ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
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1999
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Dronsch Strecker VogelJesus apokalyptisch
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1999
Klaus Koch
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Klaus Koch Jesus apokalyptisch Als Ernst Käsemann 1960 seine Fachkollegen mit dem Satz herausgefordert hat, daß »die Apokalyptik die Mutter aller christlichen Theologie gewesen« sei1, wurde von ihm der historische Jesus aus dieser Herkunft ausdrücklich ausgenommen und für ihn an der Profeten-Anschluß-Theorie des 19. Jahrhunderts festgehalten 2 • Ist das zu Recht geschehen oder hatte hier ein dogmatisches Vorurteil den Ausschlag gegeben? 1. Gewiß war Jesus kein Apokalyptiker im engeren Sinn des Wortes. Er hat weder eine Apokalypse noch ein pseudonymes Testament verfaßt oder überarbeitet. Die Synoptiker lassen ihn zwar vis10nar überweltliche Vorgänge erschauen (Mk 1,10f.; Lk 10,18), aber es fehlen die für Apokalypsen typischen ausgedehnten Zwiegespräche mit überir- K dischen Größen und die dort übliche bizarre Symbolik. Apokalyptisches Schrifttum hat jedoch in jener Zeit nicht nur auf den ursprünglich intendierten Primärleserkreis an einem festen Sitz im Leben eingewirkt. Zwar gibt es damals keine Literatur, die für einen freien Büchermarkt und eine soziologisch unbestimmbare Leserschaft erzeugt wird. Dennoch besteht bei manchen religiösen Individuen und Gruppen durchaus ein Interesse an Schriften andersartiger Herkunft, wie die Bibliothek aus Qumran erweist, und dadurch die Möglichkeit unterschiedlicher Beeinflussung. Deshalb bleibt es sinnvoll, zu untersuchen, ob Jesus von apokalyptischen Ideen beeindruckt war. Wenn ja, wieweit haben sie seine Botschaft geprägt? Der Wanderprediger aus Galiläa setzt bei seinen Zuhörern zweifellos Kenntnis von wesentlich apokalyptischen, dem vorapokalyptischen AT fremden Lehren voraus. Dazu gehört die Erwartung einer endzeitlichen Auferweckung der Toten mit nachfolgendem Jüngsten Gericht über alle Individuen (Mk 12,18-27; Lk 11,31 f.; zuerst I Hen 22; Dan 12 belegt). Der Ausgang führt sie entwe- 41 der in das Paradies oder die Hölle (Mk 9,43-48; Mt 10,28). Die Naherwartung einer wunderhaften, von Gott allein herbeigeführten eschatologischen Revolution teilt Jesus mit bestimmten (nicht allen! ) apokalyptischen Verfassern. Für die Gegenwart rechnet er mit einem gottfeindlichen, unsichtbaren Reich von Satan und Dämonen, das nicht nur Menschen zur Sünde verleitet, sondern auch physische Übel und Krankheiten hervorruft (so wohl zuerst im Wächterbuch I Hen 1-36). Strittig sind die Querverbindungen bei Themen wie Gottesreich und Menschensohn, die im Vordergrund der Jesuslogien stehen. Zu bedenken ist jedoch, was meist übersehen wird, daß die spätisraelitische Apokalyptik ihre eigene Geschichte hatte. Die frühen Apokalypsen, vor allem das 1. Henoch- und Danielbuch, unterscheiden sich bei wichtigen Themen etwa der Aionenlehre deutlich von der Apokalyptik nach der Zeitenwende, wie sie dann vornehmlich im 4. Esra und syrischen Baruch zur Sprache kommt. Wer die Beziehungen Jesu zu dieser Geistesbeschäftigung untersuchen will, hat deshalb zu prüfen, zu welcher Stufe ihrer Geschichte Jesus in allfälliger Beziehung steht. 2. Der Begriff Reich Gottes Unter den Neutestamentlern besteht trotz weit auseinanderklaffenden Meinungsverschiedenheiten über das Selbstverständnis und das Wollen des historischen Jesus darin Übereinstimmung, daß der Begriff basileia tau theou (Reich Gottes) im Mittelpunkt jesuanischen Denkens und Redens gestanden hat und bei den Zuhörern als bekannt vorausgesetzt worden ist. Er begreift das ewige Leben derjenigen ein, die sich jetzt zur Umkehr entschließen und führt eine Umkehrung gegenwärtig herrschender ungerechter gesellschaftlicher Verhältnisse herbei (Lk 6,20ff.). Strittig jedoch ist, ob und wieweit Jesus mit der Wendung ein zukünftiges Heilsgut oder eine schon präsentische, geistliche Gottesgegenwart ZNT 3 (2.Jg. 1999) Klaus Koch Klaus Koch, Jahrgang 1926, 1953 Promotion, 1956 Habilitation. Seit 1962 Professor für Altes Testament und Altorientalische Religionsgeschichte an der Universität Hamburg. gemeint hat; davon hängt ab, ob er eine apokalyptische Füllung des Begriffes vorausgesetzt hat. Die Antwort hierauf wird für manchen Neutestamentler zum ausschlaggebenden Argument für Jesu Nähe oder Ferne von Apokalyptik überhaupt. 3 Seit Johannes Weiß 1892 für »Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes« eine apokalyptische Herkunft behauptet hatte, ist die Diskussion nicht mehr abgebrochen; »das angestrengte Bemühen, Jesus vor der Apokalyptik zu retten« 4 hält bis heute an. Der in Frage stehende Begriff hatte längst vor Jesus eine wechselhafte Geschichte. An den wenigen Stellen, wo in der hebräischen Bibel ausdrücklich von der malkut Jahwäs gesprochen wird (Ps 103,19; 145,11.13), wie an den häufigen, wo Gott als ma: la: k gepriesen wird, denken offenkundig Verfasser wie Leser an eine seit Urzeiten bestehende, irdischer Königsmacht analoge, aber ewige Regierung des Alls durch dessen Schöpfer; sie ist auf Erden in Jerusalem und seinem heiligen Tempel verankert. Für die Chronisten sind die Davididen deren ausführendes Organ (I Chr 17,14; 28,5; II 13,8). Die Auffassung hält sich in der hebräischen Literatur durch, mit oder ohne Voraussetzung davididischer Vermittlung, bis hin zu den Sabbatopferliedern von Qumran und den talmudischen Aussagen über das Reich des Himmels. 5 Sie scheint für viele Israeliten die einzige mögliche Folgerung aus der Lehre von dem einen Gott und Schöpfer zu sein. Dennoch weichen von diesem Konsens einige exilische und nachexilische Profetien ab durch die Aussage, daß Jahwä seine Königsherrschaft erst nach der Heilswende für Israel (wieder? ) in voller Form ZNT 3 (2.Jg. 1999) aufnehmen werde (Jes 24,23; 52,7; Ez 20,33; Mi 4,7). Das wird allerdings mit dem finiten Verb mlk zum Ausdruck gebracht, was etwa heißen mag: »Er wird die Regierung wieder fest in die Hand nehmen.« Solche Profezeiung setzt also noch nicht notwendig eine fundamentale Veränderung der göttlichen, in der Schöpfung begründeten malkut voraus. 6 Einen wichtigen Schritt weiter ist jedoch an diesen Stellen die aramäische Bibel im Profetentargum gegangen. Sie verheißt nicht nur an den eben erwähnten Stellen, sondern auch an anderen, wo masoretisches Äquivalent fehlt (Jes 31,4; 40,9f.; Ez 7,7), als Höhepunkt der eschatologischen Wende: »Offenbaren wird sich die malkuta Jahwäs«. Danach steht das Reich Gottes gegenwärtig noch aus, vielleicht verborgen existierend, aber für die Welt nicht erkennbar. Erst in der Zukunft wird es von oben über den Zion unwiderstehlich hereinbrechen und allen Völkern erfahrbar werden. Der Profetentargum ist in seinem Grundbestand wohl schon vor 70 n. Chr. verfaßt worden. 7 Er steht in vieler Hinsicht der Apokalyptik nahe, ist an dramatischer Eschatologie weit mehr interessiert als an Halacha. Die Bibelwissenschaft pflegt allerdings, in exklusivem Respekt vor den heiligen Sprachen Hebräisch und Griechisch, diese aramäische Bibel mit Mißachtung zu strafen. 8 Dem aramäischen Sprachbereich gehört auch Dan 2,44 ff. zu, wo vielleicht auf solche Profetien angespielt wird: »In den Tagen jener Könige läßt erstehen der König des Himmels ein Königreich, das in Weltzeiten nicht zerstört wird. ,Sein, Königreich wird aber nicht weiter einem Volk überlassen werden.«9 Das ewige Gottesreich erscheint und erfüllt die Erde (V. 35) nach diesem Kapitel, wenn die irdischen Reiche beseitigt sind. Ein gleichartiges, unzerstörbares Reich wird mit dem »Menschenähnlichen« nach Dan 7,13 f. auftauchen, wieder nachdem die irdischen Herrschaften verschwunden sind. Das Wesen der künftigen malku wird wohl Dan 9,24 mit der »ewigen Gerechtigkeit« und der »Salbung eines Allerheiligsten« umrissen, welche am Ende der Tage »Vision und Profet« besiegeln. Bezeichnenderweise greifen aber die hebräischen Danielkapitel den Begriff des Gottesreiches nicht auf. Als zukünftiges Heils gut erscheint das Reich dagegen AssM 1 O; TDan 5,13 (in beiden Fällen aramäische Vorlagen? ), in 4Q 203,9,6 (Gigantenbuch) und im Qaddisch- Gebet.10 Dem aramäischen Lexem malku scheinen andere Konnotationen im Blick auf mögliche Verborgenheit und unverhüllte Offenheit zu eignen als dem hebräischen malkut, obwohl es einige Lehnübertragungen hinüber und herüber gegeben hat. 11 Das weckt den Eindruck, daß hinter dem synoptischen Sprachgebrauch eine aramäische Tradition steht. » Jesus knüpft dabei besonders ... an Dan 2,44 an ... und an Dan 7,27«. 12 42 Die Entscheidung darüber, wieweit bei Jesus mit der Übernahme handfester apokalyptischer Anschauungen zu rechnen ist, hängt schon von der genauen Übersetzung von hebräisch-aramäisch malkutlmalku bzw. der neutestamentlichen Entsprechung basileia ab. Jahrhundertelang war (nach dem lateinischen regnum) die deutsche Wiedergabe »Reich Gottes« selbstverständlich, was die Vorstellung einer klar umschriebenen Ausdehnung und für die in Frage stehende Ansage einer futurischen Erscheinung als dramatische Besitzergreifung vorausgesetzt hat. Seit jedoch G. Dalman 13 als aramaistischer Sachkenner die Konnotation eines beherrschten Gebietes für die biblischen Ausdrücke in Frage gestellt und behauptet hatte, die Bedeutung sei stets ,Königsregiment<, niemals ,Königreich, 1 4, konnte er des Beifalls der Exegeten sicher sein. 15 Trifft die Bestimmung zu, verbindet sich mit der Weissagung einer kommenden Gottesherrschaft nicht notwendig eine revolutionäre Durchsetzung auf Erden; und die für Jesus (und eventuelle Vorgänger) bislang vorausgesetzte eschatologische Dramatik läßt sich einschneidend reduzieren. Damit entfällt ein schwerer Anstoß, welche die biblische Eschatologie für modernes Bewußtsein gebildet hatte. Dalman konnte mit anscheinend einschlägigen Beispielen aufwarten. Schon die alttestamentliche Aussage, daß die malkut Jahwes in der Hand der Davididen liege (II Chr 13,8), kann nicht meinen, daß sie das Universum regieren! Wenn im Neuen Testament Jesus behauptet, mit dem Erfolg seiner Exorzismen sei die basileia tau theou bei seinen Anhängern angekommen (Lk 11,20), denkt er gewiß nicht an eine räumlich wahrnehmbare Größe. So gehört es denn seit Jahrzehnten zur exegetical correctness, statt vom >Reich, von der ,Königsherrschaft Gottes< zu reden. Seit in unserem demokratischen Zeitalter die Institution des Königs suspekt geworden ist, wählt man gern das unverfänglicher klingende Nomen ,Gottesherrschaft,. 16 Solche Wiedergaben erlauben, Jesu Eschatologie weit mehr zu spiritualisieren, als es noch um die Wende zu unserem Jahrhundert möglich erschien. Ist das aber die ganze historische Wahrheit? Dalmans Lösung stehen im Alten wie im Neuen Testament Stellen entgegen, wo der fragliche Begriff beim unbefangenen Leser durchaus die Assoziation eines beherrschten Gebietes hervorruft. So, wenn Dan 2,35 die göttliche malku durch einen großen Stein symbolisiert wird, der die ganze Erde ausfüllt. Oder wenn Jesus voraussieht (Mt 8,1 lf.), daß von den Enden der Erde die Men- 43 sehen herbeiströmen, um in der basileia des Himmels zu Tische zu liegen; sollten sie dann nur in einer göttlichen Eigenschaft sich betten? Nicht nur hier, sondern auch sonst ist vermutlich der räumliche Aspekt »durchweg mitzubedenken«.17 Die Doppeldeutigkeit befremdet vermutlich den modernen Betrachter deshalb, weil das Lexem im althebräischen wie aramäischen Denken einem anderen kategorialen Paradigma zugeordnet war als einem uns vertrauten, was freilich viele (der Semantik abholden) Exegeten nicht wahrhaben wollen. Beide Sprachen rechneten m. E. mit unsichtbaren numinosen Wirkungsgrößen, die sich zwischen überirdischer und irdischer Welt aufbauen und bewegen. 18 Das würde in unserem Falle bedeuten, daß die biblischen Stellen an ein von Gott ausgehendes Herrschaftspotential denken, das sich auf die Erde zu bewegt, dort entgegenstehende Mächtigkeiten überwindet und sich dann als bleibende Struktur eines künftigen himmlisch-irdischen Gemeinwesens realisieren wird. Dann aber zielen die betreffenden Voraussagen durchaus auf einen endzeitlichen, dramatischen Umsturz irdisch-gesellschaftlicher Verhältnisse. 19 Schwerer wiegt das eigentümliche Ineinander von Gegenwart und Zukunft des Gottesreiches bzw. der Königsherrschaft Gottes in den Reden Jesu für das Urteil über seine Nähe oder Ferne zur Apokalyptik. In dieser Ambivalenz meinen viele Neutestamentler, einen Ansatzhebel zu besitzen, um Jesus aus den ihnen so unangenehmen apokalyptischen Verstrickungen herauszulösen. Allein für die Apokalyptik wird dann die Idee einer eindeutig zukünftigen Gottesherrschaft vorausgesetzt. Nun läßt sich schwerlich in Abrede stellen, daß Worte Jesu wie die Vaterunserbitte »Dein Reich komme« auf eine noch ausstehende zukünftige Größe verweisen. Doch dem lassen sich Aussagen entgegenstellen, wenngleich nicht allzu viele, wonach mit Jesu eigenem Wirken die göttliche basileia bereits angekommen sei. Selbst die Zusammenfassung der Jesusbotschaft am Eingang des Markusevangeliums (1,15): »Die Zeit ist erfüllt. Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen. Kehrt um und glaubt an das Evangelium« läßt sich dahin deuten, daß dieses Reich für Jesus bereits Gegenwart geworden sei, er also seinen Hörern keinen »Vorverkauf« für eine zukünftige Veranstaltung, sondern den Eintritt in ein bestehendes Unternehmen anbietet. Merkwürdigerweise scheint noch niemand bemerkt zu haben, daß ein vergleichbares dynamisches Ne- ZNT 3 (2.Jg. 1999) beneinander von Schon-Jetzt und Noch-Nicht des Gottesreiches bereits den Aussagen der aramäischen Danielkapitel zugrunde liegt. So rühmt in einem Schreiben an die untergebenen Völker der Großkönig N ebukadnezzar, nachdem er nach sieben Zeiten des Wahnsinns wieder zu Vernunft zurückgekehrt und in die Regierung eingesetzt worden war, die Zeichen und Wunder, welche der höchste Gott an ihm vollbracht hat (3,33 vgl. 4,31): »Seine Zeichen, wie gewaltig! Seine Wunder, wie mächtig! Sein Reich ist ein ewiges Reich.« Das Bekenntnis bedeutet keineswegs, daß die endzeidiche Beseitigung aller irdischen Reiche, die Kapitel 2 angekündigt hatte, und ihr Ersatz durch das Gottesreich bereits erfolgt wären. Doch es schließt ein, daß das Reich Gottes bereits während dieser Weltzeit in einem wunderhaften Ereignis aus seiner Verborgenheit herausgetreten und einem einzelnen Menschen transparent geworden ist, weil er dadurch die Übermacht dieses Gottes erfahren hatte. Gleiches läßt sich dem Rundbrief entnehmen, den der Meder Dareios mit einem Preis des Gottes Daniels hinausgehen läßt, nachdem er wahrgenommen hatte, daß Daniel wider alles Erwarten in der Löwengrube bewahrt worden war (6,27f.): »Er ist ein lebendiger Gott, feststehend in Weltzeiten. Sein ,Reich, geht niemals unter und seine Herrschaft ist unendlich. Er rettet und tut Zeichen und Wunder! « Altorientalischen Großkönigen widerfährt also ein göttliches Eingreifen, das den Rahmen ihrer bisherigen Erfahrung und ihrer absolutistischen Regierungsweise sprengt, so daß sie die Existenz eines hinter der vorletzten irdischen Wirklichkeit verborgenen übermächtigen Gottesreiches anerkennen müssen. Es bleibt freilich eine momentane Einsicht, die keine Bekehrung nach sich zieht. Solche Stellen beweisen, daß die Ambivalenz von Noch-Nicht und Schon-Jetzt auf eine apokalyptische Dialektik zurückgeht. Auch bei Jesus sind es gottgewirkte Wunder, welche den vorwaltenden Rahmen von Erfahrung, aber auch von satanischer Macht sprengen, so daß die Gegenwart des Gottesreiches transparent wird (Lk 11,20; Mk 3,27). Er verwendet also das gleiche gedankliche Muster. Allerdings tritt er selbst dabei (anders als die Danielbekenntnisse) als das ausführende Subjekt solcher Gotteswunder hervor. Er vertritt das künftige Gottesreich schon in seiner Person. Und er erwartet von seinen Hörern nicht nur ein momentanes Bekenntnis, sondern fordert sie auf, sich durch Umkehr und Nachfolge wie durch Abkehr vom Mammon proleptisch diesem Reiche einzugliedern und dessen hintergründige Macht an sich selbst zu erfahren. Insofern wird bei Jesus eine ZNT 3 (2.Jg. 1999) vorgegeben gelehrte Theorie zum Anstoß einer täglichen Praxis, die über die Vorstufe weit hinaus führt. 3. Der kommende Aion In einem sowohl in Q wie in Markus überlieferten Logion setzt Jesus das Reich Gottes mit einer künftigen Weltzeit in Beziehung und greift damit einen anderen, apokalyptischer Herkunft verdächtigen Begriff auf: »Niemand ist, der verläßt Haus oder Frau oder Bruder oder Verwandte wegen des Reiches Gottes, der nicht empfängt Vielfältiges in dieser Zeit und im kommenden Aion das ewige Leben ererbt.« (Lk 18,29f.; Mt 19,29; Mk 10,29f. 20 ) Die hier benutzte Wendung vom kommenden Aion/ 'Alam ist den jüngeren (ursprünglich aramäischen) Apokalypsen geläufig und ersetzt den älteren Begriff des Reiches Gottes in den Bilderreden des Henoch, dem IV Esr und dem syrischen Baruch. Gelegentlich wird sie schon im Profetentargum benutzt (z.B. II Sam 22,28 f.) und häufig in den übrigen Targumen. Die hebräische Entsprechung dringt auch in das rabbinische Schrifttum ein. 21 Dem künftigen 'alam/ 'olam werden einschneidende Erscheinungen zugewiesen, die noch für das Danielbuch (und für Jesus) mit dem Reich Gottes verbunden waren, wie Auferstehung, Jüngstes Gericht, Paradies und Hölle (z.B. IV Esr 7,31-44). Zwar hatten schon die früheren Apokalypsen wie die Qumranschriften eine Mehrzahl von 'alamin vorausgesetzt und sich dadurch von der im älteren Alten Testament üblichen Verwendung des Singulars für das hebräische Parallelnomen abgesetzt. Sie haben aber noch eine unbestimmte Vielzahl von Weltzeiten im Sinn gehabt (I Hen 12,3; Dan 2,44 usw.). Indem jedoch in der Literatur nach der Zeitenwende ein einziger gegenwärtiger 'alam als »dieser« von einem »kommenden« oder bereitstehenden, ewigen 'alam unterschieden wird, verschiebt sich das Verhältnis von Gegenwart und eschatologischer Zukunft. Während die Rede von einer demnächst anbrechenden göttlichen malkuta als Antithese zu den ungerechten politischen Verhältnissen auf Erden aufgefaßt wurde und dadurch auch das göttliche Königreich einen hierarchischen Anstrich behalten mußte, verbinden sich solche Konnotationen mit einem künftigen 'alam nicht mehr. Die Vorstellung von einer quasi politischen Struktur fällt dahin. Das in Aussicht stehende Heil wird innerlicher und geistiger aufgefaßt: » Dann wird das Herz der Erdbewohner verwandelt und zu einer anderen Gesinnung hingelenkt. Denn das Böse wird zerstört ... 44 der Glaube aber blüht, die Verderbnis wird überwunden, die Wahrheit herausgestellt« (IV Esr 6,25- 28). Wie beim Lexem malku(t), kommt es hinsichtlich 'alam/ 'olam bei den Exegeten zu Verständnisbarrieren, die mit einer fehlenden Bereitschaft zu semantischen Untersuchungen zusammenhängen. Während das hebräische 'olam in alttestamentlichen Texten mißverständlich mit "Ewigkeit« übersetzt wird, setzt man in ebenso bequemer Manier dafür in späteren und rabbinischen Texten die Wiedergabe "Welt«. Unter diesem Vorzeichen lautet der dann als apokalyptischer Grundsatz verstandene Satz IV Esr 7,50: »Der Höchste hat nicht eine Welt geschaffen, sondern zwei.« Das erweckt den Eindruck, daß für den Verfasser der gegenwärtige und der künftige 'alam unvermischt neben- und nacheinander existieren, letztlich nichts miteinander gemein haben. Wer jedoch wie W. Harnisch 22 auf die Texte einzugehen versucht, gelangt zu dem komplexen Ergebnis, daß sowohl zeitliche wie räumliche Konnotationen stets einbegriffen sind, gemeint sei demnach "eine sich bewegende, ,weltförmige" als Geschehnis von ,Welt, qualifizierte ,Raum-Zeit<.« Nach den einschlägigen Stellen durchdringen sich die beiden "Raum-Zeiten« bis zu einem gewissen Grad, und zwar so, daß der künftige 'alam/ 'olam schon in "dieser« Weltzeit hintergründige Wurzeln schlägt. Es handelt sich keineswegs um zwei in sich abgeschlossene Welten. Schon der erste 'alam war nämlich für das erwählte Volk geschaffen worden (IV Esr 6,55; 7,1); in ihm ist das Gesetz Gottes offenbart worden, durch das in dieser Weltzeit bereits das Leben der künftigen zu finden ist (IV Esr 9,31; 14,22), so daß, wie Esau den ersten, so Jakob proleptisch den zweiten 'alam repräsentiert (IV Esr 6,9). Angesichts solcher Wandlung in der spätisraelitischen Apokalyptik verwundert nicht, daß bezeichnende Charakteristika, die Jesus mit dem hereinbrechenden Reich Gottes verbunden hat, in diesen Apokalypsen dem kommenden 'Alam zugewiesen werden. Auf das Beispiel der entscheidenden Kehre mit Auferstehung und Jüngstem Gericht war schon verwiesen. Ein eingehender Vergleich ist m. W. noch nicht vorgenommen worden. Hier einige Beispiele. Wie nach Matthäus (6,33) dikaiosyne die basileia auszeichnet, so nach IV Esr 7,113 f. iustitia die kommende Weltzeit. Ähnlich wie nach Mt 5,3.5 die Armen und Machtlosen das Reich des Himmels und die Erde ererben, so ererben nach syrBar 44,11-15 (vgl. IV Esr 6,29) die Gerechten den künftigen 'Alam. Besonders auffällig ist die verbreitete Metaphorik von Saat und unscheinbarem Wachstum in der Gegenwart gegenüber einer grandiosen Ernte in der eschatologischen Zukunft. An jesuanische Paral- 45 lelen erinnert vor allem das Gleichnis vom zweifachen Saatfeld in IV Esr 4,276-32 23 : "Dieser Äon ist voll von Trauer und Ungemach. Gesät ist das Böse, wonach du fragst, und noch ist seine Ernte nicht erschienen. Ehe das Gesäte also noch nicht geerntet und die Stätte der bösen Saat nicht verschwunden ist, kann der Acker, da das Gute gesät ist, nicht erscheinen ... ermiß ,also< selber: Wenn schon ein Körnchen bösen Samens solche Frucht der Sünde getragen hat -, wenn einst Ähren ,des Guten< gesät werden ohne Zahl, welche große Ernte wird das geben! « Die gegenwärtige Weltzeit stellt demnach nicht nur Rahmenbedingungen und befristete Zeiträume für menschliches Leben bereit, sondern gleicht einer Art Ackerfeld, das durch menschliche Taten mitgestaltet werden kann, mit Auswirkungen im eschatologischen Endstadium. Das geschieht normalerweise durch böse Taten. Doch auch die kommende Weltzeit ist einem Acker vergleichbar, dessen durch Menschen gelegte Frucht ausreift, und das beginnt ebenfalls schon gegenwärtig (vgl. syrBar 70,2). Insofern ist der kommende Äon, wenngleich verborgen und ungreifbar, schon im gegenwärtigen Zeitalter zugänglich. Mit seinem endgültigen in-Erscheinung-Treten nach dem Ende des alten Äons wird der künftige »die Frucht auf der Tenne unseres Lohnes« sichtbar werden lassen (IV Esr 7,35; 8,33; syrBar 66,6). Gewiß legt der historische Jesus in seinen Gleichnissen die Akzente anders. Die Eigenarbeit, mit der der Hörer den künftigen Aion für sich bereiten soll, tritt bei ihm gegenüber einem Wachstum des Reiches zurück, welches durch das Wort der Verheißung hervorgerufen wird und Menschen dazu treibt, sich einen Schatz im Himmel zu erwerben. Stimmen aber die semantischen Felder nicht überraschend überein? 4. Der Menschensohn Der Jesus der Evangelien bezeichnet sich bekanntlich wieder und wieder als der gegenwärtige Sohn des Menschen, ho hyos tau anthr6pou, oder verweist auf eine gleichnamige Gestalt als künftigen Weltenrichter und Heiland der Gläubigen. Es handelt sich um die einzige, mehrfach belegte Selbstbezeichnung Jesu, und sie wird nirgends erklärt, also als bekannt vorausgesetzt. Die Neutestamentler streiten sich seit langem, ob mindestens für den zweiten, ankündigenden Gebrauch ZNT 3 (2. Jg. 1999) die Sprache der Apokalyptik, insbesondere Dan 7,13, die Grundlage geliefert hat. Die Auseinandersetzung läßt sich dadurch einerseits unbekümmerter, andererseits um so heftiger führen, als man in der Regel auf Semantik verzichtet und sich statt dessen an das Lexikon hält. Danach läßt sich behaupten, daß zugrunde liegende aramäische bar 'zenas(a') habe » 1. den Menschen generell (im >generischen Sinn,), 2. irgendeinen Menschen (im indefiniten Sinn) und ... 3. selten ,ich< bedeutet. 24 Verfolgt man statt bloßer lexikalischer Anreihung jedoch die Sprachgeschichte, so ergibt sich, daß nicht nur der dritte Sinn für die Zeit Jesu mehr als umstritten ist, sondern auch der erste, sonst »bezeugt ab dem 10. Jh.n. Chr.«. 25 Übrig bleibt also für das Mittelaramäische zunächst ein indefiniter Gebrauch, der allerdings nur für den indeterminierten Status beim zweiten Nomen, also bar 'zenas, zu belegen ist. 26 In den Targumen ist jedoch andererseits ein Gebrauch mit dem Status emph., also bar 'zenasa' ebenso verbreitet; dieser aber meint: »der (vorgenannte) betreffende, bestimmte Mensch« 27 oder gar im Psalmentargum 8,5; 80,16-18 ein Ehrenprädikat des Messias! 28 J. Jeremias hat also durchaus Recht: »bar bezeichnet das zu dem als Kollektivbegriff gebrauchte 'zenas >Mensch, gehörige Individuum«.29 Das kann aber sowohl auf einen gewöhnlichen Menschen wie auf einen bestimmten, eine herausragende Persönlichkeit verweisen. Da die Worte vom kommenden Menschensohn (insbesondere Lk 12,8; Mk 8,28) zumeist als alt und am ehesten auf Jesus selbst zurückgehend beurteilt werden, kann sich die überlieferungsgeschichtliche Rückfrage auf diesen Strang beschränken. Da nach Dan 7,13 ein kebar 'zenas mit den Wolken des Himmels kommen wird ('ateh), wird beim Für oder Wider eines apokalyptischen Einflusses auf Jesus primär um diese Stelle gerungen. Nach dem Danielkontext ist der indeterminiert verwendete Ausdruck noch nicht titular verstanden worden; vielmehr wird ein von oben kommender »Menschenähnlicher« geweissagt, dem das universale, ewige Gottesreich übertragen wird und der das Gegenbild darstellt zu den von unten stammenden, tierischen Repräsentanten vorangehender irdischer Weltreiche (7,1-8). Das von Gott heraufgeführte und durch den Menschenähnlichen bestimmte Heilsreich wird wirklich menschlich-menschenwürdig gestaltet sein im Gegensatz zu den vergangenen und gegenwärtig bestehenden Herrschaftssystemen der Weltzeit. Wer aber ist mit diesem Repräsentanten und Regenten des Gottesreiches gemeint? Abwegig erscheint die bei vielen Exegeten seit 150 Jahren beliebte These, der Ausdruck werde in Dan 7 auf das Kollektiv des Volkes bezogen. Sollte der Apokalyptiker sich das endzeitliche Israel wie einen Heuschreckenschwarm vorgestellt haben, der auf himmlischen Wolken heranschwebt? Die Semantik ZNT3 (2.Jg.1999) schließt es aus. Das betont vorangestellte Singulativ bar (anders 7,4! ) meint im damaligen Aramäisch fraglos eine individuelle Größe, am ehesten einen Erzengel, der zugleich als der Völkerengel Israels angesehen worden sein mag. 30 Zwischen der Abfassung von Dan 7 und derjenigen der Evangelien liegen aber mehr als zwei Jahrhunderte. Währenddessen ist die von Daniel geschaute Gestalt von der nachfolgenden Apokalyptik in veränderte Erwartungshorizonte gestellt und abgewandelt rezipiert worden. Zeitlich nicht weit von Dan 7 entfernt, weissagt die Tiervision des Henoch, vermutlich aufgrund einer hebräischen Wiedergabe baen 'adam, einen mit Anbruch des Heilszeitalters auftauchenden weißen Bullen als den zweiten Adam, in den alle dann existierenden Arten von Menschen verwandelt werden (I Hen 90,37f.). 31 Die Gestalt wird in weiteren apokalyptischen Texten zunehmend individueller aufgefaßt, und ihr werden mehr und mehr Kompetenzen zugeschrieben, so schon in der Daniel-Septuaginta 32 , dann den Bilderreden des Henoch, dem 4. Esra; im syrischen Baruch taucht zwar der Ausdruck selber nicht auf, sein Inhalt wird aber vorausgesetzt, indem eine vor dem Weitende eintretende Anfangszeit des Messias von einer späteren Parusie der hier ebenfalls Messias genannten Gestalt »in Herrlichkeit« unterschieden wird. 33 Fügen sich die Aussagen des Jesus der Evangelien in diese Entwicklungslinie einer endgültigen Heilandsgestalt mit ihren mehrfachen Funktionsbestimmungen des o hyos tau anthropou nicht durchaus sinnvoll ein, historisch gesehen? Daran ist eine weitere Beobachtung anzuschließen. Wo in diesen Apokalypsen der endzeitliche Menschensohn oder eine ihm entsprechende Heilandserscheinung geweissagt werden, ist immer auch von einem zukünftigen Messias die Rede. Dieser aber wird vom ersten stets abgehoben (Ausnahme syr Bar), und zwar so, daß der Messias vorangeht, allein für Israel zuständig ist, sein Volk befreit und dann verschwindet, während danach der Menschensohn erscheint, der mit der Totenauferweckung und dem Weltgericht im Zusammenhang steht und ein endgültiges universales Heil heraufführt. So die Henoch-Bilderreden und 4. Esra (vgl. schon Dan 9,26 mit 7,13; I Hen 90,9-14 mit V.37f.; Apok Abr 29 mit 31). Die Apokalyptik (im Laufe der Zeit auch Daniel) vertritt also eine zweistufige Messianologie, um es in der Begrifflichkeit des syrBar zu formulieren, sie bietet, genauer gesagt, eme Zwei-Stadien- Heilandserwartung. Trifft die Beobachtung zu, so legt sich bei bestimmten Abschnitten der Evangelien die Frage nahe, ob da nicht ein gleiches Nacheinander in Blick auf das kommende Heil vorausgesetzt war, zumindest in aramäischen Vorstufen der Texte. Denn das Christus-Prädikat wird mehrfach mit seinem Erdenwirken in Israel in Beziehung ge- 46 setzt (z.B. Mk 15,18.26.32); wo im Kontext auf den Menschensohn eingegangen wird, wird sein Erscheinen hernach unter veränderten Umständen erwartet, was Mk schon mit dem Kreuzestod anscheinend anheben läßt (8,27-30+31; 13,21f.+24-27; 14,61f.). Hing diese Unterscheidung womöglich mit Jesu Selbstverständnis zusammen? 5. Jesu Angriff auf den Tempelkult Spielen apokalyptische Ideen eine wichtige Rolle für den Prozeß Jesu und das Todesurteil über ihn? Die Evangelisten lassen an einigen Stellen hindurchscheinen, obwohl sie selbst den Zusammenhang nicht durchschauen, daß J esu verbaler und aktiver Angriff auf die Tempelinstitution Anlaß für seine Verhaftung und die Anklage gewesen sind (Mk 14,18.58; vgl. 13,lf.; Joh 2,19f.; Apg 6,14). Der Überfall auf den Verkauf von Opfertieren (die im Tempelvorhof feilgeboten werden, weil sie dort auf levitische Makellosigkeit geprüft worden waren? ) bedeutet eine gewaltsame Störung des Opferdienstes. Die Aktion fügt sich zu der im anderen Zusammenhang überlieferten Weissagung Jesu, daß der Tempel abgebrochen und in drei Tagen durch ihn wiederaufgerichtet werde. Als eine Art profetische Symbolhandlung (vgl. Jes 20) nimmt sie zukünftiges Geschehen zeichenhaft vorweg. Der Tempel ist seiner Aufgabe nicht nachgekommen, Bethaus für die Völker zu sein, sondern zu einer Räuberhöhle entartet. So wird er beseitigt. Er wird durch ein eschatologisches Gegenbild ersetzt, das göttlichem Willen gemäß ist. 47 Eine Kritik des Tempels wegen der dort geübten Ausbeutung der Armen und einer vorherrschenden Verunreinigung war für die Gemeinde von Qumran der Grund, sich vom Kult in Jerusalem fernzuhalten. Mit solcher Distanzierung waren schon apokalyptische Schriften vorangegangen, die den zweiten Tempel scharf verurteilen und ein eschatologisches, weltweites Heiligtum erwarten. Vielleicht zielt schon Dan 9,24 auf die Salbung eines ewigen Allerheiligsten, dessen Rang über den demnächst wieder funktionierenden J erusalemer Kult hinausreicht. Deutlich gibt jedenfalls die Tiervision des Henoch einem Gegensatz zwischen dem bestehenden und dem endzeitlichen Gottesheiligtum Ausdruck. Mit der eschatologischen Kehre wird danach der zweite Tempel restlos beseitigt - »Alles Brot auf ihm war verunreinigt und nicht rein« (89,73) - und mit dem Einbruch der Heilszeit ein für sich neuer Tempel errichtet, »und alle wilden Tiere und alle Völker des Himmels versammelten sich in jenem Haus« (90,28- 33 ). Die sogenannte 10-Wochen-Apokalyse erwähnt in ihrem Geschichtsabriß zwar Bau und Zerstörung des salomonischen Tempels, verschweigt aber die Existenz des zweiten Tempels und kündet erst für die eschatologische Zukunft an, daß »der Tempel der Herrschaft des Großen in der Herrlichkeit seines Glanzes für alle Generationen auf ewig« errichtet werde (I Hen 93,7f.; 91,13). Die syrische Baruch- Apokalypse schildert in ihrer ersten Vision, wie der Tempel in Jerusalem durch die Kaldäer zerstört wird, aber zuvor Gesetzestafeln von Engeln in der Erde verborgen wurden »bis auf die letzten Zeiten«, wenn dann das Paradies mit dem himmlischen Jerusalem und der eschatologischen Stiftshütte auf die Erde herabkommt (6,6-9; 4,1-7); auch hier bleibt der zweite Tempel unberücksichtigt, wohl deshalb, weil er nicht als Gott wohlgefällig gilt. Den zweiten Tempel lehnt auch der Kreis ab, der hinter dem Gotteswort für ein anderes Heiligtum in der Tempelrolle von Qumran steht (11 Q 19.20); dabei ist allerdings nicht sicher, ob das Programm auf eine apokalyptisch verstandene Endzeit zielt (vgl. weiter Jub 1,17.27.29; 4,26). Auf dem Hintergrund solcher Stimmen scheint es zweifelhaft, daß die »Tempelreinigung« von Jesus als grundsätzliche Verwerfung von Kult überhaupt gemeint und er der Überzeugung gewesen wäre, daß mit der demnächst vergehenden Weltzeit auch der Tempel für immer verschwinde. 34 Stand Jesus der Apokalyptik seiner Zeit womöglich näher als der Hellenist Markus, dessen Passionsbericht die geistesgeschichtlichen Zusammenhänge in Palästina nicht versteht? 6. Die Ostererfahrungen der Apostel Wie immer man über das Maß apokalyptischer Voraussetzungen bei Jesus selbst urteilen mag ihre ausschlaggebende Rolle bei seinen Anhängern nach seinem Tode und damit bei der Entstehung des urchristlichen Kerygmas ist nicht zu verkennen. Die Erscheinungen des hingerichteten Meisters in Verbindung mit Auditionen konnten nur deshalb als Beweis seiner Auferweckung und seines Übergangs in eine himmlische Herrlichkeit begriffen werden, weil die Überzeugung von eschatologischer Totenerweckung den Betroffenen längst gewiß war! In den Tagen des altisraelitischen Königtums hingegen hätte eine solche Erscheinung kaum anders gewertet werden können als die Erscheinung des abgeschiedenen Samuel vor Saul (I Sam 28) nämlich als die eines sehe- ZNT 3 (2.Jg. 1999) menhaften Geistes oder Gespenstes. Für manche Neutestamentler scheint ein unableitbarer Auferstehungsglaube die Wurzel aller Christologie zu sein, als deus e machina der neutestamentlichen Botschaft. Wer zu historischen Erwägungen bereit ist, wird auch für die den Aposteln widerfahrenen Erscheinungserlebnisse mentale und psychologische Voraussetzungen in Rechnung stellen, ohne die Kontingenz des Geschehens in Abrede zu stellen. Das gilt ebenso für die Hörer, die sich dann ohne eigene Begegnung mit dem Auferstandenen der Urkirche angeschlossen haben. Neben der Erwartung einer endzeitlichen Totenerwekkung, welche die Apokalyptik geweckt hatte und die auch in die Targume eingedrungen war Qes 26,19; Jer 51,39.57 u. ö.), mag die Idee einer Reinkarnation entrückter Gottesmänner (wie Elija) eine Rolle gespielt haben und natürlich die (durch Jesus) an einen kommenden Menschensohn geknüpfte Erwartungen. »So konnte man durch Ostern die Aufrichtung der Gottesherrschaft durch Jesus ihrem Inhalt nach neu bekräftigt sehen«.35 Ohne daß solche Überlieferungen bekannt und für selbstverständlich gehalten worden waren, wäre es zu keinem Osterglauben gekommen. Den Einfluß apokalyptischer Ideen, insbesondere des Danielbuches, auf Jesus und die Urgemeinde zu bestreiten, führt also dazu, beide Erscheinungen aus ihrem religionsgeschichtlichen Kontext herauszulösen. 36 Anmerkungen 1 Die Anfänge der christlichen Theologie, ZThK 57 (1960) 162-185: 180 = E. Käsemann, Exegetische Versuche und Vorarbeiten II, Göttingen 2 1960, 82- 104: 100. 2 K. Koch, Ratlos vor der Apokalyptik, Gütersloh 1970, 35-37; zu Käsemann, 71-73. 3 Vgl. Art. Apokalyptik/ Apokalypsen IV (A. Strobel), TRE 3, Berlin 1978, 251-257: 255. 4 K. Koch, Ratlos, 55 ff. 5 M. Hengel/ A.M. Schwemer (hgg.), Königsherrschaft Gottes und himmlischer Kult im Judentum, Urchristentum und in der hellenistischen Welt, (WUNT 55) Tübingen 1991. 6 Obd 21 spricht von der meluka, der Königsmacht, die Jahwä dann wieder zukommt, vermeidet jedoch den Begriff malkut; vgl. weiter Sach 14,9. 7 Vgl. die prohasmonäische Parteinahme in I Sam 2,4; dazu K. Koch, Das apokalyptische Lied der Profetin Hanna, in: W. Zwickel (hg.), Biblische Welten, FS M. Metzger (OBO 123) Fribourg 1993, 61-82: 64.71. Der Profetentargum hatte eine längere Re- ZNT3 (2.Jg.1999) daktionsgeschichte. Dabei gehören die den rabbinischen Theorien fremden Auffassungen m. E. zu einer früheren Stufe. 8 Der Profetentargum bleibt in dem sonst materialreichen Lehrbuch von G. Theissen/ A. Merz, Der historische Jesus, Göttingen 1996, im Abschnitt über die »Aussagen über das Reich Gottes in der zwischentestamentarischen Zeit« (228 ff.) unerwähnt. Anders die vorzügliche Darstellung in Art. Kingdom of God, Kingdom of Heaven (D. C. Duling), AncBD 4, Garden City 1992, 49-56. 9 Zur Übersetzung K. Koch, Daniel (BK XXII 2) Neukirchen-Vluyn 1994, 103. 10 Dazu vgl. Duling, Kingdom, 52. 11 Hebräisch wird ein künftiges Gottesreich ausgedrückt in lQM VI 6; XII 7-15; XIX 8 und in einigen Synagogengebeten; Bill I 179. Aramäisch erscheint das Gottesreich als präsentische Größe I Hen 84,3, wohl auch Dan Add 3,35 (K. Koch, Deuterokanonische Zusätze zum Danielbuch, (AOAT 38) Neukirchen-Vluyn 1987, I 91. 202.210). 12 J. Jeremias, Neutestamentliche Theologie I, Gütersloh 3 1979, 104f. 13 Die Worte Jesu, Leipzig 2 1930, 75-119. 14 Ebd. 77. 15 Vgl. Art. gamos (K. Niederwimmer), ThWNT I, Stuttgart 1980, 564-571 : 570; Art. Reich Gottes I. Im Judentum und NT (H. Conzelmann), RGG 3 5,Tübingen 1961, 911-918: 915. 16 Art. Herrschaft Gottes/ Reich Gottes VII (C. Walther), TRE 15, Berlin 1986, 228-244. 17 Art. Herrschaft Gottes/ Reich Gottes IV (A. Lindemann), TRE 15, Berlin 1986, 196-218: 200. 18 K. Koch, Die hebräische Sprache zwischen Polytheismus und Monotheismus, in: ders., Spuren des hebräischen Denkens, Gesammelte Aufsätze 1, Neukirchen-Vluyn 1991, 25-64. 19 Anders, aber kaum überzeugend, 0. Camponovo, Königtum, Königsherrschaft und Reich Gottes in den frühjüdischen Schriften (OBO 58) Fribourg 1984, 428-432, zum Profetentargum. 20 Dazu K. Koch, Der Schatz im Himmel, in: ders. Vor der Wende der Zeiten, Ges. Aufs. 3, Neukirchen- Vluyn 1996, 267-279. 21 Bill 4, 815-857. 22 Verhängnis und Verheißung der Geschichte, (FRLANT 97) Göttingen 1969, 90-106: 98. 23 H. Gunkel in: APAT II 357. 24 So wieder Theissen / Merz, Jesus, 4 71. 25 K. Beyer, Die aramäischen Texte vom Toten Meer, Ergänzungsband, Göttingen 1974, 311. 26 Z.B. I Hen 22,5; Beyer, Texte, 241. 27 So z.B. in Unterscheidung zum indefiniten Gebrauch Targum Neofiti zu Gen 9,5f. 28 K. Koch, Das Reich der Heiligen und der Menschensohn, in: ders., Die Reiche der Welt und der kommende Menschensohn, Gesammelte Aufsätze 2, Neukirchen-Vluyn 1995, 140ff.: 157-162; ders., Messias und Menschensohn, in: ders., Vor der Wen- 48 de der Zeiten, Gesammelte Aufsätze 3, Neukirchen- Vluyn 1996, 235-266: 243-246. 29 Neutestamentliche Theologie 1, 248. 3 ° K. Koch, Das Buch Daniel (EdF 144) Darmstadt 1980, Kap. 9; J. J. Collins, Daniel (Hermeneia), Minneapolis 1993, 304-310. 31 Koch, Messias und Menschensohn, 248-250. 32 K. Koch, Spätisraelitisch-jüdische und urchristliche Danielrezeption vor und nach der Zerstörung des zweiten Tempels, in: R. G. Kratz/ Th. Krüger (hgg.), Rezeption und Auslegung im Alten Testament und in seinem Umfeld (OBO 153) Fribourg 1997, 93-123: 99-101. 33 Messias und Menschensohn, 244-264. 34 Theissen/ Merz,Jesus, 381. 35 J. Becker, Jesus von Nazareth, Berlin 1996, 443. 36 Das Danielbuch hatte wohl deshalb um die Zeitenwende besonderes Ansehen erlangt, weil seine zentrale Weissagung über 3,5 Jahre Tempelentweihung sich so termingerecht erfüllt hatte wie keine andere im profetischen Schrifttum. TANZ - Texte und Arbeiten zum Neutestamentlichen Zeitalter Peter Söllner Jerusalem,~ ~gebaute Stadt Eschatologisches und Himmlisches Jerusalem im Frühjudentum und im frühen Christentum Peter Söllner Jerusalem, die hochgebaute Stadt Eschatologisches und Himmlisches Jerusalem im Frühjudentum und im frühen Christentum TANZ 25, 1998, XII, 348 Seiten, DM 96,-/ ÖS 701,-/ SFr 86,- ISBN 3-7720-1876-9 Wie konnte es zur Vorstellung des "Himmlischen Jerusalem" kommen, die erst im neutestamentlichen Kanon aber nicht vorher - Erwähnung findet? Die Arbeit geht der traditionsgeschichtlichen Entwicklung des eschatologischen und "Himmlischen Jerusalem" im Frühjudentum und im Neuen Testament nach. In diesem Zeitraum vom dritten vorchristlichen Jahrhundert bis zum ersten nachchristlichen Jahrhundert wurde die alttestamentliche Zion/ Jerusalem-Restaurationskonzeption auf die veränderten politisch-gesellschaftlichen sowie religiösen Situationen in modifizierter Form appliziert. Jürgen Zangenberg Frühes Christentum in Samarien Topographische und traditionsgeschichtliche Studien zu den Samarientexten im Johannesevangelium TANZ 27, 1998, 308 Seiten, DM 78,-/ ÖS 569,-/ SFr 74,- ISBN 3-7720-1878-5 Jürgen Zangenberg Frühes Christentum in Samarien Topographische und traditionsgeschichtliche Studien zu den Samarientexten im Johannesevangelium Samarien ist für die neutestamentliche Exegese noch weitgehend terra incognita. Und doch besitzt die Region vor allem für das Johannesevangelium eine im NT einzigartige Bedeutung. Die Arbeit setzt nun nicht bei theologischen oder historischen Modellen zur Geschichte des frühen Christentums an, sondern bewußt bei den Ortsangaben des Evangeliums selbst. Was wissen wir von diesen Orten? Welches religiöse und kulturelle Profil der Region Samarien ist erkennbar? Wie geht der Evangelist mit den dort ansässigen Gruppen um? - A. Francke Verlag Tübingen und Basel· Postfach 2560 • D-72015 Tübingen 49 ZNT 3 (2. Jg. 1999)
