eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 2/4

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
121
1999
24 Dronsch Strecker Vogel

Empfänger unbekannt verzogen?

121
1999
Dirk Frickenschmidt
znt240052
Dirk Frickenschmidt Empfänger unbekannt verzogen'? - Ergebnisse empirischer Glaubensforschung als Herausforderung für die neutestamentliche Hermeneutik »Es ist Euch gelungen das irdische Leben so reich und vielseitig zu machen, daß Ihr der Ewigkeit nicht mehr bedürfet, und nachdem Ihr euch selbst ein Universum geschaffen habt, seid Ihr überhoben an dasjenige zu denken, welches Euch schuf.« 1 Zweihundert Jahre nach dieser Diagnose Schleiermachers bietet unsere moderne Industriegesellschaft nicht mehr nur gebildeten Religionsverächtern, sondern der Mehrheit der Menschen eine Vielzahl an Möglichkeiten, den zwei J ahrtausende lang mehr oder weniger prägenden Glauben an den Gott, dem Christen seit jeher die ganze Welt als Schöpfung, ihr Leben und eine heilvolle irdische wie himmlische Zukunft zu verdanken meinten, links oder rechts am Wegrand eines temporeichen und ganz und gar irdischen Lebensstils liegen zu lassen. Ein scheinbar selbstgenügsamer Reichtum an materiellen Gütern, an gesellschaftlichen Entfaltungsmöglichkeiten, an wissenschaftlichen Erkenntnissen und an verschiedensten Freizeit-Angeboten lädt viele dazu ein, den in die Jahre gekommenen christlichen Glauben von Generation zu Generation weniger zu beachten oder gar zu vergessen. Und die Schattenseiten dieses Reichtums lehren andere offenbar eher resignieren als beten. Auch wenn der alte Glaube trotz regelmäßiger, an seinem Ableben höchst interessierter Nachrufe, alles andere als verschwunden oder kurz vor dem Verschwinden begriffen ist, so ist er doch ganz sicher für immer mehr Menschen unselbstverständlich, undeutlich und fragmentarisch geworden, scheint nur noch diffus glaub- und lebbar zu sein. Auf Rückfrage zeigt er sich heute jedenfalls in Auffassungen und Formen, die nur noch sehr begrenzt mit seinen lange ausgeprägten kirchlichen Traditionen zu tun haben. Das zeigen Ergebnisse empirischer Glaubensforschung, von denen noch ausführlich die Rede sein soll. Schleiermacher reagierte auf die ihm begegnende Religions-Distanz, auf Verstehensprobleme und Glaubensvergessenheit unter den Gebildeten seiner Zeit mit einem prägnanten hermeneutischen Programm. Seither hat sich die Hermeneutik fächerübergreifend zu einer immer wichtiger 52 werdenden Disziplin entwickelt, in der es einerseits darum geht, grundlegende Bedingungen von Nichtverstehen und Verstehen zu klären (universale Hermeneutik) und andererseits darum, Verstehenshindernisse gegenüber bestimmten Texten und Textgruppen durch angemessene Formen von Annäherung zu überwinden (materiale Hermeneutik). Beide Aspekte der Hermeneutik haben in erster Linie den tatsächlichen oder möglichen aktuellen Adressaten mehr oder weniger fremder Texte 2 zu dienen. Das gilt auch für die neutestamentliche Hermeneutik, obwohl sie zunächst als bloße Hilfslehre zur Auslegung verbindlicher religiöser und rechtlicher Texte entstanden ist und dabei durch außertextliche Instanzen unzulässig normiert worden ist. Die Aufgabe neutestamentlicher Hermeneutik besteht aber weder darin, um jeden Preis die Bedeutung vermeintlich zeitlos gültiger oder wichtiger Texte gegenüber beliebigen Adressaten zu behaupten, noch darin, die Bedeutung einer vermeintlich zeitlos gültigen »Sache« durch entsprechende Interpretation wichtig genommener Texte zu sichern. Statt dessen ist in aller Nüchternheit die Evidenzfrage gestellt: Können neutestamentliche Texte, sobald mit Hilfe hermeneutischer Arbeit Verstehenshindernisse überwunden werden, die Lebens-Situation ihrer möglichen Adressaten (nicht nur als Individuen, sondern auch als Teil von Lebensgemeinschaften) evident erhellen und bereichern? Das können nach hermeneutischer Vermittlung dann aber nur die Adressaten für sich - und nicht die Hermeneuten für sie beantworten. Jesus selbst hat sich solchen Evidenzfragen des Herzens und Leibes und Kopfes von Menschen nicht entzogen. Er hat oft durch irritierendes Verhalten oder scharf rückfragend evident gehandelt und geredet und dabei Scheitern als Risiko in Kauf genommen, ohne die Hilfe eines erhöhten Podestes kirchlicher oder wissenschaftlicher Autorität. Umso wichtiger ist es für neutestamentliche Hermeneuten, der Frage nach Evidenz gerade neutestamentlicher Texte nicht auszuweichen und »dem Volk« im Blick auf die von ihm wirklich gestellten Fra- ZNT 4 (2.Jg. 1999) Dirk Frickenschmidt Dirk Frickenschmidt, Jahrgang 1954, nach Assistenzvikariat an der kirchlichen Hochschule Wuppertal seit 1989 pfarrer in Barmen. Promotion 1997 in Heidelberg gen nicht nur »aufs Maul« (Luther), sondern so weit das überhaupt möglich ist durch Gespräch und Nachfrage auch in den Kopf und das Herz zu schauen. Sonst scheitert das hermeneutische Bemühen, mögliche Verständnisebenen zwischen relativ fremden Texten und ihren heutigen Lesern und Hörern zu ermitteln und zu klären. Eine unter vielen Möglichkeiten, sich der Lebens- und Glaubenswelt der Zeitgenossen zu nähern, besteht heutzutage in den auf Meinungs- Umfragen beruhenden Ergebnissen empirischer Glaubensforschung. Seit kirchliche Sozialisation immer weniger selbstverständlich geworden ist, und spätestens, seit mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten der Bevölkerungsanteil der Christen in Deutschland jäh von 84 % auf 72 % gesunken war, fanden verstärkt Umfragen zu Glaubensinhalten und zur Kirchenzugehörigkeit in Deutschland statt. Unter der Schlagzeile »Abschied von Gott« 3 die mit den tatsächlichen Ergebnissen der zugrunde gelegten EMNID-Umfrage in merkwürdiger Spannung stand führte Der Spiegel 1992 noch eher boulevard-flache Religions- und Kirchengeringschätzung im empirischen Mäntelchen vor. Aber es folgten weitere Untersuchungen, deren Ergebnisse zu denken geben. Von evangelischer Seite erschienen wenige Jahre später die Ergebnisse der dritten EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft. 4 Sie betreffen vor allem Aussagen zur Kirchenzugehörigkeit, berühren aber am Rande auch inhaltlichen Glaubensfragen (z.B. zur Bedeutung der Bibel für die Adressaten). Die gründlichste und am besten aufgearbeitete Studie zu aktuellen Glaubensinhalten ZNT 4 (2.Jg. 1999) Dirk Frfokenschmidt Empfänger unbekannt verzogen? hat K.-P. Jörns vorgelegt. 5 Die Ergebnisse einer weiteren EMNID-Umfrage hat Das Sonntagsblatt kurz besprochen. 6 Im Artikel »Nur noch christentümlich«7, stellte das Magazin Focus kürzlich die Ergebnisse einer Umfrage des Data Concept Instituts vom März 1999 vor, in denen ebenfalls nach Glaubensinhalten gefragt wurde. Kommentiert wurden die Ergebnisse dort vom Soziologen M. N. Ebertz und von K. Lehmann, dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz. Im folgenden wird in erster Linie auf die Studie von K.-P. Jörns Bezug genommen; Ergebnisse der anderen Untersuchungen fließen ein. Dabei geht es vor allem um die Ergebnisse, die unmittelbar Kerninhalte christlichen, neutestamentlich geprägten Glaubens betreffen. Jörns unterscheidet vier Gruppen von Menschen: die Gottgläubigen (die glauben, daß es einen persönlichen Gott gibt), die Transzendenzgläubigen (die diesen Glauben nicht teilen, aber an transzendente Wesen oder Mächte glauben), die Unentschiedenen (die sich nicht positiv festlegen, aber die erstgenannten Möglichkeiten für sich auch nicht ausschließen wollen), und die Atheisten (die beide erste Möglichkeiten definitiv ablehnen). Gott in dichtem Nebel? Es mag manche wundern: Atheismus und Unentschiedenheit gegenüber der Gottesfrage sind unter Deutschen bis heute Überzeugungen von Minderheiten geblieben. Noch laut der neuen FOCUS- Umfrage von 1999 glauben 65 % in irgend einer Weise an Gott. Die Betonung liegt dabei allerdings auf »in irgendeiner Weise«. Denn alle Untersuchungen stimmen darin überein, daß das zugrundeliegende Gottesbild in höchstem Maße vielfältig, vieldeutig und stellenweise ausgesprochen diffus und widersprüchlich ist. An Gott als persönliches Gegenüber glaubt je nach Umfrage bzw. Fragestellung nur noch ein knappes Fünftel (DS 1997: 17% bejahen Gott als Ansprechpartner für direkten Austausch) bis hin zu einem guten Drittel aller Befragten Qörns 1997: in den Basis- Bezirken bejahen unter allen Befragten 38% den »Glauben, daß es einen persönlichen Gott gibt«). Die allgemeinere Frage bei Jörns bejahen immerhin noch 65% der Katholiken und 54% der Protestanten. Dennoch führt letzteres wohl oder übel »zu der Einsicht, daß sich hier ein deutlicher Bruch mit der Tradition vollzieht. Denn wenn irgendetwas die Protestanten ausgezeichnet hat, 53 dann eine »Reichsunmittelbarkeit« im Gottesverhältnis.« Qörns 1997, 41). Auf die konkretere Frage des Sonntagsblatts (s. o.) ergab sich sogar: »Selbst unter den regelmäßigen Kirchgängern sieht nur jeder dritte Gott als persönliches Gegenüber« (DS 1997). Diese Zahlen wundern vielleicht nicht mehr ganz so sehr, wenn man erstaunt erfährt, daß auch unter evangelischen Pfarrern und Theologiestudenten diese Basisüberzeugung christlichen Glaubens selbst in der allgemeineren Formulierung (s. o.) nicht mehr von allen bejaht wird G örns 1997, 39: bejaht von 92 % der Ffarrer Ost, 87 % der Pfarrer West und 82 % der Theolgiestudenten). J örns weist darauf hin, daß eine Korrelation zu familiären Beziehungen erkennbar ist: »Der Glaube an den persönlichen Gott hat in der Familie und vor allem den älteren Alleinlebenden, unter ihnen vielen Witwen und Witwern, noch einen relativ festen Platz. Bei den Partner- Typen und bei den jüngeren Alleinlebenden dagegen überwiegt die Ablehnung dieser Gottesvorstellung, und das gilt besonders für die Männer unter ihnen.« Qörns 1997, 44). Es zeigt sich, daß menschliche Beziehungen zu Partnern, Freunden und Familie meist viel wichtiger genommen werden als die Beziehung zu Gott: sie wird von nur gut einem Drittel der konservativeren Landbevölkerung und von weniger als einem Fünftel der befragten Städter als besonders wichtig erachtet. Selbst unter den evangelischen Pfarrern geben nur 73 % der Beziehung zu Gott hohe Priorität (a. a. 0. 239). Dabei scheint die Gottesbeziehung eher Pflicht als Glück zu bedeuten. Denn die Möglichkeit »Glück ist für mich: Gottesbeziehung« haben nur 8 % der befragten Pfarrer mit Ja beantwortet. Vielleicht ist kein anderes Umfrageergebnis so negativ bedeutsam wie dieses. Andere mögliche Antworten hatten für die Pfarrer großen Vorsprung, wie z. B. 73 % Ja zu: »Glück ist für mich: Beziehung zu Menschen« (ebd.). Dieselben Pfarrer geben nur zu 47 % im Westen und zu 63 % im Osten an, sich in persönlichen Krisen um Rat und Hilfe an Gott zu wenden, während 84 % / 77 % sich an den Partner oder die Partnerin und 73 % / 54 % sich an einen Freund oder eine Freundin wenden würden (a. a. 0. 240). Leben heutige »Geistliche« demnach wie andere als nur noch gegenüber Menschen Beziehungsfreudige und Beziehungsbedürftige, aber zugleich spirituell bettelarme Menschen, ganz ohne die anstekkende Freude Jesu oder mancher Psalmen an der Beziehung zu Gott? Solange es keine plausiblere Erklärung oder neue Umfrageergebnisse gibt, 54 bleibt nur das Fazit, daß der erste und tragende Teil des Doppelgebotes der Liebe seine erfüllende Dimension in den Herzen der Menschen einschließlich der Pfarrer verloren hat. Auch materielle Armut und Randständigkeit inmitten einer Wohlstandsgesellschaft hindert anscheinend an einer persönlichen Beziehung zu Gott: Arbeitslosen fällt sie jedenfalls deutlich schwerer als Berufstätigen (a. a. 0. 45). Die gesamte personale Gottesvorstellung befindet sich nach all dem in einer sich schnell zuspitzenden Krise, ebenso wie die Bedeutung, die einer entsprechenden Beziehung zu Gott beigemessen wird. Wenn auch keineswegs als diffuse Kraft oder Macht, so scheint Gott doch als ansprechbares oder gar beglückendes Gegenüber - und damit eine der Grundvoraussetzungen jüdischen und christlichen Glaubens in rapidem Tempo aus den Herzen und Köpfen von Menschen zu verschwinden. Für viele steht der Gott, an den sie glauben, dabei nicht nur in unklarer oder gar keiner Beziehung zu Menschen, sondern zur menschlichen Wirklichkeit insgesamt. Wenn nur noch 47 % der Gottgläubigen und 73 % der Pfarrer Ja sagen können zu dem Satz »Gott erschuf die Welt« (Focus 1997), dann hat das natürlich auch Folgen für die Art der Beziehung zwischen Gott und Menschen. Sprechen ein Viertel der evangelischen Pfarrer zusammen mit einer erheblichen Zahl von Kirchenbesuchern demnach den ersten Satz des Glaubensbekenntnisses jeden Sonntag gegen eigene Überzeugung mit? Wohlgemerkt: hier geht es nicht um schon länger umstrittene Topoi wie die Jungfrauengeburt, sondern um die Basis des traditionellen Gottglaubens, und das nicht unter Gnostikern, sondern unter evangelischen und katholischen Christen. Das wirft die Frage auf: Wie steht es insgesamt um die kosmologischen Vorstellungen heutiger Christen? Sind sie in krassem Gegensatz beispielsweise zur Kosmologie der atl. »Priesterschrift« oder zu Jesu selbstverständlichem Gottesbild von Gott als Schöpfer und Vater inzwischen so unklar geworden, daß es vielen Menschen zunehmend weniger möglich erscheint, Gott und Welt auf der Höhe zeitgenössischer Auffassungen und Kenntnisse im Verhältnis von Schöpfer und Geschöpf zusammen denken und empfinden zu können? Einern Gott, der folglich weder Schöpfer noch Herr im Haus ist, meinen dann selbst Gottgläubige nur noch in begrenzter Zahl Rechenschaft schuldig zu sein, nämlich nur 47% (ebd., gegenüber der Aussage »Der Mensch ZNT 4 (2.Jg. 1999) muß sich vor Gott verantworten«). Und unter den befragten Pfarrern waren es gerade mal 73 % (ebd). Das Verschwinden des Himmels Gott hat in den Augen vieler Menschen anscheinend auch eine eigene Dimension, jenseits der uns Menschen unmittelbar zugänglichen, verloren. Unter den Transzendenzgläubigen und Unentschiedenen meinen ohnehin nur noch verschwindende 5 % und 7 %, daß Gott bzw. transzendente Mächte »im Himmel« zu finden seien. Es ist nicht klar, ob dabei die (unter Konfirmanden noch erstaunlich verbreitete) Unfähigkeit, »sky« und »heaven « zu unterscheiden, eine Rolle spielt. Gegen eine solche Deutung spricht aber, daß die Zahl derer in beiden Gruppen, die statt dieser traditionellen Ortsbezeichnung »in einer anderen Welt« als Ort Gottes bejahen, kaum größer ist (11 % und 7 % ). Was am meisten überrascht, ist wieder die geringe Zahl der Gottgläubigen, die traditionelle Sichtweisen teilen: Nur 28 % glauben an einen Gott im Himmel (von »einer anderen Welt« spricht hier keine nennenswerte Anzahl; Jörns 1997, 81). Statt dessen ist Gott für 40% der Gottgläubigen, 36 % der Transzendenzgläubigen und 31 % der Unentschiedenen »im Menschen« oder (für nur 11 % der Gottgläubigen, aber 30 % und 26 % in den beiden anderen Gruppen) »in der Natur« anzusiedeln. Oder er wohnt in einer Himmel und Erde offenbar nicht mehr unterscheidenden Weise - »überall« (so 59 % der Gottgläubigen, 48 % der Transzendenzgläubigen und 27 % der Unentschiedenen; ebd). Die zugespitzte Alternativ-Aussage »Gott hat nicht mit dem Himmel, sondern mit diesem Leben zu tun«, wird von 32 % der Ffarrer bejaht (a. a. 0. 234). Andererseits scheint es für Gott nur eingeschränkt möglich zu sein, dann wirklich mit diesem Leben zu tun zu haben und auf der Erde etwas zu tun. Jedenfalls meinen 36 % eben dieser Pfarrer, er könne nur über Menschen hier eingreifen (a. a. 0. 233). Nur 25 % von ihnen meinen, daß er auf der Erde »direkt eingreifen« könne, noch unterboten von der Auffassung der anderen Befragten mit Werten um 7% (Stadtbezirke) und 12 % (Landbevölkerung; a. a. 0. 232). Bedeuten solche Ergebnisse nicht, daß eines der Zentren der Verkündigung Jesu und des christlichen Glaubens seine Evidenz zu verlieren droht, nämlich die Grundüberzeugung einer fruchtbaren und wirksamen(! ) ZNT 4 (2.Jg. 1999) Dirk Friclumschmidt Empfä.nge! ' unbekannt verzogen? Spannung zwischen der verborgenen Wirklichkeit des »Reiches Gottes« bzw. »Himmelreiches« und der sichtbaren Menschenwirklichkeit? Wird der Himmel als besondere Sphäre göttlicher Wirklichkeit schlicht in die Begrenztheit der menschlichen Lebenswelt eingemeindet, statt ihm umgekehrt zuzutrauen, unsere scheinbar festgefügte Realität tatsächlich bewegen und verändern zu können? Und kann er so seine kritische, orientierende und heilvolle Bedeutung ihr gegenüber behaupten? Oder droht der das Christentum prägende Glaube an Gottes ureigene Wirklichkeit zu einer Art Glaube an eine angepaßte innermenschliche und zwischenmenschliche Kuschelzone zu verkommen, die man kaum noch Himmel nennen kann? So wie der Himmel als ureigene, andere Dimension Gottes ist auch der Glaube an ein Leben nach dem Tod nicht mehr mehrheitsfähig. Unter den Befragten in den Basis-Bezirken antworteten 28 %, daß nach diesem Leben gar nichts mehr komme, 34 % machten keine Angabe und nur ein gutes Drittel (38 % ) stimmten für ein »anderes/ nächstes Leben« (a. a. 0. 177). Unter Evangelischen teilen noch 50 %, von den Katholiken 55 % den Glauben an ein anderes, kommendes Leben (zum Vergleich: befragte Muslime bejahten das zu 67 % und Religionslose zu 18 %; Frauen mit 45 % sehr viel häufiger als Männer mit 31 %; a. a. 0. 179). Selbst unter Pfarren teilen nur noch um 80 % diesen Glauben, und unter Gottgläubigen wird eher an eine unsterbliche Seele (30 % ) als an eine Auferweckung durch Gott (22 % ) geglaubt. 8 Jesus als Randfigur und die Bibel als unbenutztes Buch? Nach der J örns-Befragung scheint Jesus als Leitfigur gelingenden Lebens nahezu verschwunden zu sein. Wenn nur noch 21 % der befragten Pfarrer bejahen, daß Jesus »ein wichtiges menschliches Vorbild für mich ist«, während gleichzeitig fast die Hälfte dieser Pfarrer das für religiöse Gestalten und Heilige und auch mehr als ein Drittel für Freiheits- und Widerstandskämpfer bejahen Qörns 1997, 230) dann muß man zwar sicher mit der Deutung vorsichtig sein. Es könnte ja sein, daß Jesus für die Befragten mehr als nur ein »menschliches« Vorbild ist (für knapp zwei Drittel unter ihnen ist Jesus immerhin noch ein Gottesname; Jörns 1997, 230), und daß sie bei Jesus eher an Themen wie Gottessohnschaft, Kreuz 55 und Erlösung denken. Weiter unten wird sich aber zeigen, daß diese Erklärung kaum in Frage kommt, da auch diese Konnotationen relativ schwach ausgeprägt sind. Andererseits könnte die geringe Zustimmung mindestens teilweise dadurch bedingt sein, daß Jesus mit großen Teilen der Theologie dieses Jahrhunderts gegenüber dem übergroß gemalten moralischen Vorbild des 19. Jh. zur diffusen Glaubens-Chiffre ohne signifikante biographische Kontur geschrumpft ist. In diesem Fall wäre Jesus als Vorbild (und vielleicht zugleich die Bedeutung der Jesus-Nachfolge? ) heute weitgehend aus dem Blick geraten oder gar unkenntlich geworden. Letzteres wird durch die Angaben der Laien zur Frage durchaus wahrscheinlicher: nur noch für 2-3 % der befragten Stadtbevölkerung und 4-5 % der Landbevölkerung ist Jesus wichtiges menschliches Vorbild (a.a.O. 256). Hier erreichen Größen der Geistes- und Kulturgeschichte sowie Eltern und Menschen aus dem nahen Umfeld um ein vielfaches höhere Zustimmungswerte (ebd.). Nicht nur, wer Jesus war und was er vorgelebt hat, ist offenbar für viele aus dem Blick geraten, sondern auch, was er gesagt hat. Auf die Frage, was ihnen zu Jesus einfalle, entschieden sich nur 21 % der Pfarrer und 10-15 % in den übrigen befragten Gruppen unter den Antwortangeboten für »Verkündigung Jesu«, dagegen immerhin 39% der Pfarrer und 23-28 % der anderen befragten Gruppen für »Kreuz, Erlösung, Vergebung«. Aber 50 % der Pfarrer und ungefähr ein Drittel der Laien dachten beim Stichwort Jesus eher an die »Wirkungsgeschichte des Christentums« (ebd. 255)9. Laut EKD-Studie meinten nur 52 % der westlichen und 40 % der östlichen Evangelischen, es gehöre unbedingt zum Evangelisch-Sein, sich an der Botschaft J esu zu orientieren (EKD 1997, 369). Wenn selbst von evangelischen Christen die Bibel nicht mehr als kennzeichnend für ihren Glauben betrachtet wird, läßt das eine noch viel größere Distanz in der Gesamtbevölkerung erahnen. Auf die entsprechende Frage, was unbedingt zum Evangelisch-Sein gehöre, bekamen Antworten wie »daß man getauft ist«, »daß man seinem Gewissen folgt« oder »daß man sich bemüht, ein anständiger und zuverlässiger Mensch zu sein«, hohe Zustimmungswerte zwischen 77 % und 91 %. Aber »daß man die Bibel liest« hielten nur 21 % der westlichen und 32 % der östlichen Evangelischen für ein unbedingtes Kennzeichen evangelischer Identität (ebd. ). 56 Geborgenheits-Sehnsucht statt Suche nach Heil und Erlösung Die zentrale Heilskategorie heutiger Menschen, das wird aus der Jörns-Studie deutlich, ist nicht mehr die der Erlösung von Sünde zugunsten zeitlichen und ewigen Heils, sondern auch unter Pfarrern die rein immanente Dimension menschlicher Geborgenheit. Entsprechend wird Erlösung in erster Linie von irdischen Problemen gesucht. So halten 41 % Erlösung von Unfrieden und Hunger für nötig, 36 % vom Streben nach Macht und 26 % von unheilbaren Krankheiten, aber nur 14% »vom sündigen Wesen«. Unter den Gottgläubigen wird letzteres immerhin noch von 31 % bejaht (Jörns 1997, 174). Selbst unter Pfarrern ist die Zustimmung aber auf eine knappe Mehrheit gesunken, unter Theologiestudenten gar auf 40 % . »Das ist vom Standpunkt der in beiden christlichen Kirchen gültigen Erlösungslehre ... als eine schwere Erschütterung des Fundaments zu werten.« (a.a.O. 175). Das gilt umso mehr, wenn nur noch 35 % der Gottgläubigen und 67 % der evangelischen Pfarrer überhaupt bejahen, daß Gott uns unsere Sünden vergeben kann (Focus 1997). Dieser flächendeckenden Säkularisierung traditioneller Heilsvorstellungen entsprechen umgekehrt auch die Erwartungen an Kirche. »Klar voran steht die Erwartung Sie soll sich um Alte, Kranke und Notleidende kümmern« (48 %; Jörns 1997, 188). Dagegen erwarten nur 34 % der Befragten in den Basisbezirken (und z. T. noch weniger in anderen Bezirken) überhaupt, daß Religionsgemeinschaften für Glaubensdinge da sein sollten. Empfänger unbekannt verzogen? In den oben genannten Zahlen und Beobachtungen geht es nicht um Erbsenzählerei. Statt dessen zeigen sich in ihnen zahlreiche Symptome einer sehr weit fortgeschrittenen, nicht nur Details betreffenden, sondern nahezu flächendeckenden Verstehens-Störung zwischen den im Neuen Testament zum Ausdruck kommenden Überzeugungen Jesu und früher Christen und den tatsächlichen oder möglichen heutigen Empfängern dessen, was die neutestamentlichen Texte zu sagen haben. Dabei wird die Vermittlung neutestamentlicher Themen durch dogmatische und kirchliche Traditionen inzwischen nur noch von einer immer kleiner werdenden Minderheit akzeptiert. ZNT 4 (2.Jg. 1999) Seit vielen Jahren hat der theologische Wissenschaftsbetrieb beider großer Konfessionen eine Fülle beachtlicher Arbeits-Ergebnisse auch und besonders auf exegetischem Gebiet hervorgebracht, die eigentlich zum Nutzen aller über PfarrerInnen und Lehrerlnnen weiterverbreitet werden sollten. Wenn es dennoch zu einer derartig tiefgreifenden Verstehensstörung kommt, dann muß unbedingt nach ihren Ursachen gefragt werden. Neben gesellschaftlichen, nicht oder nur sehr begrenzt von der Theologie zu verantwortenden Veränderungen wäre es ja auch möglich, daß in der zeitgenössischen Exegese und Hermeneutik Fragen beantwortet werden, die sich die oben befragten Menschen, einschließlich der Pfarrer und Lehrer, so nicht stellen. Und umgekehrt könnte es sein, daß viele dieser Menschen dringend Antwort auf Fragen erwarten, um die sich Exegeten und Hermeneuten wenig oder gar nicht kümmern. Neben einer verschiedenen Auswahl der als relevant betrachteten Fragen und Themen könnte es dabei auch sein, daß auch die Art der Vermittlung der Lebenswelt und den Lebensperspektiven der Empfänger nicht genügend Aufmerksamkeit schenkt. Und schließlich ist es möglich, daß der Reichtum dessen, was neutestamentliche Texte zu sagen haben, aus verschiedenen Gründen von Exegeten selbst in zu geringem Maß wahrgenommen oder auf wenige, meist stark intellektualisierte Lieblingsvorstellungen, reduziert wird. In jedem Fall ist zu fragen: Ist inzwischen eine Situation eingetreten, bei der die Erträge neutestamentlicher Theologie die Empfänger nicht mehr erreichen, weil die sozusagen längst mit unbekannter Adresse verzogen sind? Schreiben Exegeten und Hermeneuten sich seitdem unverdrossen nur noch gegenseitig ins Poesiealbum, was sie innerhalb des Universitätsbetriebes für relevant oder für imposant halten? Wenn das der Fall sein sollte, dann ist als erstes die neutestamentliche Hermeneutik gefordert. Sie muß neu nach den Gründen für das intensive Nichtverstehen fragen, sie muß die Perspektiven und offenen Fragen der Empfänger neu in den Blick nehmen und in geeigneter Form an die Exegese stellen, und sie muß schließlich neu Verständigungsmöglichkeiten erkunden, die sowohl loyal mit neutestamentlichen Texten 10 als auch solidarisch mit heutigen Empfängern umgehen. Auch für die neutestamentliche Hermeneutik ist deshalb zunächst zu fragen, wo sie sich eigentlich zur Zeit befindet. Das kann auf begrenztem Raum nur in einigen Grundzügen skizziert werden. ZNT 4 (2.Jg. 1999) Dirl< Fricl<enschmidt Empfänger unbekannt verzogen? Verstehen ist mehr als ein technischer Vorgang Gegenüber dem kritischen Befund der oben genannten Umfrage-Ergebnisse ist zunächst an zwei wichtige hermeneutische Prinzipien Schleiermachers zu erinnern. Den einen Grundsatz hat sich K. Berger intensiv als »Hermeneutik der Fremdheit« zu eigen gemacht: »Wenn ich die Aussage eines Textes nur einfach »glaube«, dann stört sie mich nicht mehr. Dasselbe geschieht auch, wenn ich durch historisch-kritische Methoden den Text auf Distanz rücke. . . . Der Grundsatz der Hermeneutik der Fremdheit stammt von F. D. E. Schleiermacher, der davon ausgeht, »daß das Nichtverstehen des Anderen der Regelfall ist... Daher bleibt, um ,Wahrheit< zu erlangen, nur der Weg hermeneutischer Kommunikation.« 11 Denn Verstehen ereignet sich aus Schleiermachers Sicht weder von selbst noch mit Hilfe einer bloßen instrumentellen Übertragungstechnik. Vielmehr handelt es sich um einen Prozeß des provisorischen, allmählich tiefer Begreifens, der zwischen den kennenzulernenden allgemeinen (grammatischen und geschichtlich kontextuellen) Bedingungen eines Textes einerseits und der sich einem bestimmten Autor verdankenden, mehr als nur allgemein üblichen einzigartigen Ausdrucksweise in einer bestimmten Situation anderseits hin und her verläuft, bis beides sich gegenseitig so erhellt, daß das Ganze deutlichere Konturen bekommt. Weder Vereinnahmung noch distanzierte Objektivierung sind demnach geeignete Wege, die Fremdheit von Texten zu erhellen und zu überwinden. Das bedeutet aber für die oben festgestellte intensive Verstehensstörung zwischen heutigen Adressaten und dem Neuen Testament zum einen, daß sie trotz ihrer Kraßheit nicht einfach einen unbegreiflichen Betriebsunfall, sondern den anzunehmenden Regelfall darstellt, der besonders dann eintritt, wenn relativ fremde Texte vermittelt werden. Zum anderen erscheint es unwahrscheinlich, daß diese Verstehensstörung anders als durch den genannten allmählichen hermeneutischen Prozeß, angewandt auf viele Teiltexte und Themen des Neuen Testamentes, überwunden werden kann. Der andere Grundsatz betrifft die Mittel, die geeignet sind, die unbestreitbare Fremdheit von Texten zu überwinden. Hier ist das, was Schleiermacher unter »divinatorischem« oder intuitivem Verstehen verstand, seit der Zeit der Romantik zu Unrecht viel zu wenig fruchtbar gemacht worden. 57 Schleiermacher mißtraute mit Novalis, Schlegel und anderen Romantikern völlig zu Recht der naiven Auffassung des aufklärerischen Rationalismus, es gebe ein handhabbares Verstehensverfahren, das geradlinig zupackend von der analytischen Reflexion zur Erklärung fortschreite und dabei lediglich sachliche Richtigkeit zu prüfen und Unklarheiten zu beseitigen habe. Er lenkte den Blick darauf, daß ein beträchtlicher Teil dessen, was Texten ihre besondere Eigenart und Dynamik verleiht, nicht auf diese platte Weise intellektuell verrechenbar ist. Statt dessen ereignet sich Verstehen ständig provisorisch und dabei nicht nur in zufassendem Analysieren, sondern auch in bewegtem Erhelltwerden, wie es beispielsweise in Formen einfühlsamer Aufmerksamkeit innerhalb von Gesprächen vorkommt. Gefühl und innere Bewegung sind demnach keine Nebensächlichkeiten der Kommunikation, sondern geben ihr überhaupt erst Prägnanz und Tiefe. Das weiß jeder Benutzer von Telefonen, oder noch deutlicher von Internet-Diskussionsforen. In beiden Fällen ist Kommunikation oft mühsam und mißverständlich, wenn die sie begleitenden Gefühlswerte, Anspielungen, ironischen Untertöne etc. nicht deutlich genug beim Empfänger ankommen. Verstehen »von meinem Herzen zu deinem Herzen« (so eine Wendung im Zen) bleibt ausweglos auf solche Erhellung angewiesen. Daher ist es notwendig und vielversprechend auch für neutestamentliche Hermeneutik, sensibel für Spuren emotionaler Kontexte, für die Seelen-Sprache der Freude, der Trauer und des Staunens, für Humor in allen seinen Spielarten, für alles Leibhafte und für ästhetische Wahrnehmung insgesamt zu werden. Sonst droht Hermeneutik, wie manche »Aufklärungsfilme« der sechziger Jahre, das lebendige Leben, das zur Sprache kommen soll, bloß mittels intellektuellen Jargons durch eine Schlüsselloch- Perspektive zu objektivieren und dabei in unfreiwillig komischer oder langweiliger Weise zu verfehlen. Zu fragen ist also, ob es nicht möglich ist, neben der in der Hermeneutik seit langem weitverbreiteten hyper-intellektuellen Analysierfreude eine sich allmählich entwickelnde Sprachkultur des empfänglichen, beeindruckbaren, intuitiven Verstehens zu pflegen, das statt nur an Texten oder impliziten Lesern auch erkennbar an den expliziten aktuellen Empfängern interessiert ist. 58 Die Sackgasse der Redogmatisierung Auf evangelischer wie katholischer Seite ist gegenüber den verheerenden Formen, die der christliche Traditionsabbruch mittlerweise annimmt, offensichtlich die Versuchung groß, das Problem durch verschiedene Formen von Redogmatisierung zu lösen. Auf evangelischer Seite kommt es dabei nicht nur zur Neubesinnung auf die Rechtfertigungslehre, sondern auch zur erneuten, exegetisch unhaltbaren Behauptung, sie sei nicht nur ein unaufhebbar wichtiges Kriterium bei der Interpretation des Neuen Testamentes, sondern dessen Mitte. Stuhlmacher hat sich zudem bemüht, das Programm einer evangelischen »Hermeneutik des Einverständnisses« zu entwickeln, das bewußt an konfessionelle dogmatische Positionen anknüpft. Gegenüber der weitverbreiteten Kritik an Stuhlmachers Ansatz soll zunächst sein Bemühen, den Blick vom abstrakten Streit um theologische Inhalte zurückzulenken auf die wichtige Rolle der Auslegungs-Kompetenz einer Interpretations- Gemeinschaft, gewürdigt werden. Abgesehen von der Präferenz für die Traditionen einer bestimmten, reformatorisch geprägten Interpretationsgemeinschaft wäre an diesem Anliegen nichts zu bemängeln: so wie feministische, befreiungstheologische oder auch traditionsbewußte katholische Hermeneutik sich auf die ihnen jeweils eigene, gewachsene Interpretations-Kompetenz einer Gruppe von Menschen berufen kann, kann das natürlich neben den anderen auch eine traditionsbewußte evangelische Hermeneutik tun. Aber dabei ist unbedingt das Mißverständnis zu vermeiden, daß die Kompetenz einer bestimmten Gruppe die Diskussion nicht nur bereichern dürfe, sondern aus ihren gewachsenen Traditionen heraus auch Anspruch auf allgemeingültige sachliche Vorgaben für das Verstehen und Interpretieren erheben dürfe. »Einverständnis« innerhalb einer Traditionsgemeinschaft soweit es denn noch existiert und nicht nur von wenigen postuliert wird kann die hermeneutische Reflexion immer nur bereichern, darf aber keinesfalls zu ihrer dogmatischen Voraussetzung erklärt werden. Die katholische Position, wie sie im Weltkatechismus unter Berufung auf »Dei Verbum« zum Ausdruck kommt, provoziert solche Einwände in noch viel höherem Maße. Dort wird es als Aufgabe des Exegeten bezeichnet, anknüpfend an die von der Kirche geleitete Tradition des vierfachen Schriftsinns »auf ein tieferes Verstehen und Erklären des Sinnes der Heiligen Schrift hinzuarbeiten, ZNT 4 (2.Jg. 1999) damit so gleichsam auf Grund wissenschaftlicher Vorarbeit das Urteil der Kirche reife. Alles das nämlich, was die Art der Schrifterklärung betrifft, untersteht letztlich dem Urteil der Kirche .. . « 12 Der hinzugefügte vielsagende Satz Augustins macht auch dem Begriffsstutzigsten deutlich, worum es geht: »Ich würde selbst dem Evangelium keinen Glauben schenken, wenn mich nicht die Autorität der katholischen Kirche dazu bewöge« (Augustinus, fund. 5,6). Müßte am Ende des 20.Jahrhunderts nicht jede halbwegs verantwortbare ökumenische Hermeneutik dem genau umgekehrten Grundsatz folgen und Augustin in derselben wünschenswerten Deutlichkeit widersprechen wie der Auffassung der katholischen Kirchenleitung? Es ist doch mehr als zweifelhaft, ob es einen auf Dauer gangbaren oder akzeptablen kirchenautoritären Weg geben kann, der es legitimieren könnte, die prägnante Eigenart der neutestamentlichen Texte bei Bedarf zu überstimmen, statt sie notfalls auch gegen später gewachsene kirchliche Traditionen möglichst deutlich für sich selbst sprechen zu lassen. Das Ende der Reduktion in geschlossenen Systemen In der hermeneutischen Diskussion hat es seit Schleiermachers Zeit und im Gegensatz zu seinen eher unabgeschlossenen, auf offene und bewegliche Interpretation zielenden Überlegungen, immer wieder Versuche gegeben, allgemeine Theorien des Verstehens in geschlossenen Gedankengebäuden zu entwickeln. Dabei dominierten im 19.Jahrhundert Versuche, imponierende Systeme universalen Bewußtseins und universaler Geschichte zu entwerfen, für die einerseits »ein rationalistischer Universalismus, d.h. die Ausweitung der Probleme der Erkenntnistheorie auf eine Geschichtsphilosophie mit universalem Anspruch«, andererseits »die Lehre von der Allgemeinheit der diskursiven Ratio und die Erklärung, alles Partikulare sei nicht wesentlich« kennzeichnend war. 13 Eine ähnliche Geschlossenheit beherrschte im 20. Jahrhundert das Reden von der vermeintlichen »Sache« der Theologie. Das gilt einerseits für K. Barth und die von ihm und der dialektischen Theologie geprägten Theologen. Im berühmten Vorwort zur zweiten Auflage des Römerbriefs forderte er für solche »historischen Urkunden« das »Messen aller in ihr enthaltenen Wörter und ZNT 4 (2.Jg. 1999) Dirl< Frlckenschmidt Empfänger unbekannt verzogen? Wörtergruppen an der Sache, von der sie, wenn nicht alles täuscht, offenbar reden, das Zurückbeziehen aller in ihr gegebenen Antworten auf die ihnen unverkennbar gegenüberstehenden Fragen und dieser wieder auf die eine alle Fragen in sich enthaltende Kardinalfrage ... « 14 Buhmann andererseits versuchte unter Rückgriff auf Heidegger, die »Sache« im Neuen Testament existential-ontologisch auszumachen. Er tat das in der Annahme, daß »die Voraussetzung des Verstehens die Verbundenheit von Text und Interpret ist, die durch das Lebensverhältnis des Interpreten, durch seinen vorgängigen Bezug zur Sache, die durch den Text vermittelt wird, gestiftet wird. Voraussetzung des Verstehens ist auch hier ein Vorverständnis der Sache.« 15 Allen diesen Versuchen ist gemeinsam, daß sie die jeweils auf den ersten Blick beeindruckende Geschlossenheit des Ansatzes nur um den Preis weitreichender Reduktion gegenüber der partikularen Fülle und Lebendigkeit neutestamentlicher Texte erreichen konnten. Verschieden ist nur die Art der jeweiligen (philosophischen, geschichtsphilosophischen oder theologischen) Reduktion und die im Nachhinein offenkundig höchst zeitbedingte Auswahl der wenigen vermeintlichen Kardinalfragen, auf die solche nivellierende Verallgemeinerung zielte. Gemeinsam ist den prägenden Entwürfen des 20. Jh. auch, daß für die vermeintliche »Sache« jeweils über Lessings »garstigen Graben der Geschichte« hinweg zeitübergreifende Gültigkeit und Verstehbarkeit jenseits geschichtlicher Partikularität oder diese »sachlich« vereinnahmend postuliert wurde. Dieses Postulat ist am Ende des Jahrhunderts durch die belegbar mißlungene Vermittlung von Sachwahrheiten, die weder dem Neuen Testament noch der Wirklichkeit heutiger Empfänger gerecht werden können, zutiefst fragwürdig geworden. Bei allem Respekt vor den Leistungen dieser theologischen Programme scheint es mir dringend nötig zu sein, den alles andere als unerheblichen Schaden, den die solchen Theologien zugrundeliegende Reduktions-Hermeneutik für die Rezeption neutestamentlicher Texte angerichtet hat, heutzutage nüchtern zu betrachten. Diese Theologien waren und sind, gewollt oder ungewollt, ein direkter Weg in die Verkürzung neutestamentlicher partikularer Vielfalt, also einer Vielfalt, auf die wir heute dringend angewiesen sind, und weithin auch hinein in die Verödung intellektueller Unanschaulichkeit. Das wiegt umso schwerer, als die Stärke der meisten neutestamentlichen Texte ge- 59 rade in ihrer partikularen Prägnanz und Kompetenz und in ihrer ursprünglichen Anschaulichkeit liegt. Postmoderne Polyvalenz als Problem und Chance Neutestamentliche Hermeneutik muß sich zunehmend mit besonders in Frankreich und den Vereinigten Staaten blühenden strukturalistischen, postmodernen und dekonstruktivistischen Ansätzen auseinandersetzen, die auch für die Bibelinterpretation verwendet werden. 16 Bereits seit ungefähr der Mitte dieses Jahrhunderts hat in der neutestamentlichen Exegese eine starke Verschiebung von der historischen Textdeutung hin zur textimmanenten, synchronen Interpretation stattgefunden. Zugleich wurde immer deutlicher in Frage gestellt, ob Texte wirklich nur eine festgelegte, historisch-kritisch ermittelbare Bedeutung haben und ob sie wirklich in erster Linie die Intention von Autoren zum Ausdruck bringen. Statt dessen wurden sie immer stärker als autonome, offene Kunstwerke betrachtet und die Rolle von Lesern betont, ihnen im Vorgang des Lesens neue Bedeutungen zu geben oder (Ricoeur) mit ihrer Hilfe die Welt neu und anders wahrzunehmen und zu interpretieren. In jüngerer Zeit hat sich die Hermeneutik dann zum einen immer mehr in verschiedene Hermeneutiken (wie die der Befreiung, feministische etc.) mit je besonderen Interpretationsschwerpunkten aufgefächert. Zum anderen wurden innerhalb der Semiotik Theorien gebildet, die weg von der herkömmlichen Textwissenschaft und hin zur einer Art Kommunikationswissenschaft geführt haben. So ist Jaques Derrida nicht müde geworden, die Relativität und die selbstbezogene Eigenart von Zeichen zu betonen, Bedeutung in einem ständigen Fluß von Interpretation aufzulösen und neu zu erzeugen. Dabei gehen moderne Literaturwissenschaftler in unterschiedlicher Weise von einer mehr oder weniger großen Polyvalenz vieler Texte aus. Was U. Eco in der Nachschrift zum »Namen der Rose« von Romanen behauptete, wird in der postmodernen Semiotik von Texten weithin angenommen: » ... ein Roman ist eine Maschine zur Erzeugung von Interpretationen.« 17 Entsprechend stand nun die Interpretation des Lesers statt der Intention des Autors im Mittelpunkt des Interesses. Diesem Leser bleibt nach U. Eco je nach Textsorte verschieden großer Spielraum für seine lnterpre- 60 tation. Aber während der Leser nach der Auffassung W. Isers in der Regel lediglich denjenigen Raum interpretierend ausfüllt, den Texte tatsächlich offenlassen (ein Verkehrsschild läßt als Zeichen ja offenkundig weniger Spielraum für solche Interpretation als ein Roman als Zeichenwelt), meinte S. Fish, diese Auffassung in einer Besprechung mit dem pathetischen Titel »Why no one's afraid of Iser« 18 als halbherzig entlarven zu können. Iser habe sich weder ganz für eine objektivierende Interpretation von Texten (Texte enthalten Signifikantes) noch ganz für eine pluralistische Deutung (Leser schaffen in der Interpretation erst verschiedene Bedeutungen) entschieden und wolle vergeblich beides gleichzeitig beanspruchen. Fish dagegen meinte, sich völlig von der Vorstellung lösen zu können, daß Texte überhaupt etwas zu sagen haben: das tun für ihn nur noch die Leser als Interpreten. »Der Leser reagiert nicht auf die Bedeutung, sondern seine Reaktion ist die Bedeutung.« 19 Es gibt nichts zu interpretieren, weil alles Interpretation ist, und diese Interpretation betrachtet Fish bloß deshalb nicht als subjektiv, weil er sie als Produkt von Interpretationsgemeinschaften und nicht von individuellen Lesern versteht. An dieser Zuspitzung durch Fish wird aber deutlich, welche Art von Problemen ein solches leserorientiertes Interpretationsverständnis für die Auslegung des Neuen Testamentes mit sich bringen kann. Zunächst ist nach der Rolle von Interpretationsgemeinschaften zu fragen: wer verbirgt sich eigentlich hinter dieser zusammenfassenden Chiffre? Während der »implizite Leser« immerhin aus der Struktur von Texten gefolgert wird und in diesen Texten einen überprüfbaren Anhaltspunkt haben muß, ist nach dem Verständnis realer Lesern erst noch zu fragen. Das gilt umso mehr, wenn die aus ihnen zusammengesetzte »Interpretationsgemeinschaft« zum einzigen noch verbliebenen Garanten adäquater Auslegung wird. Um zu vermeiden, daß es sich dabei um eine idealisierte oder phantasierte Größe in der Vorstellungswelt postmoderner Interpreten (orientiert am Kreis der des gleichgesinnten Umfeldes) handelt, wäre es deshalb nötig, durch Rückfrage unter einem halbwegs repräsentativen Gemisch gegenwärtiger Leser wie in der Jörns-Studie jeweils erst noch zu erfragen und zu erfahren, wie sie bestimmte neutestamentliche Texte im Kontext ihrer Lebenswelt und ihrer Lebenserfahrungen lesen. Zwei weitere, eng miteinander zusammenhängende Gefahren sind die der Beliebigkeit und des ZNT 4 (2.Jg. 1999) nicht oder nur mangelhaft wahrgenommenen historischen Verständnisses bei der Interpretation. So sehr sich Teile postmoderner Hermeneutik zugunsten einer Leserorientierung dagegen sträuben mögen: antike Texte können im Fall einer Mißachtung ihrer geschichtlichen Verwurzelung und bei Ignorierung ihrer realen Autoren und ersten Leser nur um den Preis kümmerlichen Verstehens gedeutet werden. Deshalb hat Alkier dafür plädiert, unter ausdrücklicher Würdigung postmoderner Konzepte jeden solchen Ansatz darauf zu befragen, »ob er denn die historischen und kulturellen Bedingungen der Zeichenproduktion der Gesellschaften, in denen die biblischen Texte entstanden sind (hier möchte ich hinzufügen: und der Autoren, durch die sie entstanden sind; D.F.) auch tatsächlich mit derselben Intensität erforscht, wie die der gegenwärtigen Lektüren.« 20 Einen weiteren kritischen Einwand gegenüber Derridas umfassendem Dekonstruktions-Modell hat Thiselton erhoben: Wer ein geschlossenes Modell von Textualität als solcher entwerfe, unterwerfe entgegen der oberflächlichen Zurückweisung jeden Systemdenkens in Wahrheit alle Texte einem einzigen System. 21 Solchen Problemen stehen aber auch erhebliche Chancen gegenüber, die in der deutschsprachigen Exegese und Hermeneutik bisher nur unzureichend gesehen und genutzt worden sind. Zum einen kommt das Recht der Leser (unter ihnen Außenseiter und Minderheiten) auf eine ihnen gerecht werdende Interpretation gegenüber der Gefahr eines historisch-kritischen Methodenimperialismus (der sich oft eher an Textdenkmälern und Berufskollegen als an den Fragen und Befindlichkeiten moderner Empfänger zu orientieren droht) wieder mit Nachdruck ins Spiel. Zum zweiten deutet sich eine vielversprechende Konstellation für eine neue und lebendigere Beziehung zwischen heutigen Lesern und dem Neuen Testament an. Denn bei näherem Hinsehen zeigt sich, daß der nicht nur lustvoll, sondern auch leidvoll erfahrenen Partikularität in der vielfältigen Lebenswirklichkeit heutiger Leser eine Eigenart des Neuen Testaments selbst korrespondiert, die zu neuer Vermittlung geradezu ermutigt: nämlich die aus dem damaligen antiken Kontext einer sich rasch verändernden, ebenfalls multikulturell geprägten Gesellschaft erwachsene und in sie hineinsprechende Partikularität und Vielfalt neuestamentlicher Texte selbst. Die Verständigungs-Chancen, die sich daraus ergeben können, beides intensiv neu in Beziehung und ins Ge- ZNT4 (2.Jg. 1999) Dirk Fricl<enschmidt Empfänger unbekannt verzogen? spräch zu bringen, sind bei weitem noch nicht ausgelotet. Sie werden sich aber statt an intellektuellen Abstraktionen zukünftig stärker an beiden Seiten der tatsächlichen Lebenswelt zu orientieren haben: an der antiker Autoren und ihrer ersten Leser einerseits und an der gegenwärtiger Empfänger andererseits. Exemplarische Hermeneutik statt der Hermeneutiken der Vorverständnisse Die Brauchbarkeit einer neutestamentlichen Hermeneutik erweist sich am Ende nicht in ihren programmatischen Thesen und Hypothesen, nicht in ihren Abgrenzungen gegen andere, ältere oder neuere Ansätze, nicht in kunstvollen metasprachlichen Reflexionen. Sie erweist sich einzig darin, daß sie neutestamentliche Texte heutigen Empfängern so vermittelt, daß diese sie in ihren Lebenssituationen gut und gerne verstehen können, während das ureigene Potential der Texte (und nicht bloß die eigenen Lieblingsvorstellungen) sich entfalten kann. Wenn man nun die oben kurz skizzierten hermeneutischen Tendenzen seit Schleiermacher mit den Umfrageergebnissen als Signale einer starken Verstehensstörung konfrontiert, dann kann man sich dem Eindruck kaum entziehen, wie programmatisch wohlklingend und zugleich für das alltägliche Geschäft des Verstehens eher unkonkret hermeneutische Entwürfe im Gegenüber zu den tatsächlich feststellbaren Verstehens-Störungen zu bleiben drohen. Daher ist eine exemplarische, sich an vielen verschiedenen neutestamentlichen Texten und ihren heutigen Lesern bewährende, statt einer bloß programmatischen Hermeneutik gefragt. Denn anscheinend besteht ein Problem darin, daß viele Ansätze sich eher zu ausführlich mit Fragen des hermeneutischen Vorverständnisses und zu wenig mit beispielhaft durchgeführter neutestamentlicher Hermeneutik selbst beschäftigen. Das jeweils thematisierte Vorverständnis der Leser oder des Hermeneuten hat geradezu zur Benennung des jeweiligen hermeneutischen Programms geführt, wie bei Stuhlmachers » Hermeneutik des Einverständnisses« oder Ricoeurs »Hermeneutik des Verdachts«. Wenn Weder viele Seiten seiner Hermeneutik solchen Vorverständnis-Fragen, darunter der von ihm so genannten »Sünde im Verstehen« 22 widmet, dann kommt darin dieselbe Schwerpunktbildung zum Ausdruck. Gegenüber der naheliegenden Versuchung, 61 den Zeitgeist als Träger falschen Vorverständnisses zum Sündenbock mißlingenden Verstehens der christlichen Botschaft zu machen, hat K. Lehmann schon in seiner Mainzer Antrittsvorlesung angemerkt: »Die Theologie muß allerdings dabei immer selbst kritisch bedenken, daß es gar nicht selbstverständlich ist, daß sie selbst die Sündigkeit des Zeitgeistes immer leicht, überall und an den wirklich entscheidenden Stellen erkennt; sie muß bedenken, daß sie selbst auch immer in Gefahr ist, unbemerkt bloß im Namen einer früheren geschichtlichen Situation gegen eine kommende zu protestieren. « 23 Statt im Namen einer früheren geschichtlichen Situation gegen die jetzige oder kommende zu protestieren, bleibt neutestamentliche Hermeneutik darauf angewiesen, zu den Anliegen und offenen Fragen der sich ihr rapide entfremdenden Empfänger zurückzukehren. »Die Menschen kommen zu uns, falls sie denn überhaupt noch kommen, mit Fragen, die ihr Leben betreffen, wie sie es in dieser wirren Welt bestehen können. Und sie gehen häufig von uns fort mit dem Verdacht, daß es uns gar nicht um ihr, sondern um unser Leben geht, nicht zuerst um ihre Fragen, sondern um unsere Antworten, daß wir von der Sorge um unseren eigenen Beistand in Anspruch genommen sind, von unseren theologischen Richtigkeiten und Streitigkeiten, von Mitgliederzahlen und Kirchensteuern, und daß wir bei dem allen einen dünkelhaften Glauben an den Tag legen und uns durch Querfragen nicht stören lassen.« 24 Gegen diesen Verdacht der Empfänger muß vieles, was lange innerkirchlich oder innertheologisch selbstverständlich erschien, nicht nur sprachlich, sondern auch sachlich ganz neu geklärt werden. An einige der zu Beginn skizzierten Zonen mißlingenden Verstehens soll als Herausforderung zukünftiger hermeneutischer Arbeit noch einmal kurz erinnert werden. Mittels Exegese und Applikation hermeneutisch neu zu erschließen und exemplarisch zu vermitteln sind nach den Ergebnissen der Umfragen vor allem: a) das neutestamentliche Gottesbild mit seiner klaren personalen Kontur und seinem emotionalen Reichtum, gegenüber diffuser Wahrnehmung und zurückhaltender Skepsis b) neutestamentliche Kosmologie, gegenüber heutigen Vorstellungen von Raum und Zeit und Menschheitsgeschichte (nicht als Platitüde vom dreistöckigen antiken Weltbild, sondern als Fähigkeit, Gott innerhalb je zeitge- 62 nössischer Vorstellungen als Schöpfer zu verstehen). c) die Bedeutung einer ureigenen Dimension Gottes (Reich Gottes, Himmel, ewiges Leben), gegenüber nur noch immanenten Lebensgefühlen und Denkgewohnheiten d) die biographische Gestalt J esu (statt einer bloßen Erlösungs- oder Versöhnungs-Chiffre), gegenüber der Unsicherheit, ihn einzuordnen (als Gott? als Mensch wie wir? als ganz anderer Mensch? ) und ihn anderen für die Empfänger wichtigen Menschen zuzuordnen e) das Neue Testament als Buch mit einer (zu erarbeitenden) ganzen Reihe signifikanter Schwerpunkte, die heutiges Leben erhellen können (also weder verkürzt auf klassische dogmatische oder konfessionelle Topoi noch mikrophilologisch zerfasert bis zur Unkenntlichkeit) f) neutestamentliche Auffassungen von Heil und Erlösung, gegenüber bestehenden Sehnsüchten und Nöten ohne sie bloß darin aufgehen oder darüber hinweg schweben zu lassen Das ist keineswegs Teil eines Versuches, die komplette Bibel als große, eine ganze Gesellschaft oder Epoche bindende Erzählung 25 zu restituieren. Von solchen Möglichkeiten sind wir in Zeiten »multikulturellen Kurzzeitgedächtnisses« 26 weit entfernt. Zu unseren jüdisch-christlichen Wurzeln gehört jedoch auch ein von Abraham bis zum Hebräerbrief bewußtes Nomadentum, ein Wandern mit Bündeln von Gottesgeschichten. Eine neutestamentliche Hermeneutik, die in diesem Sinne unterwegs ist und die sich zugleich ernsthaft an der bewegten Lebenswelt heutiger Empfänger interessiert zeigt, könnte sich als hilfreiche christliche Begleiterin der Menschen erweisen. Anmerkungen 1 F. Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, G. Meckenstock (Hg.), Berlin u. New York 1999, 57 (Erstdruck: 1799). 2 Im folgenden beschränke ich mich bewußt auf Text- Hermeneutik. Es hat einige, m. E. ebenso anregende wie bei näherem Hinsehen fragwürdige Versuche der Ausweitung hermeneutischer Forschung auf alle denkbaren Arten auch nichtsprachlicher kommunikabler Zeichensysteme gegeben. Ende der fünfziger Jahre versuchte Claude Levi-Strauss bereits, Aspekte sozialen Lebens mit Hilfe linguistischer ZNT 4 (2.Jg. 1999) Deutekategorien zu interpretieren und thematisierte dabei die hermeneutischen Probleme einer allgemeinen Signifikanz von »Codes« und »Strukturen«. Neuerdings versucht U. Oevermann mittels einer sog. »objektiven Hermeneutik« die gesamte erfahrbare Welt sozialwissenschaftlich als »Text« zu deuten. Dieser Versuch einer textüberschreitenden universalen Hermeneutik wird ausführlich dargestellt in: D. Garz/ K. Kraimer (Hgg.), Die Welt als Text. Theorie, Kritik und Praxis der objektiven Hermeneutik, Frankfurt a.M. 1994. 3 Was glauben die Deutschen? In: Der Spiegel 25. Juni 1992. Bei den folgenden Zahlenangaben verlasse ich mich auf die korrekte Wiedergabe der Umfrage-Institutsergebnisse durch die betreffenden Monographien und Zeitschriften und gebe bei differierenden Zahlenangaben zu ähnlichen Fragen evtl. zugrunde liegende verschiedene Frageformulierungen mit an. Um die Zahl der Endnoten nicht unübersichtlich groß werden zu lassen, werden die Quellen der einzelnen Umfrageergebnisse in Klammern im Haupttext angegeben. Die Angaben und vor allem ihre Deutung sind nicht sicher vor Mißverständnissen, die erst durch Nachfrage und weitere Nachforschung unter den Befragten geklärt werden könnten, und sind deshalb cum grano salis zu betrachten. Aber wenn man sich vergegenwärtigt, daß es nicht um einzelne Prozentpunkte geht, lassen sich mit einiger Klarheit deutliche Tendenzen erkennen. 4 K. Engelhardt / H. v. Loewenich / P. Steinacker (Hgg.), Fremde Heimat Kirche, Gütersloh 1997 (= EKD 1997). 5 Die neuen Gesichter Gottes. Die Umfrage »Was die Menschen wirklich glauben« im Überblick, Neukirchen-Vluyn 1997 (= Jörns 1997). Die Umfrage selbst fand im Juni 1992 statt. In drei westlichen und einem östlichen Berliner Stadtbezirk wurde eine repräsentative Umfrage durchgeführt, die um Umfragen in ländlichen Gebieten mit teils vorwiegend evangelischer, teils vorwiegend katholischer Bevölkerung ergänzt wurde. Schließlich wurden 12. Klassen in Berliner und in ländlichen Gymnasien ebenso wie Pfarrerinnen und Pfarrer der evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg und Berliner Theologiestudierende befragt. Einige Ergebnisse dieser Untersuchung erschienen unter dem Titel »Kuschelparty mit Gott«, Focus 24, Juni 1997 ( = Focus 1997). Dort wurde vor allem die auffällige Distanz zu traditionellen Glaubensinhalten unter Gottgläubigen und Pfarrern anhand zweier tabellarischer Überblicke thematisiert. 6 Was glauben die Deutschen? In: Das Sonntagsblatt 25,Juni 1997 (= DS 1997). 7 Nur noch christentümlich, in: Focus 14, April 1999 (= Focus 1999). 8 So Jörns erläuternd im Barmer Pfarrkonvent am 16.2. 1998. 9 Als Der Spiegel (a. a. 0.) nach Zustimmung zu den beiden Sätzen fragte »Gott hat Jesus, seinen Sohn, zu den Menschen gesandt, um sie zu erlösen. Jesus ZNT 4 (2.Jg. 1999) Dirk Frickenschmidt Empfänger unbekannt verzogen? wurde von den Toten auferweckt und ich kann zu ihm beten«, da stimmten nur 26 % der insgesamt Befragten diesem »Gesamtpaket« zu. Unter katholischen und evangelischen Christen gab es dagegen in der Focus-Umfrage 1999 (a. a. 0.) wesentlich höhere Zustimmungswerte zu Aussagen des christlichen Glaubensbekenntnisse, einschließlich des Glaubens an Jesus als Gottes Sohn und die Auferstehung und Himmelfahrt Jesu (dort Werte zwischen 70 % und 88 % je nach Frage und Konfession). Hat die vorgegebene katechismusartige Reihung besonders viele Ja-Antworten unter katholischen und evangelischen Christen provoziert? 1 ° K. Berger, Hermeneutik des Neuen Testaments, Tübingen u. Basel 1999 (Kap. II.6. Loyalität und Freiheit) 11 A. a. 0., 76f. (Kap. II.3. Hermeneutik der Fremdheit). Prof. Berger hat mir freundlicherweise ein Korrekturexemplar der überarbeiteten Neuerscheinung seiner Hermeneutik zur Verfügung gestellt. Für den Fall, daß sich noch etwas an der Seitenzählung ändert, habe ich Kapitelangaben beigefügt. 12 Katechismus der katholischen Kirche, München u. a. 1993, S. 67, Nr. 119. (Kursivsetzung D. F.) Der von der päpstlichen Bibelkommision unter Leitung von Kardinal Ratzinger vorgelegte Bericht über »Die Interpretation der Bibel in der Kirche« vom 23. April 1993 zeigt großes Bemühen, neuere exegetische und hermeneutische Tendenzen ausgewogen zu beurteilen und in bestimmten Aspekten für die innerkirchliche Diskussion fruchtbar zu machen. Dabei wird der Ertrag der neueren Hermeneutik, soweit er der Objekivierbarkeit eines einzigen, historisch-kritischen Schriftsinnes widerspricht, als Stärkung der kirchlichen Position verstanden. Auch hier ist dann wieder von der »Kontrolle ... durch eine authentische Lehrtradition« die Rede (unter II.B.3 zum befürworteten sensus plenior) oder es heißt schließlich: »So ist es in letzter Instanz also Sache des Lehramtes, die Echtheit der Interpretation zu garantieren und gegebenenfalls zu sagen, daß diese oder jene besondere Interpretation mit dem authentischen Evangelium unvereinbar ist« (III.B.3). 13 A. a. 0. 70 f. unter » Kritik der Reflexionsphilosophie«. 14 K. Barth, Der Römerbrief, 11., unveränderter Abdruck der neuen Bearbeitung von 1922, Zürich 1976, XII. (Kursivsetzung D. F.) 15 R. Buhmann, Das Problem der Hermeneutik, in: Glauben und Verstehen II, Tübingen 1952, 231. (Kursivsetzung D. F.) 16 Einige amerikanische Neutestamentler, wie beispielsweise J.D. Crossan, sind von jedem dieser Ansätze intensiv beeinflußt. Zur inzwischen etablierten postmodernen Interpretation vgl. S. Alkiers Buchreport über The Bible and Culture Collective, The Postmodem Bible, New Haven and London 1995, ZNT 3 (1999), 63-65. 17 U. Eco, Nachschrift zu »Der Name der Rose«, München 10 1984. Die hermeneutischen Wurzeln der 63 genannten Verschiebung finden sich in den semiotischen Theorien von Ch. Peirce und F. de Saussure. Peirce beobachtete eine triadische Relation zwischen Zeichen, Objekt und Interpretant, die nicht als fixe Relation, sondern als kontinuierlicher Interpretationsvorgang zu verstehen ist (vgl. hierzu J.J. Liszka, A general Introduction to the Semiotic of Charles Sanders Peirce, Indiana u. Bloomington 1996). De Saussure entfaltete die einflußreiche Unterscheidung von langue (Sprache als gesamtes Zeichen-System) und parole (Sprache als konkreter Sprechakt). Ähnlich wie bei Pierce durch die Unterscheidung von type und token und später bei R. Jakobson durch die zwischen code und message wird jeweils die sich ergebende, kontextgebundene Eigenart von Zeichen betont. Demnach verweisen Zeichen nicht direkt auf hinter ihnen liegende Objekte, Dinge oder Sachverhalte, sondern auf die den Sachverhalten zugemessenen Bedeutungen und auf einen Interpretations- Vorgang, innerhalb dessen jeweils Sinn entsteht. In der Folge verschob sich die Aufmerksamkeit in der Semiotik von der Untersuchung von Worten und kleinen Satzstrukturen hin zur Untersuchung größerer und komplexerer Texte. So entstand seit den dreißiger Jahren in Amerika im Rahmen des »New Criticism« oder »Narrative Criticism« allmählich eine Gegenbewegung zur vor allem in Deutschland dominierenden historisch-kritischen Methode, und zwar in Form einer konsequent synchronen Textanalyse mittels rein sprachlicher, literaturwissenschaftlicher Methoden. Seit den fünfziger Jahren experimentierten französische Strukturalisten mit der Anwendung der durch Pierce und de Saussure begründeten Zeichentheorie auf neue Gebiete, u. a. medizinisch-psychologische (R. Jakobson), ethnologische (C. Levi-Strauss) und mythologische (ders. u. R. Barthes). Dabei bezweifelte vor allem Barthes immer stärker, daß Zeichensysteme Wahrheiten oder auch nur die Klarheit eines ursprünglichen geschichtlichen Kontextes vermitteln. Statt dessen meinte er, immer deutlicher ihre (aus seiner Sicht vor allem ideologische oder bürgerliche) Funktion zu demaskieren, bloß interessegeleiteten Sprachspielen zu dienen. Nicht ihre Entstehung, sondern ihr Gebrauch ist demnach das Kennzeichnende an ihnen. Einen anschaulichen Überblick über neuere Interpretationsmethoden bietet der Sammelband von S. Alkier u. R. Brucker (Hgg.), Exegese und Methodendiskussion (TANZ 23), Tübingen 1998. 18 S. Fish, Why no one's afraid of Iser. Doing what comes naturally: Change; Rhetoric, and the practice of theory in literary and legal studies, Oxford 1989, 68-86: 69-70. 19 Ders., Is there a text in this dass? The Authority of Interpretative Communities, Cambridge 1980, 3 (Übers. D. F.). 20 S. Alkier, Buchreport zu The Bible and Culture Col- 64 lective, The Postmodern Bible, New Haven u. London 1995, ZNT 3 (1999) 65. 21 A. C. Thiselton, New Horizons in Hermeneutics. The theory and practice of transforming biblical Reading, Grand Rapids 1992. 22 »Sünde im Verstehen« ist ja eigentlich gar keine hermeneutische Benennung möglichen allgemeinen Vorverständnisses, sondern eine theologische Unterstellung. Sie ist zudem eine Art von Unterstellung, der ein Leser, solange er ihre prinzipiell mangelnde Berechtigung nicht erkennt, schwer entkommen kann: entweder er stimmt zu und gesteht damit sein durch eigene Sündigkeit verursachtes Verstehensproblem ein, das dann durch den ganz auf eine bestimmte Form universalisierter Rechtfertigungstheologie basierenden hermeneutischen Ansatz Weders überwunden werden kann, oder er widerspricht und erweist gerade damit angeblich das, was den Sünder kennzeichnet: nämlich daß er seine Sünde nicht wahrhaben will und das Reden darüber als »mythologische Rede« betrachtet. »Damit täuscht er sich über seine Selbstverfallenheit hinweg, in welcher er sein Selbst von aller Verfallenheit ausgenommen wissen will. Eben dieses Selbstverständnis jedoch ist im Lichte des Neuen Testamentes besehen eine Erscheinungsform der universalen Macht der Sünde.« (H. Weder, Neutestamentliche Hermeneutik, Zürich 2 1989, 94, im Ganzen 83-107). In diesem Fall braucht der Leser natürlich erst recht die angebotene rechtfertigungstheologische Wegweisung, mittels derer neutestamentliche Texte stets in das gleiche dogmatische Interpretationsmuster von »Gesetz und Evangelium« gezwängt werden, das nicht einmal global den Paulusbriefen, geschweige denn den Evangelien gerecht werden kann. 23 K. Lehmann, Die dogmatische Denkform als hermeneutisches Problem. Prolegomena zu einer Kritik der dogmatischen Vernunft, Evangelische Theologie 30 (1970), 481. 24 Heinz Zahrnt, Mutmaßungen über Gott. Die theologische Summe meines Lebens, München u. Zürich 1994. 25 Dies im Sinne der von Lyotard für die Postmoderne für unmöglich erklärten »Meta-Erzählungen«, die die Welt insgesamt verbindlich vermitteln, J.-F. Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Graz u. Wien 1986, 14. 26 Mit diesem Ausdruck hat Jörns, a. a. 0. 26, darauf hingewiesen, daß das laut Untersuchungen der Oral History üblicherweise ca. 80 bis höchstens 100 Jahre währende »kulturelle Gedächtnis« der biblischen 3-4 Generationen oder des lateinische saeculum, innerhalb dessen Konventionen zur Gestaltung von Lebensbeziehungen aufbewahrt werden, heute stark verkürzt erscheint. Improvisiertes Leben im Durchgang, das sich an den stories noch lebender Personen orientiert, ist demnach an die Stelle solcher langfristiger Prägungen getreten. ZNT 4 (2.Jg. 1999)