eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 1/2

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
121
1998
12 Dronsch Strecker Vogel

Cultural Studies. Ein neues Paradigma us-amerikanischer Exegese

121
1998
David Brakke
znt120069
David Brakke Cultural Studies. Ein neues Paradigma us-amerikanischer Exegese 1 1. Cultural Studies ein interdisziplinäres Forschungsfeld Der Begriff, der die Gemüter in der gegenwärtigen us-amerikanischen akademischen Kultur bewegt, ist der Begriff ,Kultur,. Nicht nur Anthropologinnen, sondern auch Literaturwissenschaftlerlnnen, Historikerlnnen, Psychologlnnen und viele andere fordern, Kulturen zu studieren, was dazu führte, daß ein neues interdisziplinäres Forschungsfeld in den USA und in Großbritannien entstanden ist: cultural studies. Forscherlnnen dieses neuen Feldes fragen danach, wie Kulturen dazu beitragen, Macht und Herrschaft in einer Gesellschaft zu befestigen. Ihre Arbeiten lösen die Grenzen zwischen ,hoher< Kultur (Kunst, Literatur, Poesie) und ,Pop,-Kultur (Fernsehen, Film, Werbung) auf und verdanken sich häufig der Perspektive einer Minderheit oder marginalisierter Gruppen (z.B. African-American studies, gay and lesbian studies).2 Eine ethnographische und gender Analyse us-amerikanischer Kultur untersucht mit derselben Sorgfalt z.B. Herbert Melvilles klassisch gewordene Novelle Billy Bud und den inter-ethnischen ,Männerfreundschafts,-Film Lethal Weapon3. Religionswissenschaften und Theologie waren von jeher Disziplinen, die ihre Methoden aus anderen Forschungsbereichen entliehen oder adaptiert haben, und so untersuchen nun viele usamerikanische ReligionswissenschaftlerInnen und Theologinnen solche bisher ignorierte Sujets wie Gegenwartsfilme und religiöse Verkaufsstrategien.4 Den Forschungsschwerpunkt der cultural studies bildet die gegenwärtige westliche Kultur, die eine Fülle von Evidenzen bereitstellt für den Zusammenhang von medialen Welten, Konsumverhalten und elitärer Macht und die den Schauplatz für den gegenwärtigen Kampf gegen die weiße, euro-amerikanische Vorherrschaft abgibt. Jedoch erachteten auch Forscherinnen, die Literatur vergangener Zeiten und Kulturen studieren, die Methoden und Perspektiven der cultural studies als hilfreich für ihre Arbeit. Nach Jahrzehnten litera- ZNT 2 (1998) rischer Theoriebildung, die den historischen Kontext der zu bearbeitenden Texte zu ignorieren schien (Strukturalismus, Dekonstruktion), versuchte eine literaturwissenschaftliche Schule, der new historicism, Literatur und ihren historischen Kontext durch das Medium der ,Kultur, wieder zu verbinden. 5 2. Die Verabschiedung des vormodernen Kulturbegriffs US-amerikanische Bibelforscherlnnen, inbesondere N eutestamentlerlnnen, verwenden ebenfalls in zunehmendem Maße den Begriff ,Kultur" um das Objekt ihrer Studien zu beschreiben. Ich werde mich auf Arbeiten zur neutestamentlichen Wissenschaft beschränken, da es das Feld ist, das ich am besten kenne. Sicher, die vorangegangenen Generationen von Neutestamentlerinnen suchten das Frühchristentum mit der griechisch-römischen Kultur in Beziehung zu setzen, aber sie arbeiteten mit einer künstlichen Unterscheidung: griechisch-römische Kultur war eine Sache, das Frühchristentum eine andere. Sie fragten danach, ob und in welchem Ausmaß das Neue Testament griechisch-römische Kultur >reflektierte< oder von dieser sie >umgebenden< Kultur ,beeinflußt, war. Zudem untersuchten diese Forscherlnnen, wenn sie nach für das Frühchristentum relevanten Elementen griechisch-römischer Kultur ausschau hielten, fast ausschließlich ,Ideen<, die sie als >religiös, oder >philosophisch< erachteten; nur spärlich betrachteten sie soziale Institutionen und Praktiken, populäre Literatur oder ,Magie,. Wenn diese Foscherlnnen überhaupt mit einer theoretisch reflektierten Definition von Kultur arbeiteten, dann war es der deutsche Begriff der ,Kultur" wie er in den Arbeiten von Männern wie Johann Gottfried Herder entwickelt wurde: ,Kultur< als die unterscheidende Identität oder der spezifische Ausdruck eines Volkes oder einer Nation, die vornehmlich in seinen künstlerischen, philosophischen und religiösen Schöpfungen gefunden 69 wird. 6 Demzufolge war es die Aufgabe der Neutestamentlerlnnen zu zeigen, wie das christliche Evangelium sich in den >Zeitgeist< der hellenistischen Welt einfügte. Viele der heutigen Neutestamentlerinnen hingegen unterscheiden nicht mehr zwischen dem Neuen Testament und Kultur: für sie ist das Frühchristentum selbst eine Kultur oder eine Pluralität von Kulturen, die mit denselben Methoden untersucht werden sollen, wie andere Kulturen, gehören sie nun der Vergangenheit oder der Gegenwart an. 3. Cultural Studies des Neuen Testaments im Zeichen eines modernen Kulturbegriffs Die ersten us-amerikanischen Forscherlnnen, die mit dieser neuen Perspektive arbeiteten, verwendeten Ideen über Kultur, die vornehmlich von Symbol- oder Kulturanthropologen wie Franz Boas, Claude Levi-Strauss und Clifford Geertz entwickelt wurden. In Übereinstimmung damit, was die Theologin Kathryn Tanner »die moderne Bedeutung von Kultur« nennt, ist Kultur ein universales Phänomen menschlichen Lebens. Sie ist zu unterscheiden von einem bloß biologischen Leben: sie ist, was Menschen von Tieren unterscheidet. 7 Kulturen sind nicht nur verschieden und besonders in bezug auf ein Volk oder eine Nation, sondern auch in bezug auf soziale Gruppen innerhalb einer größeren Gesellschaft. Die Kultur einer Gruppe ist ihre »ganze Lebensweise, alles, was die Gruppe von anderen unterscheidet, inbegriffen ihre sozialen Gewohnheiten und Institutionen, Rituale, Kunstwerke, kategorialen Schemata, Überzeugungen und Werte.« 8 Mehr oder weniger von jedem Mitglied der Gruppe geteilt, schafft und reflektiert Kultur den sozialen Konsens. Während Kultur einerseits als eine kontingente menschliche Konstruktion begriffen wird, ist sie andererseits das, was jedes individuelle Mitglied der Gruppe konstruiert und seine bzw. ihre Identität formt. Forscherlnnen, die von diesem Standpunkt aus eine gegebene Kultur, z.B. das frühe Römische Reich, oder eine >Sub-Kultur" z.B. das paulinische Christentum, analysieren, analysieren sie als ein zusammenhängendes Ganzes, in dem der soziale Kontext und die verschiedenen Elemente der Kultur synchron als ein einziges ,Bedeutungsnetz< untersucht werden. 70 Diese moderne Betrachtung von Kultur regte einige der bedeutendsten und originellsten neutestamentlichen Arbeiten der 70er und 80er Jahre an, was ich hier am Beispiel der herausragenden Arbeiten von Wayne Meeks, Professor an der Yale Universität, zeigen möchte. Sich vor allem auf den Ansatz von Clifford Geertz stützend untersuchte Meeks das johanneische und paulinische Christentum als distinkte Subkulturen, in denen das Zusammenspiel von Ritual, sozialer Organisation, Predigt, Schrift und religiöser Symbole einzigartige >soziale Welten< formte. So zeigte er beispielsweise auf, wie die Darstellung Jesu des vierten Evangeliums als fremd gegenüber und getrennt von dieser Welt der sozialen Trennung der johanneischen Christinnen vom zeitgenössischen Judentum Sinn verlieh, schlaglichtartig dargestellt durch ihren Ausschluß aus der Synagoge (Joh 16,1-4). Meeks erklärte den dunklen Symbolismus dieses Evangeliums im Sinne ihres sektiererischen Gemeinschaftsbewußtseins. 9 Ebenso bemüht Paulus, wenn er den Galatern schreibt, »da ist nicht länger männlich und weiblich, denn ihr alle seid einer in Christus Jesus« (Gal 3,28), ein religiöses Symbol, ,das Bild des Androgynen" das im Ritual der Taufe in Szene gesetzt wurde, aber verschiedene Bedeutungen haben konnte, je nachdem wie verschieden frühchristliche Gruppen gender verstanden und ihre sozialen Strukturen organisierten.10 Diese Studien erreichten ihren Höhepunkt in Meeks maßgeblichem Buch, Urchristentum und Stadtkultur. Die soziale Welt der paulinischen Gemeinden, 11 das eine vergleichende Analyse des paulinischen Christentums als eine Kultur vorlegte, mit ihren eigenen Ritualen, Symbolen, Herrschaftsstrukturen, Verhaltensweisen und Überzeugungen. Nach Meeks können die paulinischen Lehren nicht ohne ihre soziale Funktion verstanden werden: die Bedeutung der Behauptung, es gäbe nur einen Gott, ist unabdingbar gebunden an die Praktiken und Institutionen, in die diese Überzeugung eingebunden ist. Elemente der Kultur sind verwoben in ein bedeutungsvolles Ganzes. Dieser Ansatz bleibt ein weit praktiziertes und erhellendes Verfahren in us-amerikanischer neutestamentlicher Wissenschaft. Meeks selbst hat seine Kulturanalyse ausgedehnt auf den Bereich der frühchristlichen Ethik. In einem seiner letzten Bücher, zielt er darauf, die »Moralität« des Frühchristenstums zu beschreiben, aber nicht lediglich ZNT 2 (1998) ihre ethischen Normen, sondern vielmehr die Textur ihres moralischen Lebens: die Geschichten, Rituale und Praktiken, die den frühen Christinnen ein Gefühl moralischer Zuversicht gaben, eine Fähigkeit moralisch in ihrer Kultur zu handeln. 12 Susan Garrett's Buch über Magie in der Apostelgeschichte des Lukas gehört auch zu dieser Perspektive.13 Moderne Anthropologinnen haben Kultur und Text miteinander verglichen: der Interpret einer Kultur ist wie eine Literaturwissenschaftlerin, die eine Erzählung oder ein Gedicht liest und aufzeigt, wie die Teile des Textes ein kohärentes Ganzes ergeben. Garret verwendet ,die narrative Welt, der Apostelgeschichte als ein Fenster zur ,kulturellen Welt" in die Lukas gehörte. Die modernen Exegetinnen dürfen sich dem biblischen Text nicht mit ihrem eigenen Begriff von ,Magie, nähern und damit danach fragen, ob die Wunder Jesu oder die Taten des Simon Magus (Apg 8,4-25) >magisch, sind. Vielmehr muß die Auffassung des Lukas von ,Magie, verstanden werden als Teil der kulturellen Welt, die er bewohnte. »Die Frage ist nicht, ob die Weltsicht der Christinnen magisch war, sondern wie Magie als ein Erfahrungen ordnendes Symbol in der Weltsicht der Christlnnen funktionierte.« 14 Garrett arbeitet heraus, daß in der lukanischen christlichen Subkultur ,Magie« bezug nimmt auf außerordentliche, von Menschen unter der Autorität Satans ausgeführte Taten: der Konflikt zwischen den Aposteln und den Magikern enthüllt den Sieg Christi über Satan. Die Aktivitäten der Apostel und der Magiker erscheinen auf der Oberfläche ähnlich, aber innerhalb der Kultur der lukanischen Gemeinschaft bedeuten sie sehr verschiedene Dinge. Diese Studien von Meeks und Garrett reflektieren die moderne Bedeutung von Kultur insoweit, als ihre Perspektive zu einer synchronischen tendiert, die auf einen bestimmten Moment in der Geschichte gerichtet ist, und zu einer ganzheitlichen, indem sie den Konsens und die Kohärenz von Kulturen und Subkulturen betonen. Unddie Kultur der modernen Interpretinnen wird bezeichnenderweise nicht eigens problematisiert: der/ die Interpret/ in bleibt diskret off-stage als Beobachter/ in, der/ die Zusammenhänge und Bedeutungen sieht, die den antiken Beteiligten nicht unbedingt bewußt gewesen sind. ZNT 2 (1998) David Brakke Professor Dr. David Brakke unterrichtet Neues Testament und Geschichte des Frühchristentums am Institut für Rcligious Studies der Indiana University, Bloomington. Er ist Autor des Buches »Athanasius and the Politcs of Ascetiscm« (Oxford, University Press, 1995). Er veröffentlichte zahlreiche Artikel in exegetischen und kirchengeschichtlichen Fachzeitschriften. 4. Cultural Studies des Neuen Testaments im Zeichen eines postmodernen Kulturbegriffs Diese Charakteristika der modernen Bedeutung von Kultur wurden in den letzten Jahren von Anthropologinnen, SozialwissenschaftlerInnen und Forscherinnen, die sich mit Minderheiten befassen, kritisiert. Das Ergebnis ist ein >postmoderner< Kulturbegriff, der den modernen Kulturbegriff nicht so sehr ersetzt, als ihn vielmehr kompliziert. 15 Die neuesten Kulturtheoretikerinnen geben zu bedenken, daß die holistische, synchrone Analyse, wie sie von modernen Anthropologinnen und Historikerinnen praktiziert wird, die Kämpfe und Konflikte die in Kulturen auftreten, verbergen. Kulturen erscheinen nicht einfach und gehen ihren Weg, sondern sie sind Produkte historischer Prozesse voller Konflikte, Macht und Herrschaft. Völker tendieren dazu, nicht in kultureller Gleichheit zu teilen: vielmehr werden kulturelle Produkte häufig von Eliten hervorgebracht, die ein Interesse an der Legitimierung ungleicher sozialer und ökonomischer Arrangements haben. Personen, die nicht zu diesen Eliten gehören, konsumieren aber auch nicht lediglich die kulturellen Produkte der Elite, sondern transformieren sie bei Zeiten kreativ 71 in subversiver Weise. Kultur ist häufig nicht der Garant eines sozialen Konsens, sondern der Schauplatz der Konflikte zwischen verschiedenen Visionen einer Gesellschaft. Postmoderne Kulturtheorie stellt die Untersuchung von Macht in und durch Kultur in den Mittelpunkt, unterscheidet nicht zwischen ,hoher< und ,niedriger< Kultur und verortet explizit den/ die Interpreten/ in in einen kulturellen Kontext, der seine/ ihre Ergebnisse formt. Sie ist ausgezeichnet durch einen moderaten Marxismus, durch die Voraussetzung einer Form des Materialismus (Ideen sind eng gebunden an ökonomische und soziale Konditionen) und durch ihre Verwendung eines neutralen Begriffes von »Ideologie« als »die Beziehung zwischen Sprache und gesellschaftlichen Machtstrukturen«. 16 Die Lektüre des Neuen Testaments aus dieser Perspektive »erfordert eine doppelte Anstrengung, (1) die antiken biblischen Geschichten mit Blick auf ihren ideologischen Inhalt und mit Blick auf die Art und Weise ihrer Produktion zu lesen und (2) den ideologischen Charakter der gegenwärtigen Lektürestrategien zu erfassen.« 17 U s-amerikanische NeutestamentlerInnen adaptieren kulturtheoretische Ansätze für die biblische Interpretation in verschiedener Weise, die ich hier nicht alle darstellen kann. Ein Gebiet, das ich von meinem Überblick ausschließen möchte, ist das Studium der Frage, wie die Bibel oder das Neue Testament in späteren Kulturen funktionierte: Arbeiten dieser Art sind tatsächlich involviert in cultural studies der Bibel, aber sie beanspruchen nicht, Lektüren der Bibel selbst zu sein; vielmehr untersuchen sie die Bibel als ein Element späterer Kulturformationen.18 Forscherlnnen, die dies bearbeiten, betrachten sich selbst nicht als ,biblical scholars<, die dann auch z.B. zur Society of Biblical Literature gehörten der größten professionellen Organisation für Bibelwissenschaftlerlnnen in Nordamerika. Die Autoren, die ich hier besprechen werde, präsentieren sich alle, wie auch immer, als Neutestamentlerlnnen, die Lektüren des Neuen Testaments erarbeiten. Da sie gerade in Übereinstimmung mit postmoderner Kulturtheorie eine heterogene Gruppe bilden, sollten sie nicht vereinheitlichend gelesen werden. Brian Blount, der Neues Testament am Princeton Theological Seminary lehrt, bietet eine ausgeklügelte Analyse der Art und Weise, wie der kulturelle Kontext biblische Interpretationen formt. 19 In 72 Anlehnung an soziolinguistische Theorien demonstriert Blount, daß kulturelle Variabilität zwischen Interpretationen unvermeidlich ist: jede Lektüre erfüllt eine soziale Funktion innerhalb einer bestimmten kulturellen Matrix. Er untersucht die Art und Weisen biblischer Interpretation, wie sie von Rudolf Bultmann, den nicaraguanischen Bauern von Solentiname, den Sängerlnnen von Negro Spirituals und den Predigerlnnen afroamerikanischer protestantischer Kirchen praktiziert wurden und zeigt, wie jede dieser Lektüren ihren spezifischen sozialen Kontext wiederspiegelt, selbst wenn der Interpret beansprucht, seine hermeneutische Perspektive sei universal (wie Bultmann es tat). Wenn das der Fall ist, ist dann die Bedeutung des Neuen Testaments völlig arbiträr, lediglich bezogen auf verschiedene kulturelle Orte? Nicht völlig. Der neutestamentliche Text hat nach Blount nicht eine einfache ,Bedeutung" sondern er trägt ,mögliche Bedeutungen<, die verschiedene Interpretationen erlauben, aber sie auch begrenzen. Blount kann z.B. die Bauern von Solentiname dafür kritisieren, daß sie damals ihre politische Agenda dem Text aufsetzten, aber ihre gesamte Lektürestrategie bleibt wertvoll und angemessen für ihre kulturelle Situation. Als ein Beispiel für das Verfahren einer cultural interpretation analysiert Blount den Prozeß J esu im Markusevangelium in Hinsicht auf sein ,Bedeutungspotential, und zeigt dann, wie dieses Potantial in verschiedener Weise von modernen Interpretlnnen in verschiedenen kulturellen Settings aktualisiert wurde. Blounts Vorschlag fordert das herrschende Paradigma neutestamentlicher Wissenschaft heraus, indem er das Begehren, die eine ,wahre< Bedeutung des Textes als seine originale, ursprüngliche historische Bedeutung wiederzufinden, verwirft. Keine Interpretation ist frei von ihrem eigenen kulturellen Kontext. Blount schlägt vor, dieses Faktum nicht lediglich einzuräumen, um dann weiterzumachen wie bisher, sondern die Neutestamentlerlnnen sollen aufmerksam werden auf Lektüren des Neuen Testaments aus kulturell marginalisierten Perspektiven. Die marginalen Lektüren z.B. zentralamerikanischer Bauern und afroamerikanischer Prediger müssen Teil des wissenschaftlichen Austauschs über die Bedeutung des biblischen Textes werden. Vincent Wimbush vom Union Theological Seminary in New York hat neulich seine eigene kul- ZNT 2 (1998) turelle Position der Marginalität als eines Afroamerikaners in der von Weißen dominierten Gilde der neutestamentlichen Wissenschaft artikuliert. 20 Obwohl er selbst »das Spiel gespielt« hat, das Spiel der akademischen Leistung und dafür seine Belohnung erhielt, sagt Wimbush, daß er nicht mehr beginnen kann mit »den Kategorien und Konstruktionen und Annahmen anderer, und sicher nicht mit dem euro-amerikanischen Paradigma der Verpflichtung auf die Bibel.« Weiter schreibt Wimbush: »Ich muß beginnen in meiner Welt, mit meiner Welt. Ich muß beginnen mit der Einsicht, daß die Bibel, wie sie meine Zeitgenossen und ich sie haben, kein antikes, sondern ein modernes, ein Dokument des späten 20.jahrhunderts ist. Das ist der Fall, weil ich als ein Afroamerikaner ein Mitglied der afrikanischen Diaspora, das mit Amerika untergehen und überleben mußte ein >moderner< bin. Deshalb muß ich beginnen mit dem Faktum der soziopolitischen Gegebenheit und der darauffolgenden historischen kulturellen Transformation der Gegebenheit der Bibel in der Welt, in die ich hineingeboren wurde, in der ich zuerst die Notwendigkeit entdeckte und dafür kämpfte, mein Selbst zu kultivieren. Kein Bezug auf antike Texte oder Geschichten kann in diesem kritischen Augenblick gerechtfertigt werden oder Sinn für mich machen, es sei denn, man kommt erst zu Begriffen der kulturellen Gegebenheit und kulturellen Inanspruchnahme und Manipulation dieser Texte oder Geschichten in meiner Gegenwart.« 21 Während die meisten Bibelforscherlnnen danach trachten, ihre kulturelle Identität mit Hilfeeiner >objektiven< analytischen Stimme zu verbergen, stellt Wimbush seine kulturelle Eingebundenheit gerade heraus und plädiert für ein Bibelstudium, »als eine Weise der Kulturkritik eine Analyse religiöser Weltsichten und Ausdrücke der gegenwärtigen (us-)amerikanischen Kultur.« 22 Was Wimbush anvisiert ist eine politischere Version des traditionellen hermeneutischen Zirkels: der/ die Interpret/ in beginnt mit einer Analyse der eigenen Kultur, befaßt sich mit dem biblischen Text von dieser Analyse aus und kehrt zurück zur gegenwärtigen Kultur, um sie zu kritisieren. Als ein Forschungsprojekt unter dieser Perspektive schlägt Wimbush vor, die >anders-weltliche< Dimension afroamerikanischer Religion zu analysieren und sie vom Studium der asketischen, weltverwerfenden Haltung (contemptus mundi) ZNT 2 (1998) aus zu kritisieren, die im Frühchristentum zu finden ist. Das Ziel dabei bleibt nicht länger das Verstehen der frühchristlichen Texte um ihrer selbst willen, sondern die Lektüre zielt auf einen Beitrag für die Herausstellung und Unterminierung von >Anders-Weltlichkeit, als Teil der gegenwärtigen dominanten kulturellen Formation, in der Afroamerikaner marginalisiert sind. Es bleibt abzuwarten, ob Wimbush's primäres Interesse an seiner eigenen Kultur die eigentümlichen kulturellen Kontexte der frühchristlichen Texte in einem Ausmaß überschatten wird, die andere Forscherinnen für unakzeptabel halten werden. Ein Beispiel des Bibelstudiums als cultural criticism, das das Interesse an antiken und modernen Kulturen auszubalancieren sucht, ist Daniel Boyarin's Buch über Paulus mit dem Titel A Radical Jew. 23 Wie Wimbush von seiner afroamerikanischen Identität aus arbeitet, so liest auch Boyarin die Briefe des Paulus von seiner kulturellen Position eines »(post)modernen Juden« 24 her. Boyarin analysiert einige der vorherrschenden Forschungsrichtungen hinsichtlich der Beziehung des Paulus zum Judentum und deckt ihre ideologische Basis in der lutherischen Theologie und/ oder im modernen europäischen Antisemitismus auf. Boyarin nennt Paulus einen jüdischen Kulturkritiker des ersten Jahrhunderts: Die Unzufriedenheit des Paulus mit dem Judentum erwächst aus der Partikularität des Judentums, seiner Kultivierung von Differenz und seines mangelnden Interesses an einer weltweiten menschlichen Solidarität. Die Vision des Paulus ist die einer universalen Menschheit, in der »alle einer sind in Christus Jesus« (Gai 3,28). Die grundlegende Dichotomie im paulinischen Denken ist nach Boyarin nicht Gnade vs. Gesetzlichkeit, sondern Geist (Universalität) vs. Fleisch (Partikularität). Trotz der befreienden Implikationen der universalen Vison des Paulus delegimitiert seine dualistische Emphase des Geistes Verschiedenheit, marginalisiert diejenigen, die anders sind (Frauen, Sklaven, etc.) und endet in der Entfremdung vom »Fleisch« - Körper und Sexualität inbegriffen. Dennoch sieht Boyarin das Denken des Paulus als eine ständige Herausforderung der Juden und als Möglichkeit einer kulturellen Analysepostmoderner jüdischer Identität: »Wie kann ich ethisch eine partikuläre Identität konstruieren, die ausgesprochen kostbar für mich ist, ohne in einen Ethnozentrismus oder Rassismus der ein oder anderen 73 Spielweise zu verfallen? « 25 Den Zionismus verwerfend plädiert Boyarin für eine »diasporasierte« jüdische Identität: »Verzicht auf Souveränität, Autochthonie, Indigeneität (wie sie politisch verkörpert ist im Begriff der Selbstbestimmung) einerseits, kombiniert mit einer entschiedenen Hartnäckigkeit im Beharren auf kulturelle Identität andererseits.«26 Boyarin sieht eine große Verheißung im Jüdischsein als Verkörperung einer solchen postmodernen kulturellen Haltung, da »Jüdischsein sämtliche Kategorien der Identität zerbricht, weil es nicht national, nicht genealogisch, nicht religiös, aber alles das in dialektischer Berührung miteinander umfaßt.« 27 Blount, Wimbush und Boyarin verwenden kulturtheoretische Ansätze in Weisen, die das dominante Paradigma neutestamentlicher Wissenschaft herausfordert. Sie erreichen das, indem sie zeigen, daß biblische Interpretation selbst ein politischer Akt ist, der in spezifischen Kulturen situiert und nicht unschuldig an politischen und sozialen Auswirkungen ist. Was sie von vorangegangenen Ansätzen politischer oder befreiungstheologischer Methodologien unterscheidet, ist, daß sie nicht mit einem einfachen Modell von Herrschaft und Unterdrückung arbeiten, das unkritisch die Position der Unterdrückten privilegierte. Vielmehr sehen sie Kultur als einen Ort, der ganz und gar durchdrungen ist von Macht als einem unentrinnbaren Netzwerk ungleicher Beziehungen, eine Matrix, in der Identitäten nicht besessen, sondern konstruiert und erkämpft werden. Diese Forscherlnnen sind skeptisch gegenüber der Möglichkeit >die authentische Stimme" etwa >der< Frauen oder >der< Armen, wiederzuentdecken, weil selbst die intimsten Dimensionen des Selbst wie gender von den Spuren sozialer und kultureller Prozesse gezeichnet und unsere Quellen literarische Konstruktionen sind, geformt von rhetorischen Absichten. 28 Biblische Studien werden zu einer Möglichkeit für Kulturkritik, d.h. für die Unterminierung festgefahrener kultureller Formen und Identitäten und für die Konstruktion neuer Identitäten, insbesondere von Positionen marginalisierter Kultur. 29 Einige us-amerikanische cultural studies des Neuen Testaments sind weniger explizit im Hinblick auf die gegenwärtigen Verzweigungen ihrer Lektüren, aber beziehen sich dennoch auf die postmoderne Kulturtheorie als Theorierahmen ihrer Methoden und Fragestellungen. Zum Beispiel, im 74 Kontrast zu Wimbush, der die Notwendigkeit betont, mit der eigenen kulturellen Verortung zu beginnen und zu enden, führt Mary Ann Tolbert an: »Die Texte der Bibel zu historisieren, indem sie in ihre eigene vergangene und fremde Zeit gestellt werden, fordert die transzendente Autorität heraus, die ihnen von der kirchlichen Macht zugeschrieben wurde und schafft möglicherweise einen Raum der Befreiung von einer unterdrückenden Verwendung, für die diese Texte immer wieder herhalten mußten.« 30 Ihr Essay über das Markusevangelium stellt die christlichen Evangelien an die Spitze der >popular culture, in der griechisch-römischen Welt: ihr engster literarischer Verwandter ist der antike Roman, der auf »ein weites Spektrum der Gesellschaft« 31 zielte. Tolbert vergleicht die Episode im Garten von Gethsemane (Mk 14,32-42) mit den inneren Monologen in anderen Werken griechisch-römischer Literatur von Homer bis zu den Romanschreibern. Das Gebet J esu in Gethsemane stellt sich heraus als ein konventioneller Zug populärer Literatur, ein Zug, der den Leserinnen/ Hörerinnen signalisiert, daß der Held in eine entscheidende Ereignisfolge eintritt. Der markinische Jesus ist demzufolge »ein epischer Held für gewöhnliche Leute« 32 Die von der postmodernen Kulturtheorie eingebrachte Auflösung der Grenzen zwischen ,hoher< und >niedriger< Kultur und zwischen >religiöser< und >weltlicher, Literatur befähigt Tolbert, die von einem konventionellen Motiv getragenen kulturellen Bedeutungen aufzudecken. Auch Dale Martin's Buch über den l .Korintherbrief, The Corinthian Body, setzt sich über die künstlichen Unterscheidungen der Forschung hinweg und stellt Kultur als den Schauplatz des Konfliktes zwischen konkurrierenden Ideologien heraus. 33 Eine moderne Theorie der Kultur hätte Martin dahingeführt, >den Körper< als ein Symbol innerhalb der paulinischen Subkultur zu untersuchen, indem er gezeigt hätte, wie dieses Symbol mit anderen theologischen Ideen, Riten und sozialen Praktiken in einem zusammenhängenden Bedeutungsnetz verbunden ist. Anstelle dessen rekonstruiert Martin einen Konflikt in der korinthischen Gemeinde zwischen wetteifernden ideologischen Konstruktionen des Körpers. »Während Paulus und (wahrscheinlich) die Mehrheit der korinthischen Christinnen den Körper als eine gefährliche, durchlässige Entität betrachteten, gefährdet von ZNT 2 (1998) unreinen Kräften, stellte eine Minderheit in der korinthischen Gemeinde [die >Starken<] ... das hierarchische Arrangement des Körpers und seine eigentümliche Balance seiner Konstituenten heraus, ohne viel Aufmerksamkeit zu verwenden auf die Grenzen oder Gefährdungen des Körpers.« 34 Diese in Opposition zueinanderstehenden Ideologien des menschlichen Körpers und solche des »Körpers Christi«, der Kirche, liegen hinter den Disputen über Rhetorik, Ehe und Zölibat, Zungenrede und Auferstehung. Martin zieht eine breite Sammlung antiker Literatur heran, inbegriffen medizinische Texte, philosophische Schriften und jüdische Literatur aller Art, aber nicht um >Einflüsse< auf Paulus oder seine Gegner zu finden, sondern um die Ideologien bzgl. des Körpers zu rekonstruieren, die in der griechisch-römischen Kultur zirkulierten. In Übereinstimmung mit einem postmodernen Skeptizismus bzgl. der Möglichkeit, >Intentionen< antiker Menschen aufzufinden, behauptet Martins ideologische Analyse nicht, daß die frühen Christen, Paulus inbegriffen, sich dieser ideologischen Basis ihrer Positionen notwendig bewußt gewesen sein müßten, aber er behauptet, daß ihre Sichtweisen nichtsdestoweniger ihren Ausdruck finden in und partizipieren an diesen Ideologien. Martin unternimmt keine holistische Interpretation der paulinischen Subkultur, aber er analysiert diese Subkultur in den Begriffen von Konflikt und Macht. Aufgrund dieser Kategorien möchte ich hier meine eigene Studie über die Kanonisierung der Bibel im Christentum des vierten Jahrhunderts anführen.35 Im Jahre 367 nutzte Athanasius, der Bischof von Alexandrien seinen 39.Fastenbrief (Osterbrief), um die Bücher des Alten und Neuen Testaments aufzulisten, und seine Liste war die erste, die genau die 27 Schriften enthält, die nun das Neue Testament bilden. Forscherinnen haben für gewöhnlich diesen Punkt als einen Angelpunkt in einem unvermeidlichen Prozeß des Abschlusses des biblischen Kanons interpretiert. Damit behaupteten sie einen singulären Begriff von >Schrift< und >Kanon< in christlicher Kultur: die Konflikte darüber, was einzubeziehen und was auszuschließen sei, seien damit beigelegt. In meinem Essay hingegen ziehe ich den Brief des Athanasius heran, um die ägyptische christliche Kultur des vierten Jahrhunderts zu rekonstruieren als eine, die durch den Konflikt zwischen widerstreitenden Weisen ZNT 2 (1998) der geistigen und sozialen Formation gekennzeichnet ist, von denen jede ihr eigenes Verständnis und ihren eigenen Umgang mit der Schrift hatte. Die konkurrierenden autoritativen Figuren des Lehrers, des Bischofs und des Märtyrers bildeten die Streitpunkte der verschiedenen christlichen individuellen und kollektiven Identitäten. Der geschlossene Kanon wie wir ihn kennen wurde nicht in einer monolithischen christlichen Kultur hervorgebracht, sondern war spezifisch für eine spezielle Weise christlicher Kultur, nämlich die des in Erscheinung tretenden imperialen Episkopats. Alles andere als eine Gegebenheit im christlichen Diskurs ist die Schrift selbst ein kulturelles Produkt, gekennzeichnet durch besondere Ideologien der Autorität und spiritueller Identität. Diese Studien sind (post)moderner Kulturtheorie verpflichtet, wenn sie neutestamentliche Texte (und das Neue Testament selbst) als Kulturelemente behandeln, die anderen Kulturelementen ihrer Zeit (antike Romane, medizinische Abhandlungen etc.) beiseite gestellt werden können und zwar nicht als Empfänger oder Verweigerer von >Einflu" sondern als gleichfalls Beteiligte im umkämpften Millieu griechisch-römischer Kultur. Unterscheidungen zwischen hoher und niedriger Kultur, religiöser und weltlicher Literatur, Ideen und Praktiken herrschen nicht vor. Frühchristliche Kultur wird nicht analysiert als ein kohärentes Ganzes, ähnlich einem zu interpretierenden Gedicht, sondern als der Schauplatz von Konflikten um Macht und Identität. In diesen Studien sind Tolbert, Martin und ich nicht explizit befaßt mit der Kritik unserer eigenen Kultur, obwohl alle drei behaupten, daß ihre Arbeiten gewisse gegenwärtige Konstruktionen von Schrift, Körper und christlicher Identität problematisieren, die in der usamerikanischen Kultur zirkulieren. 36 Das vielleicht eindrücklichste Beispiel einer biblischen Studie als cultural criticism ist Stephen Moores Buch, God's Gym: Divine Male Bodies of the Bible. 37 Dieses Buch, eine erstaunliche tour de force, verwendet die kulturelle Konstruktion des Körpers, um die Schrift in drei Essays zu untersuchen, die sich einer Zusammenfassung widersetzen (und daher werde ich mich auf Moore's eigene Zusammenfassung38 beziehen). Der erste Essay,»Tortur: Der göttliche Schlächter«, »legt offen, in welchem Ausmaß das Kreuz als eine >Disziplinierungstechnologie<, als eine Strategie der Unterwer- 75 fung in christlicher Theologie verwendet wurde, wobei seine eigentliche Funktion im Römischen Reich repliziert wurde.« Der zweite Essay, »Dissektion: Wie Jesu auferstandener Körper zu einem Leichnam wurde«, situiert die Entstehung der historischen Bibelkritik (insbesondere Literar-, Form- und Redaktionskritik) in einer aufgeklärten Kultur der visuellen Einsichtnahme, die gleichfalls die Anatomie gebar, Ein-sieht (inspection) durch Zer-gliedern ( dissection ). Moore » legt offen, in welchem Ausmaß Bibelkritik eine Übung in Gewalt ist. Je ein-schneidender, je ein-dringlicher die Kritik, um so tiefer die Wunde, die sie ihrem Objekt zufügt, diesem Text-Körper, der für Billionen von Menschen über Tausende von Jahren das unüberbietbare Phantasieobjekt gewesen ist: ein Buch, das nur die Wahrheit sagen kann.« Der dritte Essay, »Auferstehung: Furchtbare Pein, Glorreicher Lohn«, liest die Darstellungen von Jahwes Körper im Alten Testament, die Darstellungen des Körpers J esu im Neuen Testament und die des Körpers Gottes in der Offenbarung mittels einer Karikatur, die auf dem interpretativen Rahmen gegenwärtiger body-building Kultur basiert. Moore kommt zu dem Schluß, daß, wie der Champion body-builder, »der biblische Gott die höchste Verkörperung hegemonialer Hypermaskulinität und als solche das Objekt universaler Anbetung darstellt.« Moore unternimmt eine Forschungskritik der Konstruktionen von Maskulinität in biblischer und gegenwärtiger Kultur und stellt dabei die historisch-kritische Bibelforschung dar als der Ideologie der Kontrolle verpflichtet durch zer-gliedernde (dissecting) Analyse. Noch besser ist es, daß das Buch über weite Strecken sehr amüsant zu lesen ist. 5. Cultural Studies und die politische Verantwortung neutestamentlischer Wissenschaft für den zeitgenössichen Bibelgebrauch Wahrscheinlich werden die meisten Bibelforscher- Innen Moores Buch fremdartig und unseriös finden: Wer denkt schon daran, daß die Bibel irgendetwas mit body-building zu tun haben könnte? Aber Moore führt die Experimente dieser neuartigen Gelehrsamkeit nur zu einem Extrem. Diese Forscherinnen fragen: Was geschieht, wenn wir die Bibel aus ihrer hermetisch abgeriegelten, unter 76 Verschluß stehenden Seifenblase herausnehmen und sie in die Mitte der Kultur stellen, die die von der modernen Universität aufgerichteten Grenzen nicht beachtet? Wie alle Experimente mögen einige dieser Lektüren nicht lange einer kritischen Prüfung standhalten. Bewegungen im us-amerikanischen akademischen Leben kommen und gehen sehr schnell und so werden Kritiken an diesen neuen Ansätzen nicht lange auf sich warten lassen. Aber die multikulturelle Umgebung der USA bietet einen fruchtbaren Boden, einen kulturtheoretischen Ansatz neutestamentlicher Wissenschaft zu entwickeln und reifen zu lassen. Cultural studies nahmen ihren Ausgang in Großbritannien nach dem 2.Weltkrieg, eine Zeit, in der die Ausbreitung von Massenkultur, der Zusammenbruch von Klassenunterschieden und die Immigration von Menschen anderer Hautfarbe aus den ehemaligen Kolonien die Frage kultureller Identität besonders dringlich machte. 39 Aber die cultural studies fanden ein natürliches Heim in den USA, wo die Amerikaner ihren Multikulturismus, ihren Mangel an einer essentiellen nationalen Identität, bei Zeiten gefeiert und bei Zeiten beklagt haben. Was es heißt, ein >Amerikaner< zu sein, ist immer ein Gegenstand der Diskussion. In den vergangenen Jahren hat eine zunehmend starke Stimme in dieser Debatte sich dafür ausgesprochen, daß Amerika eine >christliche Nation< sei und daß seine Kultur sich auf >biblische Werte< zurückbesinnen sollte. Professionelle Bibelforscherinnen in diesem Land tendierten dazu, zu schweigen, als andere die Bibel als eine Waffe im >Kulturkampf< benutzten, der hinsichtlich gender, Rassenpolitik, sexueller Orientierung und nationaler Identität tobt. Vielleicht ist das neue Interesse unter den us-amerikanischen Bibelforscherinnen am Zusammenhang von Neuem Testament und >Kultur< ein Anzeichen dafür, daß dieses Schweigen zu einem Ende kommt. Anmerkungen 1 Aus dem Amerikanischen übersetzt von Stefan Alkier und vom Verfasser autorisiert. 2 Eine gute Einführung in dieses Forschungsfeld ist: The Cultural Studies Reader, ed. Simon During, London/ New York: Routledge, 1993. 3 Vgl. Robyn Wiegman, American Anatomies: Theori- ZNT 2 (1998) zing Race and Gender, The New Americanists, Durham, N.C.: Duke Univ. Press, 1995. 4 Siehe Margaret R.Miles, Seeing and Believing: Religion and Values in the Movies, Boston: Beacon, 1995; Colleen McDannell, Material Christianity: Religion and Popular Culture in America, New Haven/ London: Yale Univ. Press, 1995. 5 Bzgl. der Literaturwissenschaft siehe: The New Historicism, ed. H.Aram Veeser, London/ New York: Routledge, 1989, und Biblical Interpretation 5: 4 (1997), ein Band, der der Verbindung von New Historicism und Biblischer Exegese gewidmet ist. Für die Geschichtswissenschaften siehe: Culture/ Power/ History: A Reader in Contemporary Social Theory, ed. Nicholas B. Dirks, Geoff Eley, Serry B.Ortner, Princeton Studies in Culture/ Power/ History, Princeton, N.J.: Princeton Univ. Press, 1994, und The New Cultural History, ed Lynn Hunt, Studies on the History of Society and Culture (Berkeley/ Los Angele/ London: Univ. of California Press, 1989. 6 Vgl. Kathryn Tanner, Theories of Culture: A New Agenda for Theology, Guides to Theological Inquiry, Minneapolis: Fortress, 1997, 9-12. Vgl ebd. 25-37. 8 Ebd. 27. Siehe Wayne A.Meeks, The Man from Heaven inJohannine Sectarianism, JBL 91 (1972) 44-72. 11 Ders., The Image of the Androgyne: Some Uses of a Symbol in Earliest Christianity, History of Religions 13 (1974) 165-208. 12 Gütersloh 1993, i. 0.: The First Urban Christians: The Social World of the Apostle Paul, New Haven/ London: Yale Univ. Press 1983. 12 Ders., The Origins of Christian Morality, New Haven/ London: Yale Univ. Press 1993. 13 Susan R.Garret, The Demise of the Devil: Magie and the Demonic in Luke's Writings, Minneapolis: Fortress 1989. 14 Ebd., 29. 15 Vgl. Tanner, Theories of Culture, 38-58. 16 Dale B.Martin, The Corinthian Body, New Haven/ London: Yale Univ. Press, 1995. 17 The Bible and Culture Collective, The Postmodem Bible, New Haven/ London: Yalc Univ. Press, 1995, 277. 18 Siehe z.B. Theophus Smith, Conjuring Culture: Biblical Formations of Black America, New York: Oxford Univ. Press, 1994, und Mary McClintock Fulkerson, Changing the Subject: Women's Discourses and Feminist Theology, Minneapolis: Fortress, 1994, bes. 117-182. 19 Brian K.Blount, Cultural Interpretation: Reorienting New Testament Criticism, Minneapolis: Fortress, 1995. Eine knappe Einführung in seinen Ansatz hat er vorgelegt unter dem Titel: If You Get MY Meaning: Introducing Cultural Exegesis, in: Stefan Alkicr, Ralph Brucker (Hg.), Exegese und Methodendiskussion, TANZ 23, Tübingen/ Basel 1998, 77-98. 20 Vincent L.Wimbush, Contemptus Mundi Means >••• Bo- und for the Promised Land ... <: Religion from the Site of ZNT 2 (1998) Cultural Marronage, in: The Papers of the Henry Luce III Fellows in Theology, ed.Jonathan Strom, 2 vols. thus far; Atlanta: Scholars, 1996, 2.131-161. 21 Ebd., 135. 22 Ebd., 141. 23 Daniel Boyarin, A Radical Jew: Paul and the Politics of Identity, Contraversions: Critical Studies in Jewish Literature, Culture and Society, 1, Berkeley/ Los Angeles/ London: Univ. of California Press, 1994. 24 Ebd., 228. 25 Ebd., 228f. 26 Ebd., 259. 27 Ebd., 244. 28 Zu diesem Problem siehe Elizabeth A.Clark, The Lady Vanishes: Dilemmas of a Feminist Historian after the >Linguistic Turn<, Church History 67 (1998) 1-31. 29 Blount und Wimbush arbeiten von einer afroamerikanischen Perspektive aus, Boyarin von einer jüdischen. Hinsichtlich vergleichbarer Studien aus einer Verortung in der gay und lesbischen Gesellschaft siehe Dale B.Martin, Heterosexism and the Interpretation of Romans 1: 18-32, Biblical Interpretation 3 (1995) 332-355; ders., Arsenokoites and Malakos: Meanings and Consequences, in: Biblical Ethics & Homosexuality: Listening to Scripture, ed. Robert L.Brawley, Louisville, KY: Westminster John Knox, 1996, 117-136. 30 Mary Ann Tolbert, The Gospel in Greco-Roman Culture, in: The Book and the Text: The Bible and Literary Theory, ed Regina M.Schwartz, Oxford: Basil Blackwell 1990, 258-275, hier 258. 31 Ebd., 267. 32 Ebd., 272. 33 Vgl. Anm. 16. 34 Martin, Corinthian Body, XV. 35 David Brakke, Canon Formation and Social Conflict in Fourth-Century Egypt: Athanasius of Alexandrias 39. Fastenbrief, Harvard Theological Review 87 (1994) 395-419. 36 Ausdrücklicher thematisiert Martin diesen Bereich in den Aufsätzen, die ich in Anm. 29 angeführt habe. 37 Stephen D.Moore, God's Gym: Divine Male Bodies of the Bible, New York/ London: Routledge, 1996. Obwohl Moore Ire ist und an der Universität von Sheffield lehrt, schrieb er dieses Buch wie einige seiner anderen währen eines längeren Lehraufenthalts an us-amerikanischen Universitäten. 38 Ebd., 139. 39 Hinsichtlich eines kurzen Abrisses der Geschichte der »cultural studies« siehe Simon During, Introduction, in: Cultural Studies Reader, ed. During, 1-25. 77