eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 2/4

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
121
1999
24 Dronsch Strecker Vogel

Eine vorchristliche Christologie. Der Beitrag des alexandrinischen Juden Philon zur Theologie im Neuen Testament

121
1999
Gerhard Sellin
znt240012
Gerhard Sellin Eine vorchristliche Christologie. Der Beitrag des alexandrinischen Juden Philon zur Theologie im Neuen Testament Im Jahre 39/ 40 sandte die jüdische Bewohnerschaft Alexandriens, der größte jüdische Gemeindeverband in der Diaspora, eine Gesandtschaft von fünf angesehenen Männern nach Rom zum Kaiser Gaius Caligula, um sich über die pogromartige Verfolgung und Benachteiligung durch die griechischen Einwohner unter dem Präfekten Flaccus zu beschweren. An der Spitze der Delegation stand der schon ältere Philon. Das Unternehmen scheiterte. Unter Spott und in Angst um das eigene Leben kehrten die Delegierten nach Alexandrien zurück. - Dies ist das einzige bekannte historische Datum aus Philons Leben. Seine Lebenszeit läßt sich danach auf den Zeitraum zwischen 20 v. und 50 n. Chr. schätzen. Philon war also ein Zeitgenosse des Paulus. Über sein Leben ist sonst nur weniges bekannt: Er gehörte einer der vornehmsten, reichsten und einflußreichsten Familien unter den alexandrinischen Juden an. Sein Bruder, der Alabarch Alexander, hatte gute Beziehungen zu den Mächtigen Roms. Dessen Sohn, Philons Neffe Tiberius Alexander, spielte später eine wichtige Rolle in der römischen Armee. Trotz seiner politischen Funktion bevorzugte Philon im Rückblick die religiöse und philosophische Kontemplation. Seine exegetischen, philosophisch-theologischen Schriften sind sein einzigartiges Vermächtnis an die Nachwelt. Dieses Erbe wäre freilich verloren, wenn nicht spätere alexandrinische Christen es sich angeeignet hätten. Philon liefert das theologische Rüstzeug für die Kirchenväter (Justin, Klemens von Alexandrien, Origenes, Euseb), doch - und das ist die These dieses Aufsatzes seine Theologie hat bedeutende Spuren schon im Neuen Testament selber hinterlassen. Es ist die von ihm vertretene universale philosophische Richtung jüdischer Theologie, die sieht man von der palästinischen Jesusbewegung einmal ab an der Wurzel des sich der griechischen Sprache und der griechischen Bibel (der Septuaginta = LXX) bedienenden Christentums steht. So kann es nicht überraschen, daß später eine Legende entstand, nach der Philon im Alter Christ geworden wäre. Euseb (Kirchengeschichte II 4,3) nennt ihn »einen Mann von allergrößter Berühmtheit nicht nur bei uns (den Christen)«. 12 Philon wird schließlich, obwohl er wahrscheinlich selbst nicht die geringste historische Berührung mit dem Christentum gehabt hatte und es wohl gar nicht kennt zu den Kirchenvätern gezählt. Es lohnt sich also, sich mit seinen Schriften genauer zu befassen. 1 1. Die Schriften Philons Abschreckend für jeden, der sich den Schriften Philons zuwenden möchte, sind die lateinischen Titel der ca. 50 Einzeltraktate, die überdies änigmatisch abgekürzt werden. 2 Gut drei Viertel davon sind aber Bestandteile der drei Hauptwerke Philons: 1. die systematische Darstellung der mosaischen Gesetzgebung, bestehend aus den Teilen 1.) Von der Weltschöpfung (De Opificio Mundi), in der die biblische Schöpfungsgeschichte im Sinne des platonischen Dialogs Timaios interpretiert wird; 2.) Über Abraham. Hierauf folgten zwei verlorene Traktate: 3.) über Isaak; 4.) über Jakob. Vorhanden sind wiederum: 5.) Über Joseph; 6.) Über den Dekalog; 7.) Über die Einzelgesetze (vier Bücher); 8.) Über die Tugenden; 9.) Über Belohnungen und Strafen. Der Aufbau dieses Gesamtwerkes folgt der Systematik der stoischen Natur- und Gesetzeslehre: Grundlegend ist das dem Kosmos innewohnende Naturgesetz, das jedem kodifizierten Gesetz übergeordnet ist. Philon kann so nicht nur zeigen, daß die Schöpfungsgeschichte in die Tora gehört, sondern auch, daß die Tora der Weltvernunft entspricht. Dem untergeordnet ist das von vorbildlichen Menschen noch vor der Gesetzgebung am Sinai gelebte Sittengesetz, personifiziert in den Erzvätern. Diese sind für Philon zugleich Typen geistiger und geistlicher (charismatischer) Menschenexistenz. Aus dem weiter unten vorgestellten dritten Hauptwerk (dem Allegorischen Kommentar zur Genesis) geht hervor, daß dabei Isaak als der Charismatiker schlechthin selbst seinen Vater Abraham überragt, denn Isaak ist das wunderhafte, die Natur (Abrahams und Saras Greisentum) transzendierende Gnadengeschenk Gottes. 3 - Den menschlichen Vorbildern untergeordnet ist dann ZNT4(2.Jg.1999) Gerhard Sellin Gerhard Sellin, Jahrgang 1943. 1985-1992 Professor für Evangelische Theologie mit dem Schwerpunkt Neues Testament an der Carl-von- Ossietzky-Universität in Oldenburg; seit 1992 Professor für Neues Testament und spätantike Religionsgeschichte am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg. Foschungsschwerpunkte: hellenistisch-jüdische Einflüsse im Neuen Testament, literaturwissenschaftliche Exegese des Markusevangeliums, Epheserbriefe. das kodifizierte Gesetz, das im Dekalog systematisch zusammengefaßt ist. Dieser Zusammenfassung untergeordnet sind schließlich die Einzelbestimmungen durch »Mose«, den Verfasser des Pentateuchs, sowie die Tugenden. Auf niedrigster Stufe schließlich folgen die »Belohnungen und Strafen« als Sanktionen des Gesetzes für jene Menschen, denen die geistig-sittliche Einsicht fehlt. Die beiden anderen Hauptwerke sind exegetische Kommentare: II. Die Quaestiones et Solutiones (»Probleme und Lösungen«) stellen eine Versfür-Vers-Kommentierung von Gen und Ex dar. Sie sind nicht vollständig überliefert und (bis auf verstreute griechische Fragmente) nur in armenischer Übersetzung erhalten. Auf das durch eine stereotype Frage (»Was ist die Bedeutung der Worte ... ? «) eingeleitete Lemma (die Zitierung des Verses aus der griechischen Übersetzung der Schrift) folgt zunächst eine literale Interpretation (>wörtlich,), dann allerdings nicht immer eine allegorische (>geistige Bedeutung,). Die Form dieser Kommentargattung geht auf die aristotelisch beeinflußte Philologenschule Alexandriens zurück (der bedeutendste Gelehrte war Aristarch von Samothrake - Mitte des 2.Jh. v. Chr.), die im Unterschied zur allegorischen Homerexegese ZNT 4 (2. Jg. 1999) in Pergamon (Krates von Mallos als Gegenspieler des Aristarch) den Text wörtlich exegesierte. 4 Die von Philon häufig kritisierten Literalisten sind möglicherweise keine konservativen halachisch orientierten Toraausleger, sondern alexandrinisch-jüdische Gelehrte, die die Tora nach der Methode, mit der die alexandrinischen Philologen am Musaion den Homer auslegten, wörtlich interpretierten. Daß Philon die Allegorese bevorzugte, zeigt sein drittes, wohl bedeutendstes Werk: III. der Allegorische Kommentar zur Genesis, der durchgehend die >geistige Bedeutung< des Textes herausarbeitet. Im Vergleich mit den Quaestiones sind die allegorischen Exegesen der Genesisverse sehr viel ausführlicher. In manchen langen Traktaten dieses Kommentars werden nur wenige Verse kommentiert (so z. Bin De Cherubim nur die beiden Verse Gen 3,24-4,1). Dabei werden auch andere Bibelstellen (oft aus den Psalmen, gelegentlich aus den Propheten) als sekundäre Zitate eingefügt. Hier deutet sich bereits die für den späteren rabbinischen Kommentar (Midrasch) typische Form an. Der Allegorische Kommentar setzt in seinem ersten Traktat (Legum Allegoriae 1) mit Gen 2,1 ein. Für Philon ist Gen 2,1 ff. die Schilderung der materiellen Ausführung des in Gen 1 beschriebenen ideellen, im Gedanken des Schöpfers bestehenden Schöpfungsplans, der Idee der Welt und ihrer Geschöpfe. Das gilt auch für die Menschenschöpfung: Gen 1,27 meint die Entstehung des idealen Menschen, welcher das Prägesiegel für den materiellen Menschen von Gen 2,7 darstellt. Der Bibeltext liefert Philon die Substanz für die geistliche Interpretation: Mose hat in den »Buchstaben« des Pentateuchs nicht nur alle Wahrheit der Philosophen, insbesondere Platons, vorweggenommen, sondern auch das wahre Wesen des Menschen, seine Bestimmung und seine Erlösung mustergültig dargestellt. Neben den drei genannten komplexen Werken hat Philon eine Reihe von Einzelschriften verschiedenen Charakters verfaßt: u. a eine Mosebiographie (De Vita Mosis), die auf allegorische Interpretation fast ganz verzichtet und mit der pneumatischen Entrückung des Mose in den Himmel endet. Diese Schrift ist für die Gattungsbestimmung der Evangelien sowie für einige religionsgeschichtliche Motive des Markusevangeliums von Bedeutung. - Von den übrigen, z. T nur fragmentarisch erhaltenen Einzelschriften ist besonders interessant De Vita Contemplativa (»Vom betrachtenden Leben«), eine Schilderung 13 der jüdischen »Sekte« der Therapeuten, die in der Nähe Alexandriens (am Mareotischen See) eine besondere asketisch-kontemplative Lebens- und Religionsform pflegten. Von dieser Gruppe wissen wir überhaupt nur aus dieser Schrift Philons. Euseb hält sie (gut 250 Jahre später) für die ältesten Christen in Ägypten (was schwerlich zutrifft). Ihre Frömmigkeitspraxis ähnelt z. T. der der Qumran-Essener. Männer und Frauen sind gleichgestellt. Im nächtlichen Ritus bilden beide Gruppen einen Doppelchor und singen »Hymnen auf Gott, in vielen Versmaßen und Melodien abgefaßt«, wobei sie Chortänze ausführen, bis sie bei Sonnenaufgang nach Osten gewendet beten (VitCont 83-89). 2. Philons Schriftauslegung: die Allegorese Noch bemerkenswerter ist das, was Philon über die Schriftauslegung der Therapeuten mitteilt: »Die Auslegung der heiligen Schriften geschieht auf die Weise, daß die in Allegorien verborgene Bedeutung erörtert wird. Denn die gesamten Gesetzesbücher gleichen nach Ansicht dieser Männer einem Lebewesen, das als Körper die wörtlichen Anordnungen hat, als Seele aber die in den Worten verborgene unsichtbare Bedeutung besitzt. Hierin besonders beginnt die vernunftbegabte Seele das ihr Verwandte zu schauen. Sie erblickt durch die Worte wie durch einen Spiegel die übermäßige Schönheit der in ihnen sich zeigenden Gedanken; sie faltet die allegorischen Symbole auseinander und entfernt sie und führt die Bedeutung der Worte nackt ans Licht für die, welche nur ein wenig erinnert zu werden brauchen, um das Unsichtbare durch das Sichtbare sehen zu können« (VitCont 78). Was Philon hier beschreibt, entspricht zwar seiner eigenen Auffassung von der Interpretation der biblischen Schriften. Die Grundzüge dieser Methode aber sind älter. Philon selber verweist häufig auf andere allegorisierende Ausleger der biblischen Texte, und an anderer Stelle in dieser Schrift über die Therapeuten führt er deren Schriftprinzip auf »Schriften von Männern aus alter Zeit, welche diese Schule (hairesis) begründeten«, zurück. Diese »hinterließen viele Denkmäler des Prinzips der Allegorese, die sie (die Therapeuten) als Muster verwenden und so die Methode jener (philosophischen) Richtung (prohairesis) nachahmen« (VitCont 29). Die »Denkmäler« der allegorischen » Idee« sind Schriften, in denen das allego- 14 rische Prinzip und seine Methode angewendet wird, und die »Männer aus alter Zeit« sind Vertreter einer philosophischen und religiösen Richtung, deren Lehren durch Allegorese älterer »kanonischer« Texte begründet werden. Dabei muß es sich nicht um die jüdische Bibel und jüdische Exegeten gehandelt haben. 5 Zu denken ist wahrscheinlicher an allegorisierende Interpreten der griechischen Mythen (Homer). Die oben erwähnte Schule von Pergamon (Krates von Mallos) kommt aber wahrscheinlich nicht in Frage, da Krates als Stoiker eine andere Form von Allegorese vertrat. 6 Einige Züge der Schilderung der Therapeuten lassen nun an pythagoreischen Einfluß denken: Besitzverzicht, mönchische Lebensweise, Akzeptanz weiblicher Mitglieder. Pythagoreische Einflüsse, besonders die Zahlenlehre, lassen sich im alexandrinischen Judentum nicht erst bei Philon nachweisen, sondern schon bei Aristobul (2. Jh. v. Chr.), von dem Euseb einige Fragmente überliefert. 7 So ist es durchaus denkbar, daß die Therapeuten eine pythagoreisch beeinflußte jüdische Gruppe darstellten, die im Anschluß an platonisch-pythagoreische Vorbilder der Mytheninterpretation (Homer) ihre jüdischen heiligen Schriften dementsprechend allegorisch auslegten. Ausgeführte Allegoresen biblischer Texte haben wir jedoch erstmals in den Kommentaren Philons vorliegen. Wie diese Methode funktioniert und welche Ergebnisse sie bringt, möge ein Beispiel zeigen: Bei der Auslegung von Gen 15,12a (»Gegen Sonnenuntergang fiel eine Ekstase8 über Abraham«) erklärt Philon: »Denn was in uns die Vernunft ist, das ist im Kosmos die Sonne . .. Solange noch unser Geist nach allen Seiten hin leuchtet und umherschweift ... , sind wir in uns und nicht (von einem anderen) besessen; sobald er aber untergeht, überfällt uns natürlich eine Ekstase, ein gottbegeistertes Besessensein und ein Rausch (mania). Sobald nämlich das göttliche Licht aufstrahlt, geht das menschliche unter; sobald jenes untergeht, erhebt sich dieses und geht auf. Das aber ist bei den Propheten gewöhnlich der Fall. Es entfernt sich der Geist (nous) in uns bei der Ankunft des göttlichen Geistes (pneuma) und kommt wieder bei dessen Entfernung; denn Sterbliches kann nun mal nicht mit Unsterblichem zusammenwohnen« (Quis Rerum Divinarum Heres Sit [= Her] 263-265). Die Ekstase ist eins der Modelle, mit dem Philon die höchste Frömmigkeit eines Menschen zum Ausdruck bringt, die nur in besonderen ZNT 4 (2. Jg. 1999) Augenblicken und nicht von Dauer ist: Der menschliche Geist wird ersetzt durch den göttlichen Geist, das Pneuma Gottes. Während dieser Phase ist der Fromme kein Mensch mehr, sondern ein Werkzeug und Diener Gottes, der auf einer höheren ontologischen Stufe steht: unmittelbar zu Gott, ein Wesen zwischen Gott und Mensch. Für den gleichen ekstatischen Vorgang gebraucht Philon als Symbol den Bericht über die Aufgabe des Hohenpriesters am großen Versöhnungstag. Lev 16,17 (»Es darf kein Mensch bei ihm sein ... , wenn er hineingeht, um im Heiligtum die Sühne zu vollziehen«) deutet Philon um: »Nicht ein Mensch soll an ihm sein, wenn er in das Allerheiligste hineingeht ... « (Her 84), was in De Somniis 2,189 weiter verdeutlicht wird: »Wenn der Hohepriester in das Allerheiligste hineingeht, wird er kein Mensch sein«. Die Stellung zwischen Mensch und Gott ist in Hinsicht sowohl auf die ontologische Stufe wie auf die Mittlerfunktion die Position des Logos, einer Größe, die in Philons Systematik eine kaum zu überschätzende, doch schwer zu überschauende Rolle spielt. 3. Gott - Logos - Mensch Die in der Theologie des 20.Jh.s neu gestellte Frage, wie der Mensch überhaupt von Gott reden könne9, ist bereits von Philon auf grundlegende Weise beantwortet worden: 1.) Gott ist das wahrhaft Seiende. Diesen Grundsatz platonischer Ontologie liest Philon aus Ex 3,14 (im griechischen Text der Septuaginta: »Ich bin der Seiende«) heraus. Als solches hat Gott keinen Namen und kein Prädikat außer dem, daß er »ist«. Jedes weitere Prädikat würde ja die Totalität des Seins einschränken und seine Einheit zerstören. Deshalb ist Gott »unaussprechlich«, »unbenennbar«, »undenkbar« und »unbegreiflich« (De Mutatione Nominum 11 ff.; De Somniis 2,61 ff.). Aber Philon geht noch weiter: Gott ist sogar dem höchsten Sein gegenüber transzendent: »Jenes Wesen, das noch besser ist als das Gute, ursprünglicher als die Einheit und reiner als die Eins, kann unmöglich von einem anderen geschaut werden, weil es nur von sich allein begriffen werden darf« (De Praemiis et Poenis 40; vgl. De Vita Contemplativa 2 [über die Therapeuten]). Damit ist die Gotteserkenntnis auch für die Weisen und Frommen ausgeschlossen. Philon vertritt ZNT 4 (2. Jg. 1999) Gerhard Sellin Eine vorchristliche Christologie eine »negative Theologie«, lange bevor die Neuplatoniker diesen Begriff prägten. 10 2.) Was der Mensch im Aufstieg erreichen kann, ist statt dessen eine Begegnung mit dem Logos, durch den er die Kräfte Gottes erfahren und erkennen kann. Über 1400 mal kommt der Name in den griechisch erhaltenen Schriften und Fragmenten Philons vor (nur der Ausdruck »Gott« begegnet häufiger). Allgemein bedeutet ho l6gos im Griechischen »das Wort«, dann aber auch die vernünftige Rede, schließlich die Weltvernunft, den Weltgeist vor allem bei den Stoikern, die damit das die Materie bindende und formende geistige und göttliche Prinzip bezeichneten (»was die Welt im Innersten zusammenhält«). Philon setzt diesen Logosbegriff erstens gleich mit der platonischen höchsten Idee, die als das wahre Sein ihren Ort an der Spitze der Ideenpyramide hat. Der Logos ist so gesehen die höchste Stufe alles Seienden (womit er dem ontologischen Gottesbegriff entspricht). Entscheidend ist nun aber zweitens, daß dieser »Ort« (so nennt Philon den Logos häufig) selber eine aktiv wirkende Macht ist, das wirkende Prinzip aller »Kräfte« Gottes, mit denen Gott die Welt schuf und erhält, die Menschen richtet und straft bzw. leitet und erlöst. Der Logos ist die »Kraft Gottes« (dynamis theou) schlechthin. Damit aber erhält der Begriff ein dynamisches, personales Wesen. Der Logos ist die der Welt und den Menschen aktiv zugewandte Seite Gottes in gewissem Sinne der deus revelatus (der »offenbarte« Gott) im Unterschied zu »Gott an sich«, dem deus absconditus (dem »verborgenen Gott«). Dieser »Gott selbst« hat keinen Namen, und die Namen the6s (»Gott«) und kyrios (»Herr«) sind nur Namen der unter dem Logos rangierenden Kräfte: der schöpferischen und wohltätigen (the6s) und der herrschenden und strafenden (kyrios) beide nur Masken des unerkennbaren Gottes. 3.) Der Mensch ist doppelt geschaffen: nach Gen 1,27 als »himmlischer Mensch«, d.h als vollkommenes geistiges Wesen im Ideen-Kosmos, und zwar »nach dem Bilde Gottes« (wobei das »Bild Gottes« der Logos ist) nach Gen 2,7 als »Adam«, der »irdische« Mensch, dessen »Geist« (nous) selber »erdhaft« ist. Adam benötigt für das »wahre Leben« die Einhauchung des göttlichen Geistes (pneuma). In der allegorischen Auslegung von Gen 2,7 geht es Philon weniger um die Schöpfung des Menschen als um seine mögliche 15 Erlösung: Das Einblasen des Odems Gottes ist Symbol der Pneuma-Inspiration und »Erwekkung« des natürlichen Menschen zum charismatischen Frommen, der Gotteserkenntnis (und damit ewiges Leben) empfängt soweit Gott erkennbar ist. Diese Erkenntnis (mehr ein Erkanntwerden) ist Gnade und Geschenk und besteht gerade darin, daß der Mensch die Grenze seiner geistigen Fähigkeit erfährt daß er Gott nicht erkennen kann - und seinen Menschengeist (den adamitischen nous) Gottes Kräften, d. h dem Logos ausliefert. Und auf diese Weise wird er zum idealen Menschen von Gen 1,27, dem Menschen »nach dem Bilde Gottes«, d. h zum »Bild« des Logos. Aber im Moment der Ekstase und der pneumatischen Inspiration erreicht der Fromme sogar die Stufe des Logos selbst, d. h die Spitze der Ideen-Pyramide, den »Ort« des Logos. Da dieser »Ort« nur ein einziges Wesensprädikat hat, nämlich »zu sein« (und so, im Bild der Pyramide, einen Punkt darstellt), gibt es dort keinen Unterschied zwischen dem erhöhten Menschen und dem Logos: Der Fromme, den Philon den »Menschen Gottes« nennt, wird selber zum Logos (insofern er nun mit dem Logos »isotop«, d. h am Punkt der Spitze: identisch ist). Entsprechend erhält der Fromme dann das gleiche Prädikat wie der Logos: »Sohn Gottes« (De Confusione Linguarum 146 f. ). Die Erzväter, vor allem Isaak und Israel, sind Typen des Logos-Menschen. Auf ganz besondere Weise aber ist das Mose. Wie der Logos haben diese »Menschen« bzw. »Söhne« Gottes jeweils die Mittlerfunktion zwischen Gott und den Menschen (herrschend, prophetisch, priesterlich, gesetzgeberischwie Mose). 4. Philon als griechischer Philosoph - Philon als frommer Jude Philons Theologie ist auf den ersten Blick überwiegend durch die platonisch-pythagoreische Philosophie bestimmt. Seine Hermeneutik, die Idee und Methode der allegorischen Schriftauslegung, hat ebenfalls diese Wurzeln. Dennoch ist sein theologisches Denken nicht einfach daraus abzuleiten. Seine Schriftallegorese führt zu Ergebnissen, die nicht einfach nur als Bestätigung des philosophischen Vorverständnisses gelten können. (1) Zunächst läßt sich sagen: Philon ist der erste, der eine » Theologie« der Schrift geschaffen hat allerdings wesentlich in der Form des Kommentars. Die ganze Schrift (faktisch ist es allerdings 16 überwiegend die Tora) wird dadurch, daß er ein weit genug differenziertes System als hermeneutisches Prinzip besitzt, kohärent theologisch durchdacht. An seinen Versuch knüpfen die Kirchenväter an wobei die Allegorese nun insofern zur Typologese tendiert, als der Bezug der beiden Testamente zu berücksichtigen ist. Dabei hat die Christologie bereits bei Philon einen Ort (s. u: 5. Philon und das Neue Testament). (2) Philon bringt »Platon« und »Mose« in ein Entsprechungs-Verhältnis. Wie diese beiden Größen sich durch entdeckte Analogien gegenseitig beleuchten, soll mit einem Beispiel verdeutlicht werden: Der Aufstieg des Mose auf den Sinai nach Ex 24,1 ff. wird in Quaestiones in Exo-dum 2,27-49 als Heraufberufung der reinen, Gott liebenden Seele (deren Typ Mose ist) aufgefaßt. Philon überträgt hier den Mythos vom himmlischen Götterreigen und dem Flug der Seelen aus Platons Phaidros und deutet den Sinaiaufenthalt als Schau der Ideen am »Ort« des Logos. Der Ausdruck »überhimmlischer Ort« (hyperouranios t6pos) stammt aus dem Phaidros. Nach Ex 33 wird Mose die Schau Gottes allerdings verwehrt (was Philon als Begründung seiner »negativen Theologie« aufgreift). Aber Mose darf von einem »Ort« (t6pos: Ex 33,21) aus Gott »hinterher-schauen«. Dieser »Ort« (wohl ein Felsvorsprung) ist der Logos, die Spitze der Ideen, der für eine vollkommene menschliche Seele gerade noch erreichbar, von Gott aber immer noch unendlich fern ist. Der Wortlaut der griechischen Übersetzung, der Septuaginta, kommt Philons platonischer Interpretation entgegen. Möglicherweise aber steht diese Übersetzung, deren Anfänge ins 3. Jh. v. Chr. in Alexandrien zurückreichen, selber schon unter platonischem Einfluß. 11 Wenn Philon auch auf der Höhe philosophischer Bildung seiner Zeit steht, so ist er doch in seiner persönlichen Lebensführung ein vorbildlicher Jude, der die ethischen und rituellen Ansprüche der Tora treu erfüllt. Auch wenn er wahrscheinlich unter den Exegeten Alexandriens der führende Allegoriker ist, schließt er die wörtliche Interpretation, die die praktische Befolgung der Regeln impliziert, nicht aus. Es gab in seiner Umgebung andere, radikalere Allegoriker, die den Ritus (Beschneidung, Sabbatruhe, Jahresfeste) durch die höhere pneumatisch-mystische Erkenntnis der allegorischen Auslegung für überholt erklärten: ZNT 4 (2. Jg. 1999) »Es gibt nämlich Leute, die in der Annahme, die verkündeten Gesetze seien nur Symbole von Gedachtem, diesem mit höchstem Eifer nachgehen, erstere (die Gesetze selbst) aber leichtsinnig vernachlässigen. Diese muß ich wegen ihrer Leichtfertigkeit tadeln. Denn sie hätten beides beachten müssen: die sorgfältige Untersuchung des verborgenen Sinns und die tadellose Bewahrung der offensichtlichen (wörtlichen) Bedeutung« (De Migratione Abrahami 89). Philon wirft diesen Allegoristen vor, sie lebten so, als wären sie »körperlose Seelen« außerhalb jeder menschlichen Gesellschaft. Die Schrift verlange, »nichts von den Satzungen aufzuheben, die gottbegnadete und uns überlegene Männer festgelegt haben« (90). Man hat in diesen radikalen Allegoristen Gnostiker, die Therapeuten oder säkularisierte, heidnisch assimilierte Juden (wie Philons Neffen Tiberius Alexander) sehen wollen. Man könnte sogar an »Christen« wie die Paulus vorausgehenden »Hellenisten« denken, die bei der Steinigung des Stephanus aus Jerusalem geflohen waren (wenn es auch für eine so frühe Zeit keine Indizien für die Existenz solcher »Christen« in Ägypten gibt). Aber auch in Philons durch Schriftallegorese gewonnenen philosophisch-mystischen Ideen lassen sich Züge finden, die nicht aus griechischer Philosophie ableitbar sind: (1) Die Seele des Menschen hat nicht von ihrer Natur her »wahres Leben« (Unsterblichkeit), sondern durch Inspiration (vgl. die allegorische Auslegung von Gen 2,7). Im Hintergrund steht hier die Weisheitstheologie, die alttestamentlich vermittelt ist. (2) Die Anthropologie ist ganzheitlich: Auch der »innere Mensch« (der nous als »Geist« und personaler Kern der Seele) ist entweder von Natur »erdhaft« und vergänglich oder er ist pneumatisch bzw. »himmlisch«. Der wesentliche Unterschied zu Paulus, dessen Anthropologie ebenfalls ganzheitlich ist, besteht darin, daß es bei Paulus der Leib (soma) als Signatur der Geschöpflichkeit ist, der die Person des Menschen sowohl hier wie in der neuen Schöpfung der Auferstehung ausmacht, während für Philon der Leib als »Gefängnis der Seele« abgelegt werden muß, damit aus dem »erdhaften« Menschengeist (nous), der mit dem Leib vergehen wird, ein »himmlischer« Geist wird, der dann ewig ist. (3) Die »negative Theologie« kann sich auf alttestamentliche Motive berufen: das Bildnisverbot (Ex 20,4), das Namens-Tabu, die Unzugänglichkeit des Heiligen. Gott entzieht sich so der Bemächtigung durch die Menschen. Die die- ZNT4(2.Jg.1999) Gerhard Sellin Eine vorchristliche Christologie sem Gott angemessene Haltung des Menschen ist nach Philon die des demütigen Zutrauens, der Auslieferung der Seele (nous) an die Kräfte Gottes eine Haltung zwischen Mystik 12 und Glauben. 5. Philon und das Neue Testament Die philonische Theologie hat grundsätzlich eine Tendenz zum Universalismus. Das geht schon aus ihrer Kosmologie und Anthropologie hervor. Die Erscheinungen der israelitischen Religion sind durch Allegorese verallgemeinerbar und auf die Menschheit übertragbar, ihr an sich partikulärer Status hat zugleich paradigmatische Bedeutung für alle. 13 Gott ist das »Geheimnis der Welt« 1 4, der Logos ist der erkennbare, erfahrbare Sinn der ganzen Schöpfung. Jedoch gerade bei dieser Universalität hat Philons Konzentration auf die spezifischen Satzungen seiner Religion ihre Funktion: Der Mythos des Alten Testaments stellt die primäre Matrix dar, aus der die Symbole hervorgehen. Diese universale Tendenz der israelitischen Religion, die bereits die Schwelle zur sich selbst reflektierenden Theologie überschritten hat und die durch die Methode der Allegorese herausgearbeitet wird, ist wahrscheinlich schon von einem Zweig der Jesusjüngerlnnen, den Jerusalemer »Hellenisten«, aufgegriffen und radikalisiert worden. In gebrochener Kontinuität zu Jesus haben diese bereits in Jerusalem den Tempelkult allegorisiert möglicherweise im Sinne der von Philon in De Migratione Abrahami 89f. kritisierten alexandrinischen radikalen Allegoristen woraus sich ihre Vertreibung aus Jerusalem erklären würde. Und wahrscheinlich wurde von ihnen bereits Heidenmission ohne die Forderung der Beschneidung betrieben was Paulus nach seiner »Bekehrung« von ihnen, die er bis nach Damaskus verfolgt hatte, übernahm (Gal 2,3). Die von Philon bezeugten Grundzüge der alexandrinisch-jüdischen Theologie finden sich in wesentlichen Punkten wieder in einem Großteil der neutestamentlichen Schriften: in den meisten Schriften des Corpus Paulinum (kaum oder nur indirekt aber in II Thess und den Pastoralbriefen); in I Petr; Jak (nur indirekt in Jud und II Petr); in den johanneischen Schriften (kaum aber in Apk); in Mk und Lk-Apg (kaum in Mt). Pauschal lassen sich die beiden Thesen aufstellen: (1) Die theologischen Voraussetzungen ; ller neutestamentlichen Schriften (die Denkformen, metaphorischen Modelle, fundierenden Texte) entstammen dem Ju- 17 dentum. (2) Zum größten Teil ist es jedoch das in sprachlich-kultureller Hinsicht »hellenistische« Judentum, das die Vorstellungen und die Sprache der neutestamentlichen Texte prägt, aber auch rein »hellenistisches« Bildungsgut übermittelt. Es gibt eine Ausnahme: die apokalyptische Tendenz in der synoptischen Jesustradition und bei Paulus (später als re-apokalyptisierende Tendenz im II - Thess, den Pastoralbriefen, Jud, II Petr und Apk). Den stärksten Einfluß hat Philon (bzw. die von ihm bezeugte Theologie) - und das mag überraschend klingen auf die Christologie gehabt. Das gilt in erster Linie für die paulinischen und deuteropaulinischen sowie die johanneischen Schriften und für den Hebräerbrief. Das Konzept, das im Hintergrund dieser Christologie steht, ist das des philonischen Logos. Der Name »Logos« erscheint allerdings nur im J ohannesprolog: » Im Anfang war der Logos, und der Logos war bei Gott, und (ein) Gott war der Logos. Dieser war im Anfang bei Gott.: Alles ist durch ihn geworden ... « CToh 1,1-3) Gott ist vor (jenseits) der Zeit. Die Zeit und damit der Anfang des Werdens setzt ein mit dem Logos, dem Schöpfungsmittler. »Gott« in V.lc ist Prädikat des Logos, der hier Subjekt bleibt. Der Ausdruck »Gott« (the6s) ist bei Philon Prädikat der schöpferischen und gnädigen (schenkenden) Kraft Gottes, also Name nur für einen Aspekt des unsagbaren Gottes: den sich seiner entäußerten und auf die Welt und den Menschen bezogenen Gott. In einem inhaltlich und formal ähnlichen Text im deuteropaulinischen Kolosserbrief wird die Nähe zum philonischen Konzept noch deutlicher, obwohl der Name »Logos« dort nicht erscheint. Vom »Sohn seiner (Gottes) Liebe« wird gesagt: »Er ist Bild des unsichtbaren Gottes, Erstgeborener der ganzen Schöpfung, denn in ihm wurde das All geschaffen ( ... ) das All ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen ( ... ) Und er ist das Haupt des Leibes, der Kirche; er ist der Anfang, Erstgeborener aus den Toten ( ... ) denn in ihm zu wohnen beschloß die »ganze Fülle« (Kol 1,15ff.) »Bild« des unsichtbaren Gottes ist bei Philon der 18 Logos (Gen 1,27). 15 Gott selbst wird bezeichnet als der, der »alles ausfüllt«. 16 Also Gott, der das ganze All ausfüllt, beschloß Wohnung zu nehmen in Christus. Selbst das hat bei Philon Anhalt: Der Logos ist der »Ort« aller geistigen Wesen, der Ideen. Als solcher ist er »ausgefüllt« von Gott: »der göttliche Logos, den Gott selbst ganz und gar mit unkörperlichen Kräften ausgefüllt hat« (De Somniis 1,62); »das Urbild ist der von ihm (Gott) ganz erfüllte Logos« (De Somniis 1,75). Was nicht sofort einleuchtet und was als das große Rätsel der Präexistenz-Christologie gelten kann, ist die Behauptung, daß ein Mensch (Jesus von Nazareth) diese Logos-Gestalt sei. Wie ist es vorstellbar, daß ein Mensch zu einem metaphysischen, abstrakten Wesen werden könne, das schon vor der Schöpfung existiert und selber eine Schöpferkraft darstellt? Wir finden solche Aussagen auch bei Paulus selbst: Christus ist zum »lebendig machenden Geist« (pneuma zoopoioun) geworden (I Kor 15,45), zur »Kraft« und »Weisheit« Gottes (I Kor 1,24). Die Antwort liegt in Philons eigentümlicher mystischer Soteriologie, die vor allem in zwei Modellen erscheint: (1) dem der Ekstase, wo der Logos den Geist des begnadeten Menschen ersetzt, so daß der Mensch zum Logos wird, und (2) dem des Aufstiegs des frommen Menschengeistes, der heraufberufen wird auf die Spitze der Ideenpyramide, die der »Ort« des Logos ist, wo der Menschengeist mit dem Logos identisch wird (denn beide haben nur ein einziges Prädikat: »seiend«). Der Logos und der Geist (nous) des Charismatikers werden so identisch. Der Mensch wird zu einer »Kraft Gottes« (dynamis theou), ein Wesen, das wie der Logos generell das Wirken Gottes auf die Welt überträgt. Der Logos (und mit ihm der Pneumatiker im Augenblick der Ekstase) bildet so das »Haupt« der Ideen-Welt.17 Im Kol und Eph wird diese Funktion Christi als »Haupt« deshalb nicht auf den (materiellen) Kosmos, sondern auf die »Kirche« als »Leib« dieses »Hauptes« bezogen. Die Kirche als geistlicher Leib Christi nimmt damit die Stelle des Ideen-Kosmos als Leib des Logos (des »Hauptes«) bei Philon ein. Wie Christus (im Eph) ist der philonische Logos sowohl »Leib« (als Fülle der Ideen-Welt) als auch »Haupt« (als Spitze der Ideen-Pyramide) zugleich. Als weiterer allegorischer Beleg für die Heilsmittlerfunktion des Logos-Menschen dient Philon schließlich Lev 16 (der Zugang des Hohenpriesters in das Allerheiligste am großen Versöhnungstag). Diese Allegorese liegt auch der Chri- ZNT4(2.Jg.1999) stologie des Hebräerbriefes zugrunde. Christus ist ein »Priester nach der Ordnung Melchisedeks« (Hebr 6,20). Bei Philon ist Melchisedek Symbol des »priesterlichen Logos« (All 3,82), »der die selbsterlernte (automathe) und von selbst begriffene (autodidakton) Priesterwürde erworben hatte« (Congr 99). »Selbst erlernt« und »von selbst begriffen« sind bei Philon Prädikate des aller Zeit und Genealogie entnommenen 18 Charismatikers auf der Logos-Stufe, dessen Symbol sonst Isaak ist. Da Melchisedek noch zeitlich vor der Institution der Priesterschaft erscheint und keiner historischen Priester-Ordnung angehört, also eine mythische Größe darstellt, kann Philon ihn als Symbol für die priesterliche Funktion des transzendenten Logos wählen. Wenn der Hohepriester ins Allerheiligste geht, so ist er »kein Mensch mehr«, sondern der Logos (Her 84; Som 2,189). Das Allerheiligste ist Symbol der Transzendenz, weil es dem »himmlischen« Ort Gottes nachgebildet ist. Hebr 9,24 f.: »Denn nicht in ein mit Händen gemachtes Heiligtum ist Christus hineingegangen, ein Nachbild des wahrhaften, sondern in den Himmel selbst ... «, um dort das einmalige Opfer seiner selbst darzubringen. Philon, Som 2,32: »Wenn der Geist, von göttlichem Liebesdrang ergriffen, sich bis zum Allerheiligsten hinstreckt ... hat er auch sich selber vergessen; er erinnert sich allein (an den) ... , dem er die heiligen und unberührten Tugenden als Rauchopfer darbringt«. Som 2,77 bezeichnet Philon das derartige spirituelle Opfer als ein Selbstopfer. Deutlicher noch zeigt den Vorstellungshintergrund des Hebräerbriefes die Stelle Her 53 f.: »So verbleibt ... in denen, die sich viele Ziele des Lebens gesetzt haben, ,der göttliche Geist nicht, (Gen 6,3) ... , bei der einen Art von Menschen aber stellt er sich ein, die sich aller irdischen Dinge und des innersten Vorhangs 19 und der Verhüllung der Meinung (d6xa = Scheinwissen) entkleidet hat und im Geiste entblößt und nackt zu Gott kommt. So schlug auch Mose ,außerhalb des Lagers< (Ex 33,7) 20 und des ganzen körperlichen Heeres sein Zelt auf, d. h er errichtet die unverrückbare Ansicht und beginnt Gott anzubeten und geht in die Finsternis, den unsichtbaren Raum hinein und bleibt daselbst die heiligsten Weihen feiernd«. Christi Selbstopfer wird Hebr 10, 19 f. als Eröffnung des Zugangs zum Heiligtum »durch den Vorhang, das heißt sein Fleisch« verstanden. Das ist sein priesterliches Heilswerk, dessen sühnende Funktion bei Philon freilich keine deutliche Entsprechung hat. ZNT 4 (2. Jg. 1999) Die drei Beispiele (Joh 1; Kol 1; Hebr) sollten zeigen, wie wir durch Kenntnis der Schriften Phi- Ions zu einem besseren Verständnis einiger schwieriger Texte des Neuen Testaments kommen können. Dabei wurden die authentischen Paulusbriefe ausgespart, in denen wir philonischen Anklängen fast in jedem Kapitel begegnen. Einige sollen hier noch exemplarisch vorgestellt werden: (1) Im Röm wird 1,16 das Evangelium als eine dynamis (»Kraft«) Gottes bezeichnet. Nach I Kor 1,18 ist das »Wort vom Kreuz«, nach 1,24 Christus selber diese dynamis. - (2) In Röm 4 und Gal 3-4 geht es um den Glauben Abrahams, der sich auf die Verheißung der Geburt Isaaks bezieht. Isaak ist für Philon Symbol des geistlichen Gottesverhältnisses, das sich weder historisch noch genealogisch begründet, sondern durch Verheißung und Gnade entsteht. Deshalb braucht Isaak wie übrigens auch Melchisedek die Tugend weder zu lernen noch zu üben; er ist »selbstbelehrt« (automathes). Die Hagar-Sara-Allegorese in Gal 4,21-31, in der die Hauptperson eigentlich Isaak ist, dessen Name aber nicht genannt wird, hat nicht nur formale, sondern auch inhaltliche Entsprechungen zu Philons Theologie. - (3) Vor allem aber der ganze Komplex der paulinischen Christus-Mystik wird auf dem Hintergrund der philonischen Logos-Mystik verständlicher: Der Logos ist sowohl ein »Ort«, in dem der Fromme sich, solange er glaubt, befindet, als auch eine »Kraft«, die in den Frommen wirkt. So erklärt sich die vor allem bei Paulus häufig vorkommende Formel »in Christus«, aber gleichzeitig auch die komplementäre Aussage »Christus in mir« (Ga! 2,20; Röm 8,10 u.ö). Bei der »In-Christus«-Formel hat das in gelegentlich auch instrumentale Bedeutung (im Eph dann meist lokale und instrumentale zugleich), was sich ebenfalls durch das Logos-Konzept erklären läßt. Philons Logos ist zugleich Raum ( der geistigen Wesen) und 1nstrument der Schöpfung und Erlösung. - (4) Der Streit um die Auferstehung (I Kor 15) wird auf dem Hintergrund der philonischen Anthropologie verständlich. Hier sind es freilich »einige« Korinther, die eine Auferstehung der Toten bestreiten, weil sie wie Philon und wohl im indirekten Anschluß an ihn das postmortale Heil in einer körperlosen rein geistigen Existenz nach dem Tode sehen. Paulus ist es, der mit einem personal-materialistischen, ganzheitlichen »Leib«- Begriff (soma: der Mensch als leibliche Kreatur) gegen den philonisch-korinthischen Spiritualismus argumentiert. Daß Paulus aber gleichzeitig 19 selber unter dem Einfluß philonischer Theologie steht, zeigt seine Argumentation in 15,45-50, wo er auf die doppelte Menschenschöpfung (Gen 1,27: der »himmlische Mensch«; Gen 2,7: der »irdische Mensch« Adam) eingeht, die Reihenfolge jedoch eschatologisch umkehrt: Der »himmlische Mensch« ist als der endzeitliche der »zweite« Mensch, nämlich Christus. Mit all dem ist nicht gesagt, daß die neutestamentlichen Autoren direkt auf Philon zurückgegriffen hätten. Philons Schriften sind nur die bedeutendste Quelle für eine sicher weiter verbreitete jüdisch-hellenistische Theologie, die an der Schwelle zum Neuen Testament die geistigen, religiösen und philosophischen Voraussetzungen bereitstellte für die ersten »Christen«. Anmerkungen 1 Gute Einführungen in Philons Werk gibt es leider bisher nicht in deutscher Sprache. Die beste ist immer noch: S. Sandmel, Philo of Alexandria. An Introduction, New York 1979. Zu empfehlen ist aber auch die neuere von P. Borgen, Philo of Alexandria. An Exegete for His Time, Leiden 1997. 2 Diese sind Übersetzungen der in der Bücherliste Eusebs (Kirchengeschichte 2,18) angegebenen griechischen Titel. Euseb hatte in der Bibliothek von Caesarea den Hauptbestand der Schriften Philons zur Verfügung. Die Werke Philons hatte Origenes seinerzeit von Alexandrien nach Caesarea mitgenommen. 3 Isaak wird in diesem Sinne für Paulus als ein »aufgrund von Verheißung« und nicht »nach dem Fleische« Geborener zum Vorbild für Christus und die Galater (Gai 4,21-31). 4 Aristarch wird das Prinzip der literalen Exegese (»Homer muß durch Homer erklärt werden«) zugeschrieben. Dieses Prinzip könnte schon als Antithese gegen die Schule von Pergamon formuliert worden sein, die Homer durch die Brille ihrer zeitgenössischen Philosophie (insbesondere stoisch) mit Hilfe der Allegorese interpretierte. 5 Das meint jedoch I.Heinemann, Therapeuten, PRE II, Bd. 5,2 (1934) Sp. 2321-2345: 2336. Es handele sich um jüdische außerkanonische, pseudepigraphische Schriften nach Art der Henochbücher. 6 Wolfgang Bernard, Spätantike Dichtungstheorien. 20 Untersuchungen zu Proklos, Herakleitos und Plutarch (Beiträge zur Altertumskunde 3), Stuttgart 1990, rechnet mit zwei unterschiedlichen Methoden der Allegorese in der Antike: der von den Stoikern geübten »substitutiven« Allegorese und der von Platonikern geübten »dihairetischen« Allegorese, zu der er neben den Neuplatonikern und Plutarch auch Philon rechnet. Dazu vgl. G. Sellin, Die Allegorese und die Anfänge der Schriftauslegung, in: Henning Graf Reventlow (Hg.), Theologische Probleme der Septuaginta und der hellenistischen Hermeneutik (Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie Bd. 11 ), Gütersloh 1997, 91- 138. 7 N. Walter, Der Thoraausleger Aristobulos. Untersuchungen zu seinen Fragmenten und zu pseudepigraphischen Resten der jüdisch-hellenistischen Literatur (TU 86), Berlin 1964. 8 In der hebräischen Bibel steht dort das Wort für »Tiefschlaf«, was in der Septuaginta mit ekstasis (Verzückung, Ausschaltung des Bewußtseins) wiedergegeben wird. Philon verwendet an dieser Stelle synonym das aus Platon, Phaidros 244aff., stammende mania (»Raserei«). 9 Karl Barth, Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie (abgedruckt in: J. Moltmann (Hg.), Anfänge der dialektischen Theologie, Teil 1, München 1962, 197-218 (zuerst abgedruckt: 1922): »Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen Beides, unser Sollen und unser Nicht-Können, wissen und eben damit Gott die Ehre geben« (199). - Rudolf Bultmann, Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden? In: Glauben und Verstehen Bd. 1, 1933, 26-37 (zuerst abgedruckt: 1925): » Über« Gott zu reden, ist sinnlos und Sünde; »von Gott läßt sich ... auch nicht in allgemeinen Sätzen, allgemeinen Wahrheiten reden, die wahr sind ohne Beziehung auf die konkrete existentielle Situation des Redenden« (26). - Paul Tillich, Systematische Theologie, Bd. II, 1958, 15: »Alles, was man über ein endliches Seiendes aussagt, kann man nicht für eine Aussage über Gott verwenden, denn er ist ... ,das ganz Andere<; .. . alles, was die Religion über Gott, über seine Eigenschaften, sein Handeln und seine Manifestationen aussagt, (hat) symbolischen Charakter und ... man (verfehlt) den Sinn des Begriffs Gott völlig ... , wenn man die symbolische Ausdrucksweise wörtlich versteht«. 10 Zur »negativen Theologie«: Raoul Mortley, From Word to Silence. I: The Rise and Fall of Logos; II: The Way of Negation Christian and Greek, 2 Bde., Bonn 1986. 11 Martin Rösel, Übersetzung als Vollendung der Auslegung. Studien zur Genesis-Septuaginta (BZAW 223 ), Berlin 1994, 25 ff.; 73 ff., hat für die Übersetzung von Gen 1 eine Abhängigkeit von Platons Timaios nahegelegt. 12 Für Philon gilt wie für die Christusmystik des Paulus, die mit der philonischen Logosmystik verwandt ist daß die Mystik eingeschränkt ist: Das Ziel ist keine Identität mit Gott, kein Aufgehen in Gott, keineVergottung des Menschen. Hier bleibt eine Differenz. Vgl. die vier Einschränkungen, die M. Dibelius, Paulus und die Mystik, in: Ders., Botschaft und Geschichte 2 (1956) 134-159: 155ff., bei der Christusmystik macht. ZNT 4 (2. Jg. 1999) Gerhard Sellin Eine vorchristliche Christologie 13 Ellen Birnbaum, The Place of Judaism in Philo's Thought. Israel, Jews, and Proselytes (Studia Philonica Monographs 2), Atlanta 1996. 14 So der Titel eines bedeutenden Buches von Eberhard Jüngel, Tübingen 6 1992). 15 Op 25; All 3,96; Det 86f.; Conf 146f.; Her 231; SpecLeg 1,81; QuaestEx 2,37. 16 All 3,43; Conf 136. Das in Kol und Eph begegnende Substantiv pleroma (die »Fülle«) erscheint bei Phi- Ion in dieser kosmo-theologischen Bedeutung noch nicht. Diese geht wahrscheinlich auf die LXX zurück (»die Erde und ihre Fülle«): Ps 23(24),1; 49(50),12; 88(89),11; 95(96),11; Jer 8,16; 29(47),2; Ez 12,19; 19,7; 30,12. 17 Philon, Migr 102f.; Fug 110-112; Som Vorschau auf das nächste Heft Thema Das Neue Testament im interreligiösen Dialog Neues Testament aktuell Christopher Grundmann Das NT im interreligiösen Dialog der Gegenwart Einzelbeiträge Tovia Ben-Chorin Warum lesen Juden das NT? Hans-Christoph Goßmann 1,66.128.133 ff.; 2,19 (Gen 28,12 LXX); Praem 125. Die wichtigste Stelle, QuaestEx 2,117, ist allerdings mit einem christlichen Einschub in den Text versehen, dessen Beginn nicht sicher ermittelt werden kann. Deshalb ist die Aussage »Das Haupt aller Dinge ist der ewige Logos des ewigen Gottes« nicht als ursprünglich philonisch gesichert. Die Stellen in De Somniis l zeigen, daß die Bezeichnung des Logos als »Haupt« auf eine Allegorese von Gen 28,12 zurückgeht (vgl. Joh 1,51). Ist vom NT her ein Dialog mit dem Islam möglich? Werner Kahl Das NT im Dialog mit afrikanischen Religionen Kontroverse 18 Vgl. Hebr 7,3: Melchisedek ist »ohne Vater, ohne Mutter, ohne Stammbaum ... weder einen Anfang der Tage noch ein Ende des Lebens habend ... «. Fordert das NT die Absolutheit des Christentums? 19 katapetasma ist das Wort für den Vorhang vor dem Allerheiligsten im Tempel (vgl. Mk 15,38), während mit kallyma der äußere Tempelvorhang gemeint ist: so Philon in VitMos 2,87. Hermeneutik und Vermittlung Stefan Alkier Fremde Welten verstehen lernen: 20 Vgl. Hebr 13,12f.: »Deshalb hat Jesus, damit er durch sein eigenes Blut das Volk heilige, außerhalb des Tores gelitten. So laßt uns nun zu ihm hinausgehen >außerhalb des Lagers< (Ex 33,7) und seine Schmach tragen! «. Ein Beitrag zur interkulturellen Hermeneutik Gerfried W. Hunold / Thomas Laubach/ Andreas Greis (Hrsg.) Theologische Ethik Ein Werkbuch UTB 1966, 1999, ca. 350 Seiten, ca. DM 36,80/ ÖS 269,-/ SFr 34,- UTB-ISBN 3-8252-1966-6 Wie ist christliches Handeln in einer weltlichen Welt möglich? Die Frage hat für alle Gewicht, denen das Christsein keine Belanglosigkeit bedeutet. Doch sie ZNT 4 (2. Jg. 1999) beantwortet sich weder aus den Vorgaben der Vergangenheit noch aus dem Bestand vorgefertigter Handlungsmuster. Gut und Böse sind keine äußeren Heft 5 erscheint im April 2000 Naturereignisse. Beides erfährt der Mensch als abhängig von seinem eigenen Tun. Christlicher Glaube setzt dabei auf die notwendige Veränderung des Lebens selbst. Auseinandersetzung, Standortsuche, Überzeugungsfindung sind angesagt. Das Buch will eine Arbeitshilfe auf diesem Weg sein. lJTB ______ _ FUR\VISSEN SCHAFT Francke 21