ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
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Dronsch Strecker VogelGerd Theißen: Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums. Gütersloh 2000, 455 S.
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Jürgen Zangenberg
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Gerd Theißen Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums. Gütersloh 2000, 455 S. Schon der Titel des Buches ist mit Bedacht gewählt. Theißen möchte den vielen gerade in jüngster Zeit erschienenen deskriptiven oder konfessorischen »Theologien des NT« nicht noch eine weitere Variante zur Seite stellen, will nicht nur beschreiben, was einmal in der frühchristlichen Literatur gedacht wurde oder ko~statieren, was heute noch daran wahr sein soll. Stattdessen versucht er mit geradezu faustischer Energie zu erkennen, »was die ersten Christen in ihrem Innersten bewegte« und sieht die »Dynamik des urchristlichen Glaubens (... ) in der Dynamik des Lebens verwurzelt« (S. 17). So ist es nur konsequent, wenn Theißen mit solch einer programmatischen Entschränkung frühchristlicher Religion ins »Leben« hinein zugleich die Brücke schlägt zu denen, die außerhalb kirchlicher Denkformen stehen, denn Leben, ZNT 6 (3. Jg. 2000) Denken und Religion gibt es ja nicht nur im Christentum oder in Bezug zu diesem. Würde eine »Theorie des Urchristentums« nur nach Innen in die binnenkirchliche Diskussion vermittelbar sein (wie so viele Unternehmungen der letzten Jahre), dann würde sie in Theißens Augen für andere Gebildete einschließlich den »Verächtern der Religion« unter ihnen unverständlich, hätte daher zwangsläufig ihren Sinn verfehlt. »Das Neue Testament und das Urchristentum sind( ...) zu wichtig, um sie nicht in einer wissenschaftlichen Weise möglichst allein (sie! stattdessen wohl allen) zugänglich zu machen. Seine Texte und Überzeugungen gehören zur kulturellen Grundinformation der menschlichen Geschichte (... ). Es ist weder für die Gesellschaft noch für die Kirche gut, wenn sie dem allgemeinen Diskurs entzogen werden« (S. 13). Die Wertschätzung der eigenen Tradition ist für Theißen nicht ohne einen ehrlich gemeinten Dialog denkbar. »Niemand kann heute an eine Tradition anknüpfen, ohne in einen Dialog mit anderen einzutreten« (14). In der Tat! Freilich besteht die Schwierigkeit darin, wie man den gleichermaßen so konturlos globalen und zugleich auch hoffnungslos konkreten Begriff des »Lebens« methodisch handhabbar machen kann. In gut liberaler Tradition greift Theißen hierbei zurück auf Erkenntnisse und Modelle der allgemeinen Religionswissenschaft, macht Anleihen bei William Wrede und Heikki Räisänen, George A. Lindbeck und Clifford Geertz und im Sinne eines inner- Heidelberger Dialogs auch bei Dietrich Ritschl, um das »ganze Leben« der Urchristen zu untersuchen »und ihre theologischen Aussagen in semiotische, soziale, psychische und historische Zusammenhänge hinein(zu)stellen, die nicht unmittelbar ,theologisch< sind« (S. 17). Wer freilich der Meinung ist, die Sache des Christentums könne nur mit aus diesem selbst gewonnenen Denkstrukturen ausgedrückt werden (und Plausibilität oft mit innerer Kohärenz verwechselt), den mag ein leises Schaudern ergreifen, wenn er liest: »Religion ist ein kulturelles Zeichensystem, das Lebensgewinn durch Entsprechung zu einer letzten Wirklichkeit verheißt« (S. 19). Die oft überragende Bedeutung traditioneller Begriffe wie Rechtfertigung, Gericht, Wahrheit und Sünde wird er hingegen schmerzlich vermissen. Dennoch denke ich nicht, daß Theißens Versuch, diese Inhalte in eine kommunikable und an der Dynamik soziologisch beschreibbarer Prozesse ausgerichtete Begrifflichkeit zu übersetzen, von vorn herein verkürzend und unsachgemäß ist. Wer Biblisches aus der »Sprache Kanaans« in unsere postmoderne Polyphonie übersetzt, geht in jedem Fall ein Wagnis ein. Man muß wie Theißen nur erkennen, daß kaum jemand mehr fließend die »Sprache Kanaans« spricht, dann wir man dieses Wagnis gern eingehen und nicht aufhören, »an die Leser zu denken«. Es wird freilich nicht zuletzt an der Reaktion von Leserinnen und Lesern außerhalb des kirchlichen Spektrums zu ersehen sein, ob Theißen wirklich eine kommunikable Sprache getroffen hat und sein Vorhaben gelingt. Es versteht sich von selbst, daß die Darstellung des Stoffes auf einem derartigen Hintergrund weder streng 65 chronologisch noch nach Autoren oder Begriffen bzw. Wortfeldern erfolgen kann. In fünf oft mit überraschenden, aber stets nachdenkenswerten Beobachtungen angefüllten Kapiteln führt er die Leser auf einem Mittelweg. Der erste Teil mit dem bezeichnenden Titel »Mythos und Geschichte im Urchristentum« (S. 47-98) behandelt die »Bedeutung des historischen Jesus für die Entstehung der urchristlichen Religion« und die »Transformation der jüdischen Religion durch den nachösterlichen Christusglauben«. Im zweiten Teil geht es um »Das Ethos des Urchristentums« (S. 99-167), zunächst um die beiden »Grundwerte urchristlichen Ethos: Nächstenliebe und Statusverzicht«, dann um zwei Gruppen konkreter Forderungen im Licht der beiden Grundwerte: den Umgang mit Macht und Besitz im Urchristentum, dann um das Verhältnis zu Heiligkeit, Weisheit und Reinheit. Unter dem Titel »Die rituelle Zeichensprache des Urchristentums« (S. 169-222) untersucht Theißen im dritten Teil die »Entstehung der urchristlichen Sakramente aus symbolischen Handlungen« und die »Opferbedeutung des Todes Jesu und das Ende der Opfer«. Der vierte Teil »Die urchristliche Religion als autonome Zeichenwelt« (S. 223-280) zeichnet den» Weg der urchristlichen Religion zu einer autonomen Zeichenwelt: Von Paulus zu den synoptischen Evangelien« nach. Daß der vierte Teil in der Darstellung des Johannesevangeliums als dem »Bewusstwerden der inneren Autonomie der urchristlichen Zeichenwelt« kulminiert, ist doch etwas seltsam und kann nur mit einer latenten Tendenz auf Seiten des Autors erklärt werden, wonach das JohEv »geistiger« und »grundsätzlicher« sei als seine synoptischen Verwandten. Dies mutet doch recht traditionell im Sinne einer Baur'scher Synthese an und leuchtet mir nicht ganz ein. Im fünften Teil »Krisen und 66 Konsolidierung des Urchristentums« (S. 281-411) wird eindringlich dargelegt, daß das Werden urchristlicher Religion nicht ohne interne und externe Konflikte verstanden werden kann. Insofern bildet dieser Teil eine Klammer auch für das Verständnis der vorangehenden Ausführungen. Konkret zeigt Theißen die konfliktbezogene Natur frühchristlichen Denkens auf an der Bewältigung der »judaistischen Krise«, in der die paulinische Theologie ihre Konturen gewinnt (und wo auch die Rechtfertigungslehre ihren Platz hat! ) sowie an der Auseinandersetzung mit der Gnosis und den »prophetischen Krisen im ersten und zweiten Jahrhundert«. Hier werden überall Grundentscheidungen getroffen, die das Gesicht des Christentums letztlich bis heute prägten. Angesichts solcher Weichenstellungen kann Theißen in bezug auf die erste Phase christlicher Geschichte zu Recht auch von »Urchristentum« sprechen (i.U. zu Wander). Theißen macht jedoch immer wieder klar, daß diese formativen Entscheidungen nicht zur Uniformität frühchristlicher Religion führten, sondern zur Pluralität konvergierender und divergierender »Entwürfe«, deren theologisches und hermeneutisches Potential den folgenden Generationen durch den Kanon zur stetigen Bewältigung anvertraut wurde. Dieser Teil sei allen zur Lektüre empfohlen, die in Gemeinde und Ökumene tätig sind für mich zweifellos einer der Höhepunkte des Buches! Die Schlußbetrachtung widmet sich noch einmal zusammenfassend der »Grammatik« des urchristlichen Glaubens, ihren Axiomen und der Plausibilität der »Poesie des Heiligen« (S. 392) auf evolutiver Sicht. Man braucht keinesfalls bei allen Detailergebnissen einer Meinung mit Theißen sein (so etwa in der Frage, ob der doch recht traditionelle Begriff eines »frühkatholischen Gemeindechristentums« sachgemäß und religionswissenschaftlich vermittelbar ist), um das Buch mit Gewinn zu lesen. Auch mag man zweifeln, ob der Autor tatsächlich »das ganze Leben« frühchristlichen Glaubens in den Blick genommen hat. Theißen weist selbst darauf hin, daß vor allem die Lebenswelt der ersten Christen eine vertiefte Behandlung verlangt (S. 409; wie steht es etwa mit der Bestattung, der Gestaltung des häuslichen Lebens etc.? ). All dies wiegt jedoch nicht schwer im Vergleich zur Tatsache, daß Theißen das frühe Christentum konsequent als Phänomen der Kultur (im Sinne einer strukturierten und reflektierten Form des »Lebens«) versteht und so den Blick für dessen kulturbedingte, kulturbezogene und kulturprägende Facetten bis heute öffnet. Theißens Beschreibung der urchristlichen Religion »als wunderbare(r) Kathedrale aus Zeichen« (S. 410) besticht vor allem dadurch, daß er weiterführende Studien anregt und konzeptionell integrieren kann. Gerd Theißens religionswissenschaftliche Analyse des urchristlichen Glaubens mag für kulturwissenschaftlich Ungeübte zwar mitunter etwas gewöhnungsbedürftig und spröde sein (die ZNT hat hier freilich schon einiges an Einführungsarbeit geleistet! ), sie ist aber im besten Sinne verständlich geschrieben, Fremdwörter und fachspezifische Termini werden erklärt, konvergierende oder divergierende Meinungen aufgewiesen. Theißen weiß, daß wer in einen Dialog mit Innen- und Außenstehenden treten will, Klartext reden und Position beziehen, sich auch angreifbar machen und zum Widerspruch einladen muß. Doch kommt diese Transparenz der Darstellung des schwierigen Stoffes sehr zugute. Im Vorwort schreibt der Autor: »Ich meine, dass wir die Dinge, die wir lieben, so darstellen können, dass sie für alle verständlich und zu- ZNT 6 (3. Jg. 2000) gänglich sind auch für die, die ganz andere Einstellungen zu ihnen haben als wir« (S. 13). Theißens Buch ist ein veritabler Beweis, daß dies möglich ist. Es bleibt zu hoffen, daß vor allem die von Theißen angesprochene letztere Gruppe auf das Gesprächsangebot eingeht und in einen Dialog eintritt. Diejenigen, die aus binnentheologischen Gründen nicht Theißens Meinung sind, werden sich ohnehin recht bald zu Wort melden. Jürgen Zangenberg ZNT 6 (3. Jg. 2000) Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie Anton van Harskamp Theologie: Text im Kontext Auf der Suche nach der Methode ideologiekritischer Analyse der Theologie, illustriert an Werken von Drey, Mähler und Staudenmaier Aus dem Niederländischen von Hedwig Meyer-Wilmes Band 13, 2000, 571 Seiten, DM 140,-/ ÖS 1022,-/ SFr 126,- ISBN 3-7720-2581-1 Theologie kann ideologisch sein: Manchmal dient sie nur beschränkten Gruppeninteressen. Aber wie kann man den ideologischen Aspekten auf die Spur kommen? Mittels einer Analyse der Verhältnisse zwischen (Kirchen)Politik und Theologie bei einigen Theologen im Umfeld der sogenannten katholischen 'Tübinger Schule' beantwortet der Autor diese Frage. Damit ist diese Studie auch eine überraschende Neuinterpretation dieser Schule aus dem neunzehnten Jahrhundert. Sigrid Müller Handeln in einer kontingenten Welt Zu Begriff und Bedeutung der rechten Vernunft (recta ratio) bei Wilhelm von Ockham Band 18, 2000, X, 249 Seiten, DM 78,-/ ÖS 569,-/ SFr 74,- ISBN 3-7720-2586-2 In diesem Buch wird Wilhelm von Ockham (ca. 1285- 1347/ 48) der Platz in der Geschichte der Ethik zugewiesen, der ihm gebührt. In dieser steht Ockham bislang für eine einseitige Hervorhebung des willkürlichen göttlichen Willens als Norm für das sittlich Gute. In Auseinandersetzung mit dem theologischen Werk Ockhams stellt die Autorin die Bedeutung einer eigenständigen Vernunft des Menschen bei Ockham heraus. Die Untersuchung legt Probleme frei, die in zugespitzter Form erst heute in der ethischen Diskussion präsent sind. Gegenüber der neueren philosophischen Ockham-Forschung zeigt die Arbeit, daß der eigenständige Vernunftgebrauch des Menschen nicht gegen eine religiöse Hermeneutik des sittlichen Handelns ausgespielt werden kann. A. Francke Verlag Tübingen und Basel 67
