ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
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2000
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Dronsch Strecker VogelBiblisch-theologische Überlegungen zum Jonabuch
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Klaus Koenen
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Klaus Koenen Biblisch-theologische Überlegungen zum Jonabuch Biblische Theologie fragt nach den sachlichen Verbindungen zwischen Altern und Neuem Testament. Ausgehend vom Jonabuch und seinen verschiedenen Sinnebenen sollen im folgenden einige Linien vom Alten zum Neuen Testament gezogen werden, um den Zusammenhang beider Testamente zu veranschaulichen. 1 Die Sinnfülle des Jonabuchs Das Jonabuch gliedert sich in zwei Teile. Der erste, Kap. 1-3, enthält die eigentliche Handlung. Jahwe beauftragt Jona, nach Ninive zu gehen und der Stadt Unheil anzukündigen. Der Prophet will jedoch nicht und sucht mit einem Schiff das Weite, aber Gott holt den Ausreißer zurück. Er schickt einen schrecklichen Sturm und einen rettenden Fisch, der Jona wieder an Land bringt. Mit Kap. 3 setzt die Handlung neu ein.Jona erhält seinen Auftrag ein zweites Mal, und diesmal führt er ihn aus. Er geht nach Ninive, der Hauptstadt der feindlichen Assyrer, und kündigt dem Sündenpfuhl Unheil an. Der König und die ganze Stadt einschließlich der Tiere tun daraufhin Buße, und Jahwe erbarmt sich ihrer. Im zweiten Teil der Erzählung, Kap. 4, wird das Geschehen von Kap. 1-3 in einem Gespräch zwischen Jona und Jahwe reflektiert. Zornig wirft der Prophet Gott vor, daß er Ninive begnadigt hat. Jahwe antwortet darauf mit einer Zeichenhandlung und deren Deutung. Er läßt eine Kürbispflanze wachsen, dann jedoch eingehen und darüber ist der Prophet sehr traurig. Es folgt eine Erklärung mit einem Argument vom Kleineren zum Größeren: WennJona schon über den Untergang einer Pflanze traurig ist, die er noch nicht einmal selber gemacht hat, um wieviel mehr müßte dann Jahwe über den Untergang einer riesigen Stadt traurig sein? Mit dieser Frage endet das Jonabuch und fordert so Hörerinnen und Hörer sokratisch heraus, selbst eine Antwort zu finden. »Hilff Gott, wilch ein wunderlich werck ist doch das! « seufzt Luther über das Jonabuch und fährt fort: »Wer kan es genugsam bedencken, das ZNT 6 (3.Jg. 2000) ein mensch soll drey tage und nacht so einsam, on liecht, on speyse mitten ym meer ym fische leben und widder komen? Das mag wol eine seltzame schiffart heyssen. Wer wolts auch gleuben und nicht fur eine lügen und meerlin halten, wo es nicht ynn der schrifft stünde.« (1526; WA 19,219, 22- 27). Die Jona-Erzählung eine Lüge? Der Helmstedter Theologieprofessor Herrmann von der Hardt erhielt noch im 18.Jh. neben einer Geldstrafe Publikationsverbot, weil er die Historizität des J onabuchs angezweifelt hatte. 1 Doch heute ist klar: Das J onabuch ist kein historischer Bericht, will es auch gar nicht sein, und alle rationalistischen Erklärungen, bei dem Fisch habe es sich um ein Schiff mit dem Namen »Großer Fisch« gehandelt, sind fehl am Platz. Wir haben es hier vielmehr mit einer Lehrerzählung zu tun, wie die rhetorische Frage am Ende des Buches zeigt, die anJona, in Wirklichkeit natürlich an Hörerinnen und Hörer gerichtet ist. 2 Doch was will diese Lehrerzählung lehren? Diese Frage ist in der Forschung recht unterschiedlich beantwortet worden. Problematisch ist an den verschiedenen Antworten, daß sie immer wieder versuchen, das Jonabuch auf eine einzige Aussage zu reduzieren. Die Erzählung zielt jedoch gerade nicht einfach auf einen einzigen Punkt, sondern enthält eine Reihe von Sinnebenen, die sich keineswegs ausschließen. Jona und Ninive können nämlich-und das führt zu unterschiedlichen Deutungen für verschiedene Größen stehen: J ona für den sündigen, aufbegehrenden Menschen, eine Gruppen in Israel oder die Propheten als Berufsgruppe; Ninive für den sündigen, aber zur Umkehr bereiten Menschen oder für die Völker außerhalb Israels. 1) Wenn Ninive den sündigen, aber zur Umkehr bereiten Menschen repräsentiert, verkündet die Erzählung entweder Gottes Gnade gegenüber solchen Sündern oder, wenn man bedenkt, daß die Zerstörung Ninives 612 v. Chr. zur Zeit der Entstehung der Erzählung längst als bekannt vorausgesetzt werden kann, Gottes Freiheit, zu 31 begnadigen und diese Begnadigung wieder zurückzunehmen. Dabei kann die Erzählung zugleich als eine Mahnung zur Umkehr verstanden werden, in der Ninive dem unbußfertigen Israel (vgl. Jer 36,3.24) als positives Vorbild vor Augen geführt wird. 2) Wenn Ninive dagegen für die Völker und Jona für Israel bzw. eher eine Strömung in Israel steht, ist die Erzählung als ein gegen partikularistische Tendenzen gerichtetes Plädoyer für die Einbeziehung der Völker ins Heil zu verstehen. 3) Wenn Jona nicht eine Gruppe in Israel repräsentiert, sondern den sündigen, gegen Gott rebellierenden Menschen, wird die Erzählung vor allem als Mahnung zum Gehorsam gegenüber Gott gelesen. Der Mensch will zwar vor Gott weglaufen, muß aber letztlich einsehen, daß das nicht geht. 4) Wenn Jona für die Propheten steht, will die Erzählung das Nicht-Eintreffen prophetischer U nheilsankündigungen erklären. Jona zürnt dann nicht wegen der Begnadigung der Sünder oder des Fremdvolks, sondern weil sein Wort nicht eintrifft. Die Erzählung würde gegen Dt 18,21f. besagen: Wenn sich ein Prophetenwort nicht erfüllt, muß der Prophet keineswegs ein falscher Prophet gewesen sein, sondern es ist auch möglich, daß Gott seinen Entschluß geändert hat. Im folgenden sollen vier zentrale Aussagen der Jonabuchs herausgegriffen werden, von denen Linien ins Neue Testament führen und die damit insbesondere wenn man ihre inneralttestamentliche Vorgeschichte berücksichtigt für eine gesamtbiblische Theologie von Relevanz sind. Diese Linien zeigen, daß die beiden Testamente nicht in einem grundsätzlichen Gegensatzverhältnis stehen, sondern es Kontinuität und inneren Zusammenhang gibt. 2 Das Jonabuch mahnt zur Umkehr Die klassischen Propheten des Alten Testaments etwa Arnos und Jesaja haben Israel ganz radikal das Gericht angesagt (Am 8,2). Die Möglichkeit, umzukehren und so der Vernichtung zu entgehen, gab es ihrer Ansicht nach nicht, denn das Unheil war in ihren Augen nicht mehr aufzuhalten. Erst später, nachdem Israel untergegangen, Jerusalem zerstört und ein Großteil der Bewohner ins Exil 32 verschleppt worden war, wird der Ruf zur Umkehr zu einem zentralen theologischen Thema. Erst jetzt werden die Propheten der Vergangenheit als Bußprediger verstanden, die Israel radikal zur Umkehr, d.h. zur Abkehr von den Sünden und zur Hinwendung zu Jahwe als dem einzigen Gott gemahnt haben, wenn auch vergebens. II Kön 17 erklärt, wie es zum Untergang Israels kommen konnte. Das Volk hatte sich permanent an Jahwe versündigt, und das, obwohl er es immer wieder durch seine Propheten gemahnt hatte: »Kehrt um von euren bösen Wegen und haltet meine Gebote und Satzungen! « (17,13) Die Propheten erscheinen hier also entgegen ihrem ursprünglichen Selbstverständnis als Umkehrprediger. Ganz im Sinne dieses späteren Prophetenbildes sind die Worte Jeremias von einem Redaktor überarbeitet worden. Die radikale Unheilsankündigung des Propheten wird von dieser Redaktion als ein letzter, freilich vergeblicher Versuch verstanden, das Volk vor dem Untergang zur Umkehr zu bewegen. So wird Jeremia in 18,7 ein Gotteswort in den Mund gelegt, das ihn als Umkehrprediger erscheinen läßt: »Ich kündige einem Volk und einem Königreich an, es auszureißen ... und zu vernichten. Wenn dieses Volk ... aber von seiner Bosheit umkehrt, dann lasse ich mich des Unheils gereuen, das ich schon beschlossen habe.« Wir haben es also mit einem Drei-Schritt zu tun, wie er sich auch in der Ninive-Szene des Jonabuchs findet: Einern Volk wird Gericht angesagt, es kehrt um und Jahwe nimmt seinen Vernichtungsbeschluß zurück. Was sich in Jer 18 als theoretische Überlegung findet, wird in den Erzählungen von Jer 26 und 36 expliziert. Jahwe beauftragt den Propheten, in Jerusalem zu predigen, damit das Volk von seinen bösen Wegen umkehrt und Gott seinen Vernichtungsbeschluß zurücknehmen kann. Doch die Jerusalemer hören nicht auf Jeremia. Weder der König noch seine Diener tun Buße, im Gegenteil sie vernichten die Schrift des Propheten. Jerusalem ist also nicht Ninive. Die im J eremiabuch bezeugte Konzeption, prophetische Unheilsankündigungen als Umkehrrufe zu verstehen, findet sich auch im Jonabuch, das mit seiner Erzählung von der Umkehr ZNT 6 (3. Jg. 2000) Klaus Koenen Dr. Klaus Koenen, geb. 1956. Studium der Evangelischen Theologie in Ann Arbor (USA) und Bonn. Promotion 1987 in Tübingen über Tritojesaja; Habilitation 1994 in Bonn über Spätschichten der Prophetenbücher; seit 1999 Professor an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät in Köln; Veröffentlichungen über Psalmen, Alttestamentler 1m 3. Reich und alttestamentliche Eschatologie. Ninives ein positives Pendant zu den J eremia-Erzählungen von der Verweigerung Jerusalems bietet. Jona kündigt Ninive Unheil an ohne jedes Wenn und Aber: »Noch 40 Tage und Ninive wird zerstört! «. Von einer Möglichkeit, die Vernichtung im letzten Moment noch irgendwie abzuwehren, läßt das kurze Prophetenwort nichts ahnen, es sei denn man versteht die 40 Tage, die Ninive verbleiben, als einen versteckten Hinweis auf eine letzte Frist. Wie dem auch sei, im vorliegenden Textzusammenhang wird die Unheilsankündigung als Umkehrruf gedeutet. Die Bewohner Ninives kehren anders als die Jerusalems nach der Unheilsankündigung des Propheten um, kleiden sich als Zeichen der Buße in Sack und Asche, wenden sich von ihrem bisherigen Lebenswandel ab und richten ihr Leben ganz auf Gott aus.Jahwe reagiert darauf, indem er nun seinerseits umkehrt und seinen Vernichtungsbeschluß rückgängig macht. Ninive wird also gerettet. Für Hörerinnen und Hörer erscheint Ninive damit wie zuvor schon die Seeleute, die sich zu Jahwe bekehren als positives Beispiel. Deswegen impliziert die Erzählung eine Mahnung zur Umkehr, und deswegen kann man das Jonabuch auch als eine Beispielerzählung bezeichnen, die uns die Bewohner des Sündenortes Ninive in ihrer Umkehr als Vorbild vor Augen führt. Wie die Leute von Ninive sollen ZNT 6 (3. Jg. 2000) l<laus Koenen Biblisch-theologische Überlegungen zum Jonabuch sich Hörerinnen und Hörer zu Gott bekehren und Buße tun. Diese Aussage wird in der jüdischen Tradition hervorgehoben, wenn das Jonabuch am Nachmittag des J om-Kippur verlesen wird, der zu Buße und Umkehr aufruft. Im Neuen Testament wird der prophetische Umkehrruf des Alten Testaments aufgenommen. Johannes der Täufer, als prophetische Gestalt gezeichnet, tritt nach Mt 3 als Umkehrprediger auf. In drastischen Bildern kündigt er das unmittelbar bevorstehende Zornesgericht Gottes an: »Schon ist die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt« (3,10). Wenn überhaupt, dann gibt es nur noch eine allerletzte Möglichkeit der Rettung: die radikale Umkehr. Deswegen tauft Johannes mit Wasser zum Zeichen der Umkehr (3,11) und fordert von den Menschen, Früchte zu bringen, Taten zu tun, die der Umkehr entsprechen (3,8). Wie das Jonabuch ruft Johannes also zur Buße auf. Für den, der dem bevorstehenden Unheil entrinnen will, kann es nur eines geben: umzukehren, d.h. die von Gott geschenkte Möglichkeit der Umkehr anzunehmen, sein Leben vollständig zu verändern und in ein neues Verhältnis zu Gott zu treten. 3 Auch für Jesus ist der Ruf zur Umkehr von erheblichem Gewicht. Nach dem Markusevangelium beginnt Jesus die Verkündigung seiner Heilsbotschaft mit den Worten: » Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist nahe gekommen. Kehrt um und glaubt an die Heilsbotschaft! « (Mk 1,15) Auch hier also der Umkehrruf, doch der Kontext, in dem dieser Ruf bei Jesus steht, ist ein etwas anderer. Findet sich schon im Deuterojesajabuch der Ruf: »Kehr um zu mir, denn ich habe dich erlöst« (Jes 44,22), so ist auch Jesu Umkehrruf anders als der des J ona und des Johannes zunächst einmal nicht auf dem Hintergrund einer Unheilsankündigung zu sehen, sondern auf dem seiner Heilsbotschaft. Die Botschaft vom Reich Gottes, die auch an Deuterojesaja anknüpft (vgl. Jes 52,7), steht im Zentrum der Verkündigung Jesu. Die Gottesherrschaft ist auch wenn seine Vollendung noch aussteht in Jesu Wirken schon jetzt präsent (Lk 11,20). Sie ist im Anbruch begriffen, und es liegt am Menschen, darauf mit Umkehr zu antworten. Man soll also nicht umkehren, um gerettet zu werden, sondern das Reich Gottes ist bereits da, und die Umkehr ist nur noch die selbstverständliche 33 Reaktion auf die Präsenz des Heils im WirkenJesu. Umkehr orientiert sich an Jesus, sie ist auf seine Person bezogen, und der Ruf zur Umkehr entspricht damit dem Ruf in die Nachfolge. Neben der Heilsbotschaft kennt Jesus die Gerichtspredigt (z.B. Lk 10,13-15; 13,6-9), und auch sie zielt auf Umkehr. Allen, die das Heil nicht annehmen wollen und sich dem Umkehrruf damit verschließen, kündigt Jesus das Gericht an, um sie so doch noch zur Umkehr und damit zum Heil zu bewegen. 4 Nach Lk 11,32 / Mt 12,41 zieht Jesus eine Verbindung zwischen seiner Gerichtspredigt und der des Jona und gibt damit zu erkennen, daß seine Unheilsankündigung wie die des Jonabuchs letztlich nichts anderes als die Umkehr der Betroffenen will. 3 » Die Männer von Ninive werden beim Gericht gegen dieses Geschlecht auftreten und sie werden es verurteilen, denn sie kehrten um nach der Predigt des J ona, und siehe hier ist mehr als Jona.« Das Jonabuch verkündet Gottes Gnade gegenüber den Sündern Der Mensch ist böse von Jugend auf, heißt es am Ende der jahwistischen Sintflut-Erzählung, und doch sichert Jahwe dem sündigen Menschen zu, daß er ihn nicht wieder verfluchen, ihn nie wieder mit einer Sintflut schlagen wird. Jahwe erbarmt sich also des Sünders. Auch im Jonabuch erweist sich Jahwe als gnädiger Gott, und zwar zum ersten in der Rettung des Jona. Er läßt den ungehorsamen Propheten, der sich von ihm entfernt hat, nicht im Meer ertrinken, sondern schickt einen Fisch zu seiner Rettung. Von einer Bestrafung des Jona ist keine Rede. Auch der ungehorsame Mensch, der sich von Gott abgewandt hat, wird gerettet. Das darf Jona am eigenen Leib erfahren, ehe er genau dagegen protestiert. Zum zweiten zeigt sich Gottes Gnade darin, daß er Jona ausgerechnet nach Ninive schickt und dieser Stadt dadurch überhaupt erst die Möglichkeit zur Umkehr eröffnet. Ninive, das ist das Sündenbabel der damaligen Zeit, oder wie der Prophet Nahum sagt die Stadt des Blutes, voll von Gestohlenem, eine unzüchtige Hure. Es ist die Hauptstadt des schlimmsten Feindes, des assyri- 34 sehen Weltreichs, das für seine Brutalität gefürchtet war. In dem königlichen Palast dieser Stadt hat man die Siege über Israel auf großen Reliefs verewigt, die heute in London im Britischen Museum zu sehen sind. Ninive das schlimmste also, was man sich vorstellen kann ausgerechnet diese Stadt rettet Jahwe und erbarmt sich damit der allerübelsten Sünder. Wer will es Jona verdenken, daß er sich gegen eine Begnadigung der Menschen ausspricht, die sein Volk so lange tyrannisiert und geplündert, die soviel gefoltert und gemordet haben? Und gehörte die Erwartung, daß Jahwe diesem Erzfeind ein Ende bereiten werde, nicht zu den elementaren Hoffnungen Israels? Das Entsetzen, das Gerechtigkeitsempfinden des J ona ist verständlich, Gottes Gnade dagegen unverständlich. Sie macht nicht einmal vor dem brutalen Erzfeind halt. Nach den beiden Rettungstaten spricht Jona Gebete, die jeweils wie eine Quintessenz klingen. Schon im Bauch des Fisches bekennt der Prophet: »Bei Jahwe ist Rettung« und nach der Verschonung Ninives betet er: » Ich weiß, daß du ein gnädiger und barmherziger Gott bist, langmütig und reich an Güte.« ( 4,2) Dieses Bekenntnis zum gnädigen Gott, im Alten Testament in ähnlicher Form mehrfach überliefert,5 gehört zu den zentralen Aussagen des Jonabuchs. Nichts von einem brutalen Gott, wie man ihn dem Alten Testament immer wieder allzu pauschal nachsagt, nichts von Auge um Auge, Zahn um Zahn, im Gegenteil: Das J onabuch wendet sich innerhalb des Alten Testaments deutlich gegen jedes starre Vergeltungsdenken und erzählt von Gottes Gnade gegenüber dem umkehrenden Sünder. Genau diese Gnade ist auch ein zentrales Thema des Neuen Testaments, ja die Rechtfertigung des Gottlosen ist der eigentliche Inhalt des Evangeliums. Hier wäre nun eine Fülle von Material auszubreiten, doch ein Blick auf Lk 15,11-32, das Gleichnis vom verlorenen Sohn, das man besser als Gleichnis vom barmherzigen Vater bezeichnet, soll genügen. 6 Ein Mann hatte zwei Söhne. Der jüngere läßt sich seinen Erbteil ausbezahlen, zieht in die Fremde, verpraßt sein Geld, verarmt völlig und kehrt kleinlaut nach Hause zurück in der Hoffnung, vielleicht als Tagelöhner eingestellt zu werden. Doch ZNT 6 (3. Jg. 2000) dann kommt im Gleichnis das für den Sohn wie für Hörerinnen und Hörer überraschende Moment: Noch ehe der Sohn bekennen kann: »Vater, ich habe gesündigt! «, kommt ihm der Vater entgegengelaufen, erbarmt sich des Sohnes, der sich im wahrsten Sinne des Wortes von ihm abgewandt hatte, jetzt aber zu ihm umgekehrt ist, und nimmt ihn liebevoll auf, ja bereitet ihm ein großes Freudenfest, in dem sich die neue, von Jesus verkündete Wirklichkeit spiegelt. So ist der Vater, »so ist Gott, so gütig, so gnädig, so voll Erbarmen« 7• Groß ist seine Freude über jeden Sünder, der umkehrt. Das Gottesbild, das sich im Gleichnis vom verlorenen Sohn ausdrückt, entspricht dem des Jonabuchs, und wenn man nach den traditionsgeschichtlichen Wurzeln des Gleichnisses fragt, 8 wird man auch an das in diesem Zusammenhang bislang übersehene J onabuch denken dürfen. Doch das Gleichnis ist noch nicht zu Ende, sondern das Verhalten des Vaters wird noch gegen Einwände abgesichert. In einer zweiten Szene, V.25-32, erscheint der ältere Bruder, der ganz anders reagiert als der Vater, der nämlich nicht in Freude ausbricht, sondern genau wieJona darüber erzürnt, daß ein Sünder derart liebevoll aufgenommen wird, der aber auch wie J ona zurechtgewiesen wird. Beide, der ältere Bruder und Jona, geben -wer will es ihnen verdenken dem viel beschworenen »gesunden« Rechtsempfinden Ausdruck und fordern Gerechtigkeit vergeltende Gerechtigkeit, die keine Gnade kennt. In beiden wird Hörerinnen und Hörern eine Identifikationsfigur angeboten, die sie bei ihrem eigenen Pochen auf Gerechtigkeit abholen soll. Beide Erzählfiguren müssen am Ende, nachdem der Vater bzw. Gott das letzte Wort haben, verstummen und einsehen, daß die Begnadigung des Sünders ein höherer Wert ist als vergeltende Gerechtigkeit. Genau das gilt auch für die Pharisäer und Zöllner, auf deren Murren Jesus sein Gleichnis nach der Darstellung des Lukasevangeliums (15,lf.) erzählt, und es gilt bis heute für alle Hörerinnen und Hörer, die sich mit Jona und dem älteren Bruder identifizieren oder von anderen mit ihnen identifiziert werden. Ihnen ist -wie insbesondere an der Offenheit des Schlusses deutlich wirddas Verhalten Gottes bzw. des Vaters zur Beurteilung aufgegeben, doch die Verfasser weisen ihnen den Weg, indem sie Gott bzw. dem Vater das letzte Wort geben. Das Jonabuch und das Gleichnis wollen Hörerinnen ZNT 6 (3. Jg. 2000) Klaus l{oenen Siblisch-the•: .l! ~! ; ! is,.: ; ! H: 1 Üt.w~r·ieutm~len zum .Jonabuch und Hörer so zu der Einsicht führen, daß nicht die Gesunden einen Arzt brauchen, sondern die Kranken, nicht die Gerechten, sondern die Sünder. Für diese Einsicht treten sie gegenüber Kritikern ein, die auf Gerechtigkeit pochen und eine Vergebung der Sünden ablehnen. Gott stellt Gnade und Liebe über das Prinzip Gerechtigkeit. Der gnädige Gott hebt seinen eigenen gerechten Unheilsbeschluß auf, ändert also seine Entscheidung. Die Wandelbarkeit Gottes, die modernem Denken so großen Anstoß bereitet, gehört zur Gnade dieses Gottes. Jahwe bleibt gegenüber seinem Wort frei, er stellt sein Mitgefühl über sein Interesse, sein Wort zu verwirklichen, und auch über ein starres Gerechtigkeitsprinzip. Man hätte auf das Gleichnis vom verlorenen Sohn auch in dem Abschnitt »Das Jonabuch mahnt zur Umkehr« verweisen können. Wie das Jonabuch läßt sich nämlich auch das Gleichnis nicht einfach auf eine Aussage reduzieren. Man kann es nicht nur als eine Parabel lesen, die im Verhalten und der Freude des Vaters gipfelt und im Rahmen der eschatologischen Verkündigung Jesu Gottes Heilszusage zur Sprache bringt, sondern auch als eine Beispielerzählung, die ihre Spitze in der Umkehr des Sohnes hat und Hörerinnen und Hörer dadurch, daß sie der Umkehrparadigmatisch übergroßen Erfolg zuteil werden läßt, implizit zur Umkehr ruft. Antwortet das Gleichnis als Parabel verstanden auf die Frage »Was darf ich hoffen? «, so bezieht es sich als Beispielerzählung auf die Frage »Was soll ich tun? «. Dann steht nicht eine Zusage im Vordergrund, sondern ein Anspruch. 4 Das Jonabuch lehrt Gottes Freiheit In seinem Protest und in seinem Verstummen am Ende der Erzählung erinnert J ona wie auch der ältere Bruder des Gleichnisses an Hiob, ja das J onabuch thematisiert wie das Hiobbuch die Theodizee-Frage: Ist Gott gerecht? Allerdings wird diese Frage das macht einen Vergleich der Bücher so spannend aus ganz verschiedenen Perspektiven gestellt. Hiob fragt angesichts seiner Leiden: Ist Gott gerecht, wenn Sündlose Unheil erfahren müssen? Jona fragt dagegen: Ist Gott gerecht, wenn Sünder Heil erfahren dürfen? Hiob protestiert also gegen Gottes Zorn, J ona gegen Gottes 35 Gnade. Beide, Hiob und Jona, wollen Gerechtigkeit im Sinne der Konstituierung des Tun-Ergehen-Zusammenhangs, doch beide müssen lernen, daß sie die Rechnung ohne Gott gemacht haben. Am Ende der beiden Bücher, die vom Aufbegehren ihrer Helden erzählen, stehen Gottesreden, und diese Gottesreden heben je auf ihre Weise die Freiheit Gottes hervor. Wer hat die Macht, mit Gott zu rechten? Natürlich niemand! Gott bleibt in seinem Verhalten gegenüber dem Menschen, gegenüber dem Gerechten wie dem Sünder frei. Im Neuen Testament kommt Gottes Freiheit sehr schön im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg zur Sprache, das man treffender als Gleichnis vom gütigen Gutsbesitzer bezeichnet (Mt 20,1-16). 9 Der Besitzer eines Weinbergs stellt frühmorgens Tagelöhner ein und vereinbart mit ihnen einen Denar als Lohn. Im Laufe des Tagesheuert er mehrfach für die jeweils verbleibenden Stunden weitere Arbeiter an. Als Lohn verspricht er ihnen das, »was recht ist« (V.4). Mit dieser offenen Formulierung wird beim Hörer die Erwartung geweckt, die später eingestellten Arbeiter erhielten eine proportional abgestufte Bezahlung. Doch genau dieser Erwartung will das Gleichnis entgegentreten. Als es am Abend zur Auszahlung kommt, gibt der Gutsbesitzer allen Arbeitern unabhängig von ihrer Leistung den vollen Tageslohn von einem Denar. Mit dieser Großzügigkeit, die für die Arbeiter wie die Hörer überraschend kommt, wird eine neue Welt propagiert, in der Gerechtigkeit nicht nach dem Tun-Ergehen-Zusammenhang als exakte Vergeltung nach den Werken definiert wird, sondern als gütiges Geben. Doch damit widerspricht das Gleichnis traditionellem Gerechtigkeitsempfinden, denn die Gnade ist der Feind der vergeltenden Gerechtigkeit. Genau dieser Punkt wird dann auch noch eigens thematisiert. Die Ganztagsarbeiter, die Hörerinnen und Hörern jetzt als Identifikationsfiguren angeboten werden, halten die Tat des Gutsbesitzers, die das gültige Wertesystem und das Ideal gerechter Vergeltung durchbricht, für ungerecht. Sie protestieren, denn sie meinen nun, mehr bekommen zu müssen als den vereinbarten Denar. Der Prophet richtet sich wohlgemerkt nicht dagegen, daß der Herr den später Eingestellten gegenüber großzügig ist, sondern dagegen, daß er ihnen selbst gegenüber nicht entsprechend großzügig ist. Doch 36 der Protest für mehr Gerechtigkeit wird wie der des J ona mit einem Verweis auf Gottes Freiheit beantwortet: »Darf ich mit dem Meinen nicht tun, was ich will? Oder schaust du etwa schlecht drein, weil ich gütig bin? « (Mt 20,15) Diese beiden rhetorischen Fragen am Ende des Gleichnisses drücken im Grunde dasselbe aus wie die Zeichenhandlung am Ende des J onabuchs, die den Propheten fragt: Darf ich nicht betrübt sein wegen Ninive? Ja natürlich, Gott darf, er hat die Freiheit, sich der Sünder zu erbarmen und Fehlleistungen nicht zu zählenso das Gleichnis vom gütigen Vater -, und er hat die Freiheit, den einen mehr zu schenken als den anderen und damit nicht stur nach Leistung zu entlohnen, sondern Ungleiches gleich zu behandeln so das Gleichnis vom gütigen Gutsbesitzer. Es ist die Freiheit des gnädigen Gottes. Das müssen sich Jona und der ältere Bruder, das müssen sich die Arbeiter im Weinberg und vor allem natürlich Hörerinnen und Hörer sagen lassen, die wieder zur Beurteilung herausgefordert sind, da der Schluß wie in der Jona-Erzählung und im Gleichnis vom gütigen Vater offen ist. Zur Freiheit des gnädigen Gottes gehört also, daß seine Gnade eine freie, unverfügbare Gabe ist. Der Sünder kann nicht sagen: »Gott wird's gewiß richten! «. Dessen sind sich in der Jona-Erzählung der Schiffskapitän (1,6) und auch der König von Ninive bewußt. Der König ruft sein Volk zur Umkehr, nicht weil er meint, Gottes Gnade so erwirken zu können und ihr automatisch teilhaftig zu werden, sondern weil er hofft, ganz bescheiden wider alle Hoffnung hofft: » Wer weiß, vielleicht läßt Gott sich gereuen und wendet sich ab von seinem grimmigen Zorn? « Qon 3,9) Wer weiß, vielleicht 10 die Unsicherheit bleibt, auch radikale Umkehr bietet keine Garantie, und so bleiben auch im Neuen Testament neben den Zusagen, daß das Reich Gottes präsent ist und die Sünden vergeben sind, die Bitten des Vaterunsers: Dein Reich komme vergib uns unsere Sünden. Diese Bitten müssen neben den Zusagen stehen, damit die Zusagen nicht als Garantien mit Einlöseautomatik mißverstanden werden und die Freiheit Gottes gewahrt bleibt. ZNT 6 (3. Jg. 2000) 5 Das Jonabuch tritt ein für die Teilhabe der Völker am Heil Ninive, die sündige Stadt par excellence, kann im Jonabuch als Repräsentation der Sünder verstanden werden. Doch das ist nicht alles. Zugleich kann Ninive nämlich das Ausland repräsentieren. Die Stadt, am oberen Tigris im heutigen Irak gelegen, weit über 1000 km von Jerusalem entfernt, ist ein Zentrum des assyrischen Reiches, und ausgerechnet diese fremde, ausländische, ja feindliche Stadt wird im Jonabuch welche Provokation! positiv dargestellt. Sie kehrt um und wird von Gott gerettet. Das Heil ist also nicht auf Israel beschränkt, nein auch die Völker dürfen an diesem Heil partizipieren. Jahwe kann und will auch sie retten. Man hat dem Alten Testament häufig eine nationalistische Enge vorgeworfen. Und tatsächlich kommen im Alten Testament auch Strömungen zu Wort, die sich von allem Fremden, allem Ausländischen distanzieren, Fremdlingen die Aufnahme in die Gemeinde verbieten (Dt 23,4ff.), Ehen mit ausländischen Frauen ablehnen und die Auflösung bestehender Ehen fordern (Esr 10; Neh 13), ja im Blick auf die Endzeit sogar die Vernichtung der fremden Völker ankündigen (Sach 14; Jo 4). Alles Fremde wird hier als Gefahr empfunden, und dagegen will man sich abschotten. Die Situation, in der dies geschieht, ist die nachexilische, persische Zeit. Israel hatte damals die Katastrophe des Exils gerade überlebt, seine Eigenständigkeit und Eigenstaatlichkeit jedoch verloren. Es ist auf der Suche nach einer neuen Identität, und manche Gruppen glauben, diese Identität durch eine scharfe Abgrenzung nach außen erlangen zu können. Das J onabuch wendet sich gegen solche Strömungen. Es ist ein Buch gegen die Abgrenzung nach außen, ein Buch gegen Ausländerfeindlichkeit. Die Ausländer sind besser als Israel denkt: Die Seeleute bekehren sich sofort, die Niniviter wenden sich spontan von ihren Sünden ab. Und wichtiger noch: Gott selbst hat Ausländern, ja sogar den Bewohnern des verfeindeten Ninive seine Gnade erwiesen. Das muß Jona lernen, auch wenn er sich mächtig dagegen sträubt und bis ans Ende der Welt davonlaufen will, und das sollen auch die Hörerinnen und Hörer lernen. Die Gnade Gottes von Jona selbst in 4,2 wie aus dem Katechismus gelernt vorgetragen gilt nicht nur Israel, sondern ZNT 6 (3. Jg. 2000) l<laus Koenen 8ibfü,ch-theolo{Jisch,e Übedegungen zum Jonabuch auch den Völkern. Sie macht keinen Unterschied zwischen Israel und den Heiden. Der Universalismus, für den das Jonabuch eintritt, ist im Alten Testament keineswegs singulär. In den Prophetenbüchern besonders im Buch Jesaja finden sich immer wieder Verheißungen, die die Teilhabe der Völker an der ersehnten endgültigen Heilszeit verkünden, allerdings auf sehr unterschiedliche Weise. 11 Manche Texte sehen die Völker nach Jerusalem pilgern, um sich dort von Jahwe belehren zu lassen Qes 2,2-5; Mi 4,1-4), um ihm ihre Gaben zu bringen und seine Taten zu preisen Qes 60). Der Tempel Jahwes soll dann ein Bethaus für alle Völker sein Qes 56,7), und auch Fremdlinge können in ihm Priester werden Qes 66,18-22). Andere Texte verheißen, daß die Völker Jahwe nicht in Jerusalem, sondern in ihren jeweiligen Heimatländern verehren Qes 19,18ff.). In beiden Fällen gilt Gottes Segen nicht nur Israel, sondern allen Völkern der Erde. Der Universalismus des Jonabuchs und die universalistische Linie des Alten Testaments finden ihre Fortsetzung im Neuen Testament. Die Aufnahme von Heiden in die Gemeinde war unter den ersten Christen zunächst umstritten und konnte nur gegen anfänglichen Widerstand durchgesetzt werden. Nach der Darstellung der Apostelgeschichte bringt die Taufe des römischen Hauptmanns Cornelius und seiner Angehörigen einen ersten Durchbruch (Apg 10,1-11,18). Sie wird vom Heiligen Geist vorangetrieben, ja der Geist kommt auf Cornelius und die Seinen, und erst diesem zweiten Pfingstwunder kann sich Petrus, schon von einer Vision zum Umdenken gezwungen, nicht mehr verschließen. Er tauft die unbeschnittenen Heiden, muß sich dafür aber vor der judenchristlichen Gemeinde in Jerusalem rechtfertigen. Dabei erzählt er von seiner Vision (l 1,5ff.), mit der der Leser nach 10,1 lff. somit ein zweites Mal konfrontiert wird: Ein Behälter wie ein großes Tuch wird vom Himmel herabgelassen und in ihm sind alle Tiere der Erde, Vierfüßler, Kriechtiere und Vögel, also auch eklige, unreine Tiere. Von diesen Tieren soll Petrus so fordert es die Stimme Gottes mehrfach essen. Doch der Apostel sträubt sich genau so, wie sich einst der ProphetJona gesträubt hatte: »Nein, Herr! Noch nie ist etwas Unheiliges und Unremes in meinen Mund gekommen.« (11,8; vgl. 10,14) 37 Doch Petrus muß lernen, wie Jona. Er muß sich sa- 6 Das Jonabuch und Jesu Gleichnisse als Erzählungen gen lassen: »Nenne nicht unrein, was Gott für rein erklärt hat.« (10,15; 11,9) Petrus schließt seine Apologie mit den Worten: » Wenn Gott den Heiden, die zum Glauben an den Herrn Jesus Christus gekommen sind, die gleiche Gabe gegeben hat wie uns, wie wäre ich da imstande gewesen, Gott zu hindern.« (11,17) Nach dieser Rede bleibt den Anklägern nur die Einsicht, die auch sehr gut zum Jonabuch paßt: »Also hat Gott auch den Heiden die Umkehr zum Leben gegeben.« (11,18) Die Einbeziehung der Völker, der Heiden ins Heil ist also im Alten wie im Neuen Testament ein zentrales Thema. Das Jonabuch bezieht eindeutig Position für eine Öffnung Israels gegenüber den Völkern und Ausländern. Die Apostelgeschichte erzählt wie der Geist und ihm folgend Petrus die frühchristliche Gemeinde für die Völker geöffnet haben. In Auslegungen des Jonabuchs findet man immer wieder die von christlichem Antijudaismus geprägte Auffassung, Ninive stehe für die Heiden und Jona repräsentiere das Judentum, genauer den engstirnigen, nicht assimilierungsfähigen, partikularistischen Juden, der den Völkern die Aufnahme ins Heil nicht gönne, während der Verfasser des Buches mit seinem Universalismus und seiner Offenheit gegenüber den Heidenvölkern schon einen christlichen Geist atme. Er halte den Juden in Jona ein Spiegelbild ihres unfrommen Fanatismus vor Augen. Gegen diese schon in der Alten Kirche einsetzende antijüdische Auslegung muß eingewandt werden: Jona repräsentiert nicht das Judentum, sondern nur eine Strömung im Judentum, und das Jonabuch, das dieser Strömung kritisch gegenübersteht, repräsentiert eine andere Strömung im Judentum. Das Buch ist von Juden für Juden geschrieben und damit Dokument einer innerjüdischen Diskussion. Jede Auslegung, die mit antijüdischen Klischees arbeitet, geht am Jonabuch vorbei. 12 38 Das Jonabuch vermittelt seine Aussagen, indem es eine virtuelle Realität entwirft, die aus der Vergangenheit für die Gegenwart aufleuchtet. Wie die Gleichnisse Jesu aber natürlich nicht nur sie zeichnet, ja konstituiert es eine Realität, die die erlebte Welt der Hörer aufnimmt, sich von ihr aber zugleich radikal unterscheidet. Die Hörer werden in eine andere, eine ungewohnte, eine alternative Welt eingewiesen, die der Erzähler ihnen als eine bessere Welt propagiert. Diese Welt soll und kann für die bestehende Welt ein Vorbild sein, und als solches für diese Welt Normen setzen und Hoffnung stiften. Indem nämlich erzählt wird, wie in der virtuellen Welt Umkehr zum Leben geführt hat, wird Umkehr auch für die vorfindliche Welt als ein zum Leben führender Weg und Wert propagiert. Indem weiter erzählt wird, wie Sünder in der virtuellen Welt Vergebung erfahren und dadurch Leben gewonnen haben, wird Sündern in der vorfindlichen Welt die Hoffnung geschenkt, auch in dieser Welt Vergebung und Leben erfahren zu können, wenn sie sich in ihrem Handeln an dem Handeln orientieren, das sich in der virtuellen Welt bereits bewährt hat, also wie die Erzählfiguren den Weg der Umkehr einschlagen. Indem schließlich auch erzählt wird, wie liebevoll Gott als oberste Normen setzende Instanz in der virtuellen Welt mit verrufenen Ausländern umgegangen ist, wird ein entsprechender Umgang mit Ausländern auch für die vorfindliche Welt erwartet und damit zugleich als Wert für mein Verhalten gegenüber Ausländern in dieser Welt propagiert. Das ist narrative Wertevermittlung. Der Entwurf einer virtuellen Welt schenkt für die Zukunft die Hoffnung, daß sich die erlebte Welt nach der Vorgabe der virtuellen und den in ihr geschehenen Interaktionen richten wird. Sie ist eine vom Erzähler gestaltete Soll- und Wunschwelt, in der Probleme in Erfüllung fundamentaler Wünsche gelöst werden und damit ein Ideal als real erlebbar ist bzw. die Wirklichkeit als Verwirklichung einer Idee erfahren wird. Im Tun, Fühlen und Empfinden der Erzählfiguren sowie in dem, was an ihnen geschieht, wird dem Hörer etwas vorgemacht, und genau damit propagiert die Erzählung eine bessere Welt sowie bessere Formen der Interaktion und des Verhaltens. Ist das als Ziel der Erzählung erkannt, dann ist es ganz gleich, ZNT 6 (3. Jg. 2000) ob das Erzählte tatsächlich geschehen ist oder nicht. Das gilt für die Jona-Erzählung wie für viele andere Erzählungen nicht nur der Bibel. Als Erzählung spricht das Jonabuch - und für die genannten Gleichnisse gilt dasselbe - Hörerinnen und Hörer nicht direkt an, doch es enthält eine Dimension der Anrede, eine Appellstruktur. Es lädt ihn ein, sich von seiner bisher erfahrenen Wirklichkeit zu befreien und in die virtuelle Welt der Erzählung einzutreten, um sich in seinem Hoffen und Handeln von ihr bestimmen zu lassen. Indem die Erzählung Werte narrativ entfaltet, entspricht sie einer Pädagogik, die genau weiß, was sie will, aber dem Hörer seine Freiheit läßt. Sie oktroyiert ihm nichts auf, sondern macht ihm ein Angebot, lädt ihn ein und fordert ihn zunächst zum Mitdenken heraus. Er muß selbst entscheiden, ob er die Einladung annimmt, das für ihn Paradigmatische herausfiltert, das Erzählte auf seine Situation appliziert und die Konsequenzen zieht. Durch die Didaktik des Angebots erweist sich der Verfasser der Erzählung als behutsamer Seelsorger, der sich selbst als Mäeuten und Erzählen als eine diskrete Form des Lehrens versteht.13 7 Zusammenfassung Das Jonabuch läßt sich nicht auf eine Aussage reduzieren. Es mahnt zur Umkehr, verkündet Gottes Gnade gegenüber den Sündern, lehrt Gottes Freiheit und tritt ein für die Teilhabe der Völker am Heil. Von diesen Aussagen, die innerhalb des Alten Testaments fest verwurzelt sind, lassen sich direkte Linien ins Neue Testament ziehen, und deswegen ist die J ona-Erzählung geeignet, inhaltliche Verbindungen zwischen beiden Testamenten aufzuzeigen und damit zentrale biblische Wahrheiten und Grundeinsichten christlichen Glaubens darzustellen. Gott belohnt und bestraft die Menschen nicht nach menschlicher Gerechtigkeit, nicht nach dem Tun-Ergehen-Zusammenhang, sondern nach seiner freien Güte, die allen Menschen zuteil wird. ZNT 6 (3. Jg. 2000) l<laus Koenen Biblisch-theologische Übt: trlegungan zum .Jonabuch Anmerkungen 1 Nach R. Lux, Jona, Prophet zwischen »Verweigerung« und »Gehorsam«, (FRLANT 162) Göttingen 1994, 23. 2 Vgl. K. Koenen, Gerechtigkeit und Gnade. Zu den Möglichkeiten weisheitlicher Lehrerzählungen, in: J. Mehlhausen (Hg.), Recht - Macht - Gerechtigkeit, (VWGTh 14) Gütersloh 1998, 274-303: 293-295. 3 Vgl. R. Kühschelm in: K. Koenen / R. Kühschelm, Zeitenwende. Perspektiven des Alten und Neuen Testaments (Die Neue Echter Bibel. Themen 2), Würzburg 1999, 61f. 4 Vgl. G. Theissen / A. Merz, Der historische Jesus, Göttingen 2 1997, 242ff. 5 Jo 2,13; Ex 34,6; Num 14,18; Ps 86,15; 103,8; 111,4; 145,8; Nah 1,3; Neh 9,17.31. 6 R. Hoppe, Gleichnis und Situation. Zu den Gleichnissen vom guten Vater (Lk 15,11-32) und gütigen Hausherrn (Mt 20,1-15), BZ 28 (1984) 1-21; K. Erlemann, Das Bild Gottes in den synoptischen Gleichnissen, (BWANT 126) Stuttgart 1988, 131-150; E. Rau, Reden in Vollmacht. Hintergrund, Form und Anliegen der Gleichnisse Jesu, (FRLANT 149) Göttingen 1990, 182-215; K.-W. Niebuhr, Kommunikationsebenen im Gleichnis vom verlorenen Sohn, ThLZ 116 (1991) 481-514; E. Rau,Jesu Auseinandersetzung mit Pharisäern über seine Zuwendung zu Sünderinnen und Sündern. Lk 15,11-32 und Lk 18,10-14a als Worte des historischen Jesus, ZNW 89 (1998) 5-29; K. Erlemann, Gleichnisauslegung. Ein Lehr- und Arbeitsbuch, Tübingen/ Basel 1999, 142f. 7 J. Jeremias, Die Gleichnisse J esu, Göttingen 81970, 131. 8 Vgl. Erlemann, Bild, 141ff; Rau, Rede, 216H. 9 Vgl. I. Broer, Die Gleichnisexegese und die neuere Literaturwissenschaft. Ein Diskussionsbeitrag zur Exegese von Mt 20: 1-16, BN 5 (1978) 13-27; Ch. Dietzfelbinger, Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg als Jesuswort, EvTh 43 (1983) 126-137; Hoppe, Gleichnis, 13- 20; Erlemann, Bild, 93-114; Ch. Hezser, Lohnmetaphorik und Arbeitswelt in Mt 20,1-16 (NTOA 15), Freiburg/ Göttingen 1990; U. Busse, In Souveränität anders. Verarbeitete Gotteserfahrung in Mt 20,1-16, BZ 40 (1996) 61-72. 10 Vgl.Jo 2,12-14. 11 Vgl. Koenen, Zeitenwende 36ff. 12 Vgl. F. Golka, Jonaexegese und Antijudaismus, Kul 1 (1986) 51-61. 13 Vgl. Koenen, Gerechtigkeit 296-300. 39
