eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 3/6

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
121
2000
36 Dronsch Strecker Vogel

Auf den Spuren des »Frühen Christentums« - eine Problemanzeige

121
2000
Bernd Wander
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Bernd Wander Auf den Spuren des »frühen Christentums« eine Problemanzeige Wer sich heute mit dem Phänomen des Frühen Christentums oder auch an anderer Stelle so bezeichnetem Urchristentum beschäftigen möchte oder Kenntnisse erwerben will, sieht sich mit einer Vielzahl von Problemstellungen und Fragenkomplexen und vor allem mit einer kaum noch überschaubaren Literatur konfrontiert. Um sich wenigstens ansatzweise einen Überblick zu verschaffen, sei daran erinnert, daß Differenzen besonders hinsichtlich der Terminologie, der Datierung der Epoche und den jeweiligen Ansatzpunkten schon lange bestehen. Diese gehen mit der wissenschaftlichen Erforschung des Neuen Testaments einher und sind seit der Aufklärung mit großen Namen der englischen 1 wie deutschen 2 Deisten 3 verbunden. Kernfragen der Forschungsgeschichte a) Stabiler Urzustand oder Dynamik der Prozesse? Neben den Deisten hatten besonders Ferdinand Christian Baur und Rudolf Bultmann auf die weitere Frage nach dem Frühen Christentum entscheidenden Einfluß; sie präfigurierten die eingangs angerissenen Problemfelder und trieben eine Auseinandersetzung damit voran. Ferdinand Christian Baurs (1792-1860) 4 Arbeiten zu einer kritischen Rekonstruktion der Frühgeschichte des Christentums waren unter anderem von der Prämisse geleitet, daß sich in der Anfangszeit zwei rivalisierende Gruppen einer judenchristlichen Partei unter Petrus und einer heidenchristlichen Partei unter Paulus gegenüberstanden, deren Auseinandersetzungen und Gegensätzlichkeiten einen Prozess auslösten, an dessen Ende der sogenannte »Frühkatholizismus« stand. Wenn sich diese Einschätzung in der Folgezeit auch nicht halten ließ, so ist doch als Verdienst Baurs herauszuheben, daß mit seinem Entwurf in die Geschichte des Frühen Christentums das Moment der Dynamik und Bewegung kam, herausgestellt eben an unterschiedli- 2 chen Gruppierungen, welche das Frühe Christentum entscheidend prägten. b) Theologie oder Historie? Rudolf Buhmann (1884-1976) hat sich als einer der einflußreichsten Exegeten des 20. Jh. mit unserem Thema in seiner Untersuchung »Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religion« 5 eingehend beschäftigt, doch sind die entscheidenden Aussagen Bultmanns an anderen Stellen seines bedeutenden Werkes zu finden. Besonders in der Frage nach der Rekonstruktion des »historischen Jesus« und von »historischen Jesusworten« stand Buhmann auf dem Standpunkt, daß das Auferstehungskerygma zwar in einer gewissen Kontinuität zum historischen Jesus stehe, nicht aber durch Rückgriff auf ihn legitimiert werden könne. 6 Diese besondere Beziehung zur Historie sollte dann als entscheidendes hermeneutisches Kriterium bei seinen Schülern zum Tragen kommen. So betont etwa Walter Sehmithals gegenüber den eher historisch orientierten Entwürfen zum Frühen Christentum, daß der Hauptgegenstand eine Orientierung an »grundlegenden theologischen Themen« bzw. eine Suche nach »wegweisenden Schritten der theologischen Entwicklung« sei.7 c) »Frühes Christentum« oder » Urchristentum« ? Neben dem Verhältnis von Historie und/ oder Theologie ist die Terminologie ein entscheidendes Thema. Neben den Bezeichnungen »Urchristentum« und »Frühes Christentum« existieren noch andere Formulierungen wie »ältestes Christentum«8, »Urkirche« 9 oder »Frühzeit des Christentums« . 10 Stefan Alkier hatte sich in seiner Dissertation 1993 für den Terminus »Frühchristentum« ausgesprochen, weil dieser einerseits weniger Vorentscheidungen über die Ergebnisse der historischen Forschung präjudiziere und andererseits keine idealisierenden Konnotationen enthalte. 11 Fran~ois Vouga ist 1994 dann ausdrücklich der von ZNT 6 (3. Jg. 2000) Bernd Wender Auf den Spuren des »Früh,m Christentums« eine Problamanzeige Bernd Wander Jahrgang 1960, Studium der Evangelischen Theologie in Wuppertal und Heidelberg, Promotion 1992, Habilitatiton 1997, mehrjährige Tätigkeit in der Rheinischen Kirche, Lehrbeauftragter in Heidelberg, Wuppertal und Köln, 1997-1999 Lehrstuhlvertreter in Frankfurt a.M., seit 1999 in Duisburg, verschiedene Veröffentlichungen zur Umwelt des Neuen Testaments und zur Zeitgeschichte. Alkier vorgeschlagenen Formulierung gefolgt. 12 Kritiker konnte diese begrüßenswerte differenzierende Terminologie jedoch nicht überzeugen. So setzt sich etwa Gerd Lüdemann weiterhin für die Ausdrücke »Urchristentum« oder »Primitive Christianity« ein. Lüdemann wörtlich: »Beide Begriffe sind auch insofern unentbehrlich, weil sie, viel eindrücklicher als der von A.(lkier) vorgeschlagene Begriff Frühchristentum oder der engl. Terminus Early Christianity, die Entstehungszeit des Christentums als Problem in Erinnerung rufen, denn in ihr fielen maßgebliche Entscheidungen über alle künftigen Entwicklungen der Christlichen Kirche.« 13 Dies ist freilich keineswegs ein durchschlagendes Argument. Denn »Frühes Christentum« vermag besser zum Ausdruck zu bringen, daß die damit anvisierte Periode der Geschichte ein vielschichtiger, übergreifender und sich überlappender Prozeß gewesen ist. Hierzu zählen die Auseinandersetzungen von Judentum und Judenchristentum, von Judenchristentum mit Heidenchristentum, von Heidenchristenturn mit Heidenchristentum genauso wie Konflikte mit Behörden auf heidnischer wie jüdischer Seite und damit verbundenem gesellschaftlichen und sozialen Druck. »Urchristentum« ist demgegenüber ein problematischer Ausdruck, weil er vom heutigen Sprachgebrauch her mehr auf das Typische rekurriert. Von einer typischen, beispielhaften Epoche ist ZNT 6 (3. Jg. 2000) die Zeit des Neuen Testaments weit entfernt, nicht zuletzt wegen der von Anfang an bestehenden Auseinandersetzungen innergemeindlicher und außergemeindlicher Art. d) Die Frage der Abgrenzung der Epoche Neben dem Verhältnis von Theologie und Historie und der Terminologie spielen Datierungsfragen eine entscheidende Rolle. Welchen Zeitraum hat das neutestamentliche Teilgebiet zur Erforschung des »Frühen Christentums« zu erfassen? Verschiedene Vorschläge werden dazu gemacht. Jürgen Becker favorisiert die Jahre zwischen dem Auftreten J esu bis 120-130 n. Chr. 1 4, während Henning Paulsen den zeitlichen Rahmen noch einmal bis 150-180 n. Chr. erweitert. 15 Gerd Lüdemann gar spricht sich dafür aus, daß erst nach dem Abschluß des Konsolidierungsprozesses der christlichen Gruppen das »Urchristentum« als Periode abgeschlossen sei. 16 Für die Erforschung dieser frühen Phase der Kirchengeschichte sollte jedoch zu allererst den Fragen nachgegangen werden, welche die Voraussetzungen als auch die Wirkungsgeschichte des doch relativ schmalen Bestandes an neutestamentlichem Schrifttum im Auge haben. Deshalb ist mindestens auch die Epoche zwischen 333 v. Chr. und 313 n. Chr. mit zu berücksichtigen, nämlich vom Beginn der Hellenisierung des Vorderen Orients 17 bis zur endgültigen Tolerierung der christlichen Gemeinden durch den römischen Staat. 18 Mit anderen Worten: »Frühes Christentum« ist geprägt von den historischen, soziokulturellen, politischen, theologischen Bedingungen dieser Gesamtepoche 19 und kann auch nur befriedigend durch das genannte methodische Verfahren erfasst und bewertet werden. II Einzelfragen der äußeren Entwicklung Neben diesen eher grundsätzlich ausgerichteten Fragen und Problemstellungen existieren noch eine Fülle weiterer Einzelfragen, die eine vereinfachende Übersicht und Einführung in den Gegenstand erschweren. Einige Aspekte seien jedenfalls angeführt.20 Beginnt die Phase des »Frühen Christentums« mit dem Auftreten J esu oder sind Personen zu reflektieren, die vergleichbar zu Jesus viel früher wirkten? Ist von »Frühem Christentum« nicht 3 erst wesentlich seit der Auferweckung Jesu zu sprechen? Stand am Anfang des »Frühen Christentums« die Einheit der Kirche, aus der sich dann viele verschiedene Entwicklungsstränge ergaben oder lief dieser Prozess umgekehrt ab? Finden im Neuen Testament und in der Phase der frühen Kirchengeschichte die Konfessionen ihren gemeinsamen Urgrund oder wer kann sich zu Recht auf diese Epoche berufen? Welche Bedeutung hat die Geschichte des Judenchristentums nach 70 n. Chr. für diese Epoche? Welche Rolle hat Paulus gespielt und hat »Frühes Christentum« nur durch ihn überlebt? Beginnt Darstellung des Frühen Christentums mit der Auswertung der frühesten Texte (z.B. I Kor 15,3ff.) oder sind andere Ansätze denkbar? Deutlich wird wohl schon bei der Auflistung dieser Komplexe, daß sie sich trotz intensivster Erforschung wohl keiner Lösungsmöglichkeit zuführen lassen und ebenso wie der Gegenstand »Frühes Christentum« einer intensiven Debatte ausgesetzt bleiben werden. Das soll im folgenden an einigen Schneisen gezeigt werden. Dabei soll beispielhaft gezeigt werden, welche Problemzusammenhänge und Lösungsvorschläge existieren und auf welchem Stand der Erforschung sie sich befinden. Anspruch auf Vollständigkeit kann hier ebensowenig erhoben werden wie eine umfassende chronologische Durchdringung der Materie. Dennoch sollen schlaglichtartig die wichtigsten Problemfelder angeführt werden. a) Die Frage der Einheit der jerusalemer » Urgemeinde« Wenn Lukas auch die ersten fünf Kapitel seiner Apostelgeschichte für den engeren Jüngerkreis J esu reserviert, so werden doch die von Anfang an bestehenden kulturellen und sprachlichen Probleme mitgedacht und verarbeitet. Zuerst ist eine Sprachbarriere zu nennen: Obwohl durch die Hellenisierung des Vorderen Orients die griechische Sprache und Kultur einen ungeheuren Siegeslauf genommen hatte, war sie in Jerusalem keineswegs selbstverständlich. 21 Daher ist mit je eigenständigen Versammlungs- und Lebensformen von aramäisch und griechisch sprechenden Judenchristen (Aramäer / Hellenisten) zu rechnen. Über die sprachlichen Schwierigkeiten hinaus gab es auch kulturelle bzw. soziale Barrieren. So müssen wir von Anfang an von einer Vielzahl urchristlicher 4 Gemeinden in J erusalem 22 ausgehen, von denen der ehemalige enge Kreis um Jesus nur einer unter vielen war und nicht allein das Prädikat »die Urgemeinde« verdient. Am Streit um die Versorgung der Witwen (Apg 6,1-6) werden die Divergenzen sichtbar. Daß griechisch sprechende Judenchristinnen bei der Versorgung übersehen werden, heißt nichts anderes, als daß sich der aramäisch sprechende Teil für sie in keinerlei Weise verantwortlich fühlte. Die Existenz unterschiedlicher Gemeinden in Jerusalem von Anfang an wird auch dadurch evident, daß nach dem Tod des Stephanus (Apg 6f.) die einsetzende Pogromstimmung nur die griechisch sprechende Christengemeinde trifft. Die panikartige Flucht vieler Christen aus J erusalem nach der Steinigung des Stephanus hatte weitreichende Folgen für die Ausbreitung des Christentums. Denn anscheinend flüchteten Hellenisten nicht nur in benachbarte Regionen wie Damaskus oder Antiochia 23 , sondern wandten sich dem Westen zu. Die Grußliste in Röm 16 setzt jedenfalls Personen voraus, die vor Paulus Apostel geworden waren und deren Namensgebung auf die Osthälfte des Reiches verweist. 24 Im Westen gründeten die Hellenisten schon früh Gemeinden und sprachen dabei nicht nur jüdische Zuhörer, sondern auch die heidnische Bevölkerung an (Apg 11,20). Gerade aus diesen Kreisen der »Hellenisten« kamen also die Impulse zur Öffnung zur Völkerwelt hin. b) Die Bedeutung des Jüdischen Krieges Spätestens seit dem Aufstand der Makkabäer (ab 167 v. Chr.) hatten sich radikale Gruppen im Judentum formieren und halten können. Herodes d. Gr. hatte sich mit ihnen erfolglos befaßt, und in den Tagen Jesu hatte sich eine einflußreiche zelotische Bewegung 25 herausgebildet. Die Gründe für radikalen politischen Widerstand waren zahlreich: zu hohe Steuern und Abgaben, Schuldsklaverei, Verletzung religiöser Gefühle durch Rom oder Rivalitäten der Priesterklassen, um nur einige der vielen Faktoren zu nennen, die sich 66 n. Chr. schließlich in der Katastrophe des Jüdischen Krieges entluden. 26 Während der zunehmenden Radikalisierung des Judentums in Palästina am Ende der S0er und zu Beginn der 60er Jahre des 1. Jh. n. Chr. wurden die judenchristlichen Gemeinden besonders in Jerusalem in die Ereignisse hineingezogen. Die auf- ZNT 6 (3. Jg. 2000) Bernd Wander Al•f den Spun.m des »f1•ühen Christimtumi; ; ". •·· t~im~ Problan"! anzeige geladene Stimmung hatte für den Herrenbruder Jakobus im Jahr 62 n. Chr. tödliche Folgen. Der zur antirömischen Fraktion des Jerusalemer Adels gehörige Hohepriester Ananos d.J., später Mitglied der adeligen Aufstandsführung, ließ Jakobus hinrichten, die übrigen Teile der judenchristlichen Gemeinden verließen Jerusalem wegen der herrschenden Pogromstimmung.27 Man suchte durch die Hinrichtung Solidarität mit den Aufständischen zu bekunden, und die Verbindung des Kreises um Jakobus mit Personen wie Paulus, die sich durch ihren Umgang mit Heiden verunreinigten, tat wohl ein Übriges. J osephus berichtet uns in der Episode über den Übertritt des Königshauses von Adiabene, veranlaßt von einem Pharisäer aus Galiläa, welcher den weiten Weg in die Diaspora nicht scheut, um das Königshaus davon zu überzeugen: Zugehörigkeit zum Judentum sei nur via Beschneidung möglich, alles andere bliebe im Bereich des Unverbindlichen (Antiquitates 20,34-48). Im weiteren Verlauf hören wir von Spenden und aktiver Beteiligung am Krieg gegen Rom. Diese Vorgänge können auf die Formel gebracht werden, daß Übertritt zum Judentum gleichzusetzen ist mit Solidarität und Finanzhilfe für die Aufständischen. Im Galaterbrief des Paulus könnten bestimmte Anspielungen so zu verstehen sein, daß mit der jüdischen Position, gegen die Paulus unter den Stichworten »Freiheit oder Knechtschaft« (die vor allem von den Zeloten vertretene Parole) kämpft, Personen gemeint sind, die radikalen Pharisäern nahe standen. Die Zugehörigkeit zu Israel im Sinne christlicher Gottesfürchtiger oder ähnliche Konstellationen reichten für die Gegner des Paulus nicht aus, gefordert war der volle Übertritt mittels der Beschneidung. Damit war ein Kampf entbrannt, der sogar vor psychischer und physischer Gewalt nicht zurückschreckte. 28 c) Die Konfliktpunkte mit dem Diasporajudentum In der Diaspora 29 hatte sich das Judentum bereits seit Generationen in einem Spannungsfeld von mindestens vier Faktoren bewegt, die sicherlich regional jeweils unterschiedlich geprägt und auch Schwankungen unterworfen waren. Die Faktoren waren: Abgrenzung und Partizipation einerseits und Attraktion und Aggression andererseits. 30 Denn einerseits war es wegen der Vorschriften der ZNT 6 (3. Jg. 2000) Tora und Halacha nötig, sich von der Heidenwelt abzugrenzen, andererseits konnte das alltägliche Leben nur gelingen, wenn ein Mindestmaß von Partizipation an den politischen und kulturellen Gegebenheiten gewährleistet war. Umgekehrt gab es große Teile besonders der gebildeten Bevölkerungsschichten, die als »Gottesfürchtige und Sympathisanten« an den Einrichtungen des Synagogalbetriebes partizipieren wollten, während sich die unteren sozialen Schichten in den großen Städten oft keine Gelegenheit entgehen ließen, soziale Spannungen und latenten Antisemitismus an den jüdischen Diasporagemeinden abzuladen. Während Teile der Diasporasynagogen noch diskutierten, welche Konsequenzen sich aus der Forderung Deuterojesajas an Israel ergaben, Licht für die Völkerwelt zu sein, und wie dies mit der Anweisung der Tora zur Abgrenzung von den Heiden in Einklang zu bringen sei, war die Öffnung des Frühen Christentums zur Völkerwelt bereits vollzogen. Auf diesem Hintergrund ist verständlich, warum einer messianischen Sondergruppe innerhalb der Synagogenverbände in der Diaspora nicht mit der gleichen Toleranz begegnet werden konnte wie im Mutterland Palästina. Je höher der politische oder soziale Druck vor Ort war, je mehr die jeweilige jüdische Gemeinde unter Beobachtung stand, desto größer wurde die Distanz der Juden zur neuen Sonderbewegung. Die früheste Nachricht über solche Ereignisse liegt bei Sueton im sogenannten »Claudiusedikt« ( 41 und/ oder 49 n. Chr.) vor. 31 Wegen Unruhen in Folge von Streitigkeiten in der jüdischen Gemeinde von Rom um die Bedeutung eines gewissen »Chrestus« werden führende Personen vom Kaiser aus der Stadt ausgewiesen. Wer diesen Streit nun auf Fragen um die Person Jesu im Hinblick auf seine Messianität beschränken möchte, reduziert den vorhandenen vielschichtigen Konfliktstoff. Der Hauptkonfliktpunkt war die Öffnung zur Völkerwelt. Weil in der Regel schon aus organisatorischen Gründen die jeweiligen Synagogengemeinden als Verkündigungsort für die frühchristliche Mission genutzt wurden, war damit umgekehrt auch die Zielgruppe klar: Die frühchristliche Mission richtete sich insbesondere an diejenigen, die mit dem Judentum in unterschiedlicher Intensität sympathisierten, letztendlich aber vor dem Übertritt aus verschiedenen Gründen zurückschreckten. Die in den neutestamentlichen Schriften zutage tretenden 5 Septuagintakenntnisse sind nur auf dem Hintergrund zu verstehen, daß in diesen Schriften gerade solche »Gottesfürchtige« und Sympathisanten angesprochen wurden. 32 Umgekehrt sah man es als eine Gefahr für die Diasporagemeinden an, wenn sich die Umworbenen eine neue Heimat suchten. So präfiguriert das Diasporajudentum auch abgesehen von der Präsenz christlicher Gruppen ein Problemfeld, das sich mit dem Auftreten christlicher Verkündigung brandgefährlich zuspitzen sollte. Daß eine solche Konstellation kaum ein tolerantes Verhältnis der jüdischen Gemeinden zu den Christusanhängern fördern konnte, leuchtet ein. Rückwirkungen aus den Diasporagemeinden auf das Leben der christlichen Gemeinden in Palästina hatte es vermutlich schon in den 40er Jahren gegeben. Als Agrippa I. aufgrund seiner guten Verbindungen zum römischen Kaiserhof wie sein Großvater Herodes I. in den Rang eines Klientelkönigs erhoben wurde, ging er recht schnell und mit großer Härte gegen die Gemeinden der »Aramäer« in Jerusalem vor (Apg 12,1-3). 33 Möglicherweise waren die oben bereits erwähnten Unruhen in der jüdischen Gemeinde in Rom zur Zeit des Claudius die Ursache dafür. Als kühl kalkulierender politischer Beobachter wird Agrippa sehr schnell bemerkt haben, welche Gefahr dem Judentum von der Bewegung um den auferweckten Nazarener drohte, weshalb er ihre Bekämpfung an der Wurzel gewissermaßen als seine oberste Aufgabe empfand. Die aufgezeigten Problemfelder im Mutterland Palästina und in der Diaspora demonstrieren die enge Verflechtung des Frühen Christentums mit der Geschichte des Judentums des Zweiten Tempels: Fragen von Kultur und Identität, von Öffnung zur Völkerwelt hin spielen genauso eine Rolle wie der zunehmende militärische Widerstand gegen Fremdherrscher. Das Frühe Christentum ist Teil dieser Geschichte. Wie sich diese Teilhabe auf die innergemeindlichen Prozesse auswirkte, soll im folgenden gezeigt werden. III Einzelaspekte der inneren Entwicklung a) Die historische Glaubwürdigkeit der Apostelgeschichte ist zuerst die Quellenlage zu bedenken, die besonders hinsichtlich der Evangelien und der Apostelgeschichte umstritten ist. Wie gestaltet sich urchristliche Geschichtsschreibung und welche Angaben können in diesem Rahmen als gesichert gelten? Welche Rolle spielt dabei aus heutiger Sicht die Apostelgeschichte? Wie kann es gelingen, einander widersprechende Angaben miteinander in eine sinnvolle Beziehung zu setzen? 34 Unumstritten dürfte dabei sein, daß die Apostelgeschichte des Lukas als »früheste Kirchengeschichte« allen Unkenrufen zum Trotz eine wichtige und aussagekräftige Quelle darstellt. Besonders gilt das für die nachrichtenarme Zeit der 30er und 40er Jahre, wo dieser Teil des lukanischen Doppelwerks manche Lücke zu füllen hilft. Trotz einiger Skepsis bleiben hier nur zwei Alternativen übrig: Verzichtet man auf die Apostelgeschichte als »unhistorisch«, dann muß man mangels qualifizierten Quellenmaterials den Mantel des Schweigens über bestimmte Abschnitte des Frühen Christentums legen, oder aber man nimmt die Apg als historische Quelle ernst und hat dann die Pflicht, die vorhandene Überlieferung mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln und mit Hilfe flankierender Angaben zum Sprechen zu bringen. Die Erforschung des Frühen Christentums kann ernsthaft sich nur mit der an zweiter Stelle geschilderten Alternative befassen. Für die Evangelien und die Apostelgeschichte gilt in diesem Fall: ihre Aussagen sind auf dem Hintergrund von Lokalkoloritforschung35, neuerer Formgeschichte 36 , epigraphischer, archäologischer und numismatischer Einsichten ebenso zu berücksichtigen wie der Aufweis religionsgeschichtlicher Parallelen oder der Vergleich mit Ereignissen des antiken Alltagsund_ Gesellschaftslebens. Um gerade die Nachrichten der Apostelgeschichte nicht überstrapazieren zu müssen, sind die größten gemeinsamen Nenner zu suchen über das, was aus heutiger Sicht haltbar ist und was nicht. Dazu sind Konsensfaktoren analog zur Frage nach dem historischen Jesus zu ermitteln.37 Nur so ist ein Weg aus der Sackgasse zu finden, die sich inhaltlich mit den beiden Extrempositionen kategorische Ablehnung einerseits und kritiklose Rezeption andererseits verbindet. b) Streitpunkt Apostelkonzil Um die inneren Problemkreise bei der Rekonstruk- Anhand der Angaben von Apg 15 und Gal 2 (sog. tion frühchristlicher Prozesse erfassen zu können, »Apostelkonzil«) soll die historische Problematik 6 ZNT 6 (3. Jg. 2000) Bernd Wander Auf den Spuren des »Fdihen Christentums« eine Pl'Oblernanzeige verdeutlicht und ein Lösungsvorschlag entfaltet werden. Wenn Paulus im Galaterbrief davon spricht, daß ihm bei der Jerusalemer Versammlung für seine beschneidungs- und ritualgesetzfreie Heidenmission keine Auflagen außer der Kollekte gemacht wurden, so geht der Bericht in Apg 15 doch dahin, daß die Verhandlungen mit Regeln beendet wurden, die im sog. »Aposteldekret« festgelegt sind (Apg 15,22-29). Apg 15 und Gal 2 haben in ihrer Auslegungsgeschichte alle möglichen Deutungen erfahren. Entweder wurden Gal 2 oder Apg 15 absolut gesetzt, beide Angaben verworfen oder miteinander mehr oder weniger schlecht harmonisiert. Welcher Weg ist aus heutiger Sicht gangbar? Unbestreitbar ist, daß beide Autoren in Apg 15 und Gal 2 über dasselbe Ereignis berichten, nämlich über eine Versammlung maßgeblicher Größen des frühen Christentums im Jahre 48 n. Chr. in Jerusalem. Weitgehend unbestritten in der Forschung ist auch, daß Paulus in Gal 2 die Ereignisse aus seiner Sicht wiedergibt. Bestritten wird aber, daß das Aposteldekret von Apg 15,22-29 in der Versammlung tatsächlich verabschiedet worden ist. Hier hat die Darstellung des Paulus absolute Priorität, wonach den in der Heidenmission Tätigen »nichts auferlegt« wurde. Das Aposteldekret ist eher als Modell anzusehen, mit dem Lukas Probleme in den 80er Jahren lösen will und es deshalb an prominenter Stelle einfügt. Gesteht man aber der Behandlung der Frage des Aposteldekrets eine gewisse Historizität für 48 n. Chr. zu, könnte sich eine neue Perspektive ergeben. Denn dann wäre die in Gai 2,9 38 angedeutete »Teilung der Missionsbereiche« eigentlich das Hauptthema der Zusammenkunft gewesen. Die verhandelte Frage müßte zugespitzt etwa folgendermaßen lauten: Wer geht in der Mission unter welchen Bedingungen zu wem? Man entschied, Paulus solle zu den Heiden ohne Beachtung von Minimalregeln gehen, während die petrinische Mission nicht ohne diese Regelungen entlassen wurde. So können die sich scheinbar widersprechenden Angaben aus Apg 15 und Gai 2 mittels des Scharniers aus Gal 2,9 doch in eine sinnvolle Beziehung gesetzt werden, nach welcher die Formulierung »zu den Juden« - »zu den Heiden« weder ethnographisch noch geographisch zu verstehen ist, sondern im Sinne einer Grundorientierung der heidenchristlichen Mission. 39 Die N achgeschichte der Versammlung zeigt nun, daß diese ZNT 6 (3. Jg. 2000) Auslegung Schlüssigkeit besitzt, wie im folgenden gezeigt werden soll. c) Das Problem gemischter Gemeinden nach dem 1. Korintherbrief Die Jahre zwischen 48 n. Chr. und der Verhaftung des Paulus 57 n. Chr. in Jerusalem waren die entscheidenden Jahre für das junge Christentum. Was geschieht in dieser entscheidenden Phase? Schon oben war darauf verwiesen worden, daß durch die Radikalisierung des Judentums in den 50er und 60er Jahren auch die Missionsbemühungen des Paulus tangiert wurden und er sich heftig gegen entsprechende Propaganda und Repression in neugegründeten Gemeinden zur Wehr setzen mußte, so daß die von außen kommenden Einflüsse gleichzeitig immer auch ein inneres Problem waren. Die Problemstellungen in den Gemeinden lassen sich wohl am deutlichsten am 1. Korintherbrief zeigen. Ein Problemkreis, mit dem sich Paulus in Korinth auseinanderzusetzen hatte, betraf die Frage des Götzenopferfleisches. In Korinth wurde wie in vielen anderen antiken Städten auch das Fleisch auf den Märkten angeboten, welches zuvor den heidnischen Göttern geweiht worden war und nicht im Tempel zum Verzehr kam. Wie mußten sich neugewonnene Christinnen und Christen aus dem Heidentum nun beim Einkauf verhalten? Warum gibt es Unruhe und Streit in den Gemeinden? Wieso kauften Teile der Gemeinden dieses Fleisch ein, warum stürzte es andere in Gewissensnöte? Die Antworten darauf lassen sich nur finden, wenn der Parteienstreit in Korinth in die Überlegungen einbezogen wird. Paulus berichtet davon, daß sich einige Gemeinden in Korinth auf Paulus, andere wiederum auf Petrus oder Apollos berufen (I Kor 1,10-17). Damit ist kein Personenkult impliziert, wie früher immer wieder angenommen wurde, sondern es sind unterschiedliche Modelle bei der Missionierung von Heiden im Blickfeld. Der strittige Punkt für Juden(christen) war ja nicht die Existenz von heidenchristlichen Gemeinschaften, sondern die Frage des sozialen Zusammenlebens, konzentriert im gemeinsamen Essen bei den Zusammenkünften. Hier war es Juden(christen) aufgrund der Bestimmungen der Tora und ritueller Bestimmungen (Halacha) nicht erlaubt, mit Heiden Tischgemeinschaft zu halten. Aber es existierten Lösungsmo- 7 delle, nach denen vermutlich bei der Jerusalemer Versammlung 48 n. Chr. gesucht worden war. Die paulinische Mission war nun so ausgerichtet, daß Paulus und sein Mitarbeiterstab sich als Juden(christen) in Richtung Heidenchristen orientierten, wenn diese zusammenkamen und dabei auf die Reinheitsforderungen als Juden(christen) freiwillig verzichteten. Das bedeutete, daß in den von Paulus gegründeten heidenchristlichen Gemeinden kein Katalog von Forderungen existierte. Diese äußerst großzügige Regelung wurde nun aber anscheinend mißverstanden und unter dem Schlagwort »Alles ist erlaubt« (6,12) kolportiert. Die petrinische Mission hingegen war anscheinend an Minimalregeln für Heidenchristen orientiert, deren Summe das sogenannte Aposteldekret ist. Hier ist die Regelung umgekehrt. Heidenchristen orientierten sich in diesem Fall in Richtung Juden(christen) und beachteten das Fernbleiben vom Götzendienst in jeglicher Gestalt, die Sexualbestimmungen sowie den Verzicht auf Blutgenuß und auf ungeschächtetes Fleisch, allesamt Forderungen aus der Tora. Es ist leicht vorstellbar, welche Konsequenz diese unterschiedlichen Konzepte auf das soziale Zusammenleben haben mußten. Paulus bringt in I Kor 10,25 ausdrücklich das Stichwort »Fleischmarkt« als Kulminationspunkt offener Fragen und Konflikte ins Spiel. Was mußte in Gemeindegliedern vorgehen, die auf dem Fleischmarkt mit ansahen, wie andere scheinbar ohne Bedenken Götzenopferfleisch kauften, was ihnen selber verwehrt war. Da die Gemeinden in Korinth sich überwiegend aus der Unterschicht zusammensetzten, hatte diese kultische Angelegenheit auch einen finanziellen Aspekt, denn das Fleisch aus den Tempeln wurde günstiger angeboten als anderes. Diesen Konflikt versucht Paulus nun auf vielfältige Weise durch allerlei Ermahnungen und Ermunterungen zu lösen. Entscheidend ist aber letztlich seine Argumentation am Ende von Kapitel 10. Nur durch Rücksichtnahme der Starken, also derjenigen, die sich nicht am Aposteldekret orientieren, nur durch eine solche Rücksichtnahme auf die Verunsicherten können die Streitigkeiten zu einem Ende gebracht werden. Bei der Rücksichtnahme auf andere verweist Paulus wiederum auf seine eigene apostolische Existenz. Auch geht er den gleichen Weg, nämlich das zu suchen, wie er sagt, was vielen dient, zu ihrer Rettung (10,33 ). Orientiert 8 sind diese Ermahnung und sein Verhalten aber am Vorbild Christi. Paulus wörtlich: »Folgt meinem Beispiel, wie ich dem Beispiel Christi« (11,1). d) Die Desintegration von Juden- und Heidenchristen Diese auf innerer Ebene der Gemeinden ablaufenden Prozesse wirkten sich entscheidend auf das Verhältnis zwischen Judentum und Heidenchristentum aus. Durch die Verhaftung und Überführung des Paulus nach Rom und den durch Willkür herbeigeführten Tod des Herrenbruders Jakobus waren die Ansprechpartner und Mittelsmänner für das Heidenchristentum und Judenchristentum vom diplomatischen Parkett verschwunden. Vergleichbare Personen mit ähnlich integrativer und anerkannter Bedeutung fehlten anscheinend. Die Flucht der J erusalemer Christen vor den Kriegshandlungen aus der belagerten Stadt und die völlig desolate Lage nach dem Ende des Krieges, nicht zuletzt bedingt durch die römische Repressionspolitik, taten ein Übriges: Was einst als Möglichkeit zur Ausbreitung der Sache Jesu Christi von Paulus und seinem Mitarbeiterstab offensiv betrieben worden war, verwandelte sich unter dem Druck der Ereignisse in sein Gegenteil. Die Unterdrückung aller jüdischen Aktivität und Identität durch Rom ließ aus der Kirche von Juden, Samaritanern und Heiden, wie sie Lukas in der Apostelgeschichte vorgeschwebt hatte, eine Kirche werden, die rein heidenchristlich geprägt war. Die Folgen des Jüdischen Krieges wurden redaktionell in den Evangelien verarbeitet, wohl eher mit mahnender als mit richtender Tendenz. 40 Lukas versuchte, das soziale Zusammenleben von pharisäisch geprägten Judenchristen (Diasporapharisäer) mit Heidenchristen zumindest durch das Aposteldekret zu gestalten. 41 Doch die Furcht vor einem übergreifen des Jüdischen Krieges auf die Diaspora auf römischer Seite machte solche Aktivitäten schwerer. 42 Vor Klischeevorstellungen in diesem Zusammenhang ist allerdings nachhaltig zu warnen. e) Das Problem der Christenverfolgungen Zwischen der Hinrichtung Jesu und der auf die Hauptstadt Rom lokal begrenzten Christenverfolgung unter Nero 64 n. Chr. ist von kaiserlich gelenk- ZNT 6 (3. Jg. 2000) Bernd Wander Auf den Spuren des nFrühen Christentums« eine Problemanzeige ten Initiativen gegen die Christen als eigenständige Bewegung historisch nichts bekannt. Auch für die Zeit zwischen 64 n. Chr. und 113 n. Chr. unter Kaiser Trajan fehlt es an entsprechenden eindeutigen Hinweisen. Das Problem lag auf einer anderen Ebene. Weil Rom die jeweiligen Provinzen und Kolonien mit einem minimalen Verwaltungsaufwand bewirtschaftete und die Verantwortung den Behörden vor Ort übertrug 43 , war der soziale Druck in den Städten gewaltig, bei den Römern nur nicht als Unruheherd aktenkundig zu werden. Dabei spielte das Vorgehen von Polizeikräften, Ordnungshütern und vor allem des Pöbels eine entscheidende Rolle. Denn das hatte der Jüdische Krieg vor allem und nachhaltig erreicht: Die Unterdrückung nicht nur der jüdischen Lebensweise, sondern von jeglichen judaisierenden Tendenzen. Und dies hatte eine durchaus fatalere Wirkung als staatlich sanktionierte Initiativen, auch wenn die Quellenlage nicht besonders üppig ist. Dokumente wie der 1. Petrusbrief lassen sich aber gar nicht anders als in diesem Kontext verstehen: Die christlichen Gemeinden waren Repressionen von Seiten ihrer ehemaligen Nachbarn, Freunde und wahrscheinlich auch Familien ausgesetzt, weil sie sich mit der Konversion offen von der heidnischen Lebensweise, von Opferbetrieb, Bäder- und Theaterkultur sowie von öffentlichen Spielen und Festivitäten distanzierten. 44 Aber nicht nur gerieten jüdische und christliche Gemeinden unter heidnischen Druck, sie rieben sich vielmehr auch aneinander. Denn noch immer war die hohe Attraktivität der jüdischen Mutterreligion in den heidenchristlichen Gemeinden zu spüren. Ehemalige »Gottesfürchtige und Sympathisanten« werden die Konflikte vorangetrieben haben und kaum die in der Forschung oft überbewerteten und oft zur Karikatur verzerrten sogenannten »judaistischen Gegner«. Der Epheserbrief nimmt an dieser Stelle einen besonders gewichtigen Standpunkt ein, wenn er die durch kulturelle Unterschiede hervorgerufenen Auseinandersetzungen zwischen judenchristlichen und heidenchristlichen Gemeinden aufgreift und mit Hilfe des Friedensbegriffes einer Aussöhnung zuführen möchte. Hier liegt eine eindrückliche Kontinuität zum Denken des Paulus vor, welcher ebenfalls in dem von Eintracht und Frieden geprägten Ideal der Pax Romana die Gemeinden zum Frieden aufgerufen hatte. Das Verhältnis von ZNT 6 (3. Jg. 2000) christlichen Gemeinden und Staat bezieht der Autor des Epheserbriefes auf das Verhältnis von Judenchristen und Heidenchristen. Ihr Friede in den Gemeinden hat letztlich einen missionarischen Effekt, weil nämlich der auf Christus beruhende Friede ein auch für die politischen Verhältnisse wichtiger Beitrag ist. IV Fazit Bei der Rekonstruktion der Geschichte des Frühen Christentums sind sowohl die in der Einleitung als wesentlich herausgestellten Faktoren der Dynamik und Bewegung (F.C. Baur) als auch im Anschluß an R. Buhmann die angemessene Verhältnisbestimmung von Historie und Theologie zu berücksichtigen. Somit sind bei der Beschäftigung mit dem Frühen Christentum nicht nur Fragen der Datierung, der Terminologie oder die zahlreichen Einzelprobleme angemessen zu erforschen, sondern es sind vor allem historische Prozesse mit grundlegenden Einsichten in die Theologie des Neuen Testaments zu verbinden. Denn nur in einer wechselseitigen Durchdringung von theologischen Grundeinsichten und historischen Abläufen, gedacht als ein dynamischer Prozess, können weiterreichende Einsichten gewonnen werden. Diese dürften nicht nur die unmittelbar historische Forschung voranbringen, sondern dazu führen, die m. E. nicht mehr haltbare Unterscheidung zwischen der Theologie des Neuen Testaments und der Geschichte des Frühen Christentums zu überwinden und beide Bereiche in eine produktive Spannung zu bringen. Die Beschäftigung mit dem Frühen Christentum erschöpft sich also keineswegs in der Rekonstruktion historischer Prozesse oder ist gar ein Appendix zur neutestamentlichen Theologie, sondern führt mitten in sie hinein. Anmerkungen 1 Vgl. W. Baird, History of New Testament Research, Volume One: From Deism to Tübingen, Minneapolis 1992. 2 Vgl. u.a. S. Alkier, Zur Geschichte und Theologie einer exegetischen Disziplin, BHTh 83, Tübingen 1993. 3 Deismus war in der Phase der Aufklärung eine Überzeugung, nach der Gott nach der Schöpfung der Welt keinen Einfluß mehr auf den Lauf der Dinge in keinerlei Gestalt nehme. 9 4 Ausführlich zu Baur vgl. Alkier, Geschichte. 5 R. Bultmann, Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religion, Zürich 1949. 6 R. Bultmann, Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen] esus, Exegetica. Aufsätze zur Erforschung des Neuen Testaments, E. Dinkler (Hg.), Tübingen 1967, 468f. 7 W. Sehmithals, Theologiegeschichte des Urchristentums. Eine problemgeschichtliche Darstellung, Stuttgart 1994, 7f. 8 W. Bauer, Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum (BHTh 10), Tübingen 2 1964. 9 E. Krebs, Urkirche und Judentum, Die Morgen-Reihe. Schrift 2, Berlin 1926. 10 H. von Campenhausen, Aus der Frühzeit des Christentums. Studien zur Kirchengeschichte des ersten und zweiten Jahrhunderts, Tübingen 1963. 11 S. Alkier, Geschichte, 265. 12 F. Vouga, Geschichte des frühen Christentums, Tübingen u.a. 1994. 13 G. Lüdemann, 129f. 14 J. Becker, Das Urchristentum als gegliederte Epoche (SBS 155), Stuttgart 1993. 15 H. Paulsen, Zur Wissenschaft vom Urchristentum und der Alten Kirche ein methodischer Versuch, ZNW 68 (1977), 200-230. 16 G. Lüdemann, 130. 17 Vgl. M. Bengel, Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Begegnung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Mitte des 2. Jh. v. Chr. (WUNT I/ 10), Tübingen 2 1973. 18 Vgl. Das frühe Christentum bis zum Ende der Verfolgungen. P. Guyot/ R. Klein, Bde. I-II, Darmstadt 1993/ 94. 19 Vgl. H.-J. Klauck, Die religiöse Umwelt des Urchristentums, Bde. I-II (KSTh 9), Stuttgart 1995/ 96. 20 An dieser Stelle sei nachdrücklich auf den Forschungsüberblick von G. Lüdemann verwiesen. Dort ist nicht nur die kaum noch überschaubare Literatur in repräsentativer Auswahl vorgestellt, sondern es sind auch die sich ergebenen Einzelprobleme und Fragen kenntnisreich aufgelistet. 21 Vgl. Mk 14,70; Apg 21,37. 23 Vgl. dazu die instruktive Untersuchung von M. Bengel/ A. Schwemer, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien. Die unbekannten Jahre des Apostels (WUNT I/ 108), Tübingen 1998. 24 P. Lampe, Die stadtrömischen Christen in den ersten beiden Jahrhunderten. Untersuchungen zur Sozialgeschichte (WUNT II/ 18), Tübingen 1987, 124-153: 138f. 25 Noch immer aktuell M. Bengel, Die Zeloten. Untersuchungen zur jüdischen Freiheitsbewegung in der Zeit von Herodes Ibis 70 n. Chr. (AGJU I), Leiden u.a. 2 1976. 26 Vgl. P. Schäfer, Geschichte der Juden in der Antike. Die 10 Juden Palästinas von Alexander dem Großen bis zur arabischen Eroberung, Stuttgart u.a. 1983, 135-144. 27 Vgl. J. Verheyden, The Flight of the Christians to Pella, EthL 66 (1990) 368-384. 28 Vgl. Ga! 6,12. 29 Vgl. dazu bes. J. Maier, Jüdische Auseinandersetzungen mit dem Christentum in der Antike (EdF 177), Darmstadt 1982. 30 Vgl. dazu meine Angaben in: Gottesfürchtige und Sympathisanten. Studien zum heidnischen Umfeld von Diasporasynagogen (WUNT II/ 104), Tübingen 1998, 15- 36; zur Frage einer jüdischen Mission 218-227. 31 Vgl. dazu ausführlich H. Botermann, Das Judenedikt des Kaisers Claudius. Römischer Staat und Christiani im 1. Jahrhundert (Hermes. E 71), Stuttgart 1996. 32 Vgl. Chr. Burchard, Zu Ga! 4,1-11, in: U. Mell/ U.B. Müller (Hgg.), FS J. Becker, Das Urchristentum in seiner literarischen Geschichte (BZNW 100), Berlin u.a. 1999, 41-58. 33 Vgl. dazu G. Theißen, Die Verfolgung unter Agrippa I. und die Autoritätsstruktur der Jerusalemer Gemeinde. Eine Untersuchung zu Act 12,1-4 und Mk 10,35-45, in: FS J. Becker, 263-289. 34 Aus der Sicht einer Althistorikerin hat H. Botermann, Judenedikt, die Gründe angeführt, die für ein Ernstnehmen der Apostelgeschichte als einer historischen Quelle sprechen (29-43). 35 G. Theißen, Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien. Ein Beitrag zur Geschichte der synoptischen Tradition (NTOA 8), Freiburg/ Schweiz u.a. 1989. 36 K. Berger, Formgeschichte des Neuen Testaments, Heidelberg 1984. 37 R. Heiligenthal, Der verfälschte Jesus. Eine Kritik moderner Jesusbilder, Darmstadt 2 1999, 34-36. 38 H.D. Betz, Der Galaterbrief. Ein Kommentar zum Brief des Apostels Paulus an die Gemeinden in Galatien, München 1988, 187 Anm. 377. 39 Vgl. M. Klinghardt, Gesetz und Volk Gottes. Das lukanische Verständnis des Gesetzes nach Herkunft, Funktion und seinem Ort in der Geschichte des Urchristentums (WUNT II/ 32), Tübingen 1988, 207-224. 40 Vgl. Berger, Formgeschichte. 41 J. Wehnert, Die Reinheit des »christlichen Gottesvolks« aus Juden und Heiden. Studien zum historischen und theologischen Hintergrund des sogenannten Aposteldekrets (FRLANT 173 ), Göttingen 1997, 252-255. 42 Vgl. W. Stegemann, Zwischen Synagoge und Obrigkeit. Zur historischen Situation der lukanischen Christen (FRLANT 152), Göttingen 1991, 147-186: 150-156. 43 Vgl. F. Vittinghoff, »Christianus Sum« - Das »Verbrechen« von Außenseitern der römischen Gesellschaft, Hist XXXIII (1984 ), 331-357. 44 W. Schäfke, Frühchristlicher Widerstand, ANRW II. Principat 23/ 1, Berlin (u.a.) 1979, 460-723. ZNT 6 (3. Jg. 2000)