eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 3/5

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
61
2000
35 Dronsch Strecker Vogel

Fremde Welten verstehen

61
2000
Stefan Alkier
znt350049
Stefan Alkier fremde Welten verstehen lernen. Semiotische Bausteine einer interkulturellen Hermeneutik für die religionsgeschichtliche und religionsdialogische Arbeit* Biblische Texte und die Religionen der anderen als fremde Welten Wer biblische Texte liest, begibt sich ebenso in fremde Welten wie diejenigen, die sich am interreligiösen Dialog beteiligen. Für den interreligiösen Dialog mag das sofort einleuchten, denn es handelt sich dabei um ein Gespräch mit Menschen, die einer anderen Glaubensrichtung angehören, die als Überzeugungssystem ihre eigene Wirklichkeit hervorbringt und Plausibilitäten entwickelt, die bis in den Alltag hineinreichen. Religionen sind nicht auf Glaubenssätze zu reduzieren, vielmehr erzeugen sie eine eigene Welt, in der die Glaubenden leben. Von der Welt des je eigenen Glaubens aus stellt die Begegnung mit anderen Glaubensrichtungen eine Begegnung mit einer fremden Welt dar eine Welt, die man von der eigenen Welt aus erkunden kann, in der man aber nicht lebt, solange es nicht zu einem Übertritt in die andere Glaubensrichtung kommt. Wer in den biblischen Texten nicht nur immer wieder das bestätigt finden will, was er/ sie selbst schon immer für richtig gehalten hat, tut gut daran, biblische Texte ebenfalls als fremde Welten zu lesen, um sie neu und vielleicht auch anders entdecken zu können. Die biblischen Texte stammen aus vergangenen Zeiten und sind im Kontext für uns fremder Kulturen mit ihren je eigenen Plausibilitätsannahmen entstanden, die überwiegend nicht mehr die heutigen sind. 1 Die Welten der biblischen Texte sind verglichen mit der fremden Welt einer im interreligiösen Dialog der Gegenwart begegnenden Glaubensrichtung sogar weiter entfernt, denn wir können nicht in ihnen leben. Wir können nur versuchen, sie vom Standpunkt unserer eigenen Welt aus zu erkunden und zwar so umfassend, wie es nur irgendwie geht. Dennoch können wir nicht zu Christen und Christinnen der ersten beiden Jahrhunderte werden, in denen die biblischen Texte entstanden und deren Welten sie teils bestätigend, teils kritisierend und sie verändernd verpflichtet sind. ZNT 5 (3. Jg. 2000) Die religionsgeschichtliche Erforschung der neutestamentlichen Texte zeigt, daß sie zu einem nicht unerheblichen Anteil selbst Produkte vergangener interreligiöser Konflikte sind,2 und es ist ein schwieriges Geschäft, die nicht-christlichen religiösen Welten zu rekonstruieren, mit denen sich neutestamentliche Texte auseinandersetzen bzw. die Auseinandersetzungen nachzuzeichnen, die in den Schriften des Alten Bundes mit den Religionen der Völker geführt werden. Die Lage verkompliziert sich noch einmal erheblich dadurch, daß weder das Christentum noch das Judentum und erst recht nicht die Religionen der >Heiden< als monolithische Größen zu betrachten sind, sondern jeweils eine große Vielfalt verschiedener Gruppierungen darstellen, die nicht nur Unterschiedliches, sondern zum Teil auch Gegensätzliches vertreten. In religiöser Hinsicht war die Welt, in der das Christentum entstand, kaum weniger pluralistisch als unsere heutige Postmoderne. Versuchten ältere christliche Exegeten wie Johann Salomo Semler 3 im 18. Jahrhundert und Ferdinand Christian Baur 4 im 19. Jahrhundert dieser verwirrenden Vielfalt religiöser Konzepte und Konflikte, in denen das Christentum entstand, durch komplexitätsreduzierende Modelle in den Griff zu bekommen, deren hermeneutischer Zugewinn im Vergleich zu den vorangehenden Auslegungsmodellen auch im Nachhinein nur zu bewundern ist, so wird deren modellbedingte Starrheit durch die neuere religionsgeschichtliche Forschung korrigiert. Als Meilenstein dafür verweise ich auf Martin Bengels Monographie Judentum und H ellenismusS, seitdem nicht nur die einfache kulturgeschichtliche Opposition von Judentum und Hellenismus, sondern auch die starre Gegenüberstellung eines separatistischen >reinen< palästinischen Judentums einerseits und eines kulturoffenen >vermischten, hellenistischen Judentums andererseits passe ist. Damit geraten aber auch die als Oppositionen formulierten Kategorien des 49 J udenchristentums 6 und des H eidenchristentums ins Wanken, die zumindest neu überdacht werden müssen. Offen bleibt aber weiterhin die hermeneutische Frage, wie denn mit den überlieferten frühchristlichen Welten und denen ihrer rekonstruierbaren religiösen Kontrahenten umgegangen werden soll, eine Frage, die sich nicht nur für die religionsgeschichtliche Arbeit am Neuen und Alten Testament, sondern auch im Schulunterricht mit Blick auf die fremden bzw. fremd gewordenen biblischen Texte und ebenso im Blick auf die nichtchristlichen Religionen im interreligiösen Dialog 7 stellt: Wie können wir vom je unhintergehbaren eigenen Standpunkt aus fremde Welten erkunden ohne dem anderen die eigene Welt überzustülpen. Zwei notwendige Schritte dafür sind zum einen, den eigenen Standpunkt zu erkunden und zu reflektieren, d.h., die Welt in der wir je selbst leben in ihrer ganzen Komplexität als unsere Enzyklopädie, als unsere Verstehensmatrix wahrzunehmen, der wir zustimmend, kritisierend, verändernd verpflichtet sind. Zum anderen ist es notwendig, den anderen als anderen wahrzunehmen, die fremde Welt, in der der andere lebt und in der seine Aussagen Sinn erzeugen als fremde Welt zu erkunden. Um diese hermeneutischen Einsichten methodisch umzusetzen, möchte ich zwei der Semiotik die Theorie der Zeichen, ihrer Erzeugung und Verwendung verpflichtete Begriffe vorstellen, denn der Begriff des Diskursuniversums, den ich der Semiotik des amerikanischen Gelehrten Charles Sanders Peirce 8 entnommen und für die Auslegung biblischer Texte modelliert habe, 9 und der der Enzyklopädie, wie ihn der Semiotiker Umberto Eco 10 ausgearbeitet hat, eröffnen methodisch kontrollierbare Wege in eigene und in fremde Welten gerade dann, wenn man Diskursuniversum und Enzyklopädie unterscheidet. / Diskursuniversum/ definiere ich als «die Welt eines konkreten Zeichenzusammenhangs», z.B. eines Textes, eines Spiels, einer Straßenverkehrsordnung oder einer Gesprächssituation. / Enzyklopädie/ definiere ich als «das in einer gegebenen Gesellschaft konventionalisierte Wissen über die Welt». Ein Diskursuniversum ist ein Ausschnitt aus einer Enzyklopädie. Diese (virtuelle) Enzyklopädie wiederum kann nur in den Blick geraten über die Erkundung von Diskursuniversen.11 50 Daß man mit diesen beiden semiotischen Begriffen unter methodischer Nutzung ihrer Implikationen in elementarisierter Weise auch im Schulunterricht biblische Texte spannend bearbeiten kann, haben Bernhard Dressler und ich in unserem gemeinsamen Aufsatz »Wundergeschichten als fremde Welten lesen lernen. Didaktische Überlegungen zu Mk 4,35-41 « zu bedenken gegeben. 12 Das Diskursuniversum »Nehmen wir einmal an, daß während wir in einem Raum zusammensitzen, eine dritte Person, die am Fenster steht, plötzlich ausruft >Es schneit<! Was meint sie? Wir wissen, daß es schneit die Beschreibung eines bestimmten Zustands ist. Wenn wir die Worte in einem Wörterbuch finden, so behaupten sie nichts. Sie sind weder wahr noch falsch. Es handelt sich lediglich um eine Beschreibung, die verwendet werden könnte, aber nicht verwendet wird, solange wie das Wort isoliert dasteht. Doch wenn wir sehen, daß jener Mann am Fenster steht, und nach draußen blickt und wir die Emphase der Überraschung bemerken, so fühlen wir sicher, daß er meint, daß diese Beschreibung auf den wirklichen und gegenwärtigen Zustand anwendbar ist. Wir wissen sehr wohl, daß er nicht vom Planeten Mars träumt, noch von der Kergueleninsel. Er meint hier und jetzt; und wir alle wissen, was >hier und jetzt< ist. Es ist dasjenige, von dem wir, die wir zusammen dort sind, feststellen, daß es unseren Sinnen aufgezwungen wird. Doch wenn einer von uns ein Buch aufnimmt, wir wissen nicht, welches Buch, und an einer beliebigen Stelle aufschlägt, den ersten Satz liest, der ihm ins Auge fällt und dieser Satz lautet >Es schneit<, so haben wir nicht ein Teilchen Information übermittelt bekommen, weil wir nicht wissen, worauf der Satz sich bezieht. Es ist genauso, als ob wir die Worte >Es schneit, in einem Wörterbuch gesehen hätten. Es ist also klar, daß zumindest ein Element der Behauptung (assertion) in der Anwendung einer Beschreibung auf etwas zwischen dem Sprecher und seinem Zuhörer Wohlbekanntes und Wohlvertrautes sich bezieht.« 13 Die semiotische Grammatik erarbeitet ein formales Zeichenmodell, das beschreibt, welche Komponenten zusammenwirken müssen, damit überhaupt ein Zeichenprozeß, Semiose, entstehen kann. Sie vermag zu erläutern, welche formalen Bedin- ZNT 5 (3. Jg. 2000) Stefan Alkier Dr. habil. Stefan Alkier, Jahrgang 1961. Studium der Ev. Theologie in Münster, Bonn, Hamburg, Promotion 1993 in Bonn, Habilitation 1999 in Hamburg. 1993-1999 Wiss. Assistent für NT in Hamburg. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Hermeneutik und Methodologie, Forschungsgeschichte, Wunder, Paulus. Zur Zeit Vertretungsprofessur für den Lehrstuhl für Neues Testament an der Universität Gesamthochschule Kassel. gungen das Zeichen / es schneit/ erfüllt und welchem Zeichentyp bzw. welchen Zeichentypen es zugehört bzw. zugehören kann. Sie sagt aber nichts über die kommunikativen Bedingungen der Verwendung dieses Zeichens aus. Diese Aufgabe kommt der semiotischen Rhetorik zu. Innerhalb dieser Fragestellung spielt das Peircesche Konzept des Diskursuniversums eine fundamentale Rolle. Ein gegebenes Zeichen, und sei es auch ein so komplexes Zeichen wie ein Text, kann als Zeichen nur fungieren, wenn es einer Welt dem Diskursuniversum des Zeichenzusammenhangs zugeordnet wird, innerhalb deren Bedingungen es Sinn erzeugen kann. Alice im Wunderland bezieht sich auf eine andere Welt als die Naturreportagen, die die Fernsehsendung Wunderbare Welt zeigt, und die letztere verlöre ihre Glaubwürdigkeit, würde man in ihr Feen und Hexenmeister zeigen, die wir aber selbstverständlich im Wunderland von Alice nicht nur bereit sind zu akzeptieren, sondern die wir sogar erwarten. Die Notwendigkeit der Zuordnung eines Zeichens zu einer Welt ist aber nicht auf den Spezialfall einer Gattungsunterscheidung zu beziehen, sondern sie gilt für jedes Zeichen, und wie das oben angeführte Beispiel des Zeichens / Es schneit/ zeigt, gilt sie für jede Alltagssituation. ZNT 5 (3. Jg. 2000) Stefan All<ier fremde Walten verstehen lernen Alle Menschen leben in Diskursuniversen, und es ist überlebensnotwendig, die verschiedenen Diskursuniversen, in denen wir leben, unterscheiden zu lernen. Das kommunikative Problem des Diskursuniversums besteht nun aber gerade darin, daß es verschiedene Welten mit verschiedenen Gesetzen gibt und wir in jedem Akt der Äußerung anzeigen müssen, worauf sich unsere Aussagen beziehen. Dabei setzen wir die gemeinsame Kenntnis der jeweils gemeinten Welt zwischen uns und unserem Gesprächspartner voraus, und wir müssen das tun, um pro Tag mehr als einen Satz sagen zu können. 14 Der Akt der Bezugnahme auf eine als gemeinsam gekannte Welt gehört zur Ökonomie menschlichen Sprechens und auch zu anderen menschlichen Zeichensystemen: Wenn wir eine rote Ampel sehen, dann ist es sinnvoll, daß nicht bei jeder Ampel ein Exemplar der Straßenverkehrsordnung angeheftet ist, das wir erst lesen müßten, um zu entscheiden, ob diese Ampel dieselbe Funktion erfüllt wie die anderen Ampeln, die wir schon kennen, oder ob sie vielleicht einer anderen Welt mit anderen Regeln angehört. Paulus, käme er per Zeitreise heute in eine Stadt, wüßte mit diesem Zeichen ad hoc nichts anzufangen, denn er wäre mit der Welt, auf die sie sich bezieht, nicht vertraut. Da er auch die Straßenverkehrsordnung nicht lesen könnte, wäre er auf jemanden angewiesen, der sie ihm erklärt. Uns geht es aber mit den Bibeltexten ungefähr so wie Paulus mit unserer Ampel. Die Welt(en) dieser Texte ist (sind) uns fremd, und es ist ein mühsames und unsicheres Geschäft, diese Welt(en) verstehen zu lernen, denn wir können niemanden anders als die Texte fragen. Das Beispiel der Ampel und der Straßenverkehrsordnung finden wir lächerlich, weil wir unsere Welt kennen, wir wären aber dankbar, wenn wir ausdrückliche Hinweise bei jedem Vorkommen z.B. des Zeichens / pneuma/ (Geist) von Paulus hätten, wie er es gerade an dieser Stelle verstanden hat, und er sich darüber ausließe, nach welchen Generierungsgesetzen er vom Zeichen / pneuma/ grundsätzlich Gebrauch macht. Es ist das bleibende Verdienst historisch-kritischer Exegese, auf die Notwendigkeit der Frage nach der Situiertheit biblischer Texte aufmerksam gemacht zu haben. Diese Frage darf aber nicht auf die textexterne Situiertheit und auch nicht auf die enzyklopädische Zugehörigkeit der Texte be- 51 schränkt werden, sondern muß bereits innerhalb der Texte gestellt werden. Wir teilen mit den Schreibern und Adressaten der biblischen Schriften nicht ihr jeweiliges Diskursuniversum, in dem ihre Aussagen ihren Sinn entfalten. Wir müssen daher versuchen, annäherungsweise innerhalb der auszulegenden Schriften danach zu fragen, welches Diskursuniversum bzw. welche Diskursuniversen die Texte (voraus)setzen, wie auf Diskursuniversen Bezug genommen wird und welche Gesetze in diesen Diskursuniversen gelten. Wir müssen uns bei der Lektüre von Bibeltexten auf fremde Welten einstellen, die ihr Geheimnis nicht ohne Akzeptanz ihrer Differenz zu unseren Welten auch nur annäherungsweise zu lüften bereit sind. Wie wir heute in verschiedenen Diskursuniversen leben, so auch die damaligen Menschen. Sicher gibt es Überschneidungen, Ähnlichkeiten und Äquivalenzen zu unserer Welteinteilung, aber wir können nicht von vornherein sicher sein, worin sie bestehen. Wir nehmen wahr, daß der um 120 n. Chr. geborene berühmte Sophist und Satiriker Lukian von Samosata 15 mit der Leichtgläubigkeit einiger Zeitgenossen spielt und seine Ironie Parallelen zur Wunderkritik der Aufklärung aufweist. Daraus aber eine Wundersucht ,des< antiken Menschen abzuleiten ist ebenso fatal, wie aus dem Boom an Fernsehsendungen, die >unglaubliche Geschichten< im Stile eines wohlrecherchierten Tatsachenberichts dem nach Sensationen lüsternden Publikum feilbieten, eine Wundersucht ,des< Menschen des 20. Jahrhunderts zu schlußfolgern. Die Lage ist viel komplizierter. Die semiotische Theorie des Diskursuniversums nötigt zu der Untersuchungsprozedur, jeden Text danach zu befragen, wie er auf ein oder auch mehrere Diskursuniversen Bezug nimmt, welche Grundannahmen dieses Diskursuniversum aufweist und wie in diesem Diskursuniversum der zur Debatte stehende Gegenstand einer Untersuchung verortet werden muß. Die Enzyklopädie Der Begriff des Diskursuniversums, wie ich ihn verwende, bezieht sich immer auf einen konkreten Zeichenzusammenhang z.B. einen Text, während die (virtuelle) Enzyklopädie sich auf das konventionalisierte Wissen einer gegebenen Kultur be- 52 zieht und die Ebene des gegebenen Textes übersteigt. Jede Textherstellung und jede Textlektüre muß auf eine Enzyklopädie kulturell konventionalisierten Wissens zurückgreifen. Die konventionalisierte Enzyklopädie ist eine regulative Hypothese, die erklären soll, was wir tun, wenn wir schreiben oder lesen, sprechen oder zuhören. Sie geht davon aus, daß jeder Mensch als Teilnehmer einer bestimmten Kultur über kulturelles Wissen verfügt und daß Texte wie alle anderen semiotischen Erzeugnisse dieser Enzyklopädie weitgehend verpflichtet sind. Auch wenn Texte dem kulturellen Wissen widersprechen oder es erweitern, bleibt es auch wenn es nicht genannt wirdals Bezugspunkt des Neuen von konstitutiver Bedeutung für den gesamten Signifikationsprozeß. Eine Enzyklopädie besteht nicht nur aus einem Wörterbuch, vielmehr enthält sie » Koreferenzregeln«, »kontextuelle und situationelle Selektionen«, »rhetorische und stilistische Übercodierung«, »ideologische Übercodierung« und allgemeine und intertextuelle »Szenographien« 16 (das sind typische Situationen, die in der Lebenswelt und in geläufigen Texten immer wieder vorkommen).17 Ein Eintrag in diese virtuelle Enzyklopädie enthielte »die Definition, die eine Gesellschaft konventionell für eine bestimmte kulturelle Einheit akzeptiert.« 18 In die Enzyklopädie des Römischen Reichs gehörte ein Eintrag unter dem Stichwort / Liebeszauber/ . Ob es hingegen einen Eintrag / Liebeszauber/ in eine Enzyklopädie der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland geben sollte, wäre zumindest fraglich. Auf jeden Fall gäbe es in der römischen Enzyklopädie dazu juristische Ausführungen, in der bundesdeutschen aber nicht. Die Lektüre eines Textes oder das Zuhören eines Gesprächspartners ist daher kein passives Verfahren reiner Aufnahme, sondern ein interaktiver Prozeß, der eine kreative Mitarbeit der Lesenden bzw. Hörenden verlangt. Umberto Eco hat in seinem Buch Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten versucht, die bisherigen Lektüretheorien und semiotischen Arbeiten in einem weiteren Sinn zu kombinieren und daraus ein eigenes Modell zu entwickeln. Nach Ecos Einsichten ist der Lektürevorgang ein komplexes Verfahren, das nicht mit dem auskommt, was ,da, steht oder ausdrücklich gesagt wird. Es ge- ZNT 5 (3. Jg. 2000) nügt nicht, die reine Ausdrucksebene, also die lineare Manifestation des Textes bzw. der Rede, wahrzunehmen. Es genügt aber auch nicht, Wort für Wort zu addieren und grammatische Regeln anzuwenden. Die Arbeit des Lesens 19 bzw. Hörens erfordert ebenso die Aktivierung oder Narkotisierung kulturellen und intertextuellen, d.h. enzyklopädischen Wissens, die das Entzifferte bzw. das Gehörte erst zu einem sinnvollen Ganzen werden läßt. Nun ist es ein Problem, daß Sender und Empfänger in aller Regel nicht über dieselben Codes verfügen, ein Problem, das sich bei der Interpretation von Texten anderer Zeiten oder/ und anderer Kulturen nochmals potenziert. Daher muß danach gefragt werden, welcher Enzyklopädie sich die lineare Manifestation des Textes bzw. der Rede verdankt und welche Enzyklopädie dem Lektürebzw. dem Redeakt zugrundegelegt werden muß, wenn man gemäß der Enzyklopädie lesen bzw. hören will, der der Text oder die Rede seine Produktion verdankt. Konsequenzen für die religionsgeschichtliche Arbeit Aus diesen beiden semiotischen Bausteinen ergeben sich Konsequenzen für die religionsgeschichtliche Arbeit. Sie muß es sich zum Grundsatz machen, die nicht kanonisierten christlichen und jüdischen Texte und auch die religiösen Texte der nicht-christlichen und nicht-jüdischen hellenistischen Kulturen mit demselben Respekt vor dem anderen zu erforschen wie er den kanonisierten Texten entgegengebracht wird. Der religionsgeschichtliche Vergleich ergibt nur Sinn, wenn er beide zum Vergleich herangezogenen Größen mit derselben Methode und derselben Hermeneutik der Behutsamkeit erforscht, die den anderen als anderen in den Blick nimmt und gelten läßt. Konkret: Bevor ein religionsgeschichtlicher Vergleich stattfinden kann, müssen der biblische und der zum religionsgeschichtlichen Vergleich herangezogene Text auf sein je spezifisches Diskursuniversum und die darin geltenden Plausibilitätsannahmen hin untersucht werden. Die Frömmigkeit etwa des gebildeten und in seiner Zeit hochangesehenen Rhetors Publius Aelius Aristides, der seine autobiographischen Krank- ZNT 5 (3. Jg. 2000) Stefan Alkier fremde Welten verstehen lernen heitsgeschichten und ihre Behandlungen in seiner Schrift >Heilige Berichte< 20 aus der zweiten Hälfte des 2. Jh. n. Chr. niederlegte und seine Heilungen bzw. Schmerzlinderungen vornehmlich dem Gott Asklepios zuwies, sollte nicht als berechnender Aberglaube abgetan werden, dem dann apologetisch und triumphierend zugleich diejenigen neutestamentlichen Wundergeschichten gegenübergestellt werden, in denen der Glaube im Mittelpunkt steht, der dann wiederum auf diese Weise exklusiv dem Christentum zugeordnet wird. Ein sorgfältiges Studium der Schrift des Aristides sollte jedem religionsgeschichtlichen Vergleich dieses Textes mit neutestamentlichen Wundergeschichten vorangehen. Diese Textarbeit sollte aber auch nicht von einem gemeinantiken Wunderverständnis ausgehen, das dann bei Aristides nur wiedergefunden wird, sondern sich auf sein Diskursuniversum, also die Welt des Textes, wie er sie setzt und voraussetzt, einlassen und sie zu erkunden suchen. Jenseits von Apologie und Polemik wird das die Andersheit der Plausibilitätsannahmen des Aristides behutsam und respektvoll erkundende Forschen dann auch über den religionsgeschichtlichen Vergleich zu einem wirklich tieferen Verständnis der neutestamentlichen Texte führen, die ihre Gemeinsamkeiten ebenso differenzierter benennen können wird wie ihre Unterschiede. 21 Auf der Basis der Untersuchung verschiedener Diskursuniversen können die notwendig groben Vorannahmen über die zu Grunde liegende Enzyklopädie ausdifferenziert werden. Je sorgfältiger einzelne Texte auf ihr spezifisches Diskursuniversum hin untersucht werden, desto zuverlässiger wird die Formulierung enzyklopädischer Hypothesen über einen gegebenen kulturellen Zusammenhang ausfallen. Konsequenzen für den interreligiösen Dialog Auch für den interreligiösen Dialog der Gegenwart und seine schulische Thematisierung ergeben sich förderliche Einsichten. Ein Text sei es ein christlicher oder der einer Fremdreligion sollte nicht nur als Illustration für die vom Lehrer bzw. von der Lehrerin gegebenen enzyklopädischen Überblick benutzt werden, sondern die Schüler und Schülerinnen sollten dazu aufgefordert werden, die Welt des Textes wie ein fremdes Univer- 53 sum zu erkunden. Dazu muß den Schülerinnen und Schülern freilich auch zugemutet werden, daß sie Neues zu entdecken in der Lage sindzumuten im doppelten Sinne des Wortes, denn es bedarf des Vertrauens auf die eigene Erkenntnisfähigkeit ebenso wie die Anstrengung, diese Fähigkeit auch einzusetzen. Der interreligiöse Dialog kann auf beides nicht verzichten. Nicht nur für die spezielle didaktische Schulsituation sondern für den interreligiösen Dialog selbst macht die Unterscheidung von Diskursuniversum und Enzyklopädie Sinn. Jede Gesprächssituation setzt ein spezifisches Diskursuniversum, wie das oben von Peirce zitierte Alltagsgespräch zeigt. Wenn das jeweilige konkrete interreligiöse Gespräch von einer enzyklopädischen Vorannahme zu sehr überlagert wird, dann hat der Gesprächspartner kaum mehr eine Chance, wirklich gehört zu werden, denn man weiß ja schon, was ein Moslem, ein Jude, ein Christ, ein Buddhist denkt und glaubt. Nur wenn wir bereit sind, dem konkreten anderen als jemanden zuzuhören, der vielleicht anderes sagt, als wir erwarteten, eröffnet sich ein echter Dialog. Der interreligiöse Dialog kann nur gelingen, wenn wir dem anderen respektvoll und neugierig auf seine Welt gegenübertreten. Nur so kann gemeinsam erkundet werden, welche Schritte gemeinsam gegangen, welche Welten gemeinsam bewohnt werden können und wo und warum sich Wege trennen. Daß auf diese Weise der eigene Glaube, die eigenen Traditionen, die eigenen Geschichten im Angesicht des anderen neu formuliert werden müssen und so vielleicht zu einem neuen Verständnis gelangen, könnte nicht das geringste Ergebnis eines aufrichtigen Dialogs sem. Anmerkungen * Ich danke mit diesem Aufsatz dem Vikarkurs Castrop- Rauxel der Ev. Kirche von Westfalen, dem ich ein gutes halbes Jahr angehören durfte, für die vielen Anregungen und die erfahrene Gemeinschaft. Ich wünsche der Kirchenleitung von Westfalen zu begreifen, daß ihre Vikare und Vikarinnen keine» Unterbringungsfälle« sind, sondern ein Schatz, über den sich die Kirche nur freuen kann. Das gilt im besonderen Maße von den Vikarinnen und Vikaren des Kurses Castrop-Rauxel. 1 Werner Kahl macht in seinem Beitrag zu diesem Heft zu Recht darauf aufmerksam, daß auch in den verschiedenen Kulturen der Gegenwart unterschiedliche Plausibi- 54 litätsannahmen gelten, deren Nähe bzw. Distanz zu denen der biblischen Texte verschieden ausfällt. Dabei darf aber nicht die Gefahr übersehen werden, die die Hypothese der Nähe mit sich bringt, denn die Vernachlässigung der Differenz gegenwärtiger Kulturen zu denen der biblischen Texte könnte zu einem Einlesen gegenwärtiger Plausibilitätsannahmen in die der Antike führen. 2 Vgl. z.B. I Thess 1,9; I Kor 10,14-22; Gai 4,8-11; Apg 16,16-24; 17,16-34. 3 Vgl. S. Alkier, Urchristentum. Zur Geschichte und Theologie einer neutestamentlichen Disziplin, (BHTh 83) Tübingen 1993, 38. 4 Vgl. ebd., 221-244. 5 Vgl. M. Hengel, Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Begegnung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Mitte des 2.Jahrhunderts vor Christus, (WUNT 10) Tübingen 1 1969 [Tübingen 3 1988] lf. 6 Vgl. dazu H. Lemke, Judenchristentum. Zwischen Ausgrenzung und Integration. Zur Geschichte eines exegetischen Begriffes, Dissertation, Hamburg 1998. 7 Die religionswissenschaftliche Rubrizierung von Exklusivismus, Inklusivismus und Pluralismus hat das Anliegen einer interreligiösen Hermeneutik sicherlich dadurch gefördert, daß verschiedene mögliche Umgangsweisen mit anderen Religionen bewußt gemacht wurden. Die umsichtige Kritik an diesem Modell von A. Grünschloß, Der eigene und der fremde Glaube. Studien zur interreligiösen Fremdwahrnehmung in Islam, Hinduismus, Buddhismus und Christentum, (HUTH 37) Tübingen 1999, zeigt aber, daß auch diese Trias noch zu starr ist, weil die historisch beobachtbaren Phänomene komplexer sind als das kritisierte Modell. Ich möchte aber im folgenden nicht das alternative, an der Systemtheorie Niklas Luhmanns orientierte religionswissenschaftliche Modell von Grünschloß vorstellen, sondern zwei auf semiotischer Theoriebildung basierende Begriffe einführen, die aufgrund ihres formalen Charakters offen genug sind um mit möglichst wenig Vorentscheidungen an die Wahrnehmung fremder Welten heranzugehen. 8 Die wohl beste Einführung in die Semiotik von Peirce liegt vor in der Arbeit: J.J. Liszka, A General lntroduction to the Semeiotic of Charles Sanders Peirce, IUP, Indiana and Bloomington 1996. 9 Vgl. dazu meinen Aufsatz: Hinrichtungen und Befreiungen: Wahn - Vision - Wirklichkeit in Apg 12. Skizzen eines semiotischen Lektüreverfahrens und seiner theoretischen Grundlagen, in: S. Alkier / R. Brucker (Hgg.), Exegese und Methodendiskussion, (TANZ 23) Tübingen/ Basel 1998, 111-133. Ausführlicher habe ich das semiotische Lektüreverfahren und seine hermeneutische Fruchtbarkeit dargestellt in meiner Habilitationsschrift: Wunder und Wirklichkeit in den Briefen des Apostels Paulus. Ein Beitrag zu einem Wunderverständnis jenseits von Entmythologisierung und Rehistorisierung, (WUNT l.Reihe) Tübingen 2000 (im Druck). 10 Vgl. U. Eco, The Role of the Reader. Explorations in the Semiotics of Texts. Advances in Semiotics, IUP, ZNT 5 (3.Jg. 2000) Bloomington 1979; ders., Semiotik und Philosophie der Sprache, Supplemente 4, übers. v. C. Trabant-Rommel u. J. Trabant, München 1985; ders., Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen, Supplemente 5, übers. v. G. Memmert, München 1987; ders., Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, übers. v. H.-G. Held, München/ Wien 1987. 11 Eco, Lector in fabula, 28: »Enzyklopädie oder Thesaurus sind das Destillat (in Form von Makropropositionen) anderer Texte. Es handelt sich um eine Zirkularität, die eine strenge Untersuchung nicht unbedingt entmutigen muß: das Problem besteht nur darin, so rigoros vorzugehen, daß von dieser Zirkularität auch Rechenschaft gegeben werden kann.« 12 In: B. Dressler / M. Meyer-Blanck (Hgg.), Religion zeigen. Religionspädagogik und Semiotik (Grundlegungen 4), Münster 1998, 163-187. Vgl. dazu auch meine Beiträge: Lazarus - Fact, Fiction, Friction, Loccumer Pelikan 4/ 1996, 153-159, und: Wunder PunktJesusfilm. Pastoraltheologie 86 (1997), 167-182. 13 C.S. Peirce, Semiotische Schriften 2, 1903-1906, hg. u. übers. v. C. Kloesel u. H. Pape, Frankfurt a.M. 1990, 96. 14 C.S. Peirce, Collected Papers 3.621, zitiert nachJ.J. Liszka, A General Introduction to the Semeiotic of Charles Sanders Peirce, 93: »The universe [referred to a proposition] must be weil known and mutually known to be known and agreed to exist, in some sense, between speaker and hearer [...] or there can be no communication, or >common ground, at all.« 15 Seine bissigen Satiren sind auch für heutige Leser und Leserinnen köstlich zu lesen. Eine Auswahl in deutscher Übersetzung auf Grund der Wielandschen Übertragung wurde herausgegeben von E. Ermatinger und K. Hoenn: Lukian, Parodien und Burlesken, Zürich 1948. Vgl. zu Lukian: H.D. Betz, Lukian von Samosata und das Neue Testament. Religionsgeschichtliche und paränetische Parallelen. Ein Beitrag zum Corpus Hellenisticum Novi Testamenti, Berlin 1961. 16 Die Terminologie entstammt der Monographie von U. Eco, Lector in Fabula, 89. Ebd. findet sich eine Graphik, die die Mitarbeit der Lesenden darstellt. Das Konzept der Enzyklopädie wird, ebd., 94-106, erläutert. Vgl. dazu auch U. Eco, Semiotik und Philosophie der Sprache, 77-132; ders., Semiotik, 143ff., 162ff., 174-178. 17 Semiotische Exegese sucht daher das interdisziplinäre Gespräch mit allen Forschungsrichtungen, die unsere Kenntnis der frühchristlichen Enzyklopädie erweitern können. 18 U. Eco, Semiotik, 144. 19 Es sei angemerkt, daß es zwischen Ecos Theorie der Mitarbeit der Lesenden und Wolfgang Isers Analyse des Leseaktes bei allen Unterschieden weitreichende Übereinstimmungen gibt, die hier darzustellen aber über die Absicht des vorliegenden Beitrags zu weit hinausreichen würde. Eco versteht seine Theorie der Mitarbeit der Lesenden ebenso als semiotische»Textpragmatik« (Eco, Lector in fabula, 5) wie Iser, der das Interesse seiner ZNT 5 (3. Jg. 2000) Arbeit Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 1976, 89, als semiotische Pragmatik offenlegt: »Das Interesse gilt daher der pragmatischen Dimension des Textes [...] Pragmatische Zeichenverwendung hat immer mit Verhalten zu tun, das im Empfänger bewirkt werden soll.« Zudem möchte ich darauf verweisen, daß Isers Begriff des Repertoires Ecos Enzyklopädiebegriff weitgehend entspricht. Iser, Der Akt des Lesens, 115: »Im Repertoire präsentieren sich insofern Konventionen, als hier der Text eine ihm vorausliegende Bekanntheit einkapselt. Diese Bekanntheit bezieht sich nicht nur auf vorangegangene Texte, sondern ebenso, wenn nicht sogar in verstärktem Maße, auf soziale und historische Normen, auf den sozio-kulturellen Kontext im weitesten Sinne, aus dem der Text herausgewachsen ist [...] Das Repertoire bildet jenen Bestandteil des Textes, in dem die Immanenz des Textes überschritten wird.« 20 Einleitung, dt. Übers. u. Komm. v. H.O. Schröder, Vorw. v. H. Hommel, WKGLS, Heidelberg 1986. 21 Werner Kahl hat in seiner die religionsgeschichtliche und formkritische Erforschung neutestamentlicher Heilungsgeschichten fördernden Untersuchung ,New Testament Miracle Stories in their Religious-Historical Setting, A Religionsgeschichtliche Comparison from a Structural Perspective (FRLANT 163), Göttingen 1994, in vorbildlicher Weise gezeigt, daß der religionsgeschichtliche Vergleich nur Sinn macht, wenn er mit einer durchdachten Untersuchungsprozedur den nicht-christlichen Texten dieselbe Aufmerksamkeit widmet, wie den christlichen. Kahl formuliert seine Ergebnisse erst nach einer dargelegten Untersuchung von rund 150 Heilungsgeschichten, die er dem Neuen Testament, frühjüdischen Schriften und anderen antiken Glaubenssystemen entnimmt. 55