eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 1/2

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
121
1998
12 Dronsch Strecker Vogel

Homosexualität - eine Frage der Schöpfungsordnung

121
1998
Martin Hasitschka
znt120054
Martin Hasitschka Homosexualität eine Frage der Schöpfungsordnung Nicht nur aufgrund des geringen Umfanges der einschlägigen biblischen Texte, sondern auch wegen der weitgehenden Übereinstimmung in ihrer Auslegung scheint mir eine Kontroverse mit dem Beitrag von Wolfgang Stegemann nur in begrenztem Maß möglich zu sein. Ich stimme seinen Ausführungen grundsätzlich zu, insbesondere hinsichtlich der Auffassung, daß Homosexualität in der Bibel »weder verboten noch verdammt« wird und von malakos ist »weich« (vgl. Mt 11,8; Lk 7,25: Menschen in weichen/ feinen Kleidern). Im Kontext des Lasterkataloges bezeichnet malakos eine verwerfliche Art des Verhaltens (weichlich, verweichlicht) und dies auch in sexueller Hinsicht. Zwar nicht malakos, aber malakia (Weichlichkeit) verwendet Philo, SpecLeg 3,39-40, im sexuellen Sinn: Der Päderast (Knabenliebhaber) 2 fördert das schlimme Laster der daß es in Röm 1,26f nicht um Paränese geht, sondern eher um eine »Ätiologie«, jedenfalls um eine Aussage K' TROV Weichlichkeit, das verbunden ist mit Unmännlichkeit und Zügellosigkeit. Nicht zwingend ist die innerhalb eines größeren Argumentationszusammenhanges. Auch wenn es zu manchen Doppelungen zu seinen Ausführungen kommt, bringe ich zunächst eine eigene Textauslegung und versuche im Anschluß daran zwei unterschiedliche Sichtweisen hervorzuheben. Die drei für die Thematik relevanten Texte nennen homosexuelle Praktiken im Zusammenhang mit Lasterkatalogen, welche ihrerseits einen bestimmten Stellenwert in umfassenderer theologischer Argumentation haben. 1 1. 1Kor6,9 Der 10-teilige Lasterkatalog I Kor 6,9-11, durch den Paulus illustriert, was »Ungerechte« sind, die das Reich Gottes nicht erben werden, ist eine erweiterte Liste der bereits in 5,10 und 5,11 erwähnten Laster. Die Erweiterung betrifft vor allem den Bereich der Sexualität. Zu den schon in 5, 10.11 genannten »Unzüchtigen« (pornoi) kommen hinzu »Ehebrecher« (moichoi), »Weichlinge« (malakoi) und »mit Männern verkehrende Männer« (arsenokoitai). Daß der mit »Weichling« übersetzte Begriff malakos sexuelle Konnotation hat, ergibt sich m.E. bereits aus seiner Mittelstellung zwischen moichos und arsenokoites. Die Grundbedeutung 54 Annahme, daß unter malakos ein »Lustknabe« oder »effeminate call-boy« 3 zu verstehen ist. Der Begriff arsenokoites, »einer, der mit Männern geschlechtlich verkehrt«4, ist in der antiken Literatur vor Paulus nicht zu finden. 5 Wörtlich verstanden als »einer, der mit Männlichem (arsen) im Bett (koite) ist/ Beischlaf hat«, erinnert dieser Begriff an Lev 18,22 und 20, 13 in der Übersetzung der Septuaginta 6, zwei Weisungen, die im Kontext verschiedener Gebote über das sexuelle Verhaltenstehen (Lev 18,6-23; 20,10-21). Arsenokoites ist vielleicht ein unter dem Einfluß dieser Stellen gebildeter Neologismus, der möglicherweise aus dem hellenistischen Judentum stammt. 7 Er enthält ähnlich wie jene beiden Stellen weder eine Angabe über das Alter der betreffenden Person (Mann oder Kind), noch über die Art des Einverständnisses zur angedeuteten homoerotischen Praxis (freie Einwilligung oder Zwang). Wenngleich arsenokoites auch »Knabenschänder« oder »Päderast« bedeuten kann 8, ist eine Einschränkung des Begriffsinhaltes auf diese Bedeutung nicht erforderlich. Hätte Paulus, wenn er diese spezielle Bedeutung vermitteln wollte, sich nicht bekannter und verbreiteter Begriffe wie » Knabenliebhaber« (paiderastes), » Knabenschänder« (paidophthoros - Test XII.Lev 17,11) oder des Verbums »Knaben schänden« (paidophthoreo - Did 2,2; Barn 19,4) bedienen können? Arsenokoites kann sowohl ZNT 2 (1998) Subjekt als auch Objekt geschlechtlicher Aktivitäten sein. Nicht gesichert ist jedenfalls die verbreitete Auffassung, daß der mit malakos und arsenokoites gebildete Doppelausdruck auf homosexuelle Praktiken zu beziehen ist, wobei der erste Ausdruck den passiven, der zweite den aktiven Partner bezeichnet. Die zumindest bei arsenokoites mitklingenden homoerotischen Beziehungen werden unbetont unter anderen Lastern mitgenannt. Die genannten Laster gehören für Christen der Vergangenheit an und widersprechen dem neuen Sein in Christus. 2. 1 Tim 1, 10 [Der Neologismus] arsenokoites findet sich nochmals im Lasterkatalog I Tim 1,9-10, der deutliche Anspielungen an den Dekalog erkennen läßt. Der Katalog enthält drei Wortpaare, die die verkehrte und gestörte Stellung des Menschen zu Gott umschreiben, drei Ausdrücke für Mißachtung des Lebens der Eltern und anderer Menschen (4. und 5. Gebot), drei Bezeichnungen für den Mißbrauch anderer Menschen (pornoi, arsenokoitai, Menschenhändler - 6. und 7. Gebot) und zwei Ausdrücke für unwahren Umgang mit anderen (8. Gebot). Eine Einschränkung der Begriffsbedeutung von arsenokoites auf »Knabenschänder« legt sich hier ebensowenig nahe wie in I Kor 6,9. 3. Röm 1,26f Den Kontext dieser Stelle bildet der Großabschnitt Röm 1,18-3,20, der im Licht des Evangeliums (1,16f) die universale Unheilssituation der Welt aufzeigt. Röm l,26f steht im näheren Kontext von 1,18-32. Nach dem Vorbild der prophetischen Gerichtspredigt erhebt Paulus in diesem Abschnitt Anklage. Obwohl allen Menschen gegeben ist, Gott wahrzunehmen und zu erkennen in seinen Schöpfungswerken, wird Gott nicht als Gott anerkannt und verehrt (1,19-21). Der »Zorn Gottes« (1,18) erweist sich nun darin, daß der Mensch an seine durch Verweigerung der Gottesverehrung gekennzeichnete U nheilssituation preisgegeben wird. Röm 1,22-32 ist in drei konzentrischen Kreisen ZNT 2 (1998) aufgebaut (1,22-24.25-27.28-32), die eine rhetorische Steigerung aufweisen: Die Schuld des Menschen wird immer kürzer, ihre Folge immer ausführlicher beschrieben. Der Abfall zum Götzendienst (Röm 1,23 vgl. Ps 106,20; J er 2, 11) und die »Vertauschung« der Anbetung (kultische Verehrung der Schöpfung an Stelle des Schöpfers - Röm 1,25) sind die »U rsünde«, in der alle Störungen und das Chaos in den menschlichen Beziehungen wurzeln. Bei der dreifachen Schilderung der Folge dieser Sünde wird jeweils das Verbum »übergeben« gebraucht. Der Mensch wird an seine eigenen Begierden (1,24 ), Leidenschaften (1,26) und seine verwerfliche Sinnesweise (1,28b) übergeben. Die Auslieferung des Menschen an seine Unheilssituation bedeutet ein »Zorngericht«, das sich schon in der Gegenwart ereignet. Röm 1,18-3,20 bildet aber nur den dunklen Hintergrund für die in 3,21 beginnende Darstellung der Erlösungstat Gottes in Jesus Christus. Die an Christus Glaubenden wissen sich befreit aus dem Unheilsbereich der Sünde und bekunden dies durch eine neue Lebenspraxis (vgl. besonders Röm 6). Möglicherweise liegt in Röm 1,18-32 Einfluß von Sap 13-15 vor. Dieser von hellenistisch-jüdischer Apologetik geprägte Text beginnt mit einer »theologia naturalis«: Im Betrachten der Schöpfungswerke kann der Mensch den wahren und lebendigen Gott erkennen (Sap 13,1-9). Ganz ähnlich argumentiert Paulus in Röm l,19f. Die Abschnitte Sap 13,10-14,31; 15,7-19 veranschaulichen sodann die Torheit des Götzendienstes. Dieser wird gesehen als der Beginn der Unzucht (porneia 14,12) und der Anfang von allem Übel, seine Ursache und sein Höhepunkt (14,27). Zur Reihe einzelner Übel, wie kindesmörderische Einweihungen, ekstatische Orgien (14,23), Ehebruch (14,24), Blut, Mord und Diebstahl (14,25), zählt auch die »Vertauschung (enallage in LXX nur hier) des Geschlechtes (genesis)« (14,26). Der Begriff genesis, der an mehreren Stellen des Weisheitsbuches mit »Werden« (auch: »Entstehen«, »Ursprung«) zu übersetzen ist, kann hier wie in Sap 3,12; 16,26; 18,12 in der Bedeutung von »Geschlecht«, »Art« verstanden werden. Ein weiteres Argument für die Interpretation dieses Begriffes im Sinne der Geschlechterrolle ist, daß auf den Ausdruck »Vertauschung des Geschlechtes« zwei sexuelle Verfehlungen folgen: »Unordnung der Ehe« und »Ehebruch« (14,26). Es gibt also Gründe für die Annah- 55 Martin Hasitschka Martin Hasitschka SJ,Jahrgang 1943. Studienorte: Pullach bei München (Studium der Philosophie), Innsbruck (Studium der Theologie, Habilitation im Bereich der Neutestamentlichen Bibelwissenschaft). Derzeitige Tätigkeit: Professor für Neutestamentliche Bibelwissenschaft an der Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck. Hauptforschungsgebiet: Johannesevangelium und Offenbarung des Johannes. me, daß mit »Vertauschung des Geschlechts« auf homoerotische Praktiken angespielt wird. Dann ließe sich der Einfluß von Sap 13-15 auch auf Röm 1,26f ausdehnen. 9 3.1 Röm 1,26b Die Beschreibung der »Leidenschaften«, in die der Mensch übergeben wird, hat im ersten Teil den Wortlaut: »Nämlich ebenso wie die Weiblichen von ihnen den natürlichen (physikos) Umgang mit dem gegen (die) Natur (para physin) vertauschten, ... «. Paulus spricht in Röm 1,266-27 nicht von Männern und Frauen, sondern verwendet das Wortpaar männlich-weiblich (arsen theleia). Außer an dieser Stelle gebraucht er es auch in Gal 3,28 (arsen thely). Im übrigen NT kommt es nur noch bei Mt 19,4 und Mk 10,6 vor, im Zitat aus Gen 1,27 (vgl. Gen 5,2). Sicher nicht ohne Absicht verwendet Paulus das Verbum »vertauschen« (metallasso) sowohl in Röm 1,25 (Vertauschen der Wahrheit Gottes mit der Lüge) als auch in 1,266 (Vertauschen des [sexuellen] Umganges 10 ). Tiefster Grund für Störung im sexuellen Bereich ist ein verzerrtes Verständnis von Gott (Lüge) und ein gestörtes Verhältnis zu seiner Schöpfung. 56 Die Hauptfrage bei der Interpretation dieser Stelle richtet sich auf das Verständnis von »natürlich« (physikos) und »Natur« (physis). Das Adjektiv physikos (es bedeutet auch: »zur Natur gehörig«, »der Natur entsprechend«, »naturgemäß«) verwendet Paulus nur hier. Den Begriff physis hingegen gebraucht er auch an anderen Stellen. In I Kor 11,14 (im Kontext von 11,13-15) ist physis handelndes Subjekt (sie lehrt).11 An dieser Stelle wird der Naturbegriff beinahe zu einem Kulturbegriff. Innerhalb des Römerbriefes ist vor allem auf Röm 11,21.24 zu verweisen, auf das Bild von den beiden Ölbäumen. Paulus spricht einerseits von den Zweigen, die »von Natur aus (kata physin)« zum edlen Ölbaum gehören, und andererseits von Zweigen, die aus dem »von Natur aus (kata physin)« wilden Ölbaum herausgehauen und »gegen die Natur (para physin)« in den edlen Ölbaum eingepfropft werden. Das Bild vermittelt die Vorstellung, daß Gott sogar »gegen die Natur« handelt. Liest man Röm 1,26 im Licht von Röm 11,21.24, so bekommt die Wendung »gegen die Natur« (auch: »wider die Natur«, »an der Natur vorbei«) die Bedeutung: gegen die Schöpfungsordnung.12 Das Widernatürliche besteht dann in erster Linie im Fortfall des in der Schöpfungsordnung verankerten Zweckes der Sexualität~ nämlich der Fortpflanzung (Gen 1,28). Für den Bezug zur Schöpfungsordnung sprechen auch das an Gen 1,27 erinnernde Begriffspaar »männlich weiblich«, der Anklang an Gen 1,20-27, der in Röm 1,23 durch den Ausdruck »Gestalt/ Bild (eikon)« und die in besonderer Reihenfolge genannten Tiere gegeben wird, sowie die Verwendung der Begriffe »Schöpfer« und »Schöpfung« in Röm 1,25. Den Hintergrund für das spezielle Verständnis von »Natur« und »natürlich« in Röm 1,26f bildet vor allem die hellenistische Philosophie und das davon beeinflußte Judentum. Für Platon hat der geschlechtliche Verkehr von Natur aus (kata physin) Zeugung von Nachkommenschaft zum Ziel. Homoerotische Beziehungen, die dieses Ziel ausklammern, sind gegen die Natur (para physin).13 Platon hat großen Einfluß auf das hellenistische Judentum, das unter Verweis auf die Schöpfungsordnung homoerotischen Praktiken gegenüber negativ eingestellt war. Dies war zugleich eine Weise, die eigene Identität zu bewahren in einer heidnischen Weltkultur, die hinsichtlich homoerotischer Beziehungen (bes. Päderastie) eher freizügig war. ZNT 2 (1998) Repräsentant dieses Judentums ist besonders Philo v. Alexandrien. 14 Auch J osephus belegt die bereits bei Platon zu findende Gegenüberstellung von natürlichem (kata physin) und widernatürlichem (para physin) geschlechtlichem Verkehr. 15 Vor diesem Hintergrund kann man die in Röm 1,26f genannten Praktiken »ganz und gar griechisch als Verfehlung der natürlichen Ordnung« 16 charakterisieren. Für Paulus ist die natürliche Ordnung zugleich Schöpfungsordnung. Fraglich ist noch, ob in Röm 1,266 sexuelle Beziehung zwischen Frauen (lesbische Liebe) gemeint ist oder unnatürlicher heterosexueller Verkehr (Unterbindung der Nachkommenschaft). 17 Vertreter für beide unterschiedlichen Auffassungen finden sich bereits in der patristischen Auslegungsgeschichte.18 Hauptargument für eine Interpretation im homoerotischen Sinn ist die Parallelität der Aussagen von Röm 1,266 und 1,27. 19 Die Reihenfolge in Röm 1,266-27 (zuerst die Weiblichen, dann die Männlichen) ist unerwartet. In Analogie zu I Kor 10,16f (die unerwartete Nennung des Bechers vor dem Brot dient dazu, eine besondere Interpretation des Brotes zu geben) kann man davon ausgehen, daß Paulus das Schwergewicht auf die Aussage über die Männlichen legt. 3.2 Röm 1,27 Die zweite Aussage von Röm 1,266-27 ist durch die syntaktische Konstruktion »ebenso wie ... so« mit der ersten verknüpft: » ... so verließen auch die Männlichen den natürlichen (physikos) Umgang (mit) dem Weiblichen und entbrannten in ihrem Verlangen zueinander, Männliche mit Männlichen die Schamlosigkeit verübend ... «. Dem Verbum »vertauschen« in der ersten Aussage entspricht in der zweiten Aussage das Verbum »verlassen«. Dieses vermittelt die Vorstellung von einer Sexualität, die losgelöst ist von der »natürlichen«, d.h. in der Schöpfungsordnung verankerten geschlechtlichen Beziehung. Das »Entbrennen« im »Verlangen zueinander« ist konkreter Ausdruck der in 1,24 und 1,26a genannten Begierde und Leidenschaft. Die Haltung der Begierde (epithymia), die durch die Sündenmacht ausgelöst wird und in der der Mensch sich gegen Gott richtet, spielt im Römerbrief noch eine wichtige Rolle (Röm 7,7f). Die Fehlrichtung des Begehrens zeigt sich am krasse- ZNT 2 (1998) sten in den in Röm 1,266-27 genannten Fehlrichtungen der Sexualität. Hinsichtlich der konkreten Form der homoerotischen Beziehung bleibt die Aussage von Röm 1,27 ebenso unbestimmt und offen wie jene in 1,266. 20 4. Ergebnisse aus dem biblischen Befund Die behandelten Stellen konstatieren das Faktum verschiedener homoerotischer Praktiken. Die verwendeten Begriffe (malakos, arsenokoites) und Wendungen (»natürlicher Umgang«, »gegen die Natur«) haben nicht präzise, sondern eher weite Bedeutung und lassen keine Rückschlüsse auf konkrete homoerotische Ausdrucksformen zu. In der Bewertung dieser Praktiken liegt das Neue Testament auf der Linie von Lev 18,22; 20,13 und des hellenistischen Judentums. 21 An allen drei Stellen werden die homoerotischen Beziehungen nicht isoliert, sondern in einer Reihe mit anderen Lastern erwähnt. Die Lasterkataloge aber haben eine besondere Funktion in der Gesamtaussage der Briefe. Der Lasterkatalog in I Kor 6,9-11 veranschaulicht, was »Ungerechte« sind. Ihnen werden die Christen gegenübergestellt, die »gerecht« geworden sind im Namen J esu und im Geist Gottes (6,11). In I Tim 1,10 steht der Lasterkatalog im Dienst der Polemik gegen falsche Gesetzeslehrer (1,3-7) und gegen das, was der »gesunden Lehre« widerspricht (1,10). In Röm 1,18-32 illustrieren die Laster die Folgen einer fehlenden oder verfehlten Gottesbeziehung und den damit gegebenen Verlust von »Herrlichkeit« (3,23; vgl. 1,23). In diesem Kontext ist homosexuelles Verhalten »Symbol einer von Gott abgewandten, in sich verkehrten Welt«. 22 Röm 1,18-32 ist jedoch nicht Ausgangspunkt für ethische und moralische Unterweisung (Paränese), sondern für die Entfaltung des Evangeliums (Christologie). Die genannten biblischen Stellen sprechen nicht von homosexueller Verfaßtheit des Menschen, sondern nur von bestimmten Verhaltensweisen und Praktiken. Eine irreversible homosexuelle Veranlagung oder Neigung im Sinne heutiger Erkenntnisse (Psychologie / Sozialwissenschaften) ist der Bibel unbekannt. 23 Das Verständnis der Sexualität und des damit zusammenhängenden Naturbegriffes sind grund- 57 sätzlich dem geschichtlichen Wandel unterworfen.24 Diesbezügliche Reflexionen geschehen auch auf dem Gebiet der Dogmatik (Ehesakrament) und Sexualethik in der heutigen Theologie. Um die behandelten Texte aktualisieren zu können, müssen wir unterscheiden zwischen zeitbedingten, wandelbaren Auffassungen und bleibender, auch heute gültiger Aussage. Diese läßt sich aber nicht ermitteln, ohne daß wir zuvor die Texte im größeren Kontext der Briefe und im Kontext der konkreten gesellschaftlichen Situation ihrer Verfasser und Adressaten zu verstehen suchen. 5. Unterschiedliche Sichtweisen Bei der Interpretation von I Kor 6,9 geht Wolfgang Stegemann von speziellen Begriffsbestimmungen aus. Unter malakoi versteht er weibliche Männer bzw. Männer, die sich sexuell wie Frauen behandeln lassen, unter den arsenokoitai »Männer penetrierende Männer« und unter den pornoi männliche Prostituierte im Sinne von passiven Sexualpartnern. Diese Interpretation ist vom Bedeutungsumfang der betreffenden griechischen Begriffe sicher möglich und gedeckt. Der Begriffsinhalt läßt sich m.E. aber nicht einschränken auf die vorgenommene Interpretation. 25 Bei der Auslegung von Röm 1,26 neigt Wolfgang Stegemann eher zur Deutung im Sinne eines unnatürlichen heterosexuellen Geschlechtsverkehrs. Röm 1,27 wird auf »anale Penetration« eines Mannes durch einen Mann bezogen. Auch an diesen Stellen stimme ich zu, daß sich der Urtext so interpretieren läßt. Ich habe aber versucht zu zeigen, daß die verwendeten Begriffe und Formulierungen manches unbestimmt lassen. Sowohl IKor 6,9 als auch Röm 1,26f enthalten m.E. Ausdrücke, deren Bedeutung weit und letztlich unscharf ist. Rückschlüsse bezüglich der Aktivität oder Passivität der Partner, hinsichtlich ihres Alters oder in Bezug auf die Frage, ob sie freiwillig oder unter Zwang handeln, sind möglich, aber nicht zwingend. Eine weitere unterschiedliche Betrachtungsweise betrifft speziell die »natürliche« Rolle der Geschlechter. Wolfgang Stegemann beschreibt sie unter kulturanthropologischer und soziologischer Rücksicht. Er geht davon aus, daß die den Ge- 58 schlechtem zugeschriebenen und erlaubten »natürlichen« Rollen im Sexualverkehr durch die Polarität von aktiv und passiv gekennzeichnet waren. Er betont damit die enge Verbindung von Sexualität und sozialer Rollenfestlegung in der Antike. Das sexuelle Verhältnis zwischen Mann und Frau ist gekennzeichnet durch soziale Vorrangstellung des Mannes gegenüber der Frau. Im Bereich der Sexualität spiegeln sich bestimmte Strukturen von Macht und Abhängigkeit. Der Mann ist »aktiv« und dominant, die Frau ist naturgemäß »passiv« und untergeordnet. Dieses Rollenverständnis trifft für die antike Gesellschaft sicher weitgehend zu. Eine von solchem Verständnis der Geschlechterrollen geleitete Interpretation von Röm 1,26f scheint zu rivalisieren mit der von mir vertretenen Auslegung, die vom platonisch-hellenistischen Natur- und vom paulinischen Schöpfungsbegriff ausgeht. Ich sehe aber keine grundlegende Meinungsverschiedenheit. Eine von kulturellen und gesellschaftlichen Wertmaßstäben der Antike geleitete Fragestellung kann vielleicht zusätzliche Aspekte erbringen zu meinem am philosophischen und schöpfungstheologischen Hintergrund orientierten Ansatz. Über unterschiedliche Sichtweisen hinaus verbindet uns das Thema der »Negativkategorien« von Macht, Gewalt und Abhängigkeit. Sie sind m.E. Kennzeichen der Folgen jenes rätselhaften »Vertauschens«, von dem Röm 1,18-32 spricht, Merkmale einer vom Schöpfer losgelösten und durch den Menschen versklavten Schöpfung (ktisis). Röm 1,18-32 ist jedoch Ausgangspunkt für das paulinische Verständnis von Erlösung durch Christus. An der Erlösung des Menschen wird die gesamte Schöpfung partizipieren. In der jetzt leidenden und vom Menschen »unterworfenen« Schöpfung vernimmt Paulus ein »Seufzen«. Es ist für ihn Ausdruck der sehnsüchtigen Hoffnung, daß die Schöpfung aus aller »Knechtschaft« befreit werden wird und Anteil bekommt an der »Freiheit« und »Herrlichkeit« jener, die dem »Bild« (eikon) Christi gleichgestaltet werden (Röm 8, 19-22.29). ZNT 2 (1998) Anmerkungen Anregungen für meine Auslegung verdanke ich besonders M. Stowasser, Homosexualität und Bibel. Exegetische und hermeneutische Überlegungen zu einem schwierigen Thema, NTS 43 (1997) 503-526, und M. Öhler, Homosexualität und neutestamentliche Ethik, Protokolle zur Bibel 6 (1997) 133-147. Die Päderastie (Knabenliebe), bei der die homoerotische Beziehung eines (sexuell aktiven) Erwachsenen zu einem (sexuell passiven) Heranwachsenden eine Rolle spielt, kann als das einzig bekannte »Modell« männlicher Homosexualität in der biblischen Umwelt gelten. 3 R. Scroggs, The New Testament and Homosexuality, Philadelphia 1984, 65. 4 Vgl. W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther (I Kor 1,1-6,11) (EKK VII/ 1), Zürich u.a. 1991, 432. Sib 2,73 ist ein alter Beleg für den Gebrauch des Verbums arsenokoitein: »Do not practice homosexuality (arsenokoitein), do not betray information, do not murder« Q.H. Charlesworth [hg.], The Old Testament Pseudcpigrapha. Volume 1, New York u.a. 1983, 347). Diese Stelle ist beeinfluß von PseuPhok 3: »Brich nicht in fremde Ehen ein, laß nicht Männerliebe (arsena Kyprin [Metapher für eros]) aufkommen« (N. Walter, Pseudo- Phokylides, JSHRZ 4/ 3, Gütersloh 1983, 182-216: 197). 6 Lev 18,22 LXX: »Und mit Männlichem (arsen) sollst du nicht schlafen den Beischlaf (koite) einer Frau. Ein Greuel ist es.« Lev 20,13 LXX : »Und wer schläft mit Männlichem (arsen) den Beischlaf (koite) einer Frau einen Greuel haben beide getan.« Diese Auffassung vertritt und begründet überzeugend D.F. Wright, Homosexuals or Prostitutes? The meaning of arsenokoitai (1 Cor. 6: 9; 1 Tm 1: 10), VigChr 38 (1984) 125-153. Er verteidigt sie erneut in seinem Beitrag: Translating arsenokoitai (1 Cor 6: 9; 1 Tim 1: 10), VigChr 41 (1987) 393-398. So bei W. Bauer, Wörterbuch zum Neuen Testament, Berlin und New York 6 1988. 9 Theologia naturalis im hellenistischen Sinn in Verbindung mit dem Problem der gestörten Gottesbeziehung des Menschen sowie der Störung mitmenschlicher Beziehungen (auch in sexueller Hinsicht) enthält in vergleichbarer Weise auch TestXII.Naph 3,3f: »Die Völker, die verführt wurden und den Herrn verließen, veränderten ihre Ordnung und gehorchten Hölzern und Steinen, den Geistern der Verführung. Ihr aber (handelt) nicht ebenso, meine Kinder, da ihr doch an (Himmels- )feste, Erde und Meer und an allen Schöpfungswerken den Herrn, der alles geschaffen hat, erkennt, damit ihr nicht werdet wie Sodom, das die Ordnung (taxis) seiner Natur (physis) veränderte (enallasso).« Q. Becker, Die Testamente der zwölf Patriarchen, QSHRZ 3/ 1) Gütersloh 1980, 101). 70 Der mit »Umgang«/ »Verkehr« zu übersetzende Begriff chresis findet sich im NT nur in Röm l,26f. Seine Grundbedeutung ist »Gebrauch«, usus (Vulgata). In sei- ZNT 2 (1998) nen wenigen Vorkommen in der Septuaginta fehlt sexuelle Konnotation. Diese Konnotation ist auch außerhalb der Bibel nur selten anzutreffen, z.B. Platon Leg 84 la. 11 Physis (H. Paulsen), EWNT III, Stuttgart 1983, 1063-1065: 1063. 12 Die Wendung »gegen (para) (die) Natur« kann m.E. in theologische Beziehung gebracht werden zu dem in 1,25 gebrauchten Ausdruck »an Stelle (para) des Schöpfers«. Die Handlungsweise gegen die Natur ist zutiefst Folge einer gegen den Schöpfer gerichteten Haltung. 13 Leg 636c: Geschlechtliche Vereinigung von Mann und Frau zum Zwecke der Zeugung und die damit verbundene Lust ist naturgemäß (kata physin). Verkehr von Männern mit Männern und von Frauen mit Frauen ist naturwidrig (para physin). 838e: Naturgemäßer Beischlaf ist jener, der zur Kinderzeugung dient; Männern darf man nicht beiwohnen, weil Fortpflanzung vereitelt wird. 841d: Aus widernatürlichem Umgang mit Männern kann keine Frucht entsprießen. 14 In SpecLeg 3,37-42 kritisiert Philo das (besonders in den Städten anzutreffende) Übel der Knabenliebe (Päderastie), weil dabei das Gepräge der Natur (physis) verfälscht wird. Der Päderast arbeitet hin »auf die Verödung und Entvölkerung der Städte« (39). Philo steigert das bei Platon genannte Problem der Vereitelung der Fortpflanzung durch die Vorstellung einer regelrechten Entvölkerung (vgl. auch VitCont 59-63). - In Abr 133-141 gibt Philo eine Auslegung zu Gen 19. Unter den sexuellen Ausschweifungen Sodoms wird hervorgehoben: »Männer verkehrten auch geschlechtlich mit Männern, ohne Scheu vor der gemeinsamen Natur, die sie mit ihren Mitschuldigen verband« (135). Die Folgen sind Weichlichkeit und Entvölkerung (136 ). Der natürliche Verkehr (kata physin) von Männern und Frauen dient hingegen dem Zweck der Zeugung von Kindern (137). Für Philo besteht also die Sünde von Sodom in der gleichgeschlechtlichen Beziehung, nicht in der Verletzung des Gastrechtes. 15 Ap 2,199.273. Als widernatürlich wird hier der Verkehr zwischen »Männlichen« bewertet. 16 Physis (H.Köster), ThWNT IX, Stuttgart 1973, 246-271: 267. 17 J. E. Miller, The Practices of Romans 1: 26; Homosexual oder Heterosexual? , NT 37 (1995) 1-11, versteht Röm 1,26b »as a description of unnatural heterosexual intercourse« (1 ). Er meint: » The obvious partner for the woman in verse 26 is male and the relationship heterosexual « (8). Röm 1,26 ist im Grunde »a rejection of some or all unnatural (non-coital) heterosexual intercourse« (11 ). 18 Vgl. B.J. Brooten, Patristic Interpretations of Romans 1: 26, (StPatr 18,1) Leuven 1989, 287-291. 19 Vgl. Homosexualität (B.J. Brooten), NBL II, Zürich und Düsseldorf 1995, 192f. Die Auffassung, daß Röm 1,26b von sexueller Beziehung zwischen Frauen spricht, wird vor allem gestützt durch den Verweis auf PsPhok 190-192, einen der wenigen Belege (abgesehen von Platon, Leg 636c) für homoerotische Beziehungen unter 59 Frauen. Das in Röm 1,26f beklagte Vertauschen des natürlichen Verkehrs mit dem wider die Natur »mag sich darauf beziehen, daß lesbische Frauen ihre von Natur aus passive Rolle verlassen haben, während homosexuelle Männer ihre aktive, dominierende Stellung aufgegeben haben, um auf die Stufe der Frau herabzusinken« (192). Der Naturbegriff rückt damit auch in die Nähe eines Kulturbegriffes. 20 R. Scroggs, The New Testament and Homosexuality, 115, vermutet auch in 1,27 Päderastie. Man wird die Aussage von 1,27 aber nicht darauf beschränken können. 21 Zur Verwerfung homoerotischer Praktiken im hellenistischen Judentum vgl. auch Arist 152; ApkAbr 24,7-8; Sib 3, 184-186; 5,386-393. 22 Homosexualität (U. Rauchfleisch, W. Korff, G. Bier, W. Müller), LThK V, Freiburg 31996, 254-260: 256. 23 Ansatzweise findet sich das Thema der homosexuellen Disposition jedoch bereits bei Aristoteles. In seiner Nikomachischen Ethik kommt er im Zusammenhang mit Ausführungen über Enthaltsamkeit und Unenthaltsamkeit auch auf sinnliche / sexuelle Beziehungen unter Männern zu sprechen, zu denen »den einen die Neigung von Natur (physis) anhaftet, den anderen, z.B. solchen, die von Jugend auf mißbraucht worden sind, infolge der Gewohnheit« (EthNic 7, 6, 11486, 29-30). Aristoteles rechnet also mit der Möglichkeit, daß bei einer homoerotischen Neigung auch die Natur der Grund dafür sein kann. 24 Vgl. Homosexualität (K. Hoheisel), RAC 16, Stuttgart 1994, 289-364. Hoheisel beginnt seine umfassende Darstellung mit der Vorbemerkung: »Sexualität ist kein a priori eindeutiges, allgemein bekanntes Kulturphänomen; ihre Umschreibung, Strukturierung und Verquickung mit anderen Lebens- und Erfahrungsbereichen sind Ergebnis komplexer geschichtlicher Prozesse.« (290) 25 Vgl. Effeminatus (H. Herter), RAC 4, Stuttgart 1959, 620-650. Der Begriff malakos spielt bei der Beschreibung des effeminatus eine Rolle, hat aber einen »weiteren Anwendungsbereich« (620). TANZ - Texte und Arbeiten zum Neutestamentlichen Zeitalter Peter Söllner Jerusalem,~ ~gebaute Stadt Eschatologisches uud Himmlisches Jerusalem im Frühjudentum und im frühen Christentum Peter Söllner Jerusalem, die hochgebaute Stadt Eschatologisches und Himmlisches Jerusalem im Frühjudentum und im frühen Christentum TANZ 25, 1998, XII, 348 Seiten, DM 96,-/ ÖS 701,-/ SFr 86,- ISBN 3-7720-1876-9 Wie konnte es zur Vorstellung des "Himmlischen Jerusalem" kommen, die erst im neutestamentlichen Kanon aber nicht vorher - Erwähnung findet? Die Arbeit geht der traditionsgeschichtlichen Entwicklung des eschatologischen und "Himmlischen Jerusalem" im Frühjudentum und im Neuen Testament nach. In diesem Zeitraum vom dritten vorchristlichen Jahrhundert bis zum ersten nachchristlichen Jahrhundert wurde die alttestamentliche Zion/ Jerusalem-Restaurationskonzeption auf die veränderten politisch-gesellschaftlichen sowie religiösen Situationen in modifizierter Form appliziert. Jürgen Zangenberg Frühes Christentum in Samarien Topographische und traditionsgeschichtliche Studien zu den Samarientexten im Johannesevangelium TANZ 27, 1998, 308 Seiten, DM 78,-/ ÖS 569,-/ SFr 74,- ISBN 3-7720-1878-5 Jürgen Zangenberg Frühes Christentum in Samarien Topographische und traditionsgeschichtliche Studien zu den Samarientexten im Johannesevangelium Samarien ist für die neutestamentliche Exegese noch weitgehend terra incognita. Und doch besitzt die Region vor allem für das Johannesevangelium eine im NT einzigartige Bedeutung. Die Arbeit setzt nun nicht bei theologischen oder historischen Modellen zur Geschichte des frühen Christentums an, sondern bewußt bei den Ortsangaben des Evangeliums selbst. Was wissen wir von diesen Orten? Welches religiöse und kulturelle Profil der Region Samarien ist erkennbar? Wie geht der Evangelist mit den dort ansässigen Gruppen um? - A. Francke Verlag Tübingen und Basel· Postfach 2560 · D-72015 Tübingen 60 ZNT 2 (1998)