetzt halten sie tragende Monologe. - Neubesetzt werden die Nebenrollen des Stücks: hier ein gleichgeschlechtlich begehrendes Männerpaar, dort jemand, dessen Begehren von Hetären und Konkubinen nicht lassen mag. Aber diese sind nun Statisten, Kolorit für die neuen Erzählungen von asketischem Eifer und ehelicher Treue. Das neue Arrangement ist keine christliche Erfindung: Christliche Eheleute und Asketen folgen nur in spezifischer Weise einer Regieanweisung, die die Zeit der späten Republik und frühen Kaiserzeit prägt. Galt es ehedem, via sexuelles Begehren einen gesellschaftlichen Status zu manifestieren, das heißt: angesichts der öffentlichen Meinung zu zeigen, ob man zu den Herrschern oder den Beherrschten gehört, so wird nun das Begehren einem anderen Regime unterworfen. Der neue Gouverneur heißt: das Selbst. Die neue Regieanweisung hat für den sexualethischen Diskurs gravierende Konsequenzen: Debattierte man zu Zeiten der griechischen Klassik und noch im Hellenismus heftig das Problem, inwiefern es gestattet sei, einen Knaben, der später einmal ein freier Bürger sein würde, zu penetrieren, so verliert dieses Thema jetzt deutlich an Brisanz. Neue Themen drängen sich auf: Läßt sich zwischen Ehemann und Ehefrau ein Verhältnis der Gegenseitigkeit etablieren? Erste Testläufe, die Liebe in der Ehe zu erproben, werden gestartet. Bei Seneca (Medea) führt dies noch zur Katastrophe. Ein halbes Jahrhundert später bei Plutarch (Erotikos) nimmt das Ganze nach allerlei Wirren einen guten Ausgang. Neu sind auch Einsichten wie die Senecas: Auch wer in Gedanken die Ehe bricht, hat sie gebrochen. 17 Musonius schließlich konstatiert: Auch Schande, die im verborgenen bleibt, ist Schande. 18 Das sexualethische Sollen beabsichtigt zunehmend weniger Außenwirkung, sondern macht sich daran, den Kosmos des Selbst zu ordnen. Es wäre historisch unsinnig, wollte man diese 23 Entwicklung dem Christentum zuschreiben. Das Christentum partizipiert an ihr. Die Selbstbeherrschung und die Enthaltsamkeit sind keine ErfindungenJesu oder der Apostel. Ihre Botschaft ist allerdings kompatibel mit einer Stimmung, die sich nach dem Zerbrechen der Polis und der Entmachtung des Demos auch auf dem Gebiet der Sexualethik auswirkt 19 : Die, denen die Möglichkeit tatsächlicher politischer Mitverantwortung genommen ist, die immer weniger die Möglichkeit haben, Macht, Ehre und Scham gesellschaftlich zur Schau zu stellen die müssen sich nach anderen Möglichkeiten umsehen, Dignität darzustellen. (Sexual-)Moral ist kein Gesellschaftsereignis mehr wie man sich zu sich selbst verhält, das wird nun zunehmend ethischer Reflexion unterworfen. Paulus fügt sich in diese Entwicklung (fast) nahtlos ein. Offeriert wird hier eine Moral, für die der in der Öffentlichkeit erzielte Effekt von marginaler Bedeutung ist. Diese Moral macht wie die der Stoa das Angebot, unter gewandelten gesellschaftlichen Bedingungen, Dignität kontrafaktisch zu erfahren 20 : Was heißt es schon, realiter ein Sklave zu sein, wenn man doch »Glied am Leibe Christi« (IKor 12,13) ist? Oder, in den Worten der Stoa: Was bedeutet es schon, nicht das Bürgerrecht Roms zu besitzen, wenn man doch »Bürger der Tugendstadt« ist (und hier fast jede erdenkliche Freiheit herrscht) ? 21 Für die Sexualethik heißt dies: Die ,Sklaven" über die man nun zu gebieten hat, sind immer weniger die frei verfügbaren Hausangestellten, sondern die Affekte und Leidenschaften. Die dyadische Persönlichkeit verinnerlicht das gesellschaftliche Arrangement. Eine unüberbietbar radikale (und erschreckende) Version dieser auf das Selbst als Herrscher und Beherrschten zugleich konzentrierten Sexualmoral findet sich in Gal 5,24: »Alle, die zu Christus Jesus gehören, haben das Fleisch und damit ihre Leidenschaften und Begierden gekreuzigt.« An keiner anderen Stelle hat Paulus Christologie so drastisch in Sexualethik gewendet. Bemerkenswert ist, daß Christ und Christin hier zugleich in die Position Christi wie in die seiner Mörder rücken. 22 Das Begehren und die Angst Spätestens seit Sigmund Freud interpretieren wir Menschsein so, daß das sexuelle Begehren zu seiner 24 Abb. Hugo van der Groes: »Der Sündenfall« (15. Jh.) Grundausstattung gehört. Freud verstand bekanntlich bereits das ,Wonnesaugen< des Säuglings an der Brust der Mutter als sexuellen Akt. Theologisch könnte man diesen Gedanken so übersetzen: Das Begehren ist schöpfungsgemäß. Besieht man sich die Fülle der Interpretationen, die die Geschichte von Schöpfung und Fall (Gen 1-3) in dem betrachteten Zeitabschnitt hervorruft, so wird man schlußfolgern müssen, daß genau dies für Paulus und einen Teil seiner Zeitgenossen eine offene Frage ist: Ist das Begehren wirklich auf Gott zurückzuführen? Gehört es zur Grundausstattung des Menschen? Eine hochkomplexe Beantwortung der Frage trägt das Jubiläenbuch (2. Jh. v. Chr.) in seiner Paraphrase der Schöpfungsgeschichte vor: Vor dem Eintritt ins Paradies bemerkt Adam durch Beobachtung der Tiere, daß ihm etwas fehlt. Gott erbarmt sich des einsamen Adams, erschafft ihm eine Frau und der Beischlaf (das »Erkennen«) wird vollzogen (3,6). Doch erst nach 40 Tagen der Reinigung darf Adam das Paradies betreten, Eva gar ZNT 2 (1998) erst nach 80. Die Konstruktion des Jubiläenbuches erlaubt es daher, zum einen an der Schöpfungsgemäßheit geschlechtlicher Vereinigung festzuhalten, zum anderen jedoch, die damit evozierte Unreinheit aus Eden, dem Archetypen des Tempels, fernzuhalten. Radikalere Positionen finden sich in der Apokalyptik. Nach der ApkMos (1. Jh. n. Chr) leben Adam und Eva im Paradies zunächst in getrennten Bezirken. Das schiedlich-friedliche N ebeneinander hat ein Ende, als der Teufel sich die Schlange als Komplizin erwählt. Mit dieser im Verbund wird er die anthropologische Voraussetzung dafür schaffen, daß Adam und Eva ,zusammenrücken< und später 63 Kinder ihr eigen nennen können. Der Grund hierfür ist das der verabreichten Frucht beigemengte Gift der Begierde: »Die (sc. die Schlange) tat aber an ihre Frucht, die sie mir zu essen gab, das Gift ihrer Bosheit, d. i. ihrer Begierde; denn die Begierde ist der Anfang aller Sünden.« 23 Ursprünglich kennen die Erstgeschaffenen die Begierde nicht. Apokalyptischer Dualismus kann geradezu in eine Polemik gegen die Schöpfung bzw. in der Theodizee-Frage münden. Hierfür sei auf die ApkAbr (23) verwiesen: Der Apokalyptiker blickt in den Garten Eden und sieht dort Mann und Frau engumschlungen unter einem Baum. Es ergeht eine Belehrung, die darüber aufklärt, daß Adam mit der Begierde und Eva mit dem Trieb gleichzusetzen sei. Die Schlange, eine Inkarnation des gefallenen Engels Asasel, steht für die ,Gottlosigkeit ihres Unternehmens<. Verständlicherweise bricht es aus dem Apokalyptiker hervor: »Urewiger Starker! Warum hast du es erlaubt, daß das Böse im menschlichen Herzen begehrt wird? Denn du zürnst über das, was erlaubt wurde von dir in deinem Rate.« 24 Das menschliche Begehren läßt eine Aporie im Willen Gottes aufbrechen. Es gilt als schöpfungsgemäß, es wurde von Gott erlaubt doch diese Erlaubnis ist nur vordergründig die Gottes. Dieser hat sein Recht partiell an Asasel abgetreten, um die Menschen wegen ihrer Böswilligkeit ins Verderben stürzen zu lassen. In den diskutierten Texten spiegelt sich eine massive Verunsicherung über die Legitimität des Begehrens wider: Warum kann das, was Gott erlaubt hat, Strafe nach sich ziehen? Hat er es gar nicht erlaubt? Hat er es nicht in Eden erlaubt? Haben Adam und Eva sich uranfänglich begehrt oder ZNT 2 (1998) ist dieses Begehren auf den Teufel, die Schlange bzw. Asasel zurückzuführen? Derartigen Zweifeln ist vielleicht am entschiedensten der Autor des IV Makk entgegengetreten. Energisch schärft er die Schöpfungsgemäßheit des Begehrens ein: »Am Tag nämlich, als Gott den Menschen schuf, hat er ihm auch seine Leidenschaften und Charaktereigenschaften mit eingepflanzt. Gleichzeitig hat er als heiligen Gebieter über sie alle durch die Sinneswerkzeuge den Verstand inthronisiert und diesem ein Gesetz gegeben. «25 Diese Position ist es (und nicht die des Verfassers der ApkAbr), die sich im Rabbinismus durchsetzen wird. Entgegen der altkirchlichen Abwertung der Ehe beharrt man entschieden darauf, daß in Eden sexuell miteinander verkehrt wurde, mithin auch für die Gegenwart das >Modell Ehe, - und nicht das >Modell Askese, zu propagieren ist. 26 Indirekt nimmt Paulus an der skizzierten Debatte teil. Seine Position wird deutlich in dem so heftig debattierten siebten Kapitel des Röm: » Ich hätte ja von der Begierde nichts gewußt, wenn nicht das Gesetz gesagt hätte: Du sollst nicht begehren. Die Sünde erhielt durch das Gebot den Anstoß und bewirkte in mir alle Begierde, denn ohne das Gesetz war die Sünde tot. Ich lebte einst ohne das Gesetz; aber als das Gebot kam, wurde die Sünde lebendig« (Röm 7,7-9). Hinzuweisen ist zum einen darauf, daß ,Begierde, für Paulus einen sehr viel umfassenderen Sinn hat als >sexuelles Begehren< (man sollte aber nicht bestreiten, daß dieses eben auch und zwar in besonderem Maße mitgemeint ist 27 ). Zum anderen ist der Sprecher von Röm 7 nicht einfach mit Paulus zu identifizieren, der hier über seine Biographie Auskunft gibt. Das Ich in Röm 7 ist typisiert 28 : an ihm soll Allgemeines deutlich werden. Der Sprecher vom Röm 7 scheint seine Existenz dabei im Lichte des Adam- Geschickes zu interpretieren. 29 Dafür spricht, daß bei Adam zunächst keine Kenntnis des Gesetzes vorauszusetzen ist (vergl. Röm 7, 9), er aber alsbald mit dem göttlichen Gebot konfrontiert wird (Röm 7,9, vergl. Gen 2,16 LXX). Verbinden läßt sich Röm 7 mit der Geschichte von Schöpfung und Fall auch anhand des Motives ,Täuschung durch den Widersacher< (Röm 7,11, vergl. Gen 3,13 LXX). Liest man Röm 7,7-13 vor dem Hintergrund der Diskussion um die Schöpfungsgemäßheit des Begehrens, so erfährt man vergleichsweise wenig 25 über den von Paulus unterstellten status integritatis. Nur soviel: Das Ich lebte, die Sünde war tot, Gesetz und Begehren waren unbekannt. Paulus steht damit in Nähe zur ApkMos: Das Begehren ist weder Gabe Gottes noch Eigenschaft des Menschen. Es muß auf eine dritte Größe das Gesetz, nach Gal 3,19 von einem Engelwesen, nicht von Gott erlassen zurückgeführt werden, die jenes paradiesische Einst zerbrechen läßt. Für den Menschen unter dem Gesetz gibt es nach Paulus nicht die Möglichkeit, sich der totbringenden Fleischmacht zu entziehen. Eine solche gibt es erst in Christus. Allerdings um was für einen Preis: Der sekundäre anthropologische Zuwachs Begehren wird durch einen tertiären Zuwachs den Geist zumindest potentiell wieder beseitigt, »gekreuzigt« (Gal 5,16ff). Fleisch und Blut als Sitz des Begehrens können das Himmelreich nicht erben (I Kor 15,50). E. R. Dodds hat die ersten nachchristlichen Jahrhunderte ein »Zeitalter der Angst« genannt. Er vermochte seine These zu belegen durch die Beobachtung einer keineswegs nur im Christentum grassierenden Leib- und Sexualfeindschaft: Der Haß auf die Welt wende sich gegen das eigene Ich. Er erklärte diese Wendung durch die Annahme einer kollektiven, »endogenen Neurose«, als »Anzeichen starker und weitverbreiteter Schuldgefühle.«30 Wenn man gegenüber dieser Diagnose wegen ihres anachronistischen Vokabulars auch Vorbehalte anmelden kann, so lenkt sie doch den Blick auf eine Quelle der paulinischen Sexualethik, der man bisher vielleicht zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat: die Angst. Paulus und wir Nur noch wenige dürften wissen, was Paulus in IKor 5-7, Gal 5, Röm 1, IThess 4 etc. geschrieben hat, aber die sexualethischen Anschauungen, die sich hier manifestieren, haben unsere Kultur geprägt. Der Strom der Tradition und die Arbeit von Kommentatoren haben dabei zu einer optischen Täuschung geführt: Wir fühlen uns Paulus intuitiv näher als etwa Philo von Alexandrien oder Musonius. Nicht selten werden dabei die paulinischen Verse zu einem »Rorschach-Test« (Peter Brown), der die Interpreten des Apostels kaum etwas anderes als ihre eigenen Gegenwartsideale erkennen läßt. Immer wieder wird z.B. die gänzlich unpau- 26 linische Trias von >Liebe, Ehe und Fortpflanzung, zum Inbegriff christlicher Sexualethik erklärt. Historisch-kritische Forschung wird diesen Eindruck zu korrigieren haben und die Fremdheit des paulinischen Sexualverständnisses herausstellen. Die Vorstellungen von Persönlichkeit, Reinheit und Unreinheit, Scham und Ehre, die seine Sexualethik prägen, sind nicht restituierbar. Damit sind die Briefe des Apostels sexualethisch keineswegs in die Indifferenz entlassen. Sie enthalten Denk- und Erfahrungsangebote, die für die Gegenwart durchaus attraktiv und in neuer Funktionalität reformulierbar sein können. Für eine christliche Sexualethik, sofern sie sich denn als biblische versteht und das Schriftprinzip ernst nimmt, besteht kein Grund, die Aussagen des Paulus zu verabsolutieren. Sie hätte eben dem nachzudenken: daß die Bibel selbst im Dialog mit nicht-biblischen Schriften eine stete Verschiebung des Evidenzraumes dokumentie; t, der es erlaubt, Begehren zu taxonomieren und überkommene Taxonomien in Frage zu stellen. Der amerikanische Judaist David Biale hat dies in Bezug auf das AT als »politics of sexual subversion« 31 beschrieben: Immer wieder läßt sich im AT beobachten, wie sexuell anstößiges, ja verbotenes Verhalten zum Bestandteil des göttlichen Heilsplanes wird (Gen 12; Gen 38; Jos 2; ISam 20; II Sam 11f etc.). Die Rabbinen sind für diese Abweichungen und Transformationen sehr aufmerksam gewesen. Auf die Frage, warum der fromme Abraham seine Frau Sara nicht aus der Ehe entlassen hat, wenn es doch geboten ist, sich von einer Frau nach erwiesener zehnjähriger Unfruchtbarkeit scheiden zu lassen, antwortet Rabba (bYev 64a): »All diese Normen gelten nicht. Merke, unsere Mischna ist ja von Rabbi redigiert, und schon zur Zeit Davids ist die Lebensdauer gekürzt worden, denn es heißt: unsere Lebensdauer ist siebzig Jahre.« Im Nachzeichnen dieserauch von Jesus und Paulus reichlich praktizierten - Redigiertätigkeit, deren Ziel weder das neutestamentliche Zeitalter noch die Gegenwart ist die Evangeluten nennen als Zielpunkt das Reich Gottes-, gewinnt historische Forschung geradezu einen theologischen Sinn: Sie macht aufmerksam auf die Freiheit der Kinder Gottes (Gal 5,1), sich gegenüber vermeintlich sakrosankten symbolischen Ordnungen, dem »Gesetz in den Gliedern« (Röm 7,23), kritisch zu verhalten. ZNT 2 (1998) 4 Anmerkungen Aus dem Gedicht: »Nimmersatte Liebe« (1828). Aus der Fülle der Literatur seien genannt: Foucault, M., Sexualität und Wahrheit Bd. 1-3, Frankfurt am Main 1983ff; Winkler, J., Der gefesselte Eros. Sexualität und Geschlechterverhältnis im antiken Griechenland, Marburg 1994; Richlin, A., The Garden of Priapus. Sexuality and Aggression in Roman Humor, New Haven und London 1992 2; Cantarella, E., Bisexuality in the Ancient World, New Haven und London 1992; Cohen, D., Law, Sexuality, and Society. The Enforcement of Morals in Classical Athens, Cambridge 1994; Meyer-Zwiffelhoffer, E., Im Zeichen des Phallus. Die Ordnung des Geschlechtslebens im antiken Rom, Frankfurt am Main und New York 1995. Vergl. Boswell, J., Christianity, Social Tolerance, and Homosexuality, Chicago und London 1980; Brown, P., Die Keuschheit der Engel, München und Wien 1991; Malina, B., Die Welt des Neuen Testaments. Kulturanthropologische Einsichten, Stuttgart u.a.O. 1993; Countryman, L.W., Dirt, Greed and Sex, London 1989; Berger, K., Historische Psychologie des Neuen Testaments, Stuttgart 1991; Brooten, B., Love Between Warnen. Early Christian Responses Toward Female Homoeroticism, Chicago und London 1996; Theißen, G., Eros und Urchristentum. Am Beispiel des Paulus, in: Pott, H.-G. (Hg.), Liebe und Gesellschaft. Das Geschlecht der Musen, München 1997, S. 9-30; Tiedemann, H., Die Erfahrung des Fleisches. Paulus und die Last der Lust, Stuttgart 1998. Douglas, M., Ritual, Tabu und Körpersymbolik, Frankfurt am Main 1986, S. 106. Braudel, F., Geschichte und Sozialwissenschaften - Die »longue duree«, in: Wehler, H.-U. (Hg.), Geschichte und Soziologie, Königsstein/ Ts. 1984, S. 189-215. 6 Vergl. Bourdieu, P., Die männliche Herrschaft, in: Dölling, I. und Krais, B. (Hg.), Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis, Frankfurt am Main 1997, S. 153-217. Vergl. z.B. Betz, H.D., Das Problem der Grundlagen der paulinischen Ethik (Röm 12,1-2), in: ZThK 85 (1988), S. 199-218; Lindemann, A., Die biblischen Toragebote und die paulinische Ethik, in: Schrage, W., (H.), Studien zum Text und zur Ethik des Neuen Testaments, Berlin und New York 1986, S. 242-265. Vergl. z.B. Holtz, T., Zur Frage der inhaltlichen Weisungen bei Paulus, in: ThLZ 106 (1981), Sp. 385-400; Rosner, B., Paul, Scripture and Ethics. A Study of 1 Corinthians 5-7, Leiden 1994. 9 So wurde der an sich rühmliche Cäsar zum Gegenstand eines Gassenhauers, von dem bei Sueton berichtet wird (Cäsar 49): »Gallien unterwarf der Cäsar, Nikomedes Caesar einst; Siehe, Caesar triumphiert jetzt, der die Gallier unterwarf; Nikomedes triumphiert nicht, der den Cäsar unterwarf.« 70 Vergl. z.B. Martials Ausfälle gegenüber der Tribade Phi- ZNT 2 (1998) laenis (epigr. 7,67; Übersetzung: W.A. Krenkcl): »Die Tribade Philaenis bumst gar Knaben wilder als ein vor Gier gespanntes Mannsbild - und verstöpselt dazu elf Mädchen täglich.« 11 Beispiele: Die Sybariten treiben es mit Tieren (Philo, SpecLeg 3,43 ), die Mager verkehren mit ihrer Mutter, die Ägypter mit ihrer Schwester (Sextus Empiricus, pyrrh. 205). 12 Die Bedeutung der Wendung ist umstritten. Fraglich ist, ob hier jede Form der Polygamie verboten ist oder nur eine erneute Verheiratung solange die erste Ehefrau noch lebt. 13 Vergl. Malina, B., Welt, a.a.O., S. 69-76. 14 Diese Angst dürfte im Hintergrund der Schleieranordnung (I Kor 11,10) stehen. Vergl. auch lQGenAp II; JosAs 15,8. 15 Epiktet, Diss. III, 29.69. 16 Musonius, Diatr. XIV 17 Seneca, De constatia sapientis 7,2. 18 Musonius, Diatr. XII. 19 Vergl. Vcyne, P., Die römische Gesellschaft, München 1995, S.114: »Von einer Moral statuarischer Handlungen zu einer Moral interiorisierter Tugenden: dies ist die große Mutation zwischen Cäsar und Marc Aurel. Sie ist es, die den Triumph des Christentums erklärt (statt dadurch erklärt zu werden): eine Gesellschaft, die sich eine solche Ethik zu eigen gemacht hatte, konnte den christlichen Ideen nicht widerstehen; sie rief sie sogar herbei.« 20 Vergl. Plümacher, E., Identitätsverlust und Identitätsgewinn. Studien zum Verhältnis von kaiserzeidicher Stadt und frühem Urchristentum, Neukirchen/ Vluyn 1987. 21 Vergl. Philos Schrift Quod omnis probus liber sit. 22 Diese Übertragung reizt zu psychologischen Deutungen. Was Thcißen (Psychologische Aspekte paulinischer Theologie, Göttingen 1983, S. 267) in Bezug auf Röm 7 schreibt, ließe sich auch für Gai 5 formulieren: »Christus tritt als stellvertretend handelndes und leidendes Modell auf: Ihn trifft die mit dem Gesetz verbundene aggressive Macht, ohne ihm ernsthaft zu schaden. Gott verurteilt ihn, aber er revidiert sein Urteil. Der Gekreuzigte wird erhöht. Die Gläubigen vollziehen dies Geschehen immer wieder in ihrem Innern nach. Sie lernen durch dies >verdeckte Verhalten<, sich angstfrei dem fordernden Gott zu nähern.« Hinzuzufügen ist, daß diese ,Angstfreiheit< in Gai 5 mit dem ,Tod der Begierden< erkauft wird. 23 ApkMos 19 (Übersetzung: C. Fuchs). 24 ApkAbr 23,11 (Übersetzung: Philonenko-Sayar). 25 IV Makk 2,21-23 (Übersetzung: H.-J. Klauck). 26 Vergl. Anderson, G., Celibacy or Consummation in thc Garden? Reflections on Early Jewish and Christian Interpretations of the Garden of Eden, in: HThR 82 (1989), s. 121-148. 27 Anders: Käsemann, E., An die Römer(= HNT Sa), Tübingen 19804, S. 186: » ... geschweige, daß an die Sexualität gedacht wäre.« - Eine Übertreibung ist es allerdings, wenn es bei D. Boyarin (A Radica! Jew: Paul and the Politics of Identity, Berkeley u.a.O. 1994, S. 165) 27 heißt: »However we may understand the soliloquy of Romans 7, I think a strong case can be made for the interpretation that Paul's theme in this chapter is sexuality and redemption from it.« 28 Allerdings ist der Gedanke kaum ohne einen biographischen Erfahrungshintergrund. Vergl. Theißen. G., Aspekte, a.a.O., S. 204: »Das nächstliegende ist, an ein »Ich« zu denken, das persönliche und typische Züge vereint.« 29 Vergl. Käsemann, E., Römer, a.a.O., S. 188f. 30 Dodds, E.R., Heiden und Christen in einem Zeitalter der Angst, Frankfurt am Main 1992, S. 43. UTB für Wissenschaft Klaus Berger Hermeneutik des Neuen Testaments UTB Mittlere Reihe 2035, 1998, ca. 300 Seiten, ca. DM 32,80/ ÖS 239,-/ SFr 30,50 UTB-ISBN 3-8252-2035-4 Klaus Berger geht es im vorliegenden Band um die Erstellung von Kriterien für die inhaltliche Schriftauslegung. Neben der grundlegenden systematischen Reflexion über das, was in der Exegese der Schrift geschieht, stehen konkrete Regeln der Umsetzung und Applikation heute. Beide Aspekte werden eher pragmatisch beantwortet. Der Horizont der deutschen idealistischen Philosophie wird verlassen. Statt dessen zeigt Berger, daß sich gerade von jüdischen Philosophen lernen läßt, wie die gesuchten Kriterien aussehen könnten. Der Versuch, historische Auslegung und zeitgenössische Neuanwendung auseinanderzuhalten, lehrt vor allem, methodisch nachdenklicher zu werden und Klarheit zu gewinnen. UTB FURWISSEN SCHAFT Francke A. Francke Verlag· Postfach 2560 · D-72015 Tübingen 28 Die Bergpredigt ausgelegt für Christen an der Schwelle zum 21. Jahrhundert REl'-.JHARD FELDMEl[R (HG.) VANDENHOECK & RUPRECHT Reinhard Feldmeier (Hg.) „Salz der Erde 1.1 Zugänge zur Bergpredigt. Biblisch-theologische Schwerpunkte, Band 14. 1998. 265 Seiten mit 6 Abbildungen, kart. DM 36,- / öS 263,- / SFr 33,-; bei Subskription der Reihe DM 32,40 / öS 237,- / SFr 30,lSBN 3-525-61358-X Die Bergpredigt mit ihrem Anspruch radikaler Nächstenliebe scheint heute, kurz vor der Jahrtausendwende, nicht mehr in die religiöse und gesellschaftliche Landschaft zu passen. Dies war für Theologen verschiedener Disziplinen (Exegese, Ethik, Pastoraltheologie und Religionspädagogik) der Anlaß, diesen zentralen Text des Christentums als Herausforderung unseres gegenwärtigen Selbstverständnisses neu zu Gehör zu bringen. Das Buch bietet eine Exegese des Textes, Überlegungen zur Ethik der Bergpredigt und viele Hinweise zur unterrichtlichen Erschließung in verschiedenen Jahrgangsstufen. Weitere Informationen: Vandenhoeck R Ruprecht, Theologie, 37070 Göttingen V&R Vandenhoeck &Ruprecht ZNT 2 (1998)