ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
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Dronsch Strecker VogelAufstandsführer, Kriegsgefangener, Geschichtsschreiber: Der jüdische Historiograph Flavius Josephus und seine Bedeutung für das Verständnis des Neuen Testaments
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Steve Mason
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Steve Mason Aufstandsführer, Kriegsgefangener, Geschichtsschreiber: Der jüdische Historiograph Flavius Josephus und seine Bedeutung für das Verständnis des Neuen Testaments Lautete meine These einfach, dass Josephus für das Studium des Neuen Testaments relevant ist, wäre dieser Essay eine Zeitverschwendung für Autor und Leser. Unbestritten sind die vier Werke des Josephus in dreißig Bänden, verfasst zeitgleich mit den Evangelien (70-100 n. Chr.) mehr als relevant: sie sind unentbehrlich. Wann immer ein Forscher eine Aussage über das geschichtliche Umfeld der Evangelien macht über Herodes d. Gr. und seine Nachkommen, die römischen Statthalter Judäas, den J erusalemer Tempel, die Pharisäer und Sadduzäer, die historische Geographie Galiläas und vieles mehr dann bezieht er sich mit größter Wahrscheinlichkeit auf J osephus. Forscher tun dies »nicht aus freien Stücken, sondern vielmehr aus Notwendigkeit«, wie Josephus vielleicht sagen würde (Vita 27). Es gibt zwar eine ganze Bibliothek weiterer jüdischer Literatur etwa aus derselben Zeit: die Schriften vom Toten Meer, Philo von Alexandrien, dazu unterschiedlichste apokalyptische und weisheitliche Texte. Doch erschöpfen sich diese Quellen meist in Andeutungen, denn sie wurden hauptsächlich für Juden geschrieben, die über die geschichtlichen und kulturellen Bedingungen ihres Daseins nicht erst unterrichtet werden mussten. Josephus dagegen hat es unternommen, ein Geschichtswerk für Außenstehende zu schreiben, versehen mit reichhaltigen editorischen Exkursen und Betrachtungen. Deshalb sind seine Schriften für das Verständnis des Neuen Testaments von größter Wichtigkeit. Hierzu mehr zu sagen, wäre überflüssig. Mir kommt es auf etwas anderes an. Ich möchte die Fragestellung folgendermaßen formulieren: Die Bedeutung von Josephus' Schriften vorausgesetzt, wie sollten Leserinnen und Leser des Neuen Testaments von ihnen »Gebrauch machen«? Josephus' dreißig in Griechisch verfasste Bücher sind um einiges länger als die siebenundzwanzig (meist kurzen) Dokumente des Neuen Testaments. Es passiert nicht selten, dass interessierte Leser die Schriften des Josephus erwerben, weil sie wissen ZNT 6 (3. Jg. 2000) wollen, was Josephus zu sagen hat, dass sie dann aber auf ein undurchdringliches Gewirr von Einzelheiten stoßen, die man sich nicht merken kann, auf endlos wiederholte merkwürdige Namen, auf Beschreibungen längst vergangener Schlachten. Die dicken Bände taugen schließlich nur noch als Buchstützen oder Briefbeschwerer. Wie findet man in der Masse der Details das, was man braucht? Vor allem aber: Wenn man gefunden hat, was man braucht, wie soll man es verstehen bzw. davon »Gebrauch machen«? J osephus' Schriften werden von Kommentatoren des Neuen Testaments allgemein als eine Art Faktensammlung für christliche Zwecke benutzt. Dass ihnen dieser Ruf anhaftet, geht auf die Kirchenväter Origenes und Eusebius (3. und 4. Jh. n. Chr.) zurück, die irrtümlich annahmen, Josephus' blutrünstige Beschreibung vom Untergang Jerusalems unterstütze die christliche Anschauung von der Vernichtung der Juden wegen ihrer Ablehnung Jesu als Messias. Der angeblich prochristliche Charakter seiner Schriften wurde in der weltlichen Tradition festgeschrieben, in der Josephus' Werke neben dem Neuen Testament geradezu als »fünftes Evangelium« überliefert wurden. Dass er kein Christ war ein Umstand, den Origenes beklagt hatte ließ ihn als Lieferant von Fakten nur umso glaubwürdiger erscheinen. So kommt es, dass ein moderner Kommentator dort, wo im Neuen Testament etwa von Archelaos, vom Census unter Quirinius oder von den Sadduzäern die Rede ist, stets einige Fakten darüber aus Josephus anführen wird. Ein konkretes Beispiel soll zeigen, dass auch in der modernen Forschung das Modell »Faktensammlung für christliche Zwecke« ungebrochen in Geltung steht. Josephus' ausführliche Beschreibung der Essener in Bellum 2, 8,2-13 / 119-161 1 rückte mit der Entdeckung der Schriftrollen vom Toten Meer im Jahre 1947 plötzlich ins Zentrum des Interesses. In einem frühen Stadium der Forschung meinten einflussreiche Qumran-Speziali- 11 sten, dass die Verfasser dieser Schriftrollen niemand anderes als die von Philo und Plinius, besonders aber von Josephus beschriebenen Essener waren. Keiner fragte jedoch danach, wer Josephus' Essener wirklich waren und welche Funktion sie im Rahmen der josephischen Erzählung haben. Man entnahm der Darstellung bestimmte Details (Verbot der Ehe, des Spuckens oder der Defäkation am Sabbat, Reinheitsgebote, Gütergemeinschaft), überging aber Einzelheiten, die für Josephus selbst von weitaus größerer Bedeutung waren (Verehrung der Sonne, Verbreitung in allen judäischen Städten, griechische Ansichten über das Leben nach dem Tod, Pazifismus)2. Bis auf den heutigen Tag verwendet man bei der Interpretation von Josephus' Essenerdarstellung gewohnheitsmäßig größere Aufmerksamkeit auf die Qumranschriften als auf den narrativen Kontext dieser Darstellung 3• Ein verwandter und gleichermaßen problematischer Zugang windet den Text J osephus mit der Behauptung aus der Hand, er habe ihn als Ganzes aus einer anderen Quelle übernommen 4• Beiden Ansätzen ist gemeinsam, dass sie die kritische Betrachtung von der Notwendigkeit entbinden, Josephus' Essenerdarstellung im Kontext seiner eigenen Gedanken und innerhalb des größeren narrativen Zusammenhang zu interpretieren. Wäre dies geschehen, hätte man sie nicht so leichtfertig mit der Trägergruppe der Qumranschriften identifiziert. Hätte man sie besser verstanden, hätte man sie anders benutzt. 5 Dieser kurze Essay muss sich in seiner Zielsetzung natürlich beschränken. Meine These ist simpel in der Anlage, aber komplex in der Ausführung: Ich möchte zeigen, dass J osephus' Werke zwar tatsächlich äußerst wertvoll für das Studium des Neuen Testaments sind, dass ihr Wert jedoch nicht in ihrem Nutzen als Daten- und Faktensammlung der neutestamentlichen Zeitgeschichte liegt. Vielmehr ist Josephus ein intelligenter Autor mit (zumeist) ernsthaften Zielen, »ein vernunftbegabtes Wesen gleich uns selbst« 6• Über die Konkordanz oder ein Sachregister zu finden, was wir zu brauchen meinen, ist nur ein sehr vorläufiger erster Schritt. Die eigentliche Herausforderung besteht in dem Versuch zu verstehen, welche Stellung das jeweilige Thema in seinem literarischen Zusammenhang hat. Ohne diesen Versuch bleibt die Beschäftigung mit J osephus wertlos. Ein erstaunlicher Effekt der J osephusforschung 12 der letzten 150 Jahre ist, dass bisher kaum jemand eine Gesamtinterpretation oder wenigstens eine adäquate Gesamtgliederung der Hauptwerke des Josephus vorgelegt hat, geschweige denn eine Darstellung seines Denkens. In diesem Essay soll es hauptsächlich darum gehen, einen Überblick über seine Schriften zu skizzieren und anschließend einige Beispiele dafür zu vorzuführen, wie die josephische Darstellung unser Verständnis des Neuen Testaments erhellt. Ein Überblick über die Schriften des Josephus Das Bellum Wir beginnen mit der Darstellung des Jüdischen Krieges im sieben Bücher umfassenden Bellum J udaicum. Die ersten sechs Bücher hatJosephus zwischen 75 und 79 n. Chr. geschrieben und Buch 7 offenbar in der Zeit Titus' (79-81) oder Domitians (81-96) hinzugefügt. Über den Hintergrund der Entstehung dieses Werkes haben wir recht zuverlässige Informationen: Josephus hatte im Aufstand gegen Rom das Kommando über eine galiläische Truppe, ergab sich den Römern jedoch schon recht bald nach seinem Eintreffen in Galiläa im Juli 67. Als römischer Kriegsgefangener diente er als Mittelsmann, wurde später jedoch freigelassen (Ende 69) und im Jahre 71 nach Rom gebracht. Dort schrieb er zunächst eine Geschichte des Krieges auf Aramäisch für die Parther und die im Partherreich lebenden Juden. Dann verfasste er eine weitere Darstellung des Krieges in griechischer Sprache, die ein im Wesentlichen neues Werk darstellte. In Rom wurde er von den flavischen Kaisern gut behandelt, wenn auch nicht mit überdurchschnittlichen Privilegien ausgestattet (Vita 75 / 417-419). Er erhielt Wohnrecht im früheren Privathaus Vespasians, das römische Bürgerrecht, eine Pension, Steuererleichterung sowie Landbesitz im eroberten Judäa, doch weder er noch einer seiner Söhne erhielt eine der üblichen Auszeichnungen für besondere Verdienste oder eine besondere Ehrenstellung am Kaiserhof (Landbesitz in Italien, ritterlichen oder senatorischen Status). Rom war in den Jahren nach 70 n. Chr. für im Ausland lebende Judäer kein einfacher Lebens- ZNT 6 (3. Jg. 2000) Steve Mason Steve Mason studierte ancient judaism und Christian origins in Kanada, Jerusalem und Tübingen und lehrt zur Zeit an der York University / Toronto. Neben weitgefaßten Forschungen zum antiken Judentum, frühen Christentum und zur römischen Welt ist er international vor allem als Spezialist in der Josephus- Forschung bekannt. raum. Sie mussten spektakuläre Triumphzüge miterleben, in denen die Eroberung Jerusalems gefeiert wurde, dazu Münzprägungen, die dieses Ereignis festhielten (» Judaea capta! «), die Errichtung des mächtigen Titusbogens durch Domitian, der an Titus erinnerte, und die aggressive Eintreibung des fiscus]udaicus, einer Steuer, die für den Tempel des Jupiter Capitolinus in Rom verwendet wurde. Römische Autoren priesen die Niederschlagung des judäischen Aufstandes aus zwei Gründen: Erstens sah man in diesem Aufstand den Niederschlag des jüdischen Nationalcharakters: sie galten als arrogant, kriegerisch und der römischen Weltkultur gegenüber verschlossen. Zweitens sah man im römischen Sieg den Sieg der römischen Tugend über die jüdische Misanthropie, wie auch den Sieg der römischen Götter über den judäischen Gott, der sein Volk auf den Hass gegenüber anderen Göttern eingeschworen hatte 7• Dies war die Situation, in der Josephus das Bellum geschrieben hat. Obwohl dieses Werk in der Forschung weithin als prorömische Propaganda gelesen wurde, deuten die Hinweise, die das Buch selbst gibt, (viel mehr noch als seine persönliche Situation) in eine andere Richtung. Er nimmt für sich in Anspruch, den bereits bestehenden antijüdischen und prorömischen Darstellungen etwas entgegenzusetzen (Bell. 1,1 / 1-3; 3 / 7-9). Seine beiden Hauptthesen sind eine direkte Entgegnung auf ZNT 6 (3. Jg. 2000) die Anschuldigungen, dass die Judäer von den Göttern gehasst werden bzw. einem besiegten Gott dienen, und dass der Aufstand gegen Rom einmal mehr die Feindseligkeit der Judäer gegen das römische Imperium unter Beweis stellt. Josephus will erstens zeigen, dass der Aufstand in Wahrheit von ein paar machthungrigen Tyrannen ins Werk gesetzt wurde, denen es aufgrund verschiedener Ursachen gelungen war, das Volk seiner traditionellen und legitimen priesterlich-aristokratischen Führung abspenstig zu machen, mit den bekannten katastrophalen Folgen. Josephus argumentiert jedoch nicht einseitig, weil er der Inkompetenz einiger Statthalter insofern eine Mitschuld anlastet, als sie die Loyalität der Judäer auf eine harte Probe gestellt haben. J osephus schreckt nicht davor zurück, Beispiele römischer Grausamkeit und Falschheit namhaft zu machen. Doch auch angesichts solcher Provokationen, behauptet er, ging die alte jüdische Tradition stets den Weg des Friedens und der Loyalität gegenüber den herrschenden Mächten. Um seine Behauptung zu untermauern, führt J osephus detaillierte Beispiele für den jüdischen Nationalcharakter an: Die Hasmonäer wurden, nachdem sie einen bösartigen Unterdrücker (und alten Feind der Römer) vertrieben hatten, umgehend zu Bundesgenossen der Römer (Bell. 1,1,4 / 38). Herodes, dessen Freundschaft mit mehreren römischen Herrschern so berühmt wie folgenreich war, hatte er doch Privilegien und Steuererleichterungen für die Juden des ganzen Imperiums erwirkt. Die weltberühmten Essener, die ein beispielhaft friedfertiges und geordnetes Leben führen (Bell. 2, 8,2-13 / 119-161). Judäische Aristokraten und Oberpriester, die sich der Wankelmütigkeit der Massen entgegenstellten und mutig für den Frieden eintraten (vgl. Bell. 2,15,4-17,4 / 321-421). Zweitens können die Juden, wie Josephus in zahlreichen Reden, die er für seine Charaktere geschaffen hat, wiederholt zum Ausdruck bringt, die Herrschaft der verschiedenen Fremdmächte deshalb so gut ertragen, weil sie in dem festen Glauben leben, dass ihr Gott die Geschichte wachsam und umsichtig lenkt. In der Überzeugung, dass keine Nation ohne göttliche Hilfe Macht erhält (Bell. 2,8,7 / 140), sind sie bereit, Aufstieg und Fall der Weltmächte als Ausdruck des souveränen Handelns 13 Gottes zu akzeptieren (Bell. 2,16,4 / 365-387), und sie wissen, dass sie selbst nur dann jemals die Freiheit erlangen werden, wenn Gott sie ihnen gewährt. Eigenes militärisches Handeln wäre zum Scheitern verurteilt (Bell. 5,9,3-4 / 362-419). Diese Geschichtsauffassung stützt sich fraglos auf das Jeremia- und Danielbuch, und Josephus sieht sich selbst als einen Jeremia seiner Zeit (Bell. 5,9,4 / 392-393). Josephus hält also der Meinung, der judäische Gott wäre nun besiegt, entgegen, dass in Wahrheit auch die Römer diesem Gott dienen, in diesem Fall als Instrumente, um seinen heiligen Tempel von der Befleckung durch die Rebellen zu rem1gen. Zwar versäumt es J osephus nicht, Vespasian und Titus im Verlauf der Darstellung gelegentlich zu schmeicheln, doch hatte er in seiner Position kaum eine andere Wahl, und er reicht dabei bei weitem nicht an die Unterwürfigkeit eines Martial oder Statius heran. Josephus wollte mit dem Bellum nicht den Römern schmeicheln, sondern den Römern nach seinen eigenen Vorgaben für die Judäer, die den Krieg überlebt hatten, Anerkennung als gute Bürger des Reiches abgewinnen. Mit großer Aufmerksamkeit verfolgt er die Repressalien der Nachkriegszeit gegen Juden in verschiedenen Zentren des östlichen Mittelmeerraumes (Bell. 2,18,1-7 / 457-493) und ruft indirekt dazu auf, die Feindseligkeiten gegen seine Landsleute einzustellen. Josephus hat mit dem Bellum also nicht römische Propaganda vorgelegt, sondern eine Stellungnahme zugunsten seines Volkes. Wir wissen nicht, wer genau die ersten Leser (bzw. Hörer) des Bellum waren, doch scheint König Agrippa II., der an der Abfassung des Werkes beteiligt war (V 65 / 361-366), sein erster Patron gewesen zu sein. Die kaiserliche Familie erhielt Abschriften des fertigen Werkes und billigte es. Seine Botschaft von Frieden, bürgerlicher Ordnung und Vermeidung von Repressionen war auch in ihrem Interesse. Aber es war nicht ihre Darstellung des Krieges. Wie bei allen antiken Texten und Autoren sollten wir annehmen, dass Josephus mit einem geneigten oder wenigstens formbaren Publikum rechnete. Seine Gegner hätten kaum die Geduld aufgebracht, sein Geschichtswerk zu lesen. Sein Ziel war also nicht so sehr, feindlich gesonnene Menschen zu überzeugen, als vielmehr Sympathisanten Argumente an die Hand zu geben, damit sie im Gespräch mit Kritikern bestehen konnten. 14 Fragen wir nach der Makrostruktur des Bellum, so entdecken wir in der göttlichen Offenbarung an Josephus, die ihn davon abhält, sich das Leben zu nehmen, und die ihn in die Hände der Römer spielt, wo er in göttlichem Auftrag den Aufstieg Vespasians vorhersagt, den Dreh- und Angelpunkt des Werkes in seinem ursprünglichen Umfang von sechs Büchern. Um dieses Zentrum gruppiert J osephus folgende Teile: Herodes als Erbauer des Tempels (Buch 1) und auf der anderen Seite Titus als dessen Zerstörer (Buch 6); zunehmende innere Unruhen (Buch 2) und parallel dazu der tobende Bürgerkrieg, der mit der Zerstörung Jerusalems endet (Buch 5); das Bemühen des J osephus und der Oberpriester, der Situation Herr zu werden (Buch 3) und der rapide Niedergang, als die Rebellen die Hohenpriester vertreiben oder umbringen und den Tempel irreversibel schänden (Buch 4). Die Antiquitates Wir wenden uns nun dem einundzwanzigbändigen opus magnum des Josephus zu, den Antiquitates Judaicae und der Vita. Josephus hat dieses Werk in den letzten Jahren der Herrschaft Domitians (nach 93 n. Chr.) vollendet, in einer für römische Aristokraten schwierigen Zeit. Im Prolog behauptet J osephus, dass ihn einige an judäischer Kultur interessierte Heiden gedrängt hätten, eine Darstellung der judäischen Verfassung zu versuchen (Ant. 1,2-3 / 5-17). Diese» Lernwilligen« wurden angeführt von einem gewissen Epaphroditus, dessen Identität unsicher ist. Die zweite Hälfte des Prologs (Ant. 1,4 / 18-26) beginnt mit der Entfaltung der »philosophischen« Grundlagen der judäischen Verfassung. Josephus will zeigen, dass diese Verfassung in der ganzen Welt einzigartig ist: älter als alle anderen, philosophisch anspruchsvoller und, im Unterschied zu den Gesetzeswerken anderer Nationen, von umfassender Wirksamkeit in der Bestrafung des Lasters und in der Belohnung der Tugend. Die Antiquitates schalten sich deshalb in eine alte in Griechenland wie in Rom geführte Debatte über die beste Verfassung ein: Monarchie, Aristokratie oder Demokratie. Dies war zur Zeit des Josephus keine bloß theoretische, sondern eine höchst aktuelle und dringliche Frage. Die alte aristokratische Republik des römischen Stadtstaates war aus dem Gleichgewicht geraten, je schneller ZNT 6 (3. Jg. 2000) das römische Territorium im 2. Jh. v. Chr. wuchs. Im 1. Jh. v. Chr. waren mehrere römische Bürger als Diktatoren oder Mitglieder von Juntas zu großem Einfluss gelangt und hatten damit das republikanische Modell an seine Grenzen der Belastbarkeit gebracht. Seit Augustus bestand eine Art Kompromiss zwischen republikanischen Strukturen und der Exekutivgewalt des princeps, doch die Probleme dauerten an. Im Rom des Josephus, wo Domitian sich mit den sichtbaren Insignien des Königtums schmückte und sich viele Senatoren insgeheim nach den alten Verhältnissen zurücksehnten, waren Verfassungsfragen unter den Gebildeten ein vorrangiges Thema. WennJosephus die judäische Verfassung präsentiert, lässt er wenig Vorsicht walten, was wiederum auf ein positiv eingestelltes Publikum schließen lässt. Die Judäer, sagt er, haben eine senatorischpriesterliche Aristokratie, die älter und unverfälschter ist als jede andere und die eine Monarchie nicht duldet (Ant. 4,8,17 / 223; 6,3,3 / 36). Erbeginnt mit den philosophischen Ursprüngen, die in die Zeit der Schöpfung und der Patriarchen zurückreichen. Abraham eröffnet die Szene, indem er die Einzigkeit Gottes erschließt und den Ägyptern die Wissenschaften bringt, von wo aus sie nach Griechenland gelangten. Die judäische Verfassung selbst wird in Ant. 3-4 ausführlich vorgestellt als ein einzigartig gerechtes und zugleich menschliches Gesetzeswerk. Moses hat dieses Gesetzeswerk einem Priesterkollegium unter der Leitung des Hohenpriesters anvertraut, unter dessen Obhut es sich seitdem befindet. Die Priester bildeten einen Senat, den die Staatsoberhäupter stets um Rat fragten ein Aspekt politischen Lebens in Judäa, den J osephus in den biblischen Stoff einträgt. Obwohl die Verfassung die Aristokratie vorsah, haben die Judäer von Zeit zu Zeit mit der Monarchie experimentiert, doch hatte dies von Saul angefangen bis zu den letzten judäischen Königen immer desaströse Folgen. Selbst Herodes d. Gr. erscheint nun im Gegensatz zum Porträt des Bellum als unrechtmäßiger Monarch, der von den Gesetzen abgewichen ist (Ant. 14,15,2 / 403). Gegen Ende seines Hauptwerkes nimmt J osephus den Fall des Gaius Caligula zum Anlass, in eine für sein römisches Publikum unmittelbar relevante ausführliche Diskussion über Verfassungen und die Fallstricke der Monarchie einzutreten (Ant. 19,2,5-4,4 / 201-262). ZNT 6 (3. Jg. 2000) Obwohl die Monarchie nicht der Idealzustand war, konnte sie eine Zeitlang toleriert werden, wenn der Herrscher zugleich ein Philosoph war. So war Salomo ein bemerkenswerter Herrscher, weiser als alle anderen in seinem Verständnis der Natur und des Volkes, obwohl auch er in die Irre gegangen ist, als er seine persönlichen Wünsche über die Erfordernisse der Verfassung stellte. Tatsächlich lebten alle berühmten Gestalten der Judäer, ob militärische Führer, Könige, Propheten oder Priester, ein philosophisches Leben: Abraham, Joseph, Moses, Josua, David, Salomo, Jeremia und Daniel. Die Judäer sind, wie schon die ältesten griechischen Beobachter festgestellt haben, eine Nation von Philosophen, die den einen, unsichtbaren Gott verehren, die Entbehrungen gewohnt sind, einen einfachen Lebensstil schätzen und sich in Todesverachtung üben. Angesichts von Josephus' Wertschätzung der Aristokratie verwundert es nicht, dass er in den leicht zu erregenden Massen eine ständige Bedrohung der göttlichen Ordnung sieht. Der Mob unterstützte den berüchtigten Herrscher Gaius Caligula (Ant. 19,2,5 / 202). Josephus teilt die Befürchtungen römischer Autoren in Sachen Demokratie oder »Herrschaft der Massen« und hält das Volk für gänzlich abhängig von seinen verfassungsmäßigen (aristokratischen) Leitern, zugleich aber anfällig für Demagogen, die es mit Versprechungen schnellen Wohlstandes verführen. Er spricht vom »gemeinen Volk, das von Natur aus Gefallen daran hat, die Mächtigen schlecht zu machen, und sich in seiner Meinung von dem beeinflussen läßt, was irgend jemand gerade sagt« (Ant. 4,3,1 / 37). Die biblische Figur des Korach wird zum Inbegriff des Demagogen, der einen beispiellosen Aufruhr entfacht (4,2,1 / 12). Korach gehört wie der berühmte Catilina zur Aristokratie. Aus Neid auf Moses' Ehre verwendet er seine rhetorischen Fähigkeiten, um Mose und Aaron als Tyrannen zu brandmarken (4,2,2 / 14-19). Seine zur Schau getragene Sorge für das Volk verdeckt seine unverschämten Ambitionen (4,2,3 / 20). An späterer Stelle fällt Davids Sohn Absalom die Rolle des Demagogen zu (7,9,1 / 194-196). Noch später sind es die Pharisäer, die unter dem Deckmantel der Volksnähe ihren verderblichen Einfluss ausüben (13,10,5 / 288; 15,5 / 401; 18,1,1 / 9-10; 1,3 / 15; 1,4 / 17), und in der jüngsten Vergangenheit waren es die Umtriebe falscher Messiasse, die das Volk ins 15 Elend gestürzt haben (vgl. z.B. 18, 1,1 / 3-6; 20,8,5 / 160; 8,6 / 167. 172). Diese Darstellung der judäischen Verfassung im griechischen Gewand zerfällt in zwei Hälften mit derselben konzentrischen Struktur, die wir auch in Bellum 1-6 beobachtet haben. Den Angelpunkt bildet auch in den Antiquitates eine wichtige göttliche Offenbarung, nämlich die an den Exilspropheten Daniel. Ohne jede Kenntnis des tatsächlichen Entstehungszeit des Danielbuches, so später der Neuplatoniker Porphyrius (3. Jh. n. Chr.) wie auch die moderne Forschung, war Josephus tief beeindruckt davon, dass Daniel die Ereignisse unter Antiochus Epiphanes so lange vor ihrem Eintreten vorausgesagt hatte. Er nimmt dies als Beweis für seine grundlegende These: dass der judäische Gott nicht nur die gesamte Geschichte kontrolliert, sondern diese Geschichte auch in den heiligen Büchern der Judäer niedergelegt hat (Ant. 10,11,7 / 277-281). Um dieses Zentrum sind eine Reihe paralleler Stücke gruppiert. Um nur einige wenige Beispiele zu nennen: Die Bücher 1 und 20 spielen beide in Mesopotamien und handeln von wichtigen Konvertiten (Abraham und die königliche Familie von Adiabene). Die Bücher 3 und 4 entfalten die jüdische Verfassung, wogegen die Bücher 18 und 19 mehr oder weniger die Verfassungskrise Roms vorwegnehmen. Etwa in der Mitte beider Teile werden der erste (Buch 6) und letzte König Judäas (Bücher 14 bis 17) vorgestellt, nämlich Saul und Herodes d. Gr., die viele Gemeinsamkeiten aufweisen. König David, der Höhepunkt der frühen Monarchie (Buch 7) entspricht Johannes Hyrkan, dem herausragenden Vertreter der Hasmonäerdynastie (Buch 13 ). Unmittelbar an die Schlusspassagen der Antiquitates fügt J osephus ein weiteres Buch über seine eigene Lebensführung und Persönlichkeit an. Dieser Anhang soll die Qualität der judäischen Verfassung anhand seines eigenen Charakters (griech. ethos) als Autor illustrieren (Ant. 20,11,3 / 266; Vita 76 / 430). Den Vorgaben antiker Rhetorik folgend, stellt er seinen Charakter anhand edler Abstammung und einer herausragenden öffentlichen Karriere unter Beweis (Vita 2 / 12). Als Angehöriger der alten judäischen Priesteraristokratie und Kenner der philosophischen Grundlagen der Verfassung kann er auf eine glänzende, wenn auch nur kurze öffentliche Laufbahn in der Zeit verweisen, bevor er sich den Römern ergab. Personen in öf- 16 fentlicher Leitungsfunktion waren mit der Schwierigkeit vertraut, sich im Umgang mit den Massen freundlich zu zeigen und nicht dadurch Unruhen auszulösen, dass man durchblicken ließ, wo man einen unpopulären Kurs verfolgte 8, und Josephus hatte den nahezu unausführbaren Auftrag, das Volk auf einen Krieg vorzubereiten, den er selbst ablehnte (Vita 4-7 / 17-29). Dies zwang ihn dazu, ständig ein doppeltes Spiel zu spielen, nämlich das eine zu sagen und das andere zu denken. Gleichwohl erfuhr er göttliche Gunst und Bewahrung, dazu die Freundschaft wichtiger Protagonisten. Obwohl er von niedrig gesinnten, neidischen Gegnern (»Banditen«) angegriffen wurde, von bestechlichen Unruhestiftern Qohannes von Giskala, einer Jerusalemer Delegation, Justus von Tiberias), siegte Josephus schließlich, während sie alle kläglich scheiterten. Sein römisches Publikum darf sich also getrost auf seine Autorität als Repräsentant jener erhabenen judäischen Verfassung verlassen. Auch dieses kleine Buch hat eine sehr anschauliche konzentrische Struktur. Auch hier finden als Mittelpunkt eine göttliche Offenbarung, die die Mission des Josephus autorisiert (Vita 42 / 208- 211). Wiederum gruppiertJosephus um dieses Mittelstück eine Reihe komplementärer Episoden, die mit deutlichen Textsignalen aufeinander verweisen, so etwa zwei Berichte über Agitationen der Stadt Tiberias gegen seine Person, die er in beiden Fällen geschickt zu unterbinden wusste (Vita 16- 23 / 84-113; 53-58 / 271-304 ). Contra Apionem Josephus' letztes Werk in zwei Büchern ist traditionell unter dem Titel Contra Apionem bekannt, obwohl nur etwa ein Viertel dieser Schrift von dem alexandrinischen Grammatiker Apion handelt. Josephus selbst hat dieses Werk Über das Alter der Judäer o. ä. betitelt. Es handelt sich um den Versuch, die Hauptthesen der Antiquitates nochmals in einer systematischeren Form darzulegen: Das hohe Alter der Judäer, ihre edle Herkunft als Volk, die Reinheit ihrer priesterlichen Generationenfolge als Garant der Bewahrung ihrer Verfassung, der einzigartige moralische Standard dieser Verfassung, die Judäer als Vermittler der erhabensten Werte der Menschheit. Im Zuge dieser systematischen Darlegung widmet Josephus jedoch das Mittelstück l,24 / 219-2,15 / 145 der direkten Wider- ZNT 6 (3. Jg. 2000) Steve Mason ! }in Bedeutung des fl"wius Josephus für das Neue'Testament legung der bekannteren Gegner der Judäer, bei denen es sich durchweg um Alexandriner handelt. In der Forschung hat man aus dieser defensiven Argumentation traditionell und aus verständlichen Gründen geschlossen, dass Josephus Contra Apionem geschrieben hat, um die Verleumder des Judentums direkt zu bekämpfen. Dies ist jedoch unwahrscheinlich, weil diese Personen, wie wir schon im Blick auf das Bellum festgestellt haben, eine solche Schrift gar nicht gelesen hätten. Nimmt man außerdem die Widerlegungen aus der Feder des Josephus einmal genauer unter die Lupe, so stellt man fest, dass sie einen entschiedenen Gegner wohl kaum überzeugt hätten. Er verwendet zahlreiche Figuren rhetorischer Argumentation, etwa das verkürzte Zitat, das den Gegner lächerlich machen soll. Mit einem Wort: er »predigt dem Chor«. Auch Contra Apionem setzt noch jene Gruppe um Epaphroditus voraus, die schon seine früheren Werke gefördert hat (1,1 / 1; 2,41 / 296). Es handelt sich um Nichtjuden, die bereits ein gewissen Interesse an judäischer Kultur mitbringen. DaJosephus auch in der Vita literarische Gegner attackiert, ist die Forschung zu dem Urteil gelangt, dass auch diese Schrift der Widerlegung von Angriffen auf J osephus diente. Doch lässt sich aus den Attacken nicht der Schluss ziehen, J osephus habe damit gerechnet, dass seine Gegner die Schrift lasen. Nach der Logik antiker Rhetorik war es immer von Vorteil, wenn man jemanden hatte bevorzugt einen einfachen Gegner, der beim Publikum ohnehin schon einen schweren Stand hatte-, den man angreifen und als dunkle Folie verwenden konnte, um die eignen Tugenden besonders wirksam herausstellen zu können. Contra Apionem jedenfalls, Josephus' letztes uns bekanntes Werk, endet mit der eindrucksvollen Präsentation der judäischen Verfassung und ihres Einflusses auf die ganze Welt. In diesem Schlussstück fasst J osephus die Themen seiner früheren Werke für jene Gruppe interessierter Heiden in Rom nochmals prägnant zusammen, nicht ohne erneut die Aufnahme von Übertrittswilligen zu thematisieren (Contra Apionem 2,29 / 209-210; 37 / 261; 40 / 282). Der Rhetoriker Josephus Wir haben nun einen ersten Einblick in die schriftstellerischen Ziele des J osephus gewonnen. Es ge- ZNT 6 (3. Jg. 2000) hört jedoch zu den Merkwürdigkeiten eines großen Teils der antiken Literatur etwas, was für unser in der Tradition der europäischen Aufklärung stehendes Denken nur schwer nachvollziehbar ist-, dass ein Autor, so ernsthaft er auch gewesen sein mag, sein Thema gewissermaßen immer mit einem Augenzwinkern abgehandelt hat. Ich meine den Einfluss der Rhetorik als des wichtigsten Elements antiker Bildung auf alle Arten des Redens und des Schreibens. Ein römischer Redner hat auch dann, wenn er bei einem schwerwiegenden Fall die Position der Anklage oder der Verteidigung innehatte, eine kunstvolle, ja fast verspielte Sprache verwendet. Dies galt auch für Geschichtsschreiber. Antike Historiographen verwendeten für ihre Darstellung bestimmte rhetorische Kunstgriffe, um dem Publikum zu gefallen. Zusätzlich zu der beobachteten symmetrischen Struktur seiner Werke ist der spielerische Umgang des Josephus mit seinem Stoff beispielsweise an seinem Gebrauch von Namensformen abzulesen, die für antike Leser stets eine konkrete Bedeutung hatten. So stellt er ironisch fest (Vita 9 / 34), dass die Fraktion in Tiberias, die Rom die Treue (pistis) aufgekündigt hatte, von einem Mann namens Pistos (»treu«) und seinem Sohn Justus (»gerecht«) angeführt wurde. An anderer Stellte ändert er den griechischen Namen Noaros in das lateinische »Varus« (»verbogen, verdreht«), um einen Kontrast zu dem gerechten und fairen Aequus Modius zu erzielen, dessen Name, zumal in der Umstellung in Vita 180 (Modius Aequus), soviel wie »rechtes Maß« bedeutet. Der Wechsel von Noaros (Bellum) zu Varus (Vita) ist auch insofern ein Beispiel für rhetorische Verspieltheit, als Studenten der Rhetorik darin ausgebildet wurden, jedes beliebige Ereignis in unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Versionen darzustellen, mit ganz anderen Details und anders gelagerter Aussageabsicht. Wo Josephus Material aus einem früheren Werk in ein späteres übernimmt (Bell. 1-2 / Ant. 14-20; B 2-3 / Vita), verändert er es in der neuen Version meist grundlegend. Die ehrenwerten Versuche der Forschung, eine hinter diesen Änderung stehende, unseren Maßstäben entsprechende Logik aufzuspüren, waren alles andere als erfolgreich. Offenbar hat J osephus Spaß daran, selbst die unbedeutendsten Details zu ändern: Datierungen, Orte, Zahlen, Personennamen, Ereignisabfolgen. Und dennoch verweist er regelmäßig auf 17 die ältere, abweichende Darstellung! Allem Anschein nach genießt er die Freiheit der Gestaltung, die man ihm als Schriftsteller zubilligte und auch von ihm erwartete. Das Urteil der Forschung über Josephus' Werke war seit jeher von der traditionellen Meinung über sein Leben bestimmt, dass er nämlich ein Verräter und Spitzel war. Dementsprechend hielt man auch seine Schriften für propagandistisch und opportunistisch, oder aber man erblickte darin schamvolle Versuche des Autors, sich selbst zu rehabilitieren. Doch sollten wir uns an das halten, was wir haben, seine Werke, und nur mit großer Vorsicht Aussagen über sein Leben machen. Er gibt in Bellum und Vita sehr unterschiedliche Darstellungen seines Lebens, wie wir gesehen haben. Was wir für Schuldeingeständnisse halten, sind in Wahrheit Beispiele für seinen Trick- und Einfallsreichtum, die Josephus voller Stolz vorführt. Wie Homers Odysseus lügt er das Blaue vom Himmel herunter, um seine Ziele zu erreichen. Wenn wir ihm zugestehen, dass er uns nur das gesagt hat, was er uns wirklich sagen wollte, und zwar um sich als Überlebenden zu präsentieren, der seine Feinde überlistet hat, dann sollten wir das, was er uns über sein Doppelspiel und seine Täuschungsmanöver erzählt, nicht als belastendes Material werten. Vieles davon hat so vielleicht überhaupt nicht stattgefunden. Es geht ihm nur um Punktegewinn im Spiel der antiken Rhetorik. Über die tatsächlichen Ereignisse seines Lebens wissen wir nur sehr wenig. Josephus und das Neue Testament Es dürfte nun klar geworden sein, dass Josephus' Werke alles andere sind als eine Faktensammlung für christliche Zwecke. »Für christliche Zwecke« taugen sie schon deshalb nicht, weil J osephus und die neutestamentlichen Autoren ungeachtet ihrer Zeitgenossenschaft einander doch sehr fremd sind. Josephus gehört in Judäa wie in Rom in den Kreis einer kleinen, mächtigen Elite, die die hungerleidende und ungebildete große Masse kontrolliert. Er ist ein stolzer Vertreter gerade jener Priesteraristokratie, denen sich Jesus im Tempel entgegenstellt, und die auch die neutestamentlichen Autoren angreifen. Verglichen mit den Mächtigen rangieren Jesus und seine frühen Nachfolger am entgegengesetzten Ende der sozialen Skala. Die unterschiedli- 18 Josephus: Gott Hoherpriester Priesterliche Aristokratie {Philosophen; z.B. Essener, Johannes d~rTäufer) Die judäische Bevölkerung Demagogen Messiasse, Aufrührer, Pharisäer {und vielleicht Jesus) Neutestamentliche Autoren: Gott Satan Jesus korrupte Priesterschaft Pharisäer Die judäische Bevölkerung chen Wertesysteme des Josephus und der neutestamentlichen Autoren können äußerst vereinfacht dargestellt werden (vgl. obige Graphik). Und was die »Faktensammlung« betrifft, so müssen wir schlicht feststellen, dass wir etwas derartiges bei J osephus nicht finden. Vielmehr erzählt er aus bestimmten Gründen eine bestimmte Geschichte. Wie bei jedem anderen erzählenden Text der Antike können wir über das tatsächliche Geschehen und die Motive der Beteiligten nur mehr oder weniger wahrscheinliche Mutmaßungen anstellen. Wenn Josephus nun aber als Faktensammlung nicht zu gebrauchen ist, wozu ist er dann zu gebrauchen? Im Blick auf die Erforschung des Neuen Testaments möchte ich sechs Aspekte nennen. Erstens: überall dort, wo sich Josephus über Personen, Orte, Ereignisse und Institutionen äußert, die auch im Neuen Testament eine Rolle spie- ZNT 6 (3. Jg. 2000) len, sollten wir bei J osephus keine fertig aufbereiteten Informationen suchen, sondern seine eigenen, um ihrer selbst lesenswerten Geschichten. Wir können dabei noch nicht einmal fragen: »Was sagt J osephus über XY «, weil er sich in den meisten Fällen von einem Werk zum nächsten ganz unterschiedlich äußert. Seine Bewertung zahlreicher Herrscher, Parteien und Ereignisse variiert zum Teil erheblich. Es bleibt uns also nichts anderes übrig, als diese Geschichten als Geschichten zu lesen, und die Frage, was wirklich geschehen ist, unter Berücksichtigung alles weiteren epigraphischen, numismatischen und sonstigen Materials separat zu stellen. Zwar hatte Josephus einen weitaus besseren Zugang zu wichtigem Quellenmaterial als die Autoren des Neuen Testaments, doch reproduziert er diese Quellen nicht einfach, sondern er verwendet sie im Blick auf seine eigenen erzählerischen Absichten. Deshalb kann auf keine seiner Äußerungen vor einer solchen umfassenden Untersuchung ein besonderes Gewicht gelegt werden. Um es positiv auszudrücken: Wir sollten J osephus aus dem Grund lesen, aus dem wir auch das Neue Testament lesen: Aufgrund unserer Wertschätzung dieser Schriften. Zweitens: Wenn wir Josephus' Werke als ernsthafte (und zugleich auch unterhaltsame) Kompositionen eines intelligenten Autors lesen, dann werden wir immer wieder feststellen, dass die Sicht des Josephus der der neutestamentlichen Autoren widerspricht. Dies wird im Falle des lukanischen Doppelwerks, das den josephischen Schriften literarisch am nächsten steht, besonders deutlich. Wie Josephus schreibt auch dieser Autor für einen interessierten Patron (Theophilus), dem er die Entwicklung der Gruppe, der er zuneigt, in einer geordneten Geschichtsdarstellung nahe bringen will. Im Laufe seiner Darstellung bezieht sich der Autor auf eine Reihe von Schlüsselfiguren und -ereignissen, die auch bei Josephus eine Rolle spielen: der Zensus unter Quirinius, Pontius Pilatus, die Pharisäer, Sadduzäer und Tempelautoritäten, die Burg Antonia, der Rebell Judas, die Aufrührer Theudas und der ägyptische Prophet, die Könige Agrippa 1. und II. und Berenike, sowie Felix und Festus. Wenn wir von Josephus jedoch nicht bloßes Faktenmaterial haben wollen, sondern nach der Geschichte fragen, die er zu erzählen hat, dann stellen wir fest, dass seine Darstellung der christlichen in vieler Hinsicht widerspricht. So kommen die Pha- ZNT 6 (3. Jg. 2000) risäer bei Lukas viel besser weg als bei Josephus: Sie sind diejenigen, die am ehesten in der Lage wären, das orientierungslose Volk Gottes zu führen; sie sind »nicht fern vom Reich Gottes«, nehmen Jesus gastfreundlich auf, erkennen ihn als Lehrer an, obwohl sie an seinem Verhalten gelegentlich Anstoß nehmen. Sie verlieren ihre Offenheit auch dann nicht, als er sie scharf kritisiert, sie hätten keine Antworten auf die wahren Bedürfnisse des Volkes. Dagegen sind die Priester und Tempeloberen bei Lukas ein hoffnungsloser Fall. Ganz anders bei Josephus: Für ihn sind die Priester die einzige legitime Autorität, und Probleme gibt es erst, als ihnen Populisten wie die Pharisäer diese Position streitig machen. Dieser Kontrast zwischen Josephus und einem neutestamentlichen Autor sollte genug Diskussionsstoff bieten. Es geht nicht darum, dass die Pharisäer so oder so waren, sondern dass unterschiedliche Gruppen sie so oder so wahrnehmen. Drittens: Josephus und die neutestamentlichen Autoren stehen gemeinsam auf dem Boden der jüdischen Schriften. Schriftzitate sind im Neuen Testament autoritative Argumentationsgrundlage, undJosephus verwendet mehr als ein Drittel seiner dreißig Bücher (Ant. 1-11) auf eine Paraphrase der Bibel. Auch hier sind die Perspektiven denkbar verschieden. Besonders bei Paulus wird die Schrift häufig zitiert, um zu zeigen, warum es nicht länger notwendig ist, ihre Gesetze (etwa Beschneidung und Speisegebote) zu befolgen. Josephus dagegen liebt das judäische Gesetz, und er will zeigen, dass es für jedermann gilt. Erhellend ist, wie Paulus Abraham und Mose weit voneinander abrücken will (Gal 3,15-20), sie bei Josephus dagegen in direkter Kontinuität stehen (Ant. 1,6,5 / 148-2,16,6 / 349). Viertens: Gerade weilJosephus und die neutestamentlichen Autoren in ihren Grundansichten so differieren, sind stellenweise Übereinstimmungen historisch um so wertvoller. So lassen sich etwa zwischen Josephus und dem lukanischen Doppelwerk bei allen konzeptionellen Unterschieden folgende Übereinstimmungen feststellen: Die judäische Nation wurde hauptsächlich von einem priesterlicharistokratischen Jerusalemer Rat regiert, wenngleich auch die Pharisäer einen gewissen Einfluss hatten. Die Sadduzäer waren eine kleine Partei innerhalb dieser Führungselite, und die Pharisäer waren eine Art philosophische Schule, eine Gruppe von Lehrern ohne traditionelle Macht oder Autorität, aber mit beträchtlichem Rückhalt im Volk. 19 Fünftens: Josephus gibt uns Einblick in bestimmte antike Sozialstrukturen, die uns heute nicht mehr geläufig sind, etwa die Relation zwischen einem »Patron«, einer einflussreichen Person, die ihre Untergebenen zu versorgen hatte, und seinen »Klienten«, die die Machtposition des Patrons durch ihre Loyalität festigten. Diese Relationen wurden oft in den weicheren Begriffen familiärer und freundschaftlicher Beziehungen ausgedrückt (Vater, Mutter, Sohn, Tochter). So zeigt sich Paulus in seinen Briefen oft verstimmt, weil sich Dritte zwischen ihn uns seine Gefolgsleute gestellt und ihm diese abspenstig gemacht haben. Er reagiert dann traurig oder ärgerlich und erinnert an seine Rolle als Erbauer, Vater, Pflanzer, Hebamme, usw. (II Kor 3,10-15; 4,14-21; II Kor 10-13; Phil 3,2-6; Gal 1,6-10; 4,12-20). Josephus' Vita gibt einen lebendigen Einblick in die Dynamik solcher Beziehungen. Er hat, so behauptet er, ein offizielles Mandat, in Galiläa Truppen zu rekrutieren, die ihm zur Loyalität verpflichtet sind, doch seine Konkurrenten versuchen, diese Gruppen auf ihre Seite zu bringen. Große Teile der Vita zeigen Josephus in einer Paulus vergleichbaren Situation, in der er die Zuneigung seiner Gefolgsleute zurückzugewinnen versucht. Schließlich: Wenn selbst Josephus, der angeblich so nüchterne Historiograph, seine Darstellung in solch hohem Maße rhetorisch angereichert hat, sollten wir Vergleichbares nicht auch in den neutestamentlichen Schriften erwarten, die noch weit mehr darauf angelegt sind, eine bestimmte Wirkung bei ihrem Publikum zu erzielen? Vieles von dem, was wir bisher noch als Äußerungen der so grundlegenden wie komplexen paulinischen Theologie lesen, lässt sich möglicherweise viel angemessener als Teil einer kunstvollen rhetorischen Strategie beschreiben. Was die Evangelien betrifft, so widerstrebt es der redaktionskritischen Betrachtung bisher, unterschiedliche Versionen derselben Ereignisse als Ausdruck eines rhetorischen Spiels zu verstehen. Wenn Matthäus und Lukas Chronologie, Namen und Orte abändern, so nehmen wir meist an, dass der spätere Autor das, was er vorfand, aus ideologischen oder theologischen Gründen abänderte. In vielen Fällen ist dies eine plausible Erklärung, doch sollte uns das Beispiel des Josephus zu denken geben. Einern antiken Autor gereichte es nicht zur Ehre, wenn er ein Ereignis im exakten Wortlaut 20 seiner Quelle wiedergab. Also entwickelte man ein gewisses Vergnügen daran, Einzelheiten abzuändern. So wie J osephus gern dasselbe Ereignis in unterschiedlichen, ja widersprüchlichen Versionen präsentiert, so existiert auch die Überlieferung von der Berufung des Paulus in mindestens zwei verschiedenen Fassungen, und zwar innerhalb Apostelgeschichte, so dass hier keine ideologischen Gründe vorliegen können. Wir müssen daraus den Schluss ziehen, dass die Verfasser entweder nachlässig waren, oder, viel wahrscheinlicher, dass sie die betreffende Erzählung einfach in einer neuen Variante darbieten wollten. Für moralisierenden Gebrauch von Namen im Neuen Testament finden wir ein schönes Beispiel in I Kor 1,19, wo Paulus Jes 29,14 zitiert: »Vernichten (apolo) werde ich die Weisheit der Weisen und die Einsicht der Einsichtigen werde ich verwerfen«. Dies scheint ein scharfer und im rhetorischen Sinne doch spielerischer Seitenhieb gegen Apollos zu sein, da er offensichtlich derjenige ist, der auf Paulus' Fundament weiterbaut (I Kor 3,16. 10. 12- 15). Paulus scheint auch sonst gern mit Wortformen zu spielen, obwohl er jegliche rhetorische Fähigkeit ableugnet. Es ist gut möglich, dass die gewundene Argumentation des Römerbriefes, die zahllose tiefgründige Dissertationen in (theo )logischen Begriffen zu beschreiben versucht haben, sich viel besser als rhetorisches Phänomen erschließt9. Ich habe zu zeigen versucht, dass Josephus in der Tat für die, die das Neue Testament lesen, von großer Bedeutung ist, doch nicht als prochristliche Faktensammlung, sondern als echte Herausforderung, als ein Autor, der es verdient, dass wir ihn zu seinen eigenen Bedingungen ernst nehmen. Wenn wir ihn aus der Schublade befreien, in die wir ihn gesteckt haben, wird er unsere Lektüre des Neuen Testaments in ungeahnter Weise bereichern. Anmerkungen 1 Vor der modernen Paragrafenzählung (hier: Bellum 2,119-161) wird die alte Kapitel-/ Abschnittszählung angegeben (hier: Bellum 2,8,2-13 ), die noch der drei bändigen Werkausgabe von H. Clementz zu Grunde liegt (Flavius Josephus, Geschichte des Jüdischen Krieges, Wiesbaden o.J.; Des Flavius Josephus Jüdische Altertümer, Wiesbaden 8. Auflage 1989; Flavius Josephus. Kleinere Schriften, Wiesbaden 2. Auflage 1995. Das im drit- ZNT 6 (3. Jg. 2000) Steve Masoo Die Bedeutung des f: iavi•.1s Joseph"s fiir das Neue Tll! s: tamont ten Band enthaltene 4. Makkabäerbuch stammt nicht von Josephus). Clementz' Übersetzung ist veraltet und vielfach unzuverlässig bis irreführend. Es ist jedoch (nicht zuletzt wegen des niedrigen Preises) im deutschen Sprachraum noch immer die am weitesten verbreitete Ausgabe. 2 Vgl. etwa F.M. Cross, The Ancient Library of Qumran, New York 1961, 70-106; A. Dupont-Sommer, The Essene Writings form Qumran, Cleveland / New York 1961, 21-61; M. Black, The Serails and Christian Origins: Studies in the Jewish Background of the New Testament, New York 1956, 25-47. 3 Vgl. etwa T.S. Beall, Josephus' Description of the Essenes Illustrated by the Dead Sea Scrolls, Cambridge 1988; E.P. Sanders, Judaism: Practise and Belief 63 BCE - 66 CE, London/ Philadelphia 1992, 342-379; L.L. Grabbe, Judaism from Cyrus to Hadrian, Bd. 2, Minneapolis 1992, 494-495; R. Gray, Prophetie Ligures in late Second Temple Jewish Palestine: the evidence from Josephus, New York 1993, 81-82. 4 M. Black, The Account of the Essenes in Hypolytus. In: W.D. Davies; D. Daube (Hgg.), The Background of the New Testament and its Eschatology, Cambridge 1956, 172-181; M. Smith, The Description of the Essenes in Josephus and the Philosophoumena, HUCA 35 (1958), 273-293; R. Bergmeier, Die Essener-Berichte des Flavius Josephus: Quellenstudien zu den Essenertexten im Werk des jüdischen Historiographen, Kampen 1993. 5 Vgl. M.D. Goodman, A Note on the Qumran Sectarians, the Essenes andJosephus,JJS 46 (1995), 161-166; S. Mason, What Josephus says about the Essenes in his Judean War. In: S.G. Wilson / M. Desjardins (Hgg.), Text and Artifact in the Religions of Mediterranean Antiquity, FS P. Richardson, Waterloo 2000, 434-467. 6 So treffend R. Laqueur, Der jüdische Historiker Flavius Josephus, Gießen 1920, 231. 7 Obwohl die Schriften, die Josephus zu bekämpfen behauptet, nicht erhalten sind, finden wir deutliche Spuren dieser Position in Schriften späterer römischer Autoren: Tacitus, Historien 5,1-13; Philostratos, Apollonius von Tyana 5,33; Kelsos, logos alethes, bei Origenes, Contra Celsum 5,41; Minucius Felix, Octavius 10,33. 8 Vgl. Plutarchs Traktat Praecepta Gerendae Reipublicae (Mor. 798-825). 9 Vgl. dazu Steve Mason, »For I am Not Ashamed of the Gospel«: The Gospel and the First Readers of Romans. In: L.A. Jervis / P. Richardson (Hgg.), Gospel in Paul: Studies in Corinthians, Galatians and Romans for Richard N. Longenecker, Sheffield 1994, 254-287. ZNT 6 (3. Jg. 2000) Vorschau auf das nächste Heft Thema Wunder Neues Testament aktuell Stefan Alkier Wen wundert was? Einblicke in die Wunderauslegung von der Aufklärung bis zur Gegenwart Einzelbeitröge M elissa Au bin Beobachtungen zur Magie im Neuen Testament Peter Busch War Jesus ein Magier? Ralph Brucker Wunder der Apostel Wunder im frühen Christentum - Wirklichkeit oder Propaganda? Rainer Riesner versus Michael Wohlers Herm"net1tik und Vermitllun~J Bernd Kollmann Die Heilung des blinden Bartimäus (Mk 10,46-52)ein Wunder für Grundschulkinder Heft 7 erscheint im April 2001 21