ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
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1999
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Dronsch Strecker VogelKyniker, Prophet, Revolutionär oder Sohn Gottes? Die ›dritte Runde‹ der Frage nach dem historischen Jesus und ihre christologische Bedeutung
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1999
Arnulf von Scheliha
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Arnulf von Scheliha Kyniker, Prophet, Revolutionär oder Sohn Gottes? Die >dritte Runde< der Frage nach dem historischen Jesus und ihre christologische Bedeutung Wer war Jesus? >Kyniker<, >Prophet<, >Revolutionär< so unterschiedlich fallen die Antworten der Forscher aus, die zu der seit kurzem wieder und vor allem international florierenden historischen Jesus-Forschung gehören. Daß Jesus von Nazareth vor allem als revolutionärer »Befreier« historische Bedeutung gewonnen hat, ist die These des von Rom gemaßregelten Befreiungstheologen Leonardo Boff. 1 Weniger emanzipativ engagierte Wissenschaftler charakterisieren Jesus dagegen als »Propheten«. Für den jüdischen Historiker Geza Vermes etwa ist Jesus ein charismatischer Prophet und Weisheitslehrer. Er sei den galiläischen Chassidim zuzurechnen und sei als »heiliger Mann«, Wundertäter und Exorzist hervorgetreten. 2 Der britische Historiker E. P. Sanders nuanciert anders. Für ihn steht Jesu prophetisch-apokalyptische Reich-Gottes-Predigt im Vordergrund. 3 Ganz anders John Dominic Crossan. Er ordnet Jesus in eine philosophische Gegenbewegung zur apokalyptischen Prophetie ein. 4 Jesus sei ein »Vertreter jener bäuerlichen, volkstümlichen, mündlichen philosophischen Praxis, die man als jüdischen Kynismus . . . bezeichnen könnte ... Diese Kyniker waren sozusagen Hippies in einer Welt augusteischer Yuppies«.5 Im Vergleich zu dieser bunten Palette an historischen Jesus-Darstellungen scheint die auf die gegenwärtige Bedeutung J esu Christi bezogene, also dogmatische Arbeit erheblich steriler auszufallen. Weitgehend unberührt von dem breiten Interesse am historischen Jesus, das zwischenzeitlich sogar die Titelseiten montäglicher Nachrichtenmagazine eroberte, 6 werden die kirchlichen Lehrformeln zwar vorsichtig modernisiert, aber im Ergebnis reproduziert. Martin Bieler erörtert in seiner Studie »Befreiung der Freiheit« einen Aspekt, von dem wir heute wissen, daß er mit dem historischen Jesus nichts zu tun hatte: die »Theologie der stellvertretenden Sühne«. 7 Ingolf Dalferth 8 verwendet zur Interpretation der religiösen Bedeutung Jesu in geradezu inflationärer Weise den Terminus des Eschatologischen. Er bezieht sich damit auf die Vorstellung des unmittelbar heranbrechenden Gottesreiches, auf eine religiöse Idee, 22 von der wir nach dem gegenwärtigen Forschungsstand nicht mehr sicher sagen können, ob sie für Jesus selbst zentrale Bedeutung hatte. Man hat den Eindruck: Der Gong zur >dritten Runde< ist für die Systematische Theologie noch nicht erklungen. Das hängt zusammen mit dem für Außenstehende vielleicht unverständlichen Sachverhalt, daß sich die Frage nach dem historischen Jesus für Theologen nicht von selbst versteht, sondern eine komplizierte theologische Geschichte hat, die sich in der Metapher von der >third quest< niederschlägt. Daher wird zunächst (I.) die Geschichte der Frage nach dem historischen Jesus analysiert, um sodann (II.) die gegenwärtige Jesus-Forschung theologiegeschichtlich einordnen zu können. Dabei werden wir zu dem Ergebnis kommen, daß sie methodisch an die liberale Jesus-Forschung anknüpft. Ein dritter Schritt wird daher der kritischen Auseinanderseztung mit dem gewichtigsten Vorwurf gegen die liberale Jesus-Forschung gewidmet sein (III.), um schließlich (IV.) die christologische Relevanz der aktuellen Jesus-Forschung zu entwickeln. 1. Von der >ersten< zur >zweiten< Runde. Das strittige Verhältnis von Geschichte und Religion Zu den gesicherten Beständen theologischen Examenswissens gehört, daß Albert Schweitzer mit seinem Buch die »Geschichte der Leben-Jesu- Forschung«, das 1906 in der ersten und 1913 in der zweiten Auflage erschien, einen Schlußstrich unter die liberale Jesus-Forschung gezogen hat. 9 An Schweitzer anknüpfend hat Rudolf Bultmann sein >Jesus<-Buch von 1926 mit der Feststellung eröffnet, »daß wir vom Leben und von der Persönlichkeit Jesu so gut wie nichts mehr wissen können«. 1 ° Konsequent verzichtet Bultmann auf jede bildhafte Konkretisierung der religiösen Persönlichkeit J esu und widmet sich ausschließlich »Jesu Verkündigung« und »Lehre«. 11 Die These eines durch Schweitzer und Bultmann markierten Epocheneinschnitts hält freilich einer Überprüfung nicht stand. Einmal formu- ZNT 4 (2.Jg. 1999) lierte Schweitzer nur besonders krass, was damals ohnehin in der Luft lag. Die meisten Monographien zum historischen Jesus, die damals erschienen, bekunden Skepsis gegenüber einer Jesus-Biographie. »Man wird ... gut tun, allen Versuchen eines >Lebens oder einer ,Geschichte< Jesu den Abschied zu geben«, so formuliert 1904 Wilhelm Bousset. 12 Der Grund ist, methodisch betrachtet, quellenkritischer Art. Damals wurde allen Historikern immer deutlicher, daß die Evangelien keine historischen Tatsachen berichten, sondern, so das Ergebnis der damaligen »Tendenzkritik«, theologisch geprägte Dokumente des nachösterlichen Glaubens sind. 13 Ein Rückschluß auf den vorösterlichen Jesus ist dadurch bis an den Rand der Unmöglichkeit erschwert. Nach Bousset etwa haben die Aussagen über den historischen Jesus nur den Charakter von »Wahrscheinlichkeiten« 14 und »Vermutungen« 15 • Auch in buchtechnischer Hinsicht bedeutete Schweitzers Werk kein Ende der Jesus-Forschung. 1911 schärft Ernst Troeltsch dem theologischen Publikum »Die Bedeutung der Geschichtlichkeit Jesu für den Glauben« 16 ein. Weit später noch erscheinen die beiden auf der Methodologie der klassischen Historik aufruhenden Bücher »Jesus« von Paul Wernle 17 und »Jesus Christus der Herr« von Emanuel Hirsch. 18 Auch Schweitzer wollte die historische Jesus- Forschung gar nicht verabschieden, sondern nur eine bestimmte Art abräumen. Schweitzer setzt zwei Motive für die Jesus-Forschung an. Zum einen nennt er das geschichtliche Interesse, 19 wir würden sagen: die historische Neugier. Man wollte wissen, »wie es eigentlich gewesen« 20 ist. Zum anderen stellt Schweitzer ein religiöses Interesse an der Jesus-Forschung fest: der »Befreiungskampf vom Dogma«. 21 Die liberalen Theologen seit der Aufklärung waren bemüht, mit der historischen Erforschung der Christentumsgeschichte die Verstehenshindernisse zu beseitigen, die die kirchliche Lehre für ihre Zeitgenossen darstellte. Die Besinnung auf den historischen Jesus erschien ihnen als die beste Möglichkeit, jenseits der, wie sie empfanden, philosophischen Entstellungen durch die Zwei-Naturen-Christologie und die Trinitätslehre, den für die Gegenwart religiös und moralisch bedeutsamen Gehalt der Christologie herauszuarbeiten. Das Problem dieser historischen J esus-Forschung besteht für Schweitzer nun darin, daß das religiöse Motiv die historische Forschung steuert. Dieses Überwiegen des religiösen Interesses führt ZNT 4 (2. Jg. 1999) Arnulf von Scheliha l<yniker, Prophet, Revolutionär oder Sohn Gottes? regelmäßig zu dem Ergebnis, daß man im Gewande historischer Forschung modernisiert und so an der historischen Wirklichkeit vorbeizielt. Das Ergebnis von Schweitzers forschungsgeschichtlicher Untersuchung kann man als »Projektionsthese« 22 auffassen. Freilich beschreibt Schweitzer auch damit einen damals breiten Konsens. So mahnte etwa Paul Wernle 1904: »Die Gefahr liegt nahe, daß sich ein jeder ihn Uesus] nach seinem Bilde schafft und ihm U esus] die Gefühle und Gedanken leiht, die ihm [dem Forscher] selbst vielleicht unbewußt, in der Tiefe seiner eigenen Seele wohnen«. 23 Schweitzers Lösung sei nur in methodischer Perspektive angedeutet. Zum einen differenziert Schweitzer zwischen Religion und Historie. Beide stellen unterschiedliche Bereiche dar und dürfen nicht ineinander verwoben werden. »Geschichtliche Erkenntnis [kann] wohl Klärung vorhandenen geistigen Lebens bringen, aber nie Leben wecken«. 24 Religion kann sich nicht auf Geschichte begründen, sondern verlangt einen Zugang sui generis. Darauf soll hier nicht weiter eingegangen werden. Zum anderen begegnet Schweitzer der Gefahr unkontrollierter Konstruktivität dadurch, daß er vom »Fremdartigen und Rätselhaften« 25 an Jesus ausgeht. Hier spielte ihm inhaltlich der damals allerneueste Forschungsstand in Gestalt der Arbeiten von Johannes Weiß in die Hände, 26 der die apokalyptische Erwartung eines baldigen Weltendes in den Mittelpunkt seiner Jesus-Deutung gestellt und damit die Differenz des jesuanischen Weltbildes zur Gegenwart stark akzentuiert hatte. Rudolf Buhmann hat dann Schweitzers Differenzierung von Historie und Religion zur Diastase radikalisiert. Buhmann interpretiert den damaligen Forschungsstand als einen prinzipiellen Sachverhalt und wiederholt von dieser Warte aus den von Schweitzer monierten Steuerungszusammenhang von Religion und Historie. Die antihistoristische Wende, die Buhmann in dieser Zeit in der Jesus-Forschung inszeniert, wird begründet im Rückgang auf die Autorität der Offenbarung in Jesus Christus. Unter diesem Vorzeichen wird aus der Quellenkritik theologisch motivierter Skeptizismus. Von hier aus wird die historische Forschung als der hybride Versuch denunziert, sich des Gottseins Gottes zu bemächtigen. Die Projektionsthese Schweitzers wird zur Religionskritik der frühen Dialektischen Theologie erweitert. Aus Schweitzers Differenzierung von Historie und Religion wird die diastatische Kulturkritik. Jede Klärungsfunktion des historischen Jesus 23 Arnulf von Scheliha Arnulf von Scheliha, Jahrgang 1961, Studium der Evangelischen Theologie in Kiel, München, Tübingen. Examen 1987. Vikariat 1989-1991 in Hamburg, Promotion 1991 in Kiel (»Emanuel Hirsch als Dogmatiker«), Wiss. Ass. 1991-1993 Universität Kiel, 1993-1998 Universität Hamburg, 1997 Habilitation im Fach Systematische Theologie (»Der Glaube an die göttliche Vorsehung. Eine religions-soziologische, geschichtsphilosophische und theologiegeschichtliche Untersuchuchung«), seit 1997 Privatdozent für Systematische Theologie an der Universität Hamburg, seit 1998 Professor für Evangelische Theologie und Sozialethik an der Universität der Bundeswehr Hamburg. Forschungsschwerpunkte und Veröffentlichungen: Das Selbstverständnis von Religion und Kirche in der modernen Gesellschaft, Interreligiöse Hermeneutik, Ethische Probleme moderner Lebensführung, Theologiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung der Geistes- und Sozialgeschichte. für den Glauben wird verneint. Entscheidend sei allein das Kerygma vom gekreuzigten und auferstandenen Christus. Vor diesem Hintergrund konnten die Schüler Bultmanns das Interesse am historischen Jesus in den fünfziger Jahren nur so wiederbeleben, daß sie die religiöse Bedeutung der Geschichtlichkeit der Offenbarung thematisierten. So fragt Ernst Käsemann nach dem »Sinn des Historischen in unsern Evangelien« 27 und erneuert die Frage nach dem historischen Jesus. Käsemann gibt sich drei Antworten. Die offenbarungstheologische weist der Jesus- Forschung die Funktion zu, die geschichtliche »Kontingenz der Offenbarung« 28 und »die Freiheit des handelnden Gottes« 29 hervorzuheben. Das zweite Argument ist christologi- 24 scher Art. Wohl im Blick auf Karl Barths spekulative Christologie formuliert Käsemann, daß die historische Jesus-Forschung der Häresie eines Doketismus wehren könne. 30 Schließlich bietet Käsemann ein soteriologisches Argument auf. Der historische Jesus repräsentiere den Sachverhalt, daß wir das Heil nicht in uns selber haben. Historische Jesus-Forschung stelle »das extra nos des Heiles als Vorgegebenheit des Glaubens« heraus. 31 Die Wiedereinführung der Frage nach dem historischen Jesus ist also auch religiös mitbestimmt, insofern erkannt wird, daß der theologische Gegenstand historisch nicht isoliert werden kann. Zweifellos wollten Käsemann und die Bultmann-Schüler historischen Boden unter die dogmatischen Konstruktionen jener Jahre zurückgewinnen. Sie konnten es jedoch nur unter den Bedingungen dessen, was damals dogmatisch gedacht wurde. Die offenbarungstheologische Begründung der historischen Rückfrage wirkte sich in der konkreten Forschung aus bis hinein in die Methodologie. Einmal erleben wir in dieser Zeit eine von Bultmann dauerhaft inspirierte - Konzentration auf Jesu Lehre. Dieses Interesse spiegelt ebenso wie die formgeschichtliche Methode insgesamt den am Paradigma der Predigt orientierten Theologie-Stil jener Jahre wider. Sodann ist das von Käsemann zur Identifikation des authentischen Jesus-Gutes eingeführte, später sog. Differenzkriterium mit erheblichen dogmatischen Voraussetzungen belastet. Es besagt nämlich, daß man von echter Jesus-Überlieferung mit einiger Sicherheit dann sprechen kann, wenn die betreffende Tradition »weder aus dem Judentum abgeleitet noch der Urchristenheit zugeschrieben werden kann«. 32 Die konsequente Anwendung dieses Kriteriums führt zu einer Isolierung des historischen Jesus aus seinem zeitgeschichtlichen Kontext, die im Effekt der damals propagierten >christologischen Konzentration< der Dogmatik entspricht.33 Es dürfte deutlich sein, daß von solchen Voraussetzungen aus ein historisch plausibles Bild des Wirkens Jesu nicht gezeichnet werden kann. Entsprechend dröge lesen sich heute die Jesus-Bücher der damaligen Zeit. Man denke etwa an das Jesus-Buch von Günther Bornkamm. 34 Die dogmatisch verursachte Verengung der historischen Perspektive läßt es nicht als einen Zufall erscheinen, wenn die ,dritte Runde, in einem theologischen Milieu eingeläutet wird, in der der Antihistorismus nicht die gleiche Wirksamkeit entfalten konnte wie in Deutschland: in Nordamerika. ZNT 4 (2. Jg. 1999) 2. Die >dritte Runde<: Entdifferenzierung von Geschichte und Religion? Es ist nicht ganz leicht, die z. T. unübersichtliche Forschungslage, die Vielzahl der aktuellen Jesus- Rekonstruktionen auf einen Begriff zu bringen. 35 Bei allen Unterschieden, die derzeit bestehen, möchte ich eine gewisse einheitliche Tendenz an vier Punkten deutlich machen. Zunächst ist Bewegung in die Bewertung der Quellen gekommen. Die Quellenkritik gilt in der Historik seit Ranke als eine methodisch-historische Aufgabe ersten Ranges. Hier ist ein grundsätzlicher Trend zu beobachten. Wie Vertreter der >ersten< Runde haben die gegenwärtigen Jesus- Forscher im Vergleich zu denen der >zweiten< Runde ein vergleichsweise großes Zutrauen zu den Quellen. Auch wenn diese immer schon theologisch geprägt sind, so wird die Lage als vergleichsweise günstig eingeschätzt. 36 Man ist sich einig: Die faktischen Schwierigkeiten, zu eindeutigen Feststellungen zu kommen, können die historische Rückfrage nicht grundsätzlich suspendieren! 37 Desnäheren wendet man sich in literarkritischer Absicht wieder den sog. ältesten Quellen zu, dem Markusevangelium und der sog. Quelle Q. Auch hier ist Kontinuität zur liberalen Jesus-Forschung zu notieren. Während damals in der Regel das Markusevangelium und dessen Vorformen, etwa das sog. »Markusnest« für die älteste Jesusüberlieferung gehalten wurden, 38 hat heute >Q< die »Nase vorn«. Zweitens werden neue Quellen herangezogen. Auch dieser Sachverhalt fällt methodisch in die Quellenkritik. Von Bedeutung sind dabei weniger die sich breiten publizistischen Echos erfreuenden Funde von Qumran, sondern vor allem das sog. Thomas-Evangelium, das Mitte der vierziger Jahre im mittelägyptischen N ag- Hammadi aufgefunden wurde und das nach dem Urteil vieler Quellenkritiker sehr alte J esusüberlieferung enthält. 39 Dagegen war für die Vertreter der >zweiten Runde, charakteristisch, daß für sie vor allem die kanonischen Schriften im Mittelpunkt standen und sie den außerbiblischen Quellen höchstens arabeske Bedeutung zumaßen. Ein drittes Charakteristikum der >dritten Runde, besteht in der konsequenten Einordnung Jesu in das damalige Judentum. Das Differenzkriterium wird einer scharfen Kritik unterzogen. Damit kehrt man entschlossen zu einer liberalen Grundeinsicht zurück, die exemplarisch Julius Wellhausen formuliert hatte: »Jesus war kein Christ, son- ZNT4(2.Jg.1999) Arnulf von Scheliha Kyniker, Prophet, Revolutionär oder Sohn Gottes? dem Jude. Er verkündete keinen neuen Glauben, sondern er lehrte den Willen Gottes tun«. 40 Wie Wellhausen verorten die heutigen Forscher Jesus im Spannungsfeld der unterschiedlichen Strömungen der jüdischen Religion. Gegenüber dem damaligen Forschungsstand hat sich das Wissen über das Jesu zeitgenössische Judentum stark differenziert, vor allem, wenn man der von Vermes unternommenen Quellenkritik von jüdischen Schriften aus dem 2. Jahrhundert folgen will, die die Basis seiner Rekonstruktion der religiösen Verhältnisse in Galiläa zur Zeit Jesu darstellt. 41 Auch sind ideologische Vorbehalte heute weitgehend gegenstandslos. Hier haben besonders die interdisziplinäre Arbeitsweise und die inzwischen breitere Quellenbasis wesentlich differenzierte Erkenntnisse über das Jesu zeitgenössische Judentum gebracht. 42 Schließlich seien noch die sozialgeschichtlichen und kulturhermeneutischen Methoden genannt, die jetzt das methodische Spektrum erweitert haben. Sie verbinden sich vor allem mit den Jesus- Büchern von Theissen/ Merz und Crossan. Hier wird zum Teil ein sehr verfeinertes Kategoriennetz auf Jesus und seine Umwelt geworfen mit erhellenden Ergebnissen. Gleichwohl ist wissenschaftsgeschichtlich auch diese Innovation als Revision jener theologisch motivierten Verengung der historischen Perspektive einzuordnen. Schon Wellhausen hatte programmatisch formuliert, daß das israelitische Altertum ebenso wie der historische Jesus »nicht mehr isoliert werden [kann]; man sieht zu deutlich, wie eng es auf allen Seiten mit der näheren und entfernteren Umgebung zusammenhängt. Auch über die historisch nachweisbare Bemühung hinaus muß es unter die Analogie der allgemeinen Kulturentwicklung gestellt werden«. 43 Die Historiker der >dritten Runde< knüpfen, forschungsgeschichtlich betrachtet, an die liberale Jesus-Forschung an, freilich ohne sich dieses Rückbezuges selbst bewußt zu sein. Dieser Befund wird bestätigt, wenn man die Kritik betrachtet, die die Vertreter der >new quest< innerhalb der neutestamentlichen Wissenschaft auf sich gezogen haben. Diese Kritik wird noch einmal erheblich dort verschärft, wo sie auch gegen die ausufernde populäre Jesus- Literatur gerichtet wird, die auch das eine Parallelerscheinung zum 19. Jahrhundert derzeit auf dem Buchmarkt feilgeboten wird. 44 Freilich ist die Kritik nicht besonders originell, sondern wiederholt vor allem Schweitzers Monitum, nach dem religiöse Bedürfnisse und hi- 25 storische Forschung undifferenziert ineinanderfließen. Kurz: der Projektionsvorwurf wird erneuert.45 3. Zur methodischen Kritik an der gegenwärtigen Jesus-Forschung In der Tat wird man die aktuellen Jesus-Bilder nicht ganz von dem Verdacht freisprechen können, daß sie nicht in den Farben der Gegenwart gemalt wären. Ob der eher versöhnende statt spaltende Jesus von Theissen symbolpolitische Konflikte inszeniert, 46 der sozialreformerische Jesus von Marcus J. Borg das elitäre Wertesystem der damaligen Zwei-Drittel-Gesellschaft mit dem religiösen, ethischen und politischen Programm von »Compassion« beseitigen und mit »peace parties« befrieden will 47 oder hinter Sanders Rekonstruktion von J esu Stellung im Judentum eine moderne Theorie der Differenzierung von Ethos und Religion steht: stets scheinen aktuelle Konstellationen mitzuschwingen. Ganz zu schweigen von einigen populären Titeln, die über ihre projektive Tendenz schon im Titel Auskunft geben: »Jesus der erste neue Mann, 48 »Der Ur-Jesus. Die buddhistischen Quellen des Christentums« 49 oder »Jesus Christus Manager. Biblische Weisheiten für visionäres Management.« 50 Die bloße Wiederholung des Projektionsvorwurfs macht ihn jedoch nicht richtiger. Er wird vor allem dann unscharf, wenn man ihn auf den geschichtstheoretischen Diskurs bezieht, der von Droysen über Troeltsch bis hin zur gegenwärtigen Debatte über Narrativität und Geschichtsschreibung51 geführt wird. Erst vor diesem Horizont wird man das Problem des Verhältnisses der interpretierend erzählenden Subjektivität zu historischen Allgemeinbegriffen überhaupt klären können. Innerhalb dieses Kontextes hat Traugott Koch im Blick auf die Projektivität der historischen Jesus-Forschung eine wichtige Differenzierung angebracht. Danach ist eine Jesusdarstellung nur dann projektiv zu nennen, »wenn sie im Historischen ungebrochen wiederfindet, was in der Gegenwart für wahr und christlich erachtet wird«. 52 Dagegen könne sich »kein historisches Vorgehen ... vor jener projektiven Verzerrung absolut selbst schützen ... , vollzieht sich diese doch unbewußt und ist daher der Selbstkritik nie vollkommen zugänglich«. 53 Es bleibt also nichts anderes als die Projektivität einzudämmen. Der methodische Imperativ, den Koch empfiehlt, lautet: 26 »das Geschichtliche immer prägnanter als Geschichtlich-Selbständiges, also in seinem Eigengehalt, zu erkennen suchen«, 54 es als »unter Umständen Fremdartiges« 55 anzusetzen. Wendet man diese Differenzierung auf die Hauptvertreter der >dritten Runde, an, wird man sagen können, daß dieser Maxime durchaus Rechnung getragen wird. Allein das Bemühen, das damalige Judentum, das in kaum einer Weise dem heutigen entspricht, zu verstehen, erfordert ein hohes Maß an Einfühlung in eine fremde geschichtliche Welt. Daß dann die Pointierung des Jesus-Bildes auch projektive Züge enthalten muß, ist gar nicht zu vermeiden. Will man nämlich nicht bei einer positivistischen Konkordanz vermeintlich echter Jesus-Worte stehenbleiben, muß ein zusammenhängendes Bild dieses Jesus entworfen werden, das nicht mit einer Biographie zu verwechseln ist. Für dieses Bild ist die konstruktive Kombinationsgabe des Historikers ebenso erforderlich wie seine narrativen Fähigkeiten. Innerhalb dieses Entwurfes, darauf hat der Historiker Jörn Rüsen verwiesen, kommen empirische, normative und subjektive Triftigkeit des Erzählten ineinander zu stehen. 56 Nur nachträgliche Kritik kann die religiös affirmativen Anteile wieder hervorheben. 57 Überdies zeigt die Gegenprobe: Auch wo der historische Jesus ausschließlich nach der Kategorie der Fremdheit verstanden wird, sind projektive Mechanismen am Werk. Das kann man an Albert Schweitzers Jesus-Deutung erkennen, die den uns fremden konsequent-eschatologischen Jesus religiös verabschiedet, um die EthikJesu umso vehementer zu empfehlen. Oder, um ein aktuelles Beispiel zu nennen: Klaus Berger ruft uns zu, »daß uns Jesus so fremd und merkwürdig, so verdreht, verquer und so wenig modern vorkommen muß wie ein polnischer Jude des achtzehnten oder des neunzehnten Jahrhunderts«. 58 Polen gehört nun freilich zu den Ländern, die erst spät in den Genuß der europäischen Aufklärung gekommen sind. Und genau eine solch aufklärungsfremde Haltung nimmt Berger stets ein, wenn er in einer bekannten »Zeitung für Deutschland« seine konservative Zeitgeistkritik zum besten gibt. Auch das Fremd-Setzen wird von niemand anderem denn vom Historiker vorgenommen und ist damit eo ipso projektionshaltig. Der Durchgang durch die drei Phasen Jesus- Forschung zeigt, daß wenigstens bezüglich der historiographischen Erfassung einer religiösen Persönlichkeit Projektion und Fremdsetzung ebenso- ZNT 4 (2.Jg. 1999) wenig vollständig voneinander zu isolieren sind wie das religiöse Motiv von der historischen Neugier abzulösen ist. Beide sind methodisch differenzierbar und in gewisserweise auch kontrollierbar.Dieses Ergebnis ist für die Christologie bedeutsam. Hegel hat bekanntlich die These vertreten, nach welcher die Religion die Funktion habe, einem Volk die Definition dessen zu geben, was es für das Wahre hält. Wenn wir dem folgen, dann sind die religiös affirmativen Aspekte der historischen Jesus-Bilder nicht nur subjektive >Einschüsse<, sondern sie enthalten ihrerseits etwas Allgemeines. Sie sind Ausdruck eines bestimmten, sich religiös artikulierenden Wahrheitsbewußtseins, um dessen Begriff es der Dogmatik zu tun ist. Dazu zwei illustrierende Beobachtungen: Die je so ganz unterschiedlich akzentuierten Jesus- Bilder, die sich z. B. von dem jungen Luther an über den Pietismus und Schleiermacher bis hin zu Kierkegaard zeigen, sind ja auch nicht einfach als Projektionen zu erklären, sondern als Ausdruck der inneren Komplexität religiösen Verstehens, in das theoretische, praktische und historische Anteile eingehen und die nie bloß >subjektiv< sind. In Abschattung ist eine solche Komplexität auch bei vermeintlich populären Jesus- Büchern anzusetzen. Jüngst hat Kurt Nowak eindrucksvoll den von Schweitzer mit Hohn überzogenen Roman »La Vie de Jesus« von Ernest Renan in diesem Sinne interpretiert. Statt der von Schweitzer als » Wachsfigurenkunst« 59 abgetanen Jesus- Darstellung von Renan macht N owak ein »hochaggregierte[ s] Theoriefeld« 60 des Geschichts- und Religionsphilosophen erkennbar. Der Roman spiegelt eine Frömmigkeit, die die kirchlich-theologische Bindung hinter sich gelassen hat, um einen religösen Weg zwischen Dogmatismus und Skeptizismus zu beschreiten. Oder, um ein Beispiel aus der Gegenwart aufzugreifen. An Elisabeth Schüssler-Fiorenzas Jesus- Buch 61 tritt zweierlei exemplarisch hervor. Einmal die Tatsache, daß sich der historische Jesus noch immer gut eignet zur Einführung emanzipativer Programmatik, und sodann, daß dieser Jesus entsprechend komplex ist. Zeitdiagnose, kritische Hermeneutik der Lehrtradition und theologische Innovation, nämlich der Entwurf eines Modells der wo/ men-ekklesia als »Vision einer radikalen Demokratie in Gesellschaft und religiösen Institutionen«62 werden an einen Jesus angeschlossen, der als Prophet der Sophia innerhalb jüdischer ZNT 4 (2. Jg. 1999) Arnulf von Scheliha Kyniker, Prophet, Revolutionär oder Sohn Gottes? Weisheitstraditionen steht und dessen Bild uns auf verschlungene Weise von Jüngerinnen vermittelt wird. Der Auseinandersetzung mit diesen Thesen wird man sich nicht dadurch entziehen können, daß man den Projektionsvorwurf 63 wiederholt, schon deshalb nicht, weil die Autorin ihre Konstruktionen weitgehend durchsichtig macht. Interessanter wäre es, die von Schüssler- Fiorenza aufgebotene Basileia-Vision zurückzubinden und sie gerade in ihrer diesseitigen Akzentuierung als eine Radikalisierung des Reich- Gottes-Gedankens der liberalen Theologie zu würdigen. Anstatt also den Verlust des Deutemonopols dadurch zu kompensieren, daß man hier nur vor einer Vermehrung »des Elends der alten Leben- Jesu-Forschung«64 warnt und mit hohem Eindeutigkeitspathos einen vermeintlich >wirklichen< Jesus dagegenstellt, 65 halte ich es für angebrachter, die historischen Jesus-Bilder und grundsätzlich ebenso die populäre Jesus- Literatur oder etwa auch moderne Jesus- Filme 66 auf ihr offenes, verborgenes, vielleicht auch unkonventionelles und womöglich kritikbedürftiges religiöses Potential hin zu analysieren. Damit kehre ich zur Christologie zurück. Nimmt man diese in die Jesus-Bilder implizit oder explizit eingehende religiöse Gegenwartshermeneutik ernst, dann kann die Aufgabe der Christologie ohnehin nicht darin bestehen, ewige Wahrheiten zu dekretieren. Versteht man die Christologie, wie die Dogmatik insgesamt, mit Schleiermacher als eine historische Wissenschaft und entschränkt man den von Schleiermacher dafür namhaft gemachten kirchlichen Bezugsrahmen in Richtung auf eine Theorie der Religion in der modernen Gesellschaft, 67 dann würde, unbeschadet einer späteren gedanklichen Durchdringung des christologischen Stoffes, die Beschreibung von Jesu gegenwärtiger Bedeutung mit der Analyse aktueller Jesus-Bilder beginnen, als deren wissenschaftliche Gestalten die Ergebnisse historischer Jesus-Forschung gelten können. Für die Dogmatik hat also gerade das Überlagerungsverhältnis von religiösem Interesse und historischer Neugier in den aktuellen Jesus-Bildern die Funktion, die überlieferten Lehrformeln auf gesellschaftlich gelebte Religion beziehbar zu machen. Dies kann hier für diesen weiten Bereich nicht mehr geleistet werden. Wir beschränken uns daher auf die engere Aufgabe, in diesem Sinne die inhaltlichen Ergebnisse der >dritten Runde< für die Christologie auszuwerten. 27 4. Die gegenwärtige Bedeutung der >dritten Runde< für die Christologie Zunächst ist festzuhalten, daß nirgends mehr die Geschichtlichkeit Jesu bestritten wird. Die These von der Fiktionalität Jesu, die im 19. Jahrhundert zum Entlarvungsrepertoire der Religionskritik gehörte, ist heute kein Thema mehr. Dieser Befund ist für die Dogmatik deswegen wichtig, weil die personale Identifikation mit Jesus, die zum christlichen Glauben gehört, »auf ein reales lebendiges Leben zurückgehen muß, wenn sie innere Kraft und Wahrheithaftigkeit haben soll«. 68 Das intensive Interesse an Jesus- Bildern bis hinein in die Esoterik-Szene kann als empirischer Beleg für diese These Troeltschs gelten. Für den Entwurf eines historisch verantworteten Bildes J esu erscheinen die äußeren Rahmendaten seines Lebens gesichert. In grundlegenden Fragen der Datierung, der geographischen Lozierung, seines familiären settings, seiner Lebensweise und der Etappen seiner Wirksamkeit (erst Galiläa, dann Jerusalem) bis hin zum Kreuzestod herrscht weitgehend Einmütigkeit. Umgekehrt herrscht auch ein Konsens darüber, was man nicht weiß und was man angesichts der gegenwärtigen Quellenlage auch nicht wissen wird. So ist etwa die biographische Lücke bis zum Auftreten Jesu in Galiläa mit historischem Wissen nicht zu schließen. 69 Auch die Bestreitung des Kreuzestodes und die These eines Weiterwirkens Jesu in Indien oder anderswo ist historisch als abwegig zu bezeichnen. 70 Diese historische Feststellung ist nicht nur bezüglich der kritischen Auseinandersetzung mit der populären Jesus-Literatur wichtig, sondern auch mit Blick auf den christlich-islamischen Dialog. Gemeinsam ist der neuen Jesus-Forschung auch, daß sie sich skeptisch zu der Frage verhält, ob Jesus selbst christologische Hoheitstitel für sich beansprucht hat. 71 Während die liberale Jesus-Forschung insgesamt eher ,offensiv, war, ist man nun, vielleicht auch mit Rücksicht auf die jüdischen Forscher zurückhaltend. Aber auch hier mag durchaus ein religiöses Motiv mitschwingen. Denn vielleicht übertragen wir unsere Scheu, uns als religiöse Subjekte zu ,outen" einfach auf den historischen Jesus? Weiter ist innerhalb der ,dritten Runde, völlig unstrittig, daß der historische Jesus sich durch ein besonderes Gottesverhältnis auszeichnet. Von allen Forschern wirdJesu eigenes »Wissen um einen unvermittelten und intimen Kontakt zu seinem 28 himmlischen Vater« hervorgehoben. 72 Die Besonderheit nicht Einzigartigkeit von Jesu Gottesverhältnis wird mit dem Hinweis auf sein »vollmächtiges« Reden und Handeln begründet, 73 das sich in Jesu Thora-Auslegung, seinen Wundern, seinen Heilungen, seinem Verhältnis zu den >Outlaws, und seiner Tempelkritik widerspiegelt. Der historisch >gesicherte< Befund der Besonderheit von J esu Gottesverhältnis ist für die Theologie bedeutsam. Ihre Aufgabe besteht in der Entfaltung der unterschiedlichen Aspekte christlicher Lebensdeutung. Sofern sie sich vom vorneuzeitlichen Supranaturalismus verabschiedet hat, fußt sie methodisch auf einer Theorie der Religion, die die philosophischen und gesellschaftstheoretischen Begründungsprobleme sowie den kategorialen Rahmen klärt. Für die religionsphilosophische Begründung, die gesellschaftstheoretische Verortung und die dogmatische Entfaltung des christlichen Sinngefüges ist es nicht unerheblich, daß dessen zentrale Idee nicht nur ein gedankliches Konstrukt ist, sondern historisch angeschaut und an einem historisch verantworteten Bild Jesu >verifiziert< werden kann. Die Aufklärung über das eigene Gewordensein ist also ein konstitutives Element der kontrollierten christlichen Selbstreflexion in der Gegenwart. Das besondere Gottesverhältnis Jesu steht dabei für dasjenige historische Datum, das die >garstigen breiten Gräben< (Lessing) zwischen Vergangenheit und Gegenwart oder zwischen religionsphilosophischer Strukturtheorie und gelebter Religion überbrückt. Die Besonderheit seines Gottesverhältnisses gewinnt jedoch nur ein akzentuiertes Profil, wenn es innerhalb der Wirklichkeit des Jesu zeitgenössischen Judentums verortet wird. Wie unterschiedlich die gegenwärtigen Forscher Jesus in die damalige religiöse Zeitgeschichte auch einordnen: stets kommt Jesus als Exponent innerer Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen religiösen Strömungen des Judentums zu stehen. Der kritische Diskurs, der über dieses Problem zwischen den Historikern geführt wird, ist im vollen Gange. Das christologisch Bedeutsame an dieser offenen Lage ist, daß die auf den ersten Blick widersprüchlichen Jesus-Bilder den Sachverhalt abbilden, daß wir von J esu besonderem Gottesverhältnis nur Kunde haben im Modus perspektivischer Interpretation, interpersonaler Vermittlung und individueller Aneignung. Offensichtlich gab es ja unterschiedliche religiöse Milieus, in denen J esu Gottesverhältnis milieuspezifisch rezipiert werden konnte. Unbe- ZNT4(2.Jg.1999) schadet der bisher historisch ungelösten Frage, welches Milieu hier als das ursprünglichste anzunehmen ist: Fest dürfte stehen, daß Jesu Gottesverhältnis so rezipiert werden konnte, daß es in diesen unterschiedlichen religiösen Milieus als ein besonderes, >vollmächtiges, aufgefaßt, vermittelt und angeeignet werden konnte, mit dem Ergebnis, daß er in dem einen Milieu als rabbinischer Weisheitslehrer, im anderen als Interpret des Gesetzes, in einem weiteren als messianischer Verkünder des nahen Gottesreiches, als Arzt, Exorzist usw. gelten konnte. Geht man von dieser frühchristlichen Pluralität aus, dann scheint mir das etwa von Pannenberg benutzte christologische Entwicklungsschema von »implizit-explizit« 74 nicht mehr ohne weiteres brauchbar zu sein. Diese Denkfigur geht nämlich davon aus, daß die spätere kirchliche Christologie, die Trinitätslehre ebenso wie das Zwei-Naturen-Dogma, nur dasjenige explizieren, was im Auftreten des historischen Jesus der Sache nach keimhaft angelegt war. Entscheidende Stationen einer solchen, stets als christologische Sachlogik ausgewiesenen Denkform, sind dann regelmäßig die Auferstehungsberichte, die Präexistenzvorstellungen bei Paulus und Johannes und die triadischen Formeln, die im Neuen Testament gelegentlich begegnen. In Rücksicht auf die historische Breite der Möglichkeiten, Jesu Gottesverhältnis zu interpretieren, ist es nicht mehr einleuchtend, den im Neuen Testament sich abzeichnenden Trend zur kirchlichen Lehre als notwendigen Ausdruck einer »Tiefengrammatik« 75 zu bewerten. Vielmehr ist die Entwicklung zum kirchlichen Dogma als kontingent anzusehen. Wenn man nun, in Anwendung der Koch'schen Eigenwertigkeitsmaxime, die christlichen Milieus von >Q< und des >Thomas-Evangeliums, nicht mehr nur als Durchgangsstadien der reichskirchlichen Christologie teleologisch einebnet, sondern ernstnimmt, dann ist historisch mit Christologien zu rechnen, die ohne eine theologia crucis und ohne eine Auferstehungsvorstellung auskommen. Letzteres könnte auch für das vom Markusevangelium repräsentierte christliche Milieu gelten. Von diesem Befund ausgehend scheint es mir sehr fragwürdig, die gesamte Christologie von der Auferstehung her zu konstruieren. In systematischer Absicht halte ich fest: Christologie kann, aber muß nicht notwendigerweise, wie uns suggeriert wird, auf dem »Bekenntnis zur Auferweckung Jesu« 76 fußen, sondern bedient sich der religiösen Kraft der ZNT 4 (2. Jg. 1999) Arnulf von Scheliha Kyniker, Prophet, Revolutionär oder Sohn Gottes? Jesus- Bilder, wie sie in der Fülle der Möglichkeiten, sein Gottesverhältnis zu interpretieren, vorliegen. Neben dieser christologischen Auswertung der Selbständigkeit der unterschiedlichen frühchristlichen Milieus ist selbstverständlich auch der schon in >Q< erkennbare Trend zur Milieu-Synthese, der sich in den Evangelien des NT fortsetzt und verdichtet, zu würdigen. Die milieuspezifische Interpretation von Jesu Gottesverhältnis schritt fort, wurde in größere und wechselnde, dann in neue religiöse oder weltanschauliche Bezüge eingestellt und darin angeeignet, ließ mit Paulus die Grenzen des Judentums hinter sich und nahm, religionsgeschichtlich betrachtet, synkretistische Züge an. 77 Ich gehe jetzt nicht auf die Entwicklung der kirchlichen Lehre ein, sondern merke nur methodisch folgendes an: Das christologisch bedeutsame an dieser sukzessiven Entschränkung der Interpretation von Jesu Gottesverhältnis ist der Sachverhalt, daß die historischen Kontexte, in denen die Bedeutsamkeit von Jesu Gottesverhältnis beschrieben werden konnte, offenkundig verschiebbar sind. In dieser Perspektive bekommt der gegenwärtige Forschungsstand bezüglich des historischen Jesus auf die Gegenwart bezogenen, also dogmatischen Sinn. Denn offensichtlich haftet die Bedeutung von J esu Gottesverhältnis nicht an bestimmten Kontexten, sondern kann in neue, weltanschaulich differente Milieus verschoben, dort entfaltet und angeeignet werden. Diese Einsicht begründet einmal die universale Reformulierbarkeit der religiösen Bedeutung J esu in der Gegenwart und eröffnet theologische Innovationsmöglichkeiten. Zum anderen schärft dieser Befund die religionshermeneutische Analytik, der es um die Pluralität des gegenwärtigen Christentums zu tun ist. Denn neben der großkirchlichen Christologie werden wir aufmerksam auf vielleicht unkonventionelle Erregungen des christlich-frommen Gemütes, auf Umformungs- und Transformationsgestalten der christlichen Religion. Damit komme ich zum Schluß: Durch ihr differenziertes Geschichtsbild ist die historische Jesus-Forschung einerseits die auf Dauer gestellte Kritik jeder christologischen Eindeutigkeitsprätention, weil sie auf kontingente Sachverhalte verweist, wo Dogmatiker gern Notwendigkeiten sehen. Die Jesus-Bilder, die hier gezeichnet werden, sind Korrektive gegen großkirchliche Einheitsphantasien ebenso wie gegen die begriffliche Dürre dogmatischer Formeln. Sie vermitteln religiöse 29 Erhabenheit dort, wo wir oft nur kognitive Rekonstruktion christologischer Hoheitstitel finden. Selbstverständlich kann es andererseits keine direkte Steuerung der Dogmatik durch die Historie geben. Das kann schon deshalb nicht sein, weil wir, das lehrt die ,dritte Runde<, vor einer Pluralität von Jesus-Bildern stehen. Jedes Bild oszilliert zwischen Fremderfahrung und Identifikation. Historische und dogmatische Beschäftigung mit Jesus bedarf konstruktiver Energie gerade auch die Begründung und gedankliche Bewährung der religiösen Ideen des Christentums, von der hier nicht die Rede war. Der abermalige Verweis auf die Produktivität jedes Verstehensprozesses bedeutet auch, daß es ein abschließendes Bild vom historischen Jesus nicht geben wird, und das ist dogmatisch auch gar nicht erforderlich. Es kann und muß daher immer darum gehen, daß sich die jeweiligen Jesus- Bilder wechselseitig korrigieren. In dieser wechselseitigen Kritik von Geschichte und Dogmatik, Jesus und Christus mag man selbst noch einmal ein heilsames Moment entdecken. Denn unser unabgeschlossenes Bemühen um Jesus Christus, der den Bildern, die wir uns von ihm machen, stets transzendent bleibt, gleicht unserem Gottesverhältnis. In ihm erschließt sich Gott uns so, daß er als der uns Erschlossene zugleich der Andere bleibt. Anmerkungen 1 Leonardo Boff, Jesus Cristo libertador, Petr6polis 1972; (deutsch: Jesus Christus der Befreier, Freiburg i. Br. 1986 ). 2 Geza Vermes, Jesus der Jude. Ein Historiker liest die Evangelien, Neukirchen-Vluyn 1993. 3 Ed Parish Sanders, Sohn Gottes. Eine historische Biographie Jesu, Stuttgart 1996. 4 John Dominic Crossan, Jesus. Ein revolutionäres Leben, München 1996. 5 A.a.O., 553. 6 Vgl. Focus vom 25. Mai 1996; Der Spiegel vom 27. Mai 1996; Der Spiegel vom 24. Mai 1999. 7 Martin Bieler, Befreiung der Freiheit. Zur Theologie der stellvertretenden Sühne, Freiburg i. Br. 1996. 8 Ingolf U. Dalferth, Der auferweckte Gekreuzigte. Zur Grammatik der Christologie, Tübingen 1994. 9 Vgl. Albert Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu- Forschung, Tübingen 2 1913 (11906). 10 Rudolf Bultmann, Jesus, Tübingen 10 1988 (11926). 11 A.a.O., 13. 12 Vgl. Wilhelm Bousset, Jesus, Halle/ Saale 10 1904. Vgl. auch die skeptischen Bemerkungen von Paul 30 Wernle, Die Quellen des Lebens Jesu, Halle/ Saale 1904: »Wir können auf Grund dieser ältesten Quellen keine Biographie, kein sogenanntes ,Leben Jesu< schreiben. .. . Nicht an kostbarem geschichtlichen Einzelmaterial, an Bausteinen des Lebens Jesu fehlt es uns; sie sind in Fülle vorhanden. Aber der Bauplan ist uns verloren, gänzlich unauffindbar« (82f.). 13 Vgl. Wernle, Quellen, 83: »Aber der Bauplan ist uns verloren, gänzlich unauffindbar, weil schon den ältesten Jüngern nichts an einem solchen geschichtlichen Zusammenhang gelegen war, sondern vielmehr alles an den einzelnen Worten und Taten, sofern sie Glauben erweckten«. 14 Bousset, Jesus, 7. 15 A.a.O., 10. 16 Ernst Troeltsch, Die Bedeutung der Geschichtlichkeit Jesu für den Glauben, in: T. Rendtorff (Hg.), Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte, Gütersloh 1969, 132-162 (Erstdruck: 1911). 17 Paul Wernle,Jesus, Tübingen 1917. 18 Emanuel Hirsch, Jesus Christus der Herr, Göttingen 2 1929 (11926). 19 Vgl. Schweitzer, Geschichte, 4. 632. 20 Leopold von Ranke, in: W. Andreas (Hg.), Historische Meisterwerke Bd. 1, Hamburg 1957, 4. 21 Schweitzer, Geschichte, 4. 22 Traugott Koch, Die sachgemäße Form einer gegenwärtigen Beziehung auf den geschichtlichen Jesus - Erwägungen im Anschluß an Albert Schweitzers Kritik des christologischen Denkens, in: K.-M. Kodalle (Hg.), Gegenwart des Absoluten philosophisch-theologische Diskurse zur Christologie, Gütersloh 1984, 37-67: 37. 23 Wernle, Quellen, 1. 24 Schweitzer, Geschichte, 632. 25 A.a.O., 633. 26 Vgl. a. a.O., 232-235. 27 Ernst Käsemann, Das Problem des historischen Jesus, in: Ders., Exegetische Versuche und Besinnungen Bd. I, Göttingen 6 1970 (11954), 187-214: 199. 28 A.a.O., 201. 29 Ebd. 30 Vgl.a.a.O., 202f. 31 A.a.O., 202. 32 Vgl.a.a.O, 205. 33 Es wurde seinerzeit zur förmlichen Methode erhoben, Jesus »nicht der Darstellung spätjüdischer Frömmigkeit ein[zu]ordnen .... Er ist wohl Jude gewesen und setzt spätjüdische Frömmigkeit voraus, aber er zerbricht gleichzeitig mit seinem Anspruch diese Sphäre« (A.a.O., 206). 34 Günther Bornkamm, Jesus von Nazareth, Stuttgart u.a. 11 1977 (11956). 35 Übersichten bei: Tim Schramm, Die dritte Runde. Der historische Jesus im Spiegel der neueren Forschung, in: E. Brandt, P. S. Fiddes, J. Molthagen (Hgg.), Gemeinschaft im Evangelium. FS W. Popkes, Leipzig 1996, 257-280; Peter Müller, Trends in der Jesus-Forschung, in: ZNT 1 (1998) 2-16. ZNT4(2.Jg.1999) 36 »Die Quellen an sich sind nicht schlecht« (Schweitzer, Geschichte, 6). Nach Sanders »sind unsere Quellen für Jesus besser als die Quellen, die sich mit Alexander befassen« (Sohn Gottes, 19). 37 Vgl. Sanders, Sohn Gottes, 21. 38 Vgl. Julius Wellhausen, Einleitung in die drei ersten Evangelien, Berlin 1905, 65-68; 73-89. 39 Vgl. James M. Robinson, Die Bedeutung der gnostischen Nag-Hammadi Texte für die neutestamentliche Wissenschaft, in: Religious Propaganda and Missionary Competition in the New Testament World. Essays Honoring Dieter Georgi, Leiden 1992, 23-41. 40 Wellhausen, Einleitung, 113. 41 Vgl. Vermes, Jesus der Jude, 29f. 42 Gleichwohl sind auch die liberalen Jesus-Forscher zu ähnlichen Ergebnissen gekommen wie die heutige Jesus-Forschung. Man vergleiche etwa Crossans Charakteristik von J esu Leben mit derjenigen Boussets, der Jesus als ein Mittleres zwischen Prophet und Schriftgelehrtem/ Rabbinen bezeichnet (vgl. Jesus, 11.18), als ein »Meister des Gleichnisses«, der überdies als auf psycho-somatischer Basis kurierender »Arzt« Qesus, 23) und Exorzist (vgl. Jesus, 24) gearbeitet habe. Sein Wanderleben sei sukzessive zum Selbstzweck geworden und zeige »erste Ansätze eines neuen Gemeinschaftslebens« Qesus, 31). 43 Julius Wellhausen, Die Israelitisch-jüdische Religion, in: P. Hinneberg (Hg.), Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Ziele. Teil I Abt. IV. 1. Hälfte: Geschichte der christlichen Religion, Leipzig/ Berlin 1909, 1-40: 1. 44 Vgl. Roman Heiligenthal, Der verfälschte Jesus. Eine Kritik moderner J esusbilder, Darmstadt 1997. 45 So v. a. Heiligenthal, Der verfälschte Jesus, 18f.; 20; Klaus Berger, Wer war Jesus wirklich? , Stuttgart 1995, 9 und Müller, Trends, passim. 46 Vgl. Gerd Theissen, Jesus und die symbolpolitischen Konflikte seiner Zeit. Sozialgeschichtliche Aspekte der Jesus-Forschung, in: EvTh 57 (1997) 378-400. 47 Vgl. Marcus J. Borg, Jesus. A New Vision. Spirit, Culture and The Life of Discipleship, San Francisco 1987, 137-141; 190-200; (deutsch: Der neue Mensch, Freiburg i. Br. 1993). 48 Vgl. Franz Alt, München 1992. 49 Vgl. Elmar R. Gruber und Holger Kersten, München 1994. 50 Vgl. Laurie B. Jones, Wien 2 1997. 51 Vgl. etwa Pietro Rossi (Hg.), Theorie der modernen Geschichtsschreibung, Frankfurt am Main 1987. 52 Koch, Die sachgemäße Form, 39. 53 A.a.O., 44. 54 Ebd. 55 A.a.O., 40. 56 Vgl. Jörn Rüsen, Anmerkungen zum Thema Christologie und Narration, in: K.-M. Kodalle (Hg.), Gegenwart des Absoluten philosophisch-theologische Diskurse zur Christologie, Gütersloh 1984, 90- 96: 92f. 57 Vgl. Koch, Die sachgemäße Form, 44. ZNT4(2.Jg.1999) Arnulf von Scheliha Kyniker, Prophet, Revolutionär oder Sohn Gottes? 58 Berger, Wer war Jesus wirklich? , 10. 59 Schweitzer, Geschichte, 182. 6 ° Kurt Nowak, Symbolisierung des Unendlichen. Ernest Renan und sein Verhältnis zum Protestantismus, ZKG 109 (1998) 59-79: 72. 61 Elisabeth Schüssler Fiorenza, Jesus - Miriam's Child, Sophia's Prophet. Critical issues in Feminist Christology, New York 1994; (deutsch: Jesus - Miriams Kind, Sophias Prophet. Kritische Anfragen feministischer Theologie, Gütersloh 1997). 62 A.a.O., 51. 63 Vgl. Heiligenthal, Der verfälschte Jesus, 21. 64 Jürgen Becker, Jesus von Nazaret, Berlin/ New York 1996, 3. 65 Vgl. das diesbezügliche Pathos etwa bei Berger, Wer war Jesus wirklich? und bei Gerd Lüdemann, Der große Betrug. Und was Jesus wirklich sagte und tat, Klampen 1998 (mein Hinweis; AvS) 66 Vgl. Stefan Alkier, Wunder Punkt Jesus-Film, PTh 86 (1997) 167-182. 67 Vgl. Arnulf von Scheliha, Reflexion der Religion. Theologie dient dem Sichverstehen der Gesellschaft, EK 30 (1997) 353-356. 68 Troeltsch, Geschichtlichkeit J esu, 151. 69 Vgl. Heiligenthal, Der verfälschte Jesus, 101-105; John Farman, Jesus die Teenagerjahre, Wien 1998. 70 Vgl. Heiligenthal, Der verfälschte Jesus, 105-108. 71 Nach Bernhard Duhm, Das kommende Reich Gottes, Tübingen 1910, sieht sich Jesus als Bringer des Gottesreiches und rechnet mit seiner Parusie. Bousset vermutet, daß Jesus sich als Messias betrachtet und sich als »Menschensohn« Qesus, 96) bezeichnet hat. Viele gegenwärtige Forscher stimmen überein in der Auffassung, daß Jesus sich nicht als Messias angesehen hat (vgl. Eduard Schweizer, Jesus, das Gleichnis Gottes. Was wissen wir wirklich vom Leben J esu? Göttingen 2 1996; ähnlich optieren Theissen, Vermes, Becker). Anders Sanders, Berger und Howard Clark Kee (Was wissen wir über Jesus? , Stuttgart 1993). 72 Vermes, Jesus der Jude, 194; vgl. 235-251. Sanders bringt den Sachverhalt auf den neuzeitlichen Begriff der Autonomie: »Jesus war ein charismatischer und autonomer Prophet« (Sohn Gottes, 348). 73 Vgl. Sanders, Sohn Gottes, 331. 344. 348 f. 74 Wolfhart Pannenberg, Grundzüge der Christologie, Gütersloh 2 1966, passim. 75 Dalferth, Der auferweckte Gekreuzigte, 115. 76 Ebd. 77 Vgl. Hermann Gunkel, Zum religionsgeschichtlichen Verständnis des Neuen Testaments, Göttingen 1903. 31