ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
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1999
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Dronsch Strecker Vogel»Natürlich, eine alte Handschrift«. Nag Hammadi, die Gnosis und das Neue Testament
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1999
Silke Petersen
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Silke Petersen »Natürlich, eine alte Handschrift«. Nag Hammadi, die Gnosis und das Neue Testament 1. Verlorene und wiedergefundene Handschriften (fiktiv und real) Natürlich, eine alte Handschrift mit diesem Vorsatz beginnt Umberto Eco seinen Roman Der Name der Rose. 1 Auf den ersten Seiten des Romans erfahren die Lesenden, wie der Ich-Erzähler in Prag kurz vor der Besetzung durch sowjetische Truppen zufällig eine alte Handschrift gefunden und »in einem Zustand großer Erregung« gelesen habe. Berichtet wird weiterhin vom Verlust dieser Handschrift, dem Versuch, Spuren ihrer Existenz in anderen Büchern zu finden, sowie von dem Entschluß des Erzählers, die bei der ersten Lektüre angefertigte Rohübersetzung in überarbeiteter Form zu veröffentlichen. Alles, was im Roman folgt, ist also läßt man sich auf die Fiktion des Vorwortes ein bloß die Wiedergabe einer alten Handschrift, wenn auch nicht ohne Warnung vor den Unterschieden der Fassungen: »Der geneigte Leser möge bedenken: was er vor sich hat, ist die deutsche Übersetzung meiner italienischen Fassung einer obskuren neugotisch-französischen Version einer im 17.Jahrhundert gedruckten Ausgabe eines im 14.Jahrhundert von einem deutschen Mönch auf lateinisch verfaßten Textes.« Das Thema eine alte Handschrift ist damit aber noch nicht erschöpft: Die im Roman berichteten Verwicklungen, Verwirrungen und Morde in einer Benediktiner-Abtei haben letztlich eine weitere alte Handschrift als Ursache, eine griechische Aristoteles-Handschrift, die nachdem sie in einem unzugänglichen Teil der labyrinthischen Bibliothek versteckt wurde die Begehrlichkeiten verschiedenster Mönche weckt und schließlich zusammen mit der gesamten Bibliothek vernichtet wird. Die alte Handschrift erzählt also von einer alten Handschrift, wobei es einen kleinen, aber doch bedeutetenden Unterschied zwischen den beiden Handschriften gibt: Die alte Handschrift der Rahmenerzählung erhält einen fiktiven Charakter schon dadurch, daß Eco seinem Buch den Untertitel Roman gibt; demgegenüber ist die alte Handschrift der Haupterzählung, nämlich der zweite Teil der Poetik des Aristoteles, ein Text, den es wohl tatsächlich einmal gegeben hat und 2 der tatsächlich verlorengegangen ist (was wir allerdings auch nur aus anderen Büchern wissen). Umberto Ecos Bestseller erzählt also auf zweifache Art von den Verwicklungen, die verlorene und wiedergefundene Handschriften auslösen können; er legt seinem Roman mithin ein Thema zugrunde, das auch in der wissenschaftlichen Welt der letzten hundert Jahre mehrfach für Aufregung gesorgt hat. Neben dem Fund der Qumranrollen (als dem wohl populärsten Handschriftenfund dieses Jahrhunderts) gibt es noch einen zweiten Zufallsfund von Handschriften mit einer vergleichbaren Bedeutung für die Bibelwissenschaften: In der Nähe des oberägyptischen Ortes Nag Hammadi wurde etwa zeitgleich mit den Qumranrollen eine Anzahl vergrabener antiker Papyruscodices (also gebundener Bücher und nicht Schriftrollen) entdeckt. Die überwiegende Zahl der gefundenen Einzelschriften gehört in den Bereich der Gnosis, einer spätantiken religiösen Bewegung, die vom Christentum im Zuge seiner Etablierung bekämpft und ausgeschieden wurde, was unter anderem zur Folge hatte, daß fast alle gnostischen Originalschriften verlorengingen. Das Schicksal von Handschriften ist hier ebenso wie bei Umberto Eco verknüpft mit der Entscheidung über den rechten Glauben und mit der Definition von Häresie und Orthodoxie. Im folgenden wird es um die Geschichte des Fundes und seiner Veröffentlichung gehen sowie um den Inhalt der gefundenen Handschriften im Zusammenhang mit der Gnosis, dem Neuen Testament und der Geschichte des frühen Christentums. Manches in der Fundgeschichte erinnert an einen Krimi wie ihn Umberto Eco schrieb; der Ausgang ist jedoch weitaus glücklicher: Die Handschriften sind inzwischen allen Interessierten zugänglich. 2. Die Geschichte der Nag-Hammadi- Schriften Im Dezember 1945 machte sich der Feldarbeiter Muhammed Ali al-Samman aus dem oberägyptischen Dorf al-Qasr auf den Weg, um am Fuß ei- ZNT 4 (2. Jg. 1999) Silke Petersen Silke Petersen, Jahrgang 1965, Studium der Evangelischen Theologie in Hamburg, 1998 Promotion über Jüngerinnen Jesu in christlich-gnostischen Schriften, 1998/ 99 Postdoktorandlnnen- Stipendium der DFG beim Graduiertenkolleg »Wahrnehmung der Geschlechterdifferenz in religiösen Symbolsystem« an der Universität Würzburg, zur Zeit Assistentin am Institut für Neues Testament im Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg. nes nahegelegenen Berges nach fruchtbarer Humuserde zum Düngen zu graben. Dabei stieß er zufällig auf einen großen Tonkrug, den er zuerst nicht zu öffnen wagte, aus Furcht er könne Geister enthalten. Der Gedanke, daß der Inhalt möglicherweise auch Gold sein könnte, brachte ihn dazu, den Tonkrug dennoch aufzubrechen; die Enttäuschung war groß, daß sich nur wertlose Bücher darin befanden. Trotzdem verstaute er diese Bücher im Tuch seines Turbans und nahm sie auf seinem Kamel mit nach Hause, um sie dort im Stall zu lagern. Einiges von dem »wertlosen« Fund verwendete seine Mutter zusammen mit Stroh zum Feueranzünden. 2 Der Finder der Handschriften war zu dieser Zeit in einen Fall von Blutrache zwischen den benachbarten Dörfern al-Qasr und Hamra Dum verwickelt. Kurze Zeit nach seinem Fund tötete er zusammen mit seinen Brüdern den Mörder seines Vaters. Dieses Ereignis hatte verschiedene Konsequenzen für die Geschichte der Handschriften: Zum einen ermöglichte die Tatsache, daß in der Erinnerung Muhammed Alis beide Ereignisse miteinander verknüpft waren, überhaupt erst die genaue Datierung des Fundes (er selbst konnte keine Jahreszahl angeben), da sich der Todeszeitpunkt aus amtlichen Unterlagen feststellen ließ. Und zum anderen beginnt der ZNT 4 (2. Jg. 1999) Silke Petersen HNatür! ich, eine alte Handschrift{( Weg der Texte in die Öffentlichkeit damit, daß Muhammed Ali eines der Bücher (wohl aus Furcht vor Hausdurchsuchungen aufgrund der Blutrache) bei einem koptischen Priester deponierte, dessen Schwager es am Ende des Sommers 1946 nach Kairo mitnahm, dort zu seiner Überraschung von dem Wert des Codex erfuhr und ihn an das koptische Museum verkaufte. Mit einiger Zeitverzögerung und Umwegen u. a. über einen zypriotischen Antikenhändler in Kairo gelangten schließlich auch die anderen Codices in den Besitz des Koptischen Museums. Dort hatte Pahor Labib, der in Deutschland studiert hatte, inzwischen den französisch gebildeten Togo Mina als Direktor abgelöst. Durch beide erhielten zunächst einzelne Wissenschaftler aus Frankreich bzw. Deutschland Zugang zu den Codices sowie Veröffentlichungsrechte. Durch ihre Berichte erfuhr die wissenschaftliche Öffentlichkeit zwar von der Existenz der Handschriften, ihre Veröffentlichung zögerte sich jedoch hinaus. Die Gründe dafür, daß noch 1970 nur wenige Textausgaben existierten, lagen auf verschiedenen Ebenen; entscheidend ist aber wohl, daß lange Zeit vielen der eigentlich qualifizierten Wissenschaftlerinnen kein unbeschränkter Zugang zu den Texten und keine Veröffentlichungsrechte gewährt wurden. Diese Monopol- Situation änderte sich erst dadurch, daß es James M. Robinson gelang, sich auf Umwegen Photographien aller Handschriften zu beschaffen, und daß er diese allen Interessierten zugänglich machte. Schließlich erschien im niederländischen Verlag Brill in den Jahren ab 1972 eine 12bändige Faksimile-Ausgabe aller Nag-Hammadi- Schriften.3 1977 wurde eine englische Gesamtübersetzung der Schriften veröffentlicht 4 und heute gibt es von allen Texten wissenschaftliche Textausgaben mit Übersetzungen in moderne Sprachen. 5 3. Der Inhalt der Handschriften Die dreizehn gefundenen Papyruscodices sind unterschiedich gut erhalten, bei einigen hat sogar der Ledereinband die Zeiten überdauert, andere wiederum sind in einem ziemlich bruchstückhaften Zustand oder haben größere Löcher in den Seiten. Fragmente von Briefen und Quittungen, die dazu benutzt wurden, die Ledereinbände der Codices zu verstärken (eine Art antikes Recycling), stammen aus der Zeit um 350. Zusammen mit anderen 3 Indizien belegen sie, daß die Codices im vierten Jahrhundert hergestellt und wohl auch vergraben wurden. Die Gründe dafür liegen im Dunkeln. 6 Alle Texte liegen in koptischer Sprache vor (einer Form des Ägyptischen, die dort ab dem 3.Jhdt n. Chr. in Gebrauch war); die meisten von ihnen in einem oberägytischen Dialekt des Koptischen, dem Sahidischen. Wohl keine der Schriften ist ursprünglisch koptisch abgefaßt, es handelt sich vielmehr wahrscheinlich bei allen um Übersetzungen aus dem Griechischen. Die meisten Schriften dürften im 2. oder 3. nachchristlichen Jahrhundert entstanden sein. Die Übersetzung der Texte ins Koptische zeigt, daß sie auch jenseits von zweisprachig gebildeten Kreisen Ägyptens Interesse fanden. Die einzelnen Codices enthalten meist mehrere Texte hintereinander, darunter eine große Anzahl bislang unbekannter Schriften. Einige Texte sind mehrfach überliefert, zu einigen gibt es Parallelen in anderen Handschriften, mehrere Schriften haben literarische Beziehungen untereinander. Viele der Nag-Hammadi-Texte sind ihrem Inhalt nach sowohl gnostisch als auch christlich (so z.B. das Apokryphon des Johannes, die Sophia ]esu Christi, das Evangelium nach Philippus, der Dialog des Erlösers und die Apokalypse des Petrus). Allerdings gibt es auch einige Schriften, für die dies nicht zutrifft: So ist der Brief des Eugnostos wohl weder als christlich noch als gnostisch, sondern eher als mittelplatonisch einzustufen.Und in Codex VI findet sich eine (nicht sehr gelungene) koptische Übersetzung eines Abschnitts aus Platons Staat, einer Schrift, die im vierten vorchristlichen Jahrhundert verfaßt wurde und die mit Sicherheit weder als christlich noch als gnostisch bezeichnet werden kann. Daneben gibt es auch einige Schriften, die gnostisch, aber nicht christlich (z.B. die drei Stelen des Seth ), oder christlich, aber nicht gnostisch sind (z.B. die Taten des Petrus und der zwölf ApostelundDie Lehren des Silvanus ). 7 Deutlich wird hier, daß die Nag-Hammadi- Schriften keine homogene Textsammlung darstellen, es ist unklar, ob sie jemals alle zusammen in einer Bibliothek gestanden haben (und wenn ja, aus welchen Gründen dies geschehen sein könnte). Auch wenn die Schriften also alles andere als eine gnostische »Ersatz-Bibel« sind, so ist die Beschäftigung mit dem Thema Gnosis doch von zentraler Wichtigkeit für das Verständis der Texte. Anderserseits können aber auch die Nag- Hammadi-Texte neues Licht auf ein altes Forschungsproblem werfen, nämlich auf die Frage, was eigentlich Gnosis ist. 4 4. Was ist Gnosis? Im Laufe der Forschungsgeschichte wurde diese Frage sehr unterschiedlich beantwortet. Prinzipiell lassen sich in der neuzeitlichen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Gnosis drei unterschiedliche Arten von Gnosisdeutung ausmachen: Neben einer primär kirchengeschichtlich orientierten Beschreibung stehen eine religionsgeschichtliche und eine philosophisch geprägte Sichtweise. 8 Klassischer Vertreter der kirchengeschichtlich orientierten Sichtweise ist Adolf von Harnack, der die Gnosis als »akute Verweltlichung des Christenthums« beschreibt. 9 Die Gnosis wird bei Harnack vom Christentum aus gedeutet, ohne Christentum gibt es keine Gnosis. Diese Einordnung der Gnosis in die christliche Ketzergeschichte verdankt sich vor allem den polemischen Darstellungen der Kirchenväter, Harnack waren kaum gnostische Originalquellen zugänglich. Auch wenn sich inzwischen die Quellenlage verändert hat, wird dennoch weiterhin die Ableitung der Gnosis aus dem Christentum vertreten und die Gnosis als christliche Häresie betrachtet. 10 Dies ist im Hinblick auf die Nag-Hammadi-Texte ein fragwürdiges Vorgehen, da es nötigt, auch Texte, die keine klaren christlichen Bezüge enthalten, trotzdem als genuin christlich einzustufen und bei Texten, die allem Anschein nach sekundär verchristlicht wurden, eine noch davor liegende Phase der Entchristlichung anzunehmen. Grundlegend für die entgegengesetzte Sicht der Gnosis ist die sogenannte »Religionsgeschichtliche Schule«, 11 die Christentum und Gnosis in den Gesamtzusammenhang der antiken Religionsgeschichte stellt. Hier wird die Gnosis aus orientalischen Religionen abgeleitet, wobei insbesondere der Dualismus des Zarathustra und babylonischer Gestirnskult als Anknüpfungspunkte gesehen werden. Heute sind Ableitungsversuche dieser Art nicht mehr in Mode, wer eine vergleichbare Position vertritt, betont in erster Linie die zentrale Rolle des Judentums für die Entstehung der Gnosis. 12 Die Darstellung der Gnosis als eigenständiger und in ihrem Ursprung nichtchristlicher Religion hat verschiedene Theorien über den gnostischen Hintergrund neutestamentlicher Schriften ermöglicht. Bekanntestes Beispiel ist hier Rudolf Buhmann, der das Johannesevangelium im Horizont der Gnosis deutet. Seiner Ansicht nach beruht die Darstellung Jesu bei Johannes auf dem gnostischen Erlösermythos und ZNT4(2.Jg.1999) ist ohne diesen Mythos nicht verständlich. Er illustriert dies, indem er Versen des Johannesevangeliums Passagen des sogenannten Mythos vom »erlösten Erlöser« zuordnet, die dort auf den historischen Jesus projiziert worden seien. 13 Die Übereinstimmungen sind beeindruckend. Allerdings besteht das Problem, daß die von Bultmann benutzten Texte alle aus deutlich späterer Zeit als das Johannesevangelium stammen. 14 Bultmanns Interpretation setzt eine Umkehrung der tatsächlichen Datierungen voraus; an diesem Sachverhalt hat sich auch mit den Nag-Hammadi-Texten nichts geändert. Mit vergleichbaren Schwierigkeiten der Datierung haben alle Modelle zu kämpfen, die gnostische Gedanken als Hintergrund neutestamentlicher Theologie heranziehen wollen. Keine der in den letzten hundert Jahren neu bekannt gewordenen gnostischen Schriften läßt sich in vorneutestamentliche Zeit datieren. Die Mehrheit der Schriften ist im zweiten oder dritten nachchristlichen Jahrhundert entstanden. Im Gegensatz zu den beiden vorherigen Modellen distanziert sich Hans Jonas davon, die Entstehung der Gnosis auf dem Hintergrund der Ableitungsfrage zu beschreiben. Gnosis sei nicht nur eine neue Zusammenfügung aus Vorstellungen anderer Religionen, sondern etwas ganz Neues, »eine Weltwende des Geistes«. 15 Ein neues Daseinsverständnis und Weltgefühl wird sichtbar: In der Gnosis wird »die erhabene Einheit von Kosmos und Gott( ... ) auseinandergespalten, eine ungeheure, nie mehr ganz zu überbrückende Kluft tut sich auf; Gott und Welt, Gott und Natur trennen sich, werden einander fremd, werden Gegensätze«.16 Die Sichtweise von J onas hat sich durch die neugefundenen gnostischen Texte weitgehend bestätigt. Die Weltfremdheit erweist sich auch in ihnen als das zentrale Moment gnostischen Denkens. Wo Jonas Motive gnostischen Denkens an schon länger bekannten Texten exemplifiziert, ließen sich in vielen Fällen Beispiele aus den Nag- Hammadi-Texten ergänzen. Jonas selbst hat seiner Darstellung für die 3. Auflage 1963 ein weiteres Kapitel über einige gnostische Originaltexte hinzugefügt, die bis zu dem Zeitpunkt publiziert waren, und sie zum bisherigen Befund in Beziehung gesetzt. Die vorgenommene Trennung von Wesensbestimmung der Gnosis und Ableitungsversuchen aus anderen Religionen entlastet die Darstellung von willkürlichen Datierungen und christlicher Engführung. Jonas beschreibt das Zentrum gno- ZNT4(2.Jg.1999) Silke Petersen »Natürlich, eine alte l-landschrift« stischen Denkens in einer kaum zu überbietenden Klarheit, allerdings zeigt seine Darstellung eine gewisse Unschärfe, was die Ränder der Gnosis angeht. Auch in der neueren Diskussion zum Thema ist die Frage nach den Rändern der Gnosis wieder aktuell. Während Hans-Martin Schenke sich in seinen Veröffentlichungen zunehmend dem weiten Gnosisbegriff von Jonas annähert und die Gnosis als Daseinshaltung beschreibt, 17 versucht Bentley Layton ausgehend von der antiken Selbstbezeichnung gnostikos eine soziologische Beschreibung, 18 die dazu führt, nur eine bestimmte Richtung, nämlich die sethianische, als eigentlich gnostische anzusehen, Überlieferungen anderer Richtungen aber als separate Textgruppen neben die im eigentlichen Sinne gnostischen Schriften zu stellen. Hier zeigt sich eine Tendenz in der Gnosisforschung, bei der einerseits zwar die Umrisse einzelner gnostischer Richtungen deutlicher in den Blick kommen, andererseits aber die Abgrenzung von Gnosis und Nicht-Gnosis problematisch wird. Da allen diesen verschiedenen Richtungen jedoch trotz der im Einzelnen unterschiedlichen Ausformungen und Systeme eine antikosmische Daseinshaltung zugrunde liegt, scheint es sinnvoll, sie alle unter dem Oberbegriff Gnosis zusammenzufassen. Im Zentrum gnostischen Denkens steht also die Erfahrung der Weltfremdheit: Die Fremdheitserfahrung ist mit der Einsicht verbunden, eigentlich einer anderen, besseren, göttlichen Welt anzugehören. Von dieser Daseinshaltung aus sind sowohl der gnostische Mythos als auch das Streben nach Erkenntnis (wofür das griechische Wort Gnosis steht) plausibel: Die mythologischen Systeme wollen erklären, wie der Zustand des Mangels entstanden ist, während die Erkenntnis dieser Zusammenhänge Erlösung von der unvollkommenen Welt bedeutet. Der Mythos steht also nicht im Zentrum gnostischen Denkens, sondern bietet eine Möglichkeit, die Fremdheit des Menschen im Kosmos zu erklären. Dementsprechend wird auch nicht in allen gnostischen Texten ein ausgeführter Mythos mitgeteilt. 19 Meist finden sich lediglich Teile des Mythos oder Anspielungen auf mythologische Vorstellungen. In Entsprechung zu den unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten der Schriften dominiert in einigen die Spekulation über die Weltentstehung, andere sind mehr an der Erlösung des Menschen interessiert. Hier geht es häufig um den Aufstieg und die Befreiung des inneren, göttlichen Teils des Menschen sowie um 5 die Überwindung von Mächten, die diesen Vorgang verhindern wollen. Die Relation von Schöpfung und Fall wird in gnostischen Texten prinzipiell anders bestimmt als in jüdischen und christlichen. Während bei letzteren die Schöpfung als eine gute gilt und erst der Sündenfall des Menschen den paradiesischen Zustand beendet, ist die Weltschöpfung nach gnostischer Ansicht das Resultat einer Abwärtsentwicklung des Göttlichen. Das Minderwertige und Böse existierte schon vor dem Sündenfall. An seinem Ursprung steht nicht eine menschliche Übertretung, sondern eine Fehlentwicklung im göttlichen Bereich: »Die Welt entstand durch ein Versehen. Denn der, der sie geschaffen hat, wollte sie unvergänglich und unsterblich schaffen. Er scheiterte und erreichte nicht, was er gehofft hatte«. 20 Die Menschen sind Fremde in dieser unvollkommenen Welt. Sie tragen einen Lichtfunken, einen Teil des Göttlichen in sich, der wieder an seinen Ursprungsort zurückstrebt. Die Erlösung vollzieht sich durch Erkenntnis des Göttlichen: »Da der Mangel entstanden ist, weil der Vater nicht erkannt wurde, wird von dem Moment an, wenn der Vater erkannt wird, der Mangel nicht mehr bestehen«. 21 Die negative Weltsicht der Gnostikerlnnen kann näher als antikosmischer Dualismus beschrieben werden. Der Mensch, der in sich einen Teil des Göttlichen trägt, ist ein Gefangener des Körpers und der Welt. Dabei richten sich Protest und Verachtung der Gnostikerlnnen für den Kosmos nicht nur gegen die Mächte, die die Weltschöpfung zu verantworten haben, sondern auch gegen die politische und gesellschaftliche Ordnung ihrer Zeit. 22 Das bedeutet aber nicht, daß die Gnostikerlnnen aktiven politischen Widerstand geleistet hätten, sie haben vielmehr den Versuch unternommen, durch die Erkenntnis der Strukturen des Bösen und den Versuch, nicht an ihnen zu partizipieren, denselben ihre Macht zu nehmen. In diesem Kontext ist auch die gnostische Ablehnung von Ehe und Fortpflanzung zu sehen: Die vom römischen Staat gesetzlich verordneten und legitimierten Verhältnisse von Ehe, Familie und Fortpflanzung sind nach gnostischem Denken ein Bestandteil der negativen Weltordnung, die es zu überwinden gilt. Auch in anderen Texten aus derselben Epoche gibt es manche der beschriebenen Vorstellungen. Was die gnostischen Schriften jedoch von den anderen unterscheidet, ist die Konsequenz ihrer Weltablehnung, die Radikalität, in der sie die 6 Schöpfung als Fall interpretieren, und das Verständis von Erkenntnis als Erlösung des Göttlichen im Menschen aus der gefallenen Schöpfung zu seinem göttlichem Ursprung. 5. Gnosis und die Vielfalt des frühen Christentums Nach dem bisher Ausgeführten ist die Gnosis ihrem Wesen nach keine christliche Häresie. Eine außerchristliche Entstehung der Gnosis ist aber nicht mit einer vorchristlichen Entstehung gleichzusetzen. Gnosis und Christentum dürften etwa zu derselben Zeit, aber weitgehend unabhängig voneinander entstanden sein. Gemeinsamkeiten sind schon wegen der Zugehörigkeit beider zur spätantiken synkretistischen Welt des östlichen Mittelmeerraumes nicht überraschend. Zudem steht am Beginn der Gnosis (wie auch des Christentums) eine Auseinandersetzung mit dem Judentum.23 Viele der gnostischen Texte aus Nag Hammadi betreiben eine Art Anti-Exegese jüdischer Schriften, besonders die ersten Kapitel der Genesis werden so gegen den Strich gelesen, daß die Unvollkommenheit der Welt und des Schöpfergottes in den Vordergrund tritt. 24 Auch wenn die Gnosis ihrem Wesen und Ursprung nach keine christliche Häresie ist, findet sich dennoch in vielen gnostischen Texten aus Nag Hammadi auch christliches Gedankengut. Eine Trennung zwischen Gnosis und Christentum scheint hier schwierig und oft auch unangemessen. Die Grenzen zwischen Orthodoxie und Häresie waren lange Zeit fließend und die Entwicklung zu dem, was wir heute als Christentum betrachten, verlief geographisch unterschiedlich. In einigen Gegenden scheint eine gnostische Form des Christentums diejenige zu sein, der zeitlich und sachlich die Priorität zuzusprechen ist. Besonders gilt dies wohl für Ägypten und Syrien, wo eine große Anzahl der christlichen Belege für das zweite Jahrhundert gnostisch geprägt sind. 25 Vor diesem Hintergrund ist mit der Frage nach dem Gnostischen immer auch die nach dem eigentlich Christlichen verknüpft, da letzteres erst im Gegenüber zu ersterem etabliert wurde. Erst seit ungefähr dem Ende des zweiten Jahrhunderts zeichnen sich gewisse Erfolge der Kirchenväter bei ihren Versuchen ab, die Vielfalt der Überlieferungen in richtige und falsche aufzuteilen (schon die Fortsetzung der Polemik zu späterer Zeit be- ZNT 4 (2. Jg. 1999) weist jedoch den nur partiellen Erfolg ihrer Bemühungen). Dazu kommt noch, daß die hier relevanten Schriften durchgehend ein christliches Selbstverständnis zeigen. Der Trägerinnenkreis der christlich-gnostischen Schriften dürfte innerhalb des christlichen Milieus zu finden sein. 26 Die Einstufung der Texte als häretische war zur Zeit ihrer Entstehung sehr viel weniger deutlich, als sie sich im Rückblick darstellt. Die heutigen Kategorien zur Unterscheidung von gnostischen und »richtigen« christlichen Schriften stehen dabei in der Tradition derjenigen Richtung, der es schließlich gelungen ist, sich als rechtgläubige durchzusetzen. Eine Ausgrenzung gnostischer Texte aus der Erforschung des frühen Christentums, wie sie in der europäischen Wissenschaft lange Tradition hatte, gründet sich auf eine Fortschreibung der Theologie der siegreichen Partei und bewirkt eine Marginalisierung anderer Formen christlichen Denkens. Demgegenüber soll hier die Vielfalt des frühen Christentums betont werden. Frühchristliche Schriften sind Texte aus unterschiedlichen Bereichen christlicher Traditionsbildung der ersten drei Jahrhunderte. Dazu gehören eben auch die christlich-gnostischen Texte. Die gnostische Prägung eines Textes läßt sich zwar durchaus feststellen, nur sollte eben nicht die Folgerung daraus gezogen werden, diese Schriften aus dem Strom der frühchristlichen Überlieferung auszugrenzen. Eine Distanzierung von den erst nachträglich etablierten Kategorien ermöglicht einen offeneren Blick für die Vielfalt des frühen Christentums sowie für die Übereinstimmungen der christlichgnostischen Texte mit den später kanonisierten anderen christlichen Schriften. Die Bedeutung der Nag-Hammadi-Schriften betrifft vor allem drei Bereiche neutestamentlicher Forschung: 27 Erstens hat sich mit ihnen die Zahl der sogenannten »neutestamentlichen Apokryphen« beträchlich vermehrt. Viele der christlich-gnostischen Texte geben Einblicke in die frühe Rezeptions- und Auslegungsgeschichte unterschiedlicher neutestamentlicher Texte. Zweitens ist nicht auszuschließen, daß in den christlichgnostischen Schriften auch Motive und Gedanken erhalten sind, die auf die erste Zeit christlicher Überlieferung zurückgehen und die ansonsten verloren sind. So finden sich z.B. im Evangelium nach Thomas einige Sprüche, die durchaus auf den historischen Jesus zurückzuführen sein könnten; möglicherweise gilt dies auch für weitere Texte wie etwa die Epistula ]acobi apocrypha und ZNT 4 (2. Jg. 1999) den Dialog des Erlösers, allerdings ist hier m. E. Skepsis angebracht. Drittens schließlich geben die Nag-Hammadi-Texte einen Einblick in die Art und das Milieu frühchristlicher Textproduktion und Textüberlieferung und können damit auch einen Beitrag zur Entstehungsgeschichte der unterschiedlichen frühchristlichen Literaturgattungen liefern. Zu finden sind in christlich-gnostischen Schriften u. a. Dialoge zwischen Jesus und seinen Jüngerinnen und Sammlungen von SprüchenJesu. Einige dieser Schriften tragen sogar den Titel Evangelium, so etwa Das Evangelium nach Thomas. 6. Das Thomasevangelium im Kontext der frühchristlichen Literatur Das Thomasevangelium (EvThom) ist der bekannteste und meistdiskutierte Text der Nag- Hammadi-Schriften, weshalb ihm hier ein eigener Abschnitt gewidmet sein soll. Die Existenz eines Evangeliums nach Thomas war schon vor dem Fund von Nag Hammadi bekannt, es wird bei mehreren Kirchenvätern erwähnt. Außerdem sind um die Jahrhundertwende drei griechische Papyrusfragmente in Ägypten gefunden worden, die aber erst aufgrund der koptischen Fassung aus Nag Hammadi dem EvThom zugeordnet werden konnten. Der Titel »Das Evangelium nach Thomas« steht (wie üblich) am Ende des Textes und bezeichnet ihn als Evangelium, das EvThom enthält aber im Gegensatz zu den neutestamentlichen Evangelien keine Erzählungen und keinen Bericht von Tod und Auferstehung Jesu, sondern ist eine Sammlung von Jesusworten und kurzen Gesprächen zwischen Jesus und seinen Jüngerinnen. Der erste Satz des Ev- Thom bildet die »Überschrift« für den folgenden Text: »Dies sind die verborgenen Worte, die der lebendige Jesus sagte, und Didymos Judas Thomas schrieb sie auf. Und er sagte: Wer die Deutung dieser Worte findet, wird den Tod nicht schmecken.« Die Berufung auf Thomas und die Namensform »Didymos Judas Thomas« sprechen für das östliche Syrien als Entstehungsort des Ev- Thom, da dort auch andere Schriften entstanden sind, in denen Thomas wichtig ist. 28 Die Datierung des EvThom ist umstritten. Das älteste Papyrusfragment läßt sich auf das Ende des zweiten Jahrhunderts datieren, das EvThom muß vor diesem Zeitpunkt entstanden sein. In der Forschung werden für die Enstehung des Ev- 7 Thom Datierungen von 50 bis 150 vorgeschlagen. Entscheidend ist die Bewertung des Verhältnisses von EvThom und synoptischen Evangelien. Etwa die Hälfte der Logien des EvThom hat enge Parallelen bei den Synoptikern. Die (vieldiskutierte) Frage ist, ob das EvThom von den synoptischen Evangelien abschreibt, oder ob es unabhängige, vielleicht sogar ältere Überlieferungen enthält. Auch gut fünfzig Jahre nach der Entdeckung des EvThom kann hier von einer einheitlichen Einschätzung keine Rede sein. Viele USamerikanische Forscherinnen halten das EvThom für unabhängig und datieren es ins 1.Jhdt, 29 viele Europäerinnen sprechen sich für die Abhängigkeit und eine Datierung ins 2. Jhdt aus, in deutschsprachigen Veröffentlichungen geschieht dies fast durchgehend unter Berufung auf eine Monographie Wolfgang Schrages von 1964. 30 Schon diese Spaltung der Forschung deutet darauf hin, daß das Problem nicht pauschal lösbar ist. Einige Logien sind wohl tatsächlich unabhängig, andere zeigen Abhängigkeit, indem sie redaktionelle Bestandteile aus den synoptischen Evangelien übernehmen. Es scheint sinnvoll, hier von einer Beeinflussung des EvThom durch die Texte des Mt, Mk und Lk zu reden. Wir haben nur eine einzige vollständige Handschrift aus dem vierten Jahrhundert in Übersetzung, deshalb ist es wahrscheinlich, daß das EvThom beim wiederholten Abschreiben und beim Übersetzen den Synoptikern angeglichen wurde. Außerdem ist denkbar, daß einige Worte auch nach ihrer schriftlichen Fixierung in einem der synoptischen Evangelien weiterhin mündlich erzählt und dann ins EvThom aufgenommen wurden. Ähnlich umstritten wie die Fragen nach Datierung und Abhängigkeit des EvThom ist auch die Frage seiner theologischen Zuordnung. Im Ev- Thom läßt sich kein ausgeführter gnostischer Mythos (von Fall und Rettung eines himmlischen Wesens und der Schöpfung als himmlischem Unfall) finden. Aber auch ohne einen ausgeführten Mythos zeigt das EvThom dennoch seine Zugehörigkeit zur Gnosis (im Sinne des oben Ausgeführten) durch die gnostischen Grundgedanken, die sich in ihm finden. Das EvThom ist gleichzeitig auch eine christliche Schrift. Ebenso wie wir vom synoptischen und vom johanneischen Christentum sprechen, so ist es auch angemessen, vom Thomaschristentum zu reden. Das Spezifische des Thomaschristentums äußert sich als Weltablehnung und in einem Leben, das zwar vorübergehend in der Welt stattfindet (in Log. 42 sagt Jesus: 8 »Werdet Vorübergehende«), das sich aber nicht nach den weltüblichen Werten richten will. Stephen Patterson bezeichnet die dominierende Verhaltensweise von Thomaschristlnnen als «social radicalism«, 31 vergleichbar der Verhaltensweise, die Gerd Theißen für das früheste Christentum beschreibt. 32 Dieser soziale Radikalismus bedeutete Heimatlosigkeit, freiwillige Armut, Betteln, Ablehnung von Familie und lokaler Frömmigkeit und eine Kritik der politisch Herrschenden. Während die synoptischen Evangelien dazu tendierten, diese Tradition der Jesusbewegung zu domestizieren, setzt das Thomaschristentum (nach Patterson) die Tradition des sozialen Radikalismus fort. In diesen Kontext paßt etwa auch Logion 98, zu dem sich keine Parallele in den synoptischen Evangelien findet: »Jesus sagte: Das Reich des Vaters gleicht einem Menschen, der einen mächtigen Menschen töten wollte. Er zückte das Schwert in seinem Hause, er stach es in die Wand, auf daß er erfahre, ob seine Hand stark sei. Dann tötete er den Mächtigen.« vielleicht tatsächlich ein Wort, das auf den historischen Jesus zurückgeht? 7. Nag Hammadi, die Gnosis und die Frauen Ganz am Ende des EvThom (Logion 114) heißt es: »Simon Petrus sagte zu ihnen: Maria soll von uns weggehen, denn die Frauen sind des Lebens nicht würdig. Jesus sagte: Siehe, ich werde sie führen, auf daß ich sie männlich mache, damit auch sie ein lebendiger, euch gleichender, männlicher Geist wird. Denn (es gilt): Jede Frau, wenn sie sich männlich macht, wird in das Reich der Himmel eingehen.« Liest man diesen Text, so mag es doch etwas überraschen, daß in neuzeitlichen Darstellungen der frühen Kirchengeschichte, in Gnosismonographien und -artikeln sowie in Veröffentlichungen über Frauen im frühen Christentum immer wieder die These vertreten wird, die Rolle der Frauen sei in der Gnosis eine gleichberechtigtere gewesen als in der Kirche. Anknüpfend an einige Aussagen dieser Art bei den Kirchenvätern wird die Vorstellung einer besonderen Affinität von Frauen zur Gnosis (und auch allgemein zu ,häretischen, Bewegungen) verbreitet. Im Gegensatz zu der Funktion dieser Vorstellung bei den Kirchenvätern steht heute nicht mehr die Polemik im Vordergrund, sondern es erfolgt eine nüchterne Beschreibung oder sogar eine Aufwertung der Häre- ZNT 4 (2. Jg. 1999) sie wegen ihrer (angeblichen) Frauenfreundlichkeit. Aus neueren Veröffentlichungen ist die besondere Affinität von Frauen und Gnosis nicht wegzudenken. So schreibt z.B. Kurt Rudolph in seinem Gnosisbuch: »Der Prozentsatz an Frauen war offensichtlich sehr hoch und zeigt, daß ihnen die Gnosis Chancen bot, die ihnen sonst vor allem in der offiziellen Kirche verwehrt waren« 33 ; an anderer Stelle redet er sogar von der »Möglichkeit der (unbewußten) emanzipatorischen Selbstverwirklichung der (antiken) Frau« in gnostischen Gemeinden und von dem »große[n] Anteil von Frauen auch in leitenden Stellungen in der Gnosis«34. Hans-Josef Klauck geht von einer »regen Beteiligung von Frauen an der Verkündigungstätigkeit und an Gemeindeaufgaben« 35 aus. Elisabeth Moltmann-Wendel stellt in ihrer populären Darstellung der »Frauen um Jesus« fest: »In den gnostischen Kreisen genossen Frauen oft mehr Ansehen als in der sich herausbildenden Großkirche. Die Großkirche angepaßt an die patriarchalischen Sozialstrukturen der Gesellschaft bot der Frau nicht die gleichen Chancen wie die gnostischen Kreise.« 36 Die Beispiele ließen sich vermehren, hingewiesen sei hier jedoch nur noch auf ein weiteres: Elaine Pagels stellt in ihrem einflußreichen Gnosisbuch unter anderem dar, wie verbreitet metaphorisch-weibliche Sprache und weibliche Bilder von Gott in den gnostischen Texten sind. 37 Sie meint, das Gottesbild habe eine Rückwirkung auf soziale Strukturen, deshalb seien Frauen von gnostischen Bewegungen in besonderer Weise angezogen worden. Bei einer näheren Betrachtung von Logion 114 - und anderer ähnlicher Texte in den christlichgnostischen Schriften 38 läßt sich das Bild von der frauenfreundlichen Gnosis differenzieren. Die Plazierung des Logions 114 am Ende des EvThom gibt diesem Spruch ein besonderes Gewicht. Er wird hier zur Anfrage, ob alles das, was in den vorherigen 113 Sprüchen ausgesagt wurde, auch für Frauen Geltung hat, oder ob die Frauen weggehen sollen, ausgeschlossen werden aus der Gemeinschaft, an die sich das EvThom wendet. Die allgemeine Geltung des Spruches wird durch die Wiederholung seiner zentralen Aussage deutlich: Das erste Mal wird die Aussage auf Maria (Magdalena) bezogen: »ich werde sie führen, damit ich sie männlich mache«, das zweitemal wird die Aussage generalisiert »jede Frau, wenn sie sich männlich macht«. Was am »Fall« Marias beispielhaft ausgeführt wurde gilt für alle Frauen, auch in Abwesenheit der direkten Führung J esu. ZNT 4 (2. Jg. 1999) Die Entgegnung Jesu auf die Forderung des Petrus ist für Frauen einerseits eine positive sie sind eingeschlossen, das EvThom gilt als Ganzes genauso für Frauen -, andererseits eine negative: Frauen dürfen nicht so bleiben, wie sie sind, sondern sie müssen durch die Führung Jesu »männlich gemacht« werden. Die Gleichberechtigung von Frauen hat ihre Veränderung - und nicht die der Männer zur Voraussetzung. Ärgerlich an diesem Logion ist vor allem die Ausdrucksweise, die männlich mit vollkommen gleichsetzt und damit aus den Augen verliert, daß Männer nicht von sich aus vollkommen sind. Dieser Sprachgebrauch bleibt hinter anderen Formulierungen christlich-gnostischer Texte, wo mit der Formulierung »nicht mehr männlich und weiblich« eine Aufhebung der Geschlechterdifferenz avisiert wird, auf den ersten Blick weit zurück. Letztendlich propagieren jedoch die christlichgnostischen Texte durchgehend das Ideal einer geschlechtslosen Geistigkeit, das über die stereotype Verbindung von Frauen und Geschlechtlichkeit die größere Veränderung immer von den Frauen erwartet. Im antiken Sinne ist der androgyne Mensch geistig und geschlechtslos, d. h. er ist männlich. Typisch für die christlich-gnostischen Texte ist eine Auseinandersetzung mit der Geschlechterdifferenz im Kontext des Auftretens von Jüngerinnen Jesu (diese Zusammenstellung gibt es im Neuen Testament nicht). Dabei wird die Auseinandersetzung mit der Differenz in einer Weise geführt, die nicht nur Relevanz für die Darstellung der Jüngerinnen Jesu zeigt. Was am Beispiel der Jüngerinnen ausgeführt wird, gilt vielmehr auch für alle anderen Frauen. Die Transzendierung der Weiblichkeit ist die Voraussetzung der Partizipation von Frauen. Frauen gehören nicht als Frauen zur Gemeinschaft christlicher GnostikerInnen, sondern als Nicht-mehr-Frauen. Die christlichgnostischen Texte verweisen hier auf ein Problem, das auch mehr als anderthalb Jahrtausende nach der Enstehung dieser Texte kaum als gelöst betrachtet werden kann. Anmerkungen 1 Umberto Eco, Der Name der Rose. Roman, Deutsch von Burkhart Kroeber, München 1986. Die folgenden Zitate finden sich auf den Seiten 7 bzw. 10. 9 2 Ich stütze mich für meine Darstellung hier und im folgenden hauptsächlich auf James M. Robinson, Nag Hammadi. The First Fifty Years, in: John D. Turner/ Anne McGuire (Hgg.), The Nag Hammadi Library after Fifty Years. Proceedings of the 1995 Society of Biblical Literature Commemoration (NHMS 44), Leiden u. a. 1997, 3-33; vgl. auch: James M. Robinson, The Facsimile Edition of the Nag Hammadi Codices. Introduction, Leiden 1984. - Robinson selbst war an der Brechung des Monopols sowie an der Erkundung der Fundumstände maßgeblich beteiligt. 3 The Facsimile Edition of the Nag Hammadi Codices. Published under the Auspices of the Department of Antiquities of the Arab Republic of Egypt in Conjunction with the United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization, 12 Bde., Leiden 1972-1984. 4 James M. Robinson (Hg.), The Nag Hammadi Library in English, Leiden/ San Francisco, 1 1977 sowie mehrere weitere Auflagen. 5 Von allen Texten existieren Textausgaben mit englischer Übersetzung in der Reihe Nag Hammadi Studies (ab 1994 umbenannt in Nag Hammadi and Manichaean Studies); einige der Texte sind mit deutscher bzw. französischer Übersetzung in den Reihen Texte und Untersuchungen (Berlin) und Bibliotheque copte de Nag Hammadi (Quebec) erschienen; beide Reihen werden fortgesetzt. - Bislang gibt es leider keine brauchbare deutsche Gesamtübersetzung der Nag-Hammadi-Schriften. Übersetzungen einzelner Schriften finden sich in: Wilhelm Schneemelcher (Hg.), Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung. 2 Bde., Tübingen 5 1987 und 1989, sowie im zweiten Band der von Werner Förster herausgegebenen dreibändigen Textsammlung Die Gnosis (Nachdruck aller drei Bände Zürich 1995). Die Übersetzung von Gerd Lüdemann/ Martina J anßen, Bibel der Häretiker. Die gnostischen Schriften aus Nag Hammadi, Stuttgart 1997, beinhaltet zahlreiche Fehler, die zum Teil wohl darauf zurückzuführen sind, daß nicht das koptische Original, sondern die englischen Übersetzungen zu Rate gezogen wurden, vgl. dazu die Rezensionen von Hans-Gebhard Bethge, ThLZ 124 (1999) 138-141, und Uwe-Karsten Plisch, OLZ 94,1 (1999) 24-27. In Arbeit ist eine deutsche Gesamtübersetzung des Berliner Arbeitskreises für koptisch-gnostische Schriften, die in absehbarer Zeit in der Reihe GCS im Akademie-Verlag erscheinen soll. 6 Wiederholt wurde ein Zusammenhang mit einem in der Nähe gelegenen Pachomischen Kloster vermutet, der sich aber nicht wirklich belegen läßt; vgl. dazu Stephen Emmel, Religious Tradition, Textual Transmission, and the Nag Hammadi Codices, in: Turner/ McGuire, Library, 34-43: 36f., sowie die dort angegebene Literatur. 7 Eine vollständige Aufzählung aller Schriften mit Titel, üblicher Abkürzung und jeweiliger Codexnummer findet sich im Artikel: Nag Hammadi (Hans- 10 Martin Schenke), TRE XXIII, Berlin/ New York 1994, 731-736. 8 Ein ähnliche Typisierung verfolgt auch Hans-Josef Klauck im Gnosiskapitel in: Ders., Die religiöse Umwelt des Urchristentums II. Herrscher- und Kaiserkult, Philosophie, Gnosis, Stuttgart u. a. 1996, 145-195. 9 Adolf v. Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte I, Freiburg 1886, 158ff.; nachgedruckt in: Kurt Rudolph (Hg.), Gnosis und Gnostizismus (WdF 262), Darmstadt 1975, 142 ff. 10 Vgl z.B. im Artikel: Gnosis/ Gnostizismus I. (Klaus Berger), TRE VIII, Berlin/ New York 1984, 519- 535, und Barbara Aland, Was ist Gnosis? Wie wurde sie überwunden? Versuch einer Kurzdefinition, in: Jacob Taubes (Hg.), Gnosis und Politik. Religionstheorie und Politische Theologie, Bd. 2, Paderborn 1984, 54-65. 11 Vgl. hier etwa Wilhelm Bousset, Hauptprobleme der Gnosis, Göttingen 1907 (21973 ); Richard Reitzenstein, Die hellenistischen Mysterienreligionen nach ihren Grundgedanken und Wirkungen, Leipzig 3 1927. 12 Vgl. hier z.B. Kurt Rudolph, Die Gnosis. Wesen und Geschichte einer spätantiken Religion, Göttingen 2 1980; Ders., Gnosis und spätantike Religionsgeschichte. Gesammelte Aufsätze (NHMS 42), Leiden u. a. 1996. 13 Vgl. Rudolf Bultmann, Die Bedeutung der neuerschlossenen mandäischen und manichäischen Quellen für das Verständnis des Johannesevangeliums, in: Ders., Exegetica. Aufsätze zur Erforschung des Neuen Testaments, Tübingen 1967, 55-104 (zuerst erschienen als ZNW 24 (1925) 100-146). 14 Zur Kritik von Bultmanns Vorgehensweise vgl. Carsten Colpe, Die religionsgeschichtliche Schule. Darstellung und Kritik ihres Bildes vom gnostischen Erlösermythus (FRLANT 78), Göttingen 1961, 171 ff.. 15 Hans Jonas, Gnosis und spätantiker Geist. Erster Teil. Göttingen 4 1964 (Nachdruck 1988), (11934), Zweiter Teil, Erste Hälfte. Göttingen 1954; Zitat aus Bd. I, 171. 16 Jonas, Gnosis I, 149. 17 Vgl. die verschiedenen Veröffentlichungen Schenkes zum Thema: Hans-Martin Schenke, Die Gnosis, in: Johannes Leipoldt/ Walter Grundmann (Hgg.), Umwelt des Urchristentums I, Berlin 1965, 371- 415; Ders., Hauptprobleme der Gnosis. Gesichtspunkte zu einer neuen Darstellung des Gesamtphänomens, Kairos 7 (1965) 114-123 (neugedruckt in: Rudolph (Hg.), Gnosis und Gnostizismus, 585- 600); Ders., The Problem of Gnosis, in: SecCen 3 (1983) 73-87; Ders., Was ist Gnosis? Neue Aspekte der alten Fragen nach dem Ursprung und Wesen der Gnosis, in: Johannes B. Bauer/ Hannes D. Galter (Hgg.), Gnosis (GrTS 16), Graz 1994, 179-203. 18 Vgl. Bentley Layton, Prolegomena to the Study of Ancient Gnosticism, in: L. Michael White/ O. Larry Yarbrough (Hgg.), The Social World of the First Christians. Essays in Honor of Wayne A. Meeks, ZNT 4 (2. Jg. 1999) Philadelphia 1996, 334-350, sowie die generelle und die historische Einleitung Laytons in: Ders., The Gnostic Scriptures. A New Translation with Annotations and Introductions, London 1995, XV- XXVII bzw. 5-22. 19 Ein wirklich vollständiger Mythos findet sich nirgendwo in einem gnostischen Text. Er begegnet allerdings in neuzeitlichen Gnosislehrbüchern, die dabei immer unterschiedliche Texte kombinieren; vgl. etwa Rudolph, Gnosis, 76-221; Klauck, Umwelt, 167-180. 20 EvPhil 99a, p.75,2-6; Übersetzung nach Hans-Martin Schenke, Das Philippus-Evangelium (Nag Hammadi-Codex II,3). Neu herausgegeben, übersetzt und erklärt (TU 143), Berlin 1997, 59. 21 Evangelium veritatis (NHC 1,3), p. 24, 28f.. 22 Vgl. Walter Wink, Cracking the Gnostic Code. The Power in Gnosticism (SBL.MS 46 ), Atlanta 1993, 5- 25, der die Gnosis dezidiert als Antireligion zum römischen Reich beschreibt. 23 Rudolph beschreibt die Gnosis als »wilde[n] Sprößling des Judentums« (Randerscheinungen des Judentums und das Problem der Entstehung des Gnostizismus, in: Ders., Aufsätze, 144-169: 158). Vgl. auch Robinson, Nag Hammadi, 26-28. 24 Zu diesem Zweck werden auch andere Passagen des Alten Testaments herangezogen. Vgl. etwa die Genesis-Exegesen in den Schriften Hypostase der Archonten, Vom Ursprung der Welt und den verschiedenen Fassungen des Apokryphon des Johannes. 25 Vgl. dazu z.B. Walter Bauer, Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum, Tübingen 1934 (2., durchgesehene Auflage mit einem Nachtrag von Georg Strecker. Tübingen 1963); Helmut Köster / James M. Robinson, Entwicklungslinien durch die Welt des frühen Christentums, Tübingen 1971, bes. 107-146; Birger A. Pearson/ James E. Goehring, (Hgg.), The Roots of Egyptian Christianity (SAC), Philadelphia 1986. 26 Klaus Koschorke, Die Polemik der Gnostiker gegen das kirchliche Christentum (NHS 12), Leiden 1978, gibt einem Exkurs auf den Seiten 228-232 die Überschrift: »Zum Andauern kirchlicher Gemeinschaft zwischen Gnostikern und Gemeindechristen«. Dies gilt bis ins vierte Jahrhundert. 27 Zum folgenden vgl. Helmut Köster, Ancient Christian Gospels. Their History and Development, London 3 1992; James M. Robinson, Die Bedeutung der gnostischen Nag-Hammadi-Texte für die neutestamentliche Wissenschaft, in: Lukas Bormann,/ Kelly de! Tredici/ Angela Standhartinger (Hgg.), Religious Propaganda and Missionary Competition in the New Testament World. Essays Honoring Dieter Georgi, Leiden u. a. 1994, 23-41. 28 Vgl. Otto Betz/ Tim Schramm, Perlenlied und Thomasevangelium. Texte aus der Frühzeit des Christentums, Zürich u. a. 1985; Helmut Köster, Introduction, in: Bentley Layton (Hg.), Nag Hammadi Codex II,2-7, Bd. 1 (NHS 20), Leiden u. a. 1989, 38- 49. Letzteres ist zugleich eine Textausgabe mit engli- ZNT4(2.Jg.1999) Silke Petersen »Natürlich, eine alte 1-tandschrift« scher Übersetzung. Die neueste und bislang beste deutsche Übersetzung des EvThom (vom Berliner Arbeitskreis für koptisch-gnostische Schriften) findet sich im Anhang von: Kurt Aland (Hg.), Synopsis quattuor Evangeliorum. Stuttgart 15 1996, 519-546 (2. korrigierter Druck 1997). 29 Vgl. z.B. Stephen J. Patterson, The Gospel of Thomas and Jesus, Sonoma CA 1993; John D. Crossan, Four Other Gospels. Shadows on the Contours of Canon, Minneapolis u. a.1985; Robert W. Funk/ Roy W. Hoover, and the Jesus Seminar (Übers./ Komm.), The Five Gospels. The Search for the Authentie Words of Jesus, New York 1993. Weiteres in den Forschungsberichten: Francis T. Fallon/ Ron Cameron, The Gospel of Thomas. A Forschungsbericht and Analysis (ANRW II 25,6 ), Berlin u. a. 1988, 4195-4251; Stephen J. Patterson, The Gospel of Thomas and the Synoptic Tradition, Foundation Facets Forum 8,1-2 (1992), 45-97. 30 Wolfgang Schrage, Das Verhältnis des Thomasevangeliums zur synoptischen Tradition und zu den koptischen Evangelienübersetzungen. Zugleich ein Beitrag zur gnostischen Synoptikerdeutung (BZNW 29), Berlin 1964. Eine andere Position vertritt z.B. Claus-Hunno Hunzinger, Außersynoptisches Traditionsgut im Thomas-Evangelium, ThLZ 85 (1960) 843-846. Erst in neueren Veröffentlichungen gelangt die Eigenart des EvThom mehr ins Zentrum der Überlegungen als Frage nach literarischen Abhängigkeiten; vgl. Jens Schröter, Erinnerung an Jesu Worte. Studien zur Rezeption der Logienüberlieferung in Markus, Q und Thomas (WMANT 76), Neukirchen-Vluyn 1997 sowie Richard Valantasis, The Gospel of Thomas, New Testament Readings, London u. a. 1997. 31 Patterson, Gospel, 4. 32 Gerd Theißen, Wanderradikalismus. Literatursoziologische Aspekte der Überlieferung von Worten Jesu im Urchristentum, in: Ders., Studien zur Soziologie des Urchristentums (WUNT 19), Tübingen 3 1989, 79-105. 33 Rudolph, Gnosis, 229. 34 Kurt Rudolph, Zur Soziologie, sozialen »Verortung« und Rolle der Gnosis in der Spätantike, in: Ders., Aufsätze, 80-89: 83; 85. 35 Klauck, Umwelt, 187f.. 36 Elisabeth Moltmann-Wendel, Ein eigener Mensch werden. Frauen um Jesus, Gütersloh 1980, 13. 37 Elaine Pagels, Versuchung durch Erkenntnis. Die gnostischen Evangelien, Frankfurt 1981, 94-11 9. 38 Vgl. hierzu meine Dissertation, die 1999 in der Reihe NHMS bei Brill in Leiden unter dem Titel >»Zerstört die Werke der Weiblichkeit! < Maria Magdalena, Salome und andere Jüngerinnen Jesu in christlichgnostischen Schriften« erscheinen wird. - Zum Thema dieses Abschnitts vgl. auch Karen L. King, (Hg.), Images of the Feminine in Gnosticism (SAC 4 ), Philadelphia 1988. 11