eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 4/7

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
61
2001
47 Dronsch Strecker Vogel

Wen wundert was? Einblicke in die Wunderauslegung von der Aufklärung bis zur Gegenwart

61
2001
Stefan Alkier
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1. Die Wunderdiskussion im Frühchristentum Der Streit um die in den Texten des Neuen Testaments angeführten Zeichen, Wunder und machtvollen Taten, also um die Aussagen, die für das Frühchristentum und seine Stifterfigur das Wirken menschliche Möglichkeiten übersteigender Kraft behaupten, begleitet das Christentum durch seine Geschichte und wird es auch weiterhin tun. Die Streitpunkte hingegen, die Anlaß zum Disput geben, wechseln mit den jeweiligen Diskussionsteilnehmern und ihren kulturell, historisch und individuell bedingten Plausibilitätsannahmen. Die in den neutestamentlichen Schriften angeführten jüdischen Kontrahenten bestreiten nicht die Möglichkeit und nicht einmal die Tatsächlichkeit der Wunder Jesu (vgl. Mk 3,22-27parr) und auch nicht die der Wunder der Apostel (vgl. z.B. Apg 4,7). Ihnen ist aus ihren Überlieferungen das machtvolle Wirken Gottes, sein Zeichen- und Wunderhandeln inmitten irdischer Zeiten und Räume bekannt, und sie wissen darum, daß seine Propheten mit dieser Wundermacht Gottes begabt werden können. Sie wissen aber auch darum, daß Satan über Wunderkraft verfügt und sie an die Seinen weitergeben kann, Zauberei verboten ist (vgl. Dtn 18,10-12) und Menschen mit einem Wahrsagegeist getötet werden sollen (vgl. Lev 20,27). Die jüdischen Gegner Jesu, wie sie in den neutestamentlichen Schriften dargestellt werden, streiten nicht ab, daß Jesus und seine Apostel Wunder wirken, sondern daß diese Wunder mit der Kraft Gottes zu erklären seien. Wäre die Kraft Gottes für die Wunder Jesu und seiner Anhänger verantwortlich, so wäre damit auch seine Botschaft von Gott her legitimiert. Die auf die Kraft Gottes zurückgeführten Wunder wären Zeichen für die göttliche Beauftragung Jesu und seiner Nachfolger. Der Botschaft Jesu und seiner Beauftragten wäre Folge zu leisten. Daher erklären die jüdischen Kontrahenten Jesu in den Evangelien diese Wunder mit dem Wirken der Kraft Satans. Jesus und seine Mitstreiter werden damit nicht lediglich als trickreiche Illusionäre gekennzeichnet, sondern sie stehen damit, gerade weil die Tatsächlichkeit der Wunder nicht bestritten wird, im Bund mit Satan und nicht - was die jüdischen Kontrahenten für sich selbst in Anspruch nehmen - im Bund mit Gott. Schärfer konnten Jesus und die ihm Nachfolgenden nicht attackiert werden. Sie stehen außerhalb des Abrahamsbundes. Sie haben diesen Bund mit dem Satansbund vertauscht (vgl. Mk 3,22- 27parr). Der in den Evangelien dargestellte Streit um die Wunder Jesu zwischen dem Juden Jesus und seinen jüdischen Anhängern auf der einen und seinen jüdischen Kontrahenten auf der anderen Seite ist ein innerjüdischer, theologischer Streit, der innerhalb ein und derselben historisch und kulturell bedingten Wirklichkeitsannahmen stattfindet. Es geht in diesem Streit nicht darum, ob Wunder möglich sind und wie sie naturkundlich zu erklären seien. Es geht nicht darum, welchen ontologischen Status sie haben. Es geht vielmehr darum, wessen Macht sich in ihnen zeigt, es geht also darum, welcher theo-logische Status ihnen zukommt. Sind sie Zeichen des Bundes Gottes oder Zeichen des Bundes mit Satan? Anders verhält es sich mit der Wunderdiskussion, die die Apologeten des Christentums seit seinen Anfängen und ihre Epigonen bis heute mit Bestreitern der Tatsächlichkeit der neutestamentlichen Wunderaussagen führen, die außerhalb jüdischchristlicher Wirklichkeitsannahmen argumentieren. Das berühmte Beispiel des Philosophen Kelsos von Alexandreia, mit dessen 178 n. Chr. verfaßter, das Christentum attackierender Schrift Alethes Logos sich Origenes auseinandersetzte, zeigt, daß auch hier zunächst nicht die grundsätzliche Möglichkeit des Wirkens menschliche Möglichkeiten übersteigender Kraft zur Diskussion stand, sondern die Frage, ob sie wirklich im Falle Jesu und seiner Anhänger und auch im Falle der in der hebräischen Bibel erzählten machtvollen Taten Gottes und seiner Propheten gewirkt habe (vgl. Origenes, Cels I,2.46) oder ob es sich dabei nicht lediglich um Zaubertricks, Ammenmärchen und Neues Testament aktuell Stefan Alkier Wen wundert was ? Einblicke in die Wunderauslegung von der Aufklärung bis zur Gegenwart 1 2 ZNT 7 (4. Jg. 2001) ZNT 7 (4. Jg. 2001) 3 Stefan Alkier Wen wundert was ? Stefan Alkier Dr. PD Stefan Alkier, Jahrgang 1961. Studium der Ev. Theologie in Münster, Bonn, Hamburg, Promotion 1993 in Bonn, Habilitation 1999 in Hamburg. 1993-1999 Wiss. Assistent für NT in Hamburg. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Hermeneutik und Methodologie, Forschungsgeschichte, Wunder, Paulus. Zur Zeit Vertretungsprofessur für den Lehrstuhl für Neues Testament an der Universität Gesamthochschule Kassel Lügengeschichten handelte (vgl. z.B. Origenes, Cels I,6.71). Auch hier steht nicht die Möglichkeit von Wundern auf dem Prüfstand, sondern die Frage, ob die jüdisch-christliche Tradition einem naiven Wunderglauben aufgesessen ist, der der ernsthaften philosophischen Kritik nicht standhält. Diese Diskussion zeigt aber deshalb auch, daß nicht schon die Annahme des Wirkens menschliche Möglichkeiten übersteigender Kräfte grundsätzlich als ›naiver Wunderglaube‹ bewertet wurde, sondern die intellektuelle Wunderdiskussion nach Kriterien suchte und mit ihnen argumentierte, um staunenererregende Ereignisse und/ oder Berichte von solchen Vorkommnissen sachgemäß und innerhalb damaliger Plausibilitätsannahmen kritisch bewerten zu können (vgl. Origenes, Cels I,42; II,51). Das intellektuelle Niveau und die begriffliche Differenzierung, 2 mit der dieser Streit geführt wurde, straft alle Pauschalisierungen Lügen, die für die Antike - und sei es auch nur für die Spätantike - einen realitätsfremden, irrationalen und daher freilich »volkstümliche[n] Wunder- und Aberglaube[n]« 3 , ja sogar eine Wundersucht 4 diagnostiziert haben und nicht nur das Phänomen des Wunderbaren, sondern eine ganze Epoche als ein pathologisches »Zeitalter der Angst« 5 markierten. Diese Fehldiagnose geht einher mit einer undifferenzierten Verfallstheorie, die in der Spätantike nur den Abfall einer idealisierten klassischen Antike zu sehen bereit ist. 6 2. Die Wunderdiskussion im Zeichen der Aufklärung Demgegenüber hat sich die Frage nach dem Wunder in der Neuzeit mehrfach verschoben. Im 18. Jahrhundert gerät das Wunder unter dem Eindruck naturwissenschaftlicher Begründungszusammenhänge auf die Anklagebank der Kritik. Galten die biblischen Wunder von jeher als Beweis des Geistes und der Kraft des Christentums, wie es noch für den bedeutenden Kirchenhistoriker Johann Lorenz von Mosheim (1693-1755) selbstverständlich war, so werden sie nun von kirchen- und theologiekritischen Denkern kategorisch angegriffen. Bereits 1670 führt der jüdische Philosoph Baruch de Spinoza (1632-1677) im sechsten, der Wunderproblematik gewidmeten Kapitel seines Tractatus Theologico-Politicus gegen die biblischen Wunder an, »daß alle wirklichen Geschehnisse, von denen die Schrift berichtet, sich wie überhaupt alles notwendig nach den Naturgesetzen zugetragen« (106) 7 habe. Da Gott selbst die ewigen Naturgesetze erlassen habe, liefe die Annahme ihrer Durchbrechung auf einen Selbstwiderspruch Gottes und letztlich auf »Atheismus« (100) hinaus. Mit einer dreifachen Strategie versucht Spinoza, die vermeintliche Faktizität der biblischen Wunder zu destruieren: metaphorisches Wunderverständnis, rationalistische Wundererklärung und Verfälschungstheorie. Bei den biblischen Wundergeschichten handele es sich teilweise um dichterische Ausmalungen, teilweise um stehende Metaphern, die aus der Vorstellungswelt der hebräischen Sprache zu erklären seien und die nur des Hebräischen Unkundige irrtümlicherweise als Wunder auffaßten. Neben diesem metaphorischen Wunderverständnis nimmt Spinoza auch schon die 100 Jahre später bei christlichen Theologen zu Ehren gekommene rationalistische Wundererklärung vorweg, wenn er die Wundergeschichten auf Wahrnehmungstäuschungen, auf die mangelhafte »Fassungskraft des Volkes« und das unzureichende naturwissenschaftliche Wissen der »Alten« (96) zurückführt, um dann mit Hilfe der »Nebenumstände der Wunder« die tatsächlichen »Ursachen« »auf natürlichem Weg« anzugeben: »[…] um den Knaben, der für tot gehalten wurde, wieder zu erwecken, mußte Elisa sich mehrere Male auf ihn legen, bis er warm wurde und endlich die Augen aufschlug« (104). Schließlich fügt Spinoza dann noch zu der metaphorischen und der rationalistischen Wundererklärung die Verfälschung der Schrift für alle Wundergeschichten an, die sich nicht metaphorisch oder rationalistisch erklären lassen. In jedem Fall gilt sein Grundsatz: »Wenn sich nun manches in der Heiligen Schrift findet, von dem wir die Ursachen nicht anzugeben wissen und das außerhalb der Naturordnung, ja ihr entgegen geschehen zu sein scheint, so darf uns das nicht stutzig machen; wir müssen vielmehr durchgängig annehmen, daß das, was wirklich geschehen ist, auf natürlichem Wege geschah.« (104) Daß es sich bei diesem Grundsatz um eine philosophische Prämisse handelt, die der Bibellektüre als unumstößliches Prinzip vorangestellt wird, ist Spinoza voll und ganz bewußt: »[…] bei den Wundern, ist das, was wir suchen (ob man nämlich zugeben kann, daß etwas in der Natur geschehe, was ihren Gesetzen widerstreitet oder sich nicht aus ihnen herleiten läßt), etwas rein Philosophisches.« (110) Es blieb den Aufklärern des 18. Jahrhunderts vorbehalten, der biblischen Wunderkritik zur gesellschaftlichen Akzeptanz zu verhelfen. Voltaire (1694-1778) etwa fällt in seinem einflußreichen Essais sur les mœurs et l’esprit des nations (1756) das kategorische Urteil: »les miracles sont incroyables.« 8 In seiner 1757 veröffentlichten Natural History of Religion rechnet David Hume (1711- 1776) Wunder zu den »religions principles, which have, in fact, prevailed in the world. You will scarcely be persuaded that they are anything but sick men’s dreams.« 9 Hume definiert in seinem Essay An Enquiry Concerning Human Understanding (1748/ 58): »Ein Wunder ist eine Verletzung der Naturgesetze, und da eine feststehende und unveränderliche Erfahrung diese Gesetze gegeben hat, so ist der Beweis gegen ein Wunder aus der Natur der Sache selbst so vollgültig, wie sich eine Begründung durch Erfahrung nur irgend denken läßt.« 10 Dieses Theorem der empirisch begründeten Undurchbrechbarkeit der Naturgesetze bildet zusammen mit einer bis in die Wunderexegese unserer Gegenwart hinein wirksamen Assoziationskette sowohl den Grundpfeiler der Argumentation des zehnten, On Miracles betitelten Abschnitts von Humes Enquiry als auch von Humes psychologisierendem Entwurf der Religionsgeschichte, wie er ihn in seiner Natural History of Religion vorlegt. Hume faßt den Wunderglauben als Aberglauben für Ungebildete auf und etabliert die Assoziationskette: Wunder (miracles) - Fiktion (fiction) - Aberglaube (superstition) - Angst (anxiety) - Unbildung (uneducated) - Soziale Unterschicht (social lower class). Hermann Samuel Reimarus (1694-1768) zufolge, dessen Schriften zum Teil Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) zwischen 1774 und 1778 als Fragmente eines Ungenannten herausgab, sind die biblischen Wunder nicht nur der Unwissenheit, der Leichtgläubigkeit und den Wahrnehmungsfehlern vergangener, niedrigerer Kulturstufen der Menschheit zu verdanken. Vielmehr beruhen die Wundererzählungen des Neuen Testaments und vor allem die der Auferstehung Jesu sogar auf absichtlicher Täuschung und vorsätzlichem Betrug. Die durch den Tod ihres Meisters um ihre politischen Hoffnungen auf die Restaurierung eines jüdischen Reiches betrogenen Jünger beschlossen, »den Körper Jesu bald wegzuschaffen, damit sie vorgeben konnten, er sey aufgestanden und gen Himmel gefahren, um von dannen nächstens mit großer Kraft und Herrlichkeit wieder zu kommen.« 11 Darauf bauten sie ihre die Verkündigung Jesu verfälschende Lehre, um materiell überleben zu können. Die Widerlegung des Fragmentisten wurde zum Motor der Leben-Jesu-Forschung des 19. Jahrhunderts. Im Zentrum dieser Debatte aber stand zunächst die Wunderfrage. Die Aufklärung reduziert die geltenden Weltstrukturen und damit die verschiedenen Möglichkeiten der Zuschreibung von Wahrheitswerten und der Urteile über die Annehmbarkeit von Welten. Sie erstellt eine neue Enzyklopädie des konventionell anerkannten gesellschaftlichen Wissens, demzufolge Wunder Fiktion und keine Fakten sind. Weder der Erzähler noch der Leser, der Stil oder irgendeine andere textliche Kategorie kann die Wahrheit einer Geschichte garantieren. Ausschließlich die Naturgesetze entscheiden darüber, was Faktum und was Fiktion ist. Die Rolle des Wundertäters, sei sie mit Heiligen, mit Jesus oder Gott besetzt, wird in die Welt der Phantasie verwiesen. Dabei zielt diese Wunderkritik nicht zuletzt auf die gesellschaftspolitische Macht der Kirche, die sich ideo- 4 ZNT 7 (4. Jg. 2001) Neues Testament aktuell logisch auf die behauptete Wahrheit der Wunder (inklusive Auferstehung) und damit auf die so behauptete Wahrheit des Christentums stützte. Als mit einiger Verspätung die naturwissenschaftlichen Begründungszusammenhänge auch im theologischen Diskurs akzeptiert werden, etablieren sich die Akkomodationstheorie, die rationalistische Wundererklärung und die Entmythologisierungstheorie (die freilich nicht dem Begriff, aber der Sache nach um Einiges älter als Bultmanns Entmythologisierung ist). Nach der Akkomodationstheorie Johann Salomo Semlers (1725-1791) haben sich Jesus und die Evangelisten an die primitive Stufe der Menschheit, die noch an Wunder glaubte, angepaßt, um ihnen die ewigen Wahrheiten verständlich auszudrücken. Damit sollte ebenso wie mit der rationalistischen Wunderauslegung der Betrugsvorwurf des Fragmentisten entkräftet werden. Die rationalistische Wunderauslegung, als deren Exponent Heinrich Eberhard Gottlob Paulus (1761-1851) angeführt werden kann, erklärt die Wunder, wie Spinoza dahingehend, daß das Wunderbare durch eine kausale, naturwissenschaftliche Erklärung ersetzt wird. So werden Totenerwekkungen durch Scheintod, Jesu Seewandel durch eine optische Täuschung etc. erklärt. Die Entmythologisierung von Johann Gottfried Eichhorn (1752-1827) und Johann Philipp Gabler (1753-1826) über David Friedrich Strauß (1808-1874) bis zu Rudolf Bultmann (1884-1976) und seinen Schülern betrachtet Wundererzählungen als Teil eines primitiven, überwundenen mythologischen Weltbildes einer kindlichen Stufe der Menschheit. Allerdings sei »hinter« dieser abständigen Mythologie eine »tiefere Bedeutung enthalten, die unter der Decke der Mythologie verborgen ist.« 12 Die Entmythologisierung will »die mythologischen Vorstellungen weglassen, gerade weil wir ihre tiefe Bedeutung beibehalten wollen.« 13 Daher soll das Mirakelhafte der Wundergeschichten als mythische Form entfernt werden, um je nach zugrundeliegender Philosophie deren »Lehre« (Gabler) 14 , »Idee« (Strauß) 15 oder »Verständnis[.] der menschlichen Existenz«, bzw. »Selbstverständnis« (Bultmann) 16 als deren eigentliche Botschaft über die Zeiten hinweg für die Gegenwart freizulegen und zu verstehen. Dabei versteht sich dieses Verfahren auch schon im 19. Jahrhundert ausdrücklich als Übersetzungsarbeit. Strauß führt an: »Als Schriften aus einer unphilosophischen, kindlichen Zeit reden sie unbefangen von göttlicher Einwirkung nach altertümlicher Vorstellungs- und Ausdrucksweise: und so haben wir zwar keine Wunder anzustaunen, aber auch keinen Betrug zu entlarven, sondern nur die Sprache der Vorzeit in unsere heutige zu übersetzen«. 17 Diese Übersetzungsarbeit beruht nicht erst für Bultmann auf der Überzeugung: »Für den Menschen von heute« ist »das mythologische Weltbild […] erledigt.« (145) 18 Akkomodationstheorie, Rationalismus und Entmythologisierung treffen sich darin, die naturwissenschaftliche Frage nach der Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit von Wundern klar mit deren Unmöglichkeit zu beantworten. Gleichzeitig verschiebt sich die Frage von einem naturwissenschaftlichen in einen hermeneutischen Diskurs. Es geht um die Frage, wie man Wundererzählungen so verstehen kann, daß ihre Lektüre gleichzeitig der als wahr betrachteten naturwissenschaftlichphilosophischen Weltanschauung wie auch dem weiterhin für wahr gehaltenen christlichen Glauben, der auf biblischen Texten basiert, gerecht werden kann. Diese hermeneutische Frage wird mit der geschichtsphilosophischen Theorie von Entwicklung beantwortet: Menschen auf einer niedrigeren, kindlichen Entwicklungsstufe können noch nicht so abstrakt denken wie Menschen auf einer höheren. Wunderglaube gehört somit einem überholten Weltbild an, das Wundergeschichten mit unzutreffenden Wirklichkeitsannahmen belegt. Bultmann ist sich klar darüber, daß mit seinem Konzept der Entmythologisierung die Frage nach dem Wirklichkeitsverständnis gestellt ist. Allerdings verhindert seine reduktionistische Einteilung der Wirklichkeit in die existentialphilosophische Opposition »eigentlich oder uneigentlich« (130) in Kombination mit seinem pauschalen fortschrittsoptimistischen Vorurteil, »daß der Mythos zwar von einer Wirklichkeit redet, aber in einer nicht adäquaten Weise« (128), während die Naturwissenschaft einerseits und die Existenzialanalyse Martin Heideggers (1889-1976) andererseits »die angemessenen Vorstellungen entdeckt« (169) hätten, eine gründliche und unvoreingenommenere historisch-semiotische Erforschung des Zusammenhangs von Wunder- und Wirklichkeitswahrnehmungen in den neutestamentlichen Texten und ihrer intertextuellen Umgebung. Die Frage nach den Wundern war ein bedeutender, wenn nicht der zentrale Gegenstand der ZNT 7 (4. Jg. 2001) 5 Stefan Alkier Wen wundert was ? Schriftauslegung seit der Veröffentlichung der Reimarus-Fragmente bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts hinein. Erst die Akzeptanz der radikalen Wunderkritik der Aufklärung führte zu einer kritischen Geschichtsschreibung des frühen Christentums, 19 da es nun erlaubt war, Fiktion von Faktischem zu trennen und ›hinter‹ dem Fiktiven das Faktische aufzuspüren, wie es etwa Johann Philipp Gabler in seinem bedeutenden Aufsatz Ist es erlaubt, in der Bibel, und sogar im Neuen Testament Mythen anzunehmen ? 20 forderte. Die Frage, ob Lazarus tatsächlich von den Toten auferweckt wurde, wurde zum Schibboleth der konservativen Exegese um den seit 1828 als ordentlicher Professor für Bibelexegese in Berlin tätigen Ernst Wilhelm Hengstenberg (1802-1869). Ferdinand Christian Baur (1792-1860) sieht die radikale Konsequenz einer der Aufklärung verpflichteten Exegese und formulierte deshalb: »Auf keinem Gebiete der geschichtlichen Betrachtung hängt alles, was zum Inhalt einer bestimmten Reihe geschichtlicher Erscheinungen gehört, so sehr von dem Anfangspunkt ab, von welchem es ausgeht, wie in der Geschichte der christlichen Kirche […] Der Geschichtschreiber, welcher mit dem Glauben der Kirche zu dem Gegenstand seiner Darstellung hinantritt, steht gleich am ersten Anfang vor dem Wunder der Wunder, vor der Urthatsache des Christenthums, dass der eingeborene Sohn Gottes vom ewigen Throne der Gottheit auf die Erde herabgestiegen und im Leibe der Jungfrau Mensch geworden ist. Wer hierin nur ein schlechthinniges Wunder sieht, tritt eben damit aus allem geschichtlichen Zusammenhang heraus; das Wunder ist ein absoluter Anfang, und je bedingender ein solcher Anfang für alles Folgende ist, um so mehr muss auch die ganze Reihe der in das Gebiet des Christenthums gehörenden Erscheinungen denselben Charakter des Wunders an sich tragen: so gut auf dem Einen ersten Punkte der geschichtliche Zusammenhang zerrissen ist, ist auch auf jedem andern Punkte dieselbe Unterbrechung des geschichtlichen Verlaufs möglich.« 21 Die religionsgeschichtliche Schule macht sich im Gefolge Albrecht Ritschls und im Gegenzug zu Baur auf, durch den religionsgeschichtlichen Vergleich das Eigentümliche der christlichen Überlieferung gegenüber den religiösen Anschauungen vor allem des Hellenismus herauszustreichen. Jedoch findet man dermaßen viele Parallelen zur christlichen Überlieferung, daß die Masse der außerchristlichen Wunderberichte eher gegen die Historizität der christlichen Wundertraditionen gewendet wird, als sie zu untermauern. Um die J ahrhundertwende entscheidet sich die allgemeine theologische Stimmung weitgehend zu der Annahme des Fiktiven der Wundererzählungen. Die Ergebnisse der religionsgeschichtlichen Schule unmißverständlich zusammenfassend und systematischtheologisch auswertend erklärt Bultmann kategorisch: »Deshalb sind in der Diskussion die ›Wunder Jesu‹, sofern sie Ereignisse der Vergangenheit sind, restlos der Kritik preiszugeben, und es ist mit aller Schärfe zu betonen, daß schlechterdings kein Interesse für den christlichen Glauben besteht, die Möglichkeit oder Wirklichkeit der Wunder Jesu als Ereignisse der Vergangenheit nachzuweisen, daß im Gegenteil dies nur eine Verirrung wäre.« 22 »Der Gedanke des Mirakels ist also unvollziehbar geworden und muß preisgegeben werden.« 23 3. Die Reduktion der Fragestellung im Zuge der Form- und Redaktionsgeschichte Ein bedeutender Unterschied fällt zwischen der Wunderdiskussion im 19. Jahrhundert und der ab den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts ins Auge: Werden die Wundertexte über die formgeschichtlichen Merkmale einer Wundergeschichte definiert, so fällt ein Großteil der ehedem unter diesem Thema verhandelten Texte weg, wie ein Vergleich zwischen dem Artikel Wunder in Zedlers Universallexikon aus der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts mit Bultmanns Abschnitt über die Wunder in seiner Geschichte der synoptischen Tradition augenfällig macht. Die neutestamentliche Briefliteratur gerät durch die formgeschichtliche Verengung der Wunderexegese aus dem Blick. Ging es bei der Frage nach den Wundern im 19. Jahrhundert letztlich immer um die Frage der Auferstehung Jesu, so wird diese durch die Etablierung der Formgeschichte allmählich aus der Wunderdiskussion herausgelöst. Die Vorherrschaft der Formgeschichte in der Wunderexegese führt dann konsequenterweise dazu, daß nicht einmal die 1992 erschienene Dissertation von Stephanie M. Fischbach, die sich explizit den Totenerweckungen im Alten Testament, im Frühjudentum, in der griechisch-römi- 6 ZNT 7 (4. Jg. 2001) Neues Testament aktuell schen Welt und im Neuen Testament widmet, der Auferstehung Jesu einen Abschnitt einräumt. Sie fragt zwar: »Hat Jesus ›Tote‹ erweckt? « 24 , nicht aber, ob Jesus von den Toten auferstanden bzw. erweckt worden ist. Und die Anführungszeichen machen deutlich, daß sie in formgeschichtlicher Manier die Frage nach der Historizität für nebensächlich und im Grunde für entschieden hält. Die Vertreter der klassischen Formgeschichte fußen hinsichtlich der historischen Beurteilung der Wundergeschichten auf dem negativen Urteil der religionsgeschichtlichen Schule. Mit deren Arbeiten sahen sie die historische Frage nach dem Phänomen des Wunders als »erledigt« an. Die Formgeschichte macht es sich nun zur Aufgabe, die theologische Funktion der Wundergeschichten als kerygmatischer Rede (Bultmann) bzw. als Topos urchristlicher Predigt (Dibelius) zu erforschen. Dabei werden die wiederkehrenden Formelemente und Motive als Bestätigung des religionsgeschichtlichen Negativurteils gewertet und damit die Sprachebene in unzulässiger Weise mit einem historischen Urteil vermengt. Gegen diese unsachgemäße Vermischung der Argumentationsebenen wenden sich bereits 1959 - aber mit wenig Erfolg - die Gebrüder Hengel in ihrem Aufsatz Die Heilungen Jesu und medizinisches Denken : »Der besonders von gewisser theologischer Seite gegen die Wundererzählungen vorgebrachte formgeschichtliche Einwand, daß sie durch ihre bestimmten, auch mit außerchristlichen Wundererzählungen übereinstimmenden, mehr oder weniger festgeprägten Stilelemente und Traditionsformen sich als weithin ungeschichtlich ausweisen würden, übersieht, daß diese festen Formen in der Regel durch die Sache und das Geschehen selbst bedingt sind. Wollte man diesen Einwand zu einem allgemeingültigen Gesetz erheben, so könnten z.B. konsequenterweise auch alle modernen medizinischen Krankengeschichten, die der Sache wegen ebenfalls stets eine bestimmte feste Form aufweisen müssen, für unverbindlich bzw. gar für ungeschichtlich erklärt werden.« 25 Die Gebrüder Hengel stellen hier deutlich heraus, daß es sich bei dem religionsgeschichtlich-formgeschichtlichen Verdikt gegen die Historizität der Wundergeschichten um ein theologisch motiviertes Urteil handelt. Bei aller Präzisierung, Differenzierung und Kritik an der klassischen Formgeschichte bleibt die Reduktion der zu verhandelnden Wundertexte auf die Evangelien und der funktionale Ansatz, nach den Wundergeschichten als einer Weise des frühchristlichen Redens zu fragen, ohne den Zusammenhang von Sprache und Wirklichkeit zu thematisieren, für alle formgeschichtlichen Ansätze konstitutiv. Dies gilt auch für Gerd Theißens einflußreiche formgeschichtliche Untersuchung Urchristliche Wundergeschichten. Theißen erreicht mit seiner Differenzierung der Fragestellung in eine synchrone, eine diachrone und eine funktionale Betrachtungsweise der Wundergeschichten einen faszinierenden Reichtum unterschiedlicher Perspektiven. Vor allem seine »funktionale Betrachtungsweise« enthält wichtige Anstöße, die eingefahrene formgeschichtliche Wunderbetrachtung mit Hilfe soziologischer Forschung zu erweitern. Insbesondere seine erhellenden Ausführungen über die heilende Funktion von Wundergeschichten, also über die energetische Kraft von Sprache, haben die Forschung bereichert. 26 Bei näherer Betrachtung bleibt aber Theißen hinsichtlich des Phänomens des Wunderbaren bei den Ergebnissen der religionsgeschichtlichen Schule, der klassischen Formgeschichte und der Religionsphänomenologie Rudolf Ottos stehen und fällt sogar mit seinen psychologistischen Rationalismen, die ich im nächsten Abschnitt darstellen möchte, hinter die Klarheit der Position Baurs und Bultmanns zurück. Das Problem des Zusammenhangs von Sprache, Wirklichkeitsverständnis und historischer Einschätzung des Phänomens des Wunderbaren wird deshalb in Theißens Konzeption der Wunderexegese nicht eigens thematisiert. Das trifft auch noch auf die die formgeschichtliche Problematik weiterführende Arbeit New Testament Miracle Stories von Werner Kahl zu. Kahls umsichtige, materialreiche und eigenständige Untersuchung zeigt das Problem der formgeschichtlichen Verengung der Frage nach dem Wunderbaren gerade wegen der Qualität seiner Arbeit auf. Kahl gelingt es, eine sich wiederholende Struktur antiker Heilungsgeschichten herauszuarbeiten. Aber das Kriterium der Klassifizierung der Heilungsgeschichten als Wundergeschichten liegt auch bei Kahl gerade nicht in der nach allen Regeln methodischer Kunst bestimmten Form dieser Erzählungen, sondern in dem semantischen Kriterium einer eingreifenden numinosen Macht. Kahl schreibt: »Die Morphologie dieses Erzähltyps ist bestimmt ZNT 7 (4. Jg. 2001) 7 Stefan Alkier Wen wundert was ? durch eine Bewegung von einem Mangel […] zu seiner Überwindung durch eine (mirakulöse) Handlung eines aktiven Subjekts, das für diese Aufgabe besonders vorbereitet ist.« 27 Das Problem dieser klaren und hilfreichen Formbeschreibung liegt darin, daß der Zusatz in Klammern - das eingeklammerte / mirakulös/ - einen semantischen Marker in die syntagmatische Formbestimmung einführt und einführen muß, um es von anderen Erzählungen, die dieselbe syntagmatische Struktur teilen, aber nicht als Wundergeschichten klassifiziert werden sollen, abzugrenzen. Bei allen methodischen Überlegungen zeigt auch Kahls Auswahlkriterium der analysierten Texte und seine zusammenfassende Strukturbeschreibung, wie sehr Dibelius mit dem Einwand recht hatte, die Gattung Wundergeschichte richte sich vornehmlich nach einem inhaltlichen Moment aus und sei nicht an der Form orientiert. Kahl behauptet: »The investigation of miracle healing stories focuses on narratives which share a common theme with respect to the initial lack (absence of health) as well as to the preparedness of an AS [Active subject, S.A.] (who is prepared through numinous power). All narratives which do not involve these two features have not been considered here.« 28 Dazu macht Kahl folgende Anmerkung: »For this reason the account of how Asclepiades, the famous physician from the first century B.C.E., raised a man considered dead is excluded.« 29 Obwohl die Asclepiades-Erzählung den von Kahl herausgearbeiteten strukturellen Eigenschaften eines Heilungswunders genügt, zählt er sie nicht dazu, weil der Handelnde nicht aufgrund von »numinous power« handelt. Dieses semantische Merkmal und nicht die Struktur der Erzählung ist letzlich das entscheidende definierende Merkmal eines Heilungswunders. Es ist aber typisch für die formgeschichtliche Gattungsbestimmung von Wundergeschichten, daß es über dieses Merkmal, über diese semantische Größe keine weiteren Reflexionen gibt oder si e - wie bei Theißen und auch hier bei Kahl - aus der Religionsphänomenologie Rudolf Ottos und nicht aus der Analyse der Texte selbst abgeleitet werden. Da die Frage nach dieser semantischen Größe nicht auf einer formgeschichtlichen Ebene liegt, führt die Dominanz formgeschichtlicher Arbeiten hinsichtlich der Wunderproblematik in eine Sackgasse. Ebenso wenig wie die formgeschichtlichen Arbeiten zum Thema Wunder auf das Phänomen des Wunderbaren eingehen, finden sich in den redaktionsgeschichtlichen Arbeiten von Dietrich-Alex Koch, Karl Kertelge, Ludger Schenke, Heinz Joachim Held, Ulrich Busse und Stefan Schreiber 30 methodische Überlegungen zur Frage nach dem Wunderbaren des Wunders und dem Verhältnis von Sprache und Wirklichkeitsauffassung. Die Frage nach dem extensionalen Geltungsbereich der Wundergeschichten wird in diesen Arbeiten zumeist statementartig in die Fußnoten verbannt und verkommt zu rein subjektiven Bekenntnissen, die je nach Weltanschauung der Autorinnen und Autoren Wunder ganz in den Bereich des Unwirklichen, Übertreibenden, Phantastischen abschieben oder lapidar bemerken, natürlich habe es Wunderheilungen in der frühen Christenheit gegeben - meistens mit dem Beisatz einer auf psychosomatischen Erkenntnissen beruhenden Rationalisierung des Wunderbaren. Die redaktionsgeschichtlichen Arbeiten bieten im Blick auf die Frage nach dem Phänomen des Wunderbaren daher keine neuen Einsichten. 4. ›Neue‹ Lösungen der Wunderexegese : Zwischen Rehistorisierung und Neorationalismus Als Gegenzug gegen die Marginalisierung des Wunderbaren kann die Rehistorisierung der Wundererzählungen angesehen werden. Hatte Bultmann »mit aller Schärfe« betont, »daß schlechterdings kein Interesse für den christlichen Glauben besteht, die Möglichkeit oder Wirklichkeit der Wunder Jesu als Ereignisse der Vergangenheit nachzuweisen, daß im Gegenteil dies nur eine Verirrung wäre«, 31 so versuchen ›neue‹ Lösungen der Wunderexegese, die sich vornehmlich zwischen Rehistorisierung und Neorationalismus bewegen, genau dies zu tun: die »Wirklichkeit der Wunder Jesu als Ereignisse der Vergangenheit nachzuweisen« 32 . Es ist dabei eine fundamentale Trendwende in der Beurteilung dessen, was historisch für möglich gehalten wird, festzustellen. 1957 hatte Ernst Käsemann in seinem Aufsatz Zum Thema der Nichtobjektivierbarkeit von einem Konsens der Exegese hinsichtlich des Problems des Wunders festgestellt: »Man darf wohl sagen, daß der Kampf […] auf dem Felde der theologischen Wissenschaft zu seinem Ende gekommen ist. Der traditionelle kirchliche Wunderbegriff wurde dabei zerschlagen.« 33 8 ZNT 7 (4. Jg. 2001) Neues Testament aktuell Hat dieser Konsens jemals bestanden, so kann davon gegenwärtig keine Rede mehr sein. Vielmehr befindet sich gegenwärtig das kulturell konventionalisierte Wissen über Wunder, also die Geltungsannahmen hinsichtlich der Realität von Wundern in einem markanten Umbruch. Dieser enzyklopädische Umbruch wird in der neueren Wunderdiskussion offensichtlich, die 1989 gleich drei Themenhefte zum Problem Wunder hervorbrachte.34 So wird im Editorial der Internationalen katholischen Zeitschrift im Januarheft 1989 fröhlich festgestellt: »Man verlangt nach dem Wunderbaren und glaubt wieder an ›Wunder‹«. Auch in der breiten Öffentlichkeit wächst die Bereitschaft, Wunder für möglich zu halten, wie diverse Fernsehsendungen zuerst der Privatsender, seit spätestens 1995 aber auch die ARD samstagabends um 18.00 zeigten. Und sieht man über die engen Grenzen Westeuropas hinaus in die USA, nach Lateinamerika und Afrika, so wird man erst recht mit einer anwachsenden Tendenz, Wundergeschichten als Tatsachenberichte zu akzeptieren, konfrontiert. »Unglaubliche Geschichten« - so der Titel der in den USA produzierten und in der ARD ausgestrahlten Sendung - wie die Rückkehr Toter, Vorauswissen, Wunderheilungen und vieles mehr wurden hier im Stile eines dramatisierten Tatsachenberichtes dem Publikum als wahr und unbestreitbar präsentiert. Vorbereitet wurde diese Trendwende in der (Fernseh)Gesellschaft und in der neutestamentlichen Wissenschaft unter anderem durch einen Antirationalismus, der in kryptorationalistischer Weise mit Hilfe von psychosomatischen und parapsychologischen ›Beweisen‹ für die Möglichkeit der Faktizität der neutestamentlichen Wunder eintritt. So fordern Otto Betz und Werner Grimm in ihrer Arbeit Wesen und Wirklichkeit der Wunder Jesu: »Die bloß intellektuelle Frage ist zu suspendieren, nachdem in den Naturwissenschaften selbst die Erkenntnis der Unabgeschlossenheit der Welt Raum gewinnt und Grenzerfahrungen im Bereich der Parapsychologie, der Meditation und des Sterbeerlebens das Offensein der Welt gegenüber Einwirkungen einer Transzendenz anzeigen.« 35 Die kurzschlußartige Logik, die der immer lauter werdenden Forderung von Heilungsgottesdiensten zugrundeliegt, besteht in einer suggestiven Umkehrung des historischen Analogieschlusses. So sind die Protagonisten der Heilungsgottesdienst e der Auffassung, daß Wunder deshalb auch »heute noch möglich und realisierbar« seien, weil sie ja von der ersten Christenheit bezeugt sind. 36 Dabei bemerken sie nicht, wie sehr sie einer zeitgenössischen, kapitalistischen Theologie der Machbarkeit verpflichtet sind, wenn ihnen das Fürbittengebet des Sonntagsgottesdienstes nicht ausreicht und sie sich selbstüberheblich und mit den Hoffnungen verzweifelter Menschen spielend zu göttlichen Heilern ausrufen. Behutsamer fordert Hans Weder in seinem Forschungsbericht über die Wunderexegese, die historische Frage bezüglich neutestamentlicher Wundergeschichten nicht außer acht zu lassen. Er vertritt die Auffassung, »daß die Wundertätigkeit Jesu im Sinne von wunderbaren Heilungen und Exorzismen (möglicherweise auch von Wiederbelebungen von Toten) historisch nicht bestreitbar ist (Légasse 128, Theissen 274).« 37 Die Stelle aus Gerd Theißens Monographie Urchristliche Wundergeschichten, auf die sich Weder hier bezieht, bedarf in diesem Zusammenhang der Diskussion. Theißen schreibt: »Zweifellos hat Jesus Wunder getan, Kranke geheilt und Dämonen ausgetrieben. Die Wundergeschichten geben diese historischen Ereignisse jedoch in einer gesteigerten Gestalt wieder.« 38 Löst das Statement von Hans Weder hinsichtlich der Historizität von Totenerweckungen Jesu bei kritischen Historikerinnen und Historikern nur Kopfschütteln aus, so verfolgt Theißens Argumentation eine Doppelstrategie. Behauptet der erste Satz eine historische Aussage im Sinne der Faktizität von Wundern, wie auch Weder sie einklagt, so nimmt der zweite Satz diese Position wieder zurück und fügt sich ganz in eine sozialpsychologische, psychosomatische und letztlich neorationalistische Wundererklärung ein, die auf eine lange exegetische Tradition zurückblicken kann. Schon in der rationalistischen Wundererklärung eines H.E.G.Paulus waren es gerade die Heilungen und Exorzismen, denen ein historischer Haftpunkt eingeräumt wurde. H.E.G.Paulus und Gerd Theißen stimmen darin überein, daß es sich bei den Dämonenaustreibungen Jesu nicht um Dämonenaustreibungen gehandelt hat, sondern um die Heilung psychischer Erkrankungen, die sich Theißen vornehmlich als sozio-kulturell erzeugte Massendepressionen erklärt: »Innerhalb einer Gesellschaft, die ihre Probleme und Intentionen in mythischer ZNT 7 (4. Jg. 2001) 9 Stefan Alkier Wen wundert was ? Sprache zum Ausdruck bringen kann, kann sozialer und politischer Druck als Herrschaft von Dämonen interpretiert werden. Oder vorsichtiger ausgedrückt: Politische Fremdherrschaft und der damit gegebene sozio-kulturelle Druck kann die im Dämonenglauben zum Ausdruck kommende Erfahrung verschärfen und zu jener massenhaften Verbreitung von Besessenheitsphänomenen führen, die in der Welt des Urchristentums vorauszusetzen ist.« 39 Für Theißen gibt es ebensowenig wie für H.E.G.Paulus / / Dämonen / / 40 , sondern nur einen überholten »Glauben an Dämonen und Teufel«, die Theißen entmythologisierend versteht als »eine sehr menschliche Interpretation negativer Erscheinungen« 41 . Deshalb fahren auch bei Theißen keine / / Dämonen / / in die Schweineherde (vgl. Mk 5,13), vielmehr werden die Römer vom »aggressiven Wunsch« der politisch Besetzten - nicht zu verwechseln mit dämonisch Besessenen - »wie Schweine ins Meer« 42 geschickt. Wenn es aber keine / / Dämonen / / gibt, dann können sie auch nicht ausgetrieben werden. Selbst David Friedrich Strauß, der mit seiner Weise der Entmythologisierung die meisten neutestamentlichen Wundergeschichten als unhistorische Mythen betrachtet, die traditionsgeschichtlich vor allem durch die Übertragung von Motiven und Themen der Elia-Elisa-Tradition und der messianischen Rezeption von Jes 35,5f. produziert worden seien, 43 rechnet bei den neutestamentlichen Heilungsgeschichten, die ein psychosomatisches Krankheitsbild aufzeigen, und insbesondere bei den Exorzismen in rationalistischer Manier - die er ansonsten heftig kritisiert - mit einem historischen Haftpunkt. So ist Strauß der Auffassung, »daß Jesus manche an vermeintlich dämonischer Verrückung oder Nervenstörung leidende Personen auf psychische Weise durch die Übermacht seines Ansehens und Wortes geheilt habe«. 44 Es ließen sich noch viele andere, z.B. Theißens Gewährsmann Rudolf Otto, in diese rationalistische Erklärungstradition der sogenannten ›Wunder‹-Heilungen und ›Dämonen‹-Austreibungen einreihen. Es ist geradezu ein Erkennungsmerkmal für rationalistische und kryptorationalistische Wundererklärungen, daß unter den Wundern Jesu lediglich Krankenheilungen und Dämonenaustreibungen mit dem Urteil »zweifellos« bedacht werden, »also wiederum jene paranormalen Phänomene, die sich heute relativ unproblematisch in unser Weltverständnis einfügen«, wie ein Blick in heutige Schulbücher zum Thema Wunder zeigt. 45 Rudolf Mack gibt den Schülerinnen und Schülern in dem gemeinsam mit Dieter Volpert erstellten Materialheft Der Mann aus Nazareth - Jesus Christus, Oberstufe Religion daher die Auskunft: »Kein Bibelwissenschaftler bestreitet heute mehr, daß Jesus außergewöhnliche Taten vollbracht hat, die man landläufig ›Wunder‹ nennt.« Diese ›Wunder‹ werden dann in neorationalistischer Manier damit erklärt, daß Jesus »paranormale Kräfte besessen und bei seinem Wirken angewendet hat.« 46 Mack argumentiert damit ganz auf der Linie Theißens, der es für ein »Argument[.] für einen kritischen Glauben« - so der Titel einer seiner Abhandlungen - hielt zu behaupten: »Der historische Jesus besaß paranormale Fähigkeiten und stellte sie in den Dienst seiner Sache.« 47 In derselben Abhandlung bekennt sich Theißen mit aller wünschenswerten Klarheit zum naturwissenschaftlich geprägten Weltbild der Aufklärung, wenn er schreibt: »Empirisches Wahrheitsbewußtsein verlangt, daß man auf Aussagen verzichtet, die keine Basis in intersubjektiv zugänglicher Erfahrung haben« und wendet sich mit diesem Argument strikt gegen Theologien, die »auf dem unbegründbaren Wunder der Offenbarung Gottes« 48 basieren. Beide Aussagen zusammengesehen ergeben keinen Widerspruch, wenn man die rationalistische Argumentationsfigur Theißens erkennt. Nur un-begründbare Wunder stehen dem empirischen Wahrheitsbewußtsein entgegen. Will man weiterhin von Wundern sprechen, bedarf es lediglich einer rationalen Erklärung. Diese Erklärung stellen empirisch belegte Analogien paranormaler Fähigkeiten dar. Jesu Wunder waren nicht wunderbar, sondern bestenfalls paranormal und sind letztlich medizinisch-psychologisch auch dem »empirische[n] Wahrheitsbewußtsein« über gegenwärtige Analogien »intersubjektiv zugänglicher Erfahrung« erklärbar. Bei den Wundern, die Theißen für unbezweifelbar hält, handelt es sich konsequent um solche ›Wunder‹, die mit der neorationalistischen Argumentationsfigur des Paranormalen erklärt werden können: »Exorzismen und Therapien«. Jesu Seewandel, die Brotvermehrung, die Erweckung des Lazarus 49 sind ihm alles andere als zweifellos. Jesu Seewandel erklärt Theißen in seinem Buch Der Schatten des Galiläers, das den Anspruch erhebt, Historische Jesusforschung in erzählender Form - so 10 ZNT 7 (4. Jg. 2001) Neues Testament aktuell der Untertitel des Buches - zu präsentieren, in bester rationalistischer Manier: »Wenn man den Gerüchten über seinen jeweiligen Aufenthaltsort glaubte, hätte man annehmen können, er bewege sich unglaublich schnell von Ort zu Ort. Kein Wunder, daß uns jemand erzählt, er könne über Wasser laufen.« 50 Theißen hat Recht: »Kein Wunder«, sondern rationalistische Wunderwegerklärung. Die »Geschenkwunder«, zu denen Theißen die Speisungsgeschichten zählt, sind seiner Auffassung nach »sehr viel unwahrscheinlicher als Exorzismen und Therapien« 51 . »Uns ist nichts bekannt von Leuten, die sich anboten, Brot zu vermehren, Wasser in Wein zu verwandeln. […] Den Geschenkwundern fehlt als Hintergrund die Lebenspraxis, die anderen Wundern Anschaulichkeit verleiht. Keine Gattung der Wundergeschichten ist so sehr der Phantasie entsprungen wie diese, keine hat so sehr den Charakter der Schwerelosigkeit, des Wunsches, der unbefangenen Märchenhaftigkeit.« 52 Auch hier gibt Theißens Schatten des Galiläers weiteren Aufschluß, wie die Geschichten von der Brotvermehrung zu erklären seien: »Wenn die Leute erst einmal glauben, daß genügend Brot für alle da ist, verlieren sie die Angst vor dem Hunger. Dann holen sie die Brotreserven heraus, die sie versteckt hielten, um nicht mit anderen teilen zu müssen. Sie geben von ihrem Brot ab.« 53 Neben diese sozialpsychologische Erklärung trägt Theißen in die Speisungsgeschichten dann noch eine sozialgeschichtliche Erklärung ein: »Die Leute erleben immer wieder bei Jesus, daß er in überraschender Weise Unterstützung findet, ohne zu arbeiten, zu betteln oder zu organisieren.« 54 Im Klartext: Nicht Gottes Wundermacht, sondern das Geld reicher Jesussympathisantinnen bewirkte das ›Wunder‹ der Speisungsgeschichten. Es paßt ins Bild, daß sich zu der »Märchenhaftigkeit« einiger Wundergeschichten dann auch noch das die oben beschriebene Assoziationskette David Humes aufrufende entwicklungsgeschichtliche Theorem einer »kindlichen Menschheit« gesellt. So erklärt Theißen, »daß die urchristlichen Wundergeschichten aus dem archaischen Stoff einer kindlichen Erfahrung gestaltet sind. Sie sind Ausdruck einer ›kindlichen‹ Menschheit.« 55 Mit Blick auf das ökumenische Gespräch der Gegenwart hieße das aber, weite Teile der evangelischen Kirchen Ostafrikas als ›kindliche Menschheit‹ zu begreifen, 56 um nur ein Beispiel anzuführen. Ähnliches ließe sich dann von vielen christlichen Religionsgemeinschaften in den USA und Lateinamerika, aber auch in Europa sagen. Dabei handelt es sich übrigens nicht einfach um »weniger gebildete Schichten«, denen Theißen in der Manier eines David Hume die Hinneigung zu »Wunder- und Aberglauben« 57 (sic! ) unterstellt. Theißen hält keineswegs die neutestamentlichen Wundergeschichten als Wunder für reale Ereignisse, denn selbst die ›unbezweifelbaren‹ »Exorzismen und Therapien« erzählt das Neue Testament nach ihm »in einer gesteigerten Gestalt«. Auf Theißen trifft zu, was er zusammen mit Annette Merz hinsichtlich der rationalistischen Wundererklärung schrieb: Er versucht, »die Wunder dem modernen Verstand plausibel zu machen, indem« er »das eigentlich Wunderbare aus ihnen herausinterpretiert[.]« 58 »Urchristliche Wundergeschichten sind durch den historischen Jesus provozierte symbolische Handlungen, in denen die historische Gestalt über alle Maßen hinaus gesteigert wird.« 59 Die Definition der Wundergeschichten als symbolische Handlungen reiht Theißen in die lange Tradition der Entmythologisierung ein. Die Wundergeschichten sind auch bei Theißen nichts anderes als Sprachereignisse, die vom historischen Jesus provoziert, aber gerade nicht vollbracht wurden. Konkret heißt das: Jesus heilte tatsächlich - was sich Theißen sozialpsychologisch und psychosomatisch erklären kann - aber: »Die Fama vom Wundertäter Jesus machte sich schon zu seinen Lebzeiten gegenüber der Realität selbständig, wenn man z.B. von wunderbaren Brotvermehrungen erzählte.« 60 Wenn Theißen immer wieder vom Wunderwirken Jesu spricht, ohne seine Kombination aus Neorationalismus und Entmythologisierung erläuternd hinzuzusetzen, so ist das eine - sicherlich nicht intendierte - Irreführung der Leserschaft, die dadurch entsteht, daß Theißen Objektsprache und Metasprache vermischt. Jesus hat in der Konzeption Theißens keine Wunder vollbracht. Die urchristlichen Wundergeschichten sind für Theißen ein Produkt der »erzählende[n] Phantasie« 61, denen bestenfalls ein historischer Haftpunkt zugestanden wird, der aber gerade nicht als Wunder klassifiziert werden kann. Auch die in ihrem religionsgeschichtlichen Teil informative Arbeit Jesus und die Christen als Wundertäter von Bernd Kollmann trägt deutliche neora- ZNT 7 (4. Jg. 2001) 11 Stefan Alkier Wen wundert was ? tionalistische Züge. Wie bei H.E.G.Paulus und G.Theißen 62 werden bei Kollmann unter der Hand Tote zu Scheintoten, wie das folgende Beispiel zeigt: »Empedokles […], Asklepiades […], und wahrscheinlich auch Alexander von Abonuteichos (Luc, Alex 24) haben totgeglaubte Personen mit medizinischen Mitteln wiederbelebt. Daß Scheintote sogar bei der Beerdigung wieder zu sich kamen, ist offenbar nicht selten vorgekommen […] Speziell für das Christentum berichtet Iren, Haer II 31,2; 32,4, von Totenerweckungen auf Gebet und Fasten hin. Von daher besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, daß christliche Wundercharismatiker neben Dämonenaustreibungen oder Heilungen auch Wiederbelebungen scheintoter Personen bewirkten« 63 . Auf einer unausgewogenen und teilweise widersprüchlichen Mischung neorationalistischer und entmythologisierender Gedankengänge beruhen auch Eugen Drewermanns tiefenpsychologische Wundererklärungen. Auch Drewermann versteht die Wundertexte nicht wörtlich, sondern faßt sie als Vehikel ›tieferer‹ Wahrheiten auf und sucht im Jargon der Entmythologisierung nach deren ›eigentlicher‹ Botschaft, die er mittels der Tiefenpsychologie meint aussagen zu können. Auch bei Drewermann sind die Wunder als Wunder ›erledigt‹: »Ein Gott, der Wunder wirken kann und dies vor 2000 Jahren zur Beglaubigung des von ihm gesandten Messias auch getan hat, sich dann aber hinter den Wolken zurückzieht und die Menschen jammern und leiden läßt, ist nicht mehr glaubhaft.« 64 »Das Geschenk der Nähe Gottes ist das eigentliche Wunder unseres Lebens.« 65 Andererseits hält er die Krankenheilungen Jesu in Analogie zu »Heilungen der Schamanen« 66 für historisch. Sich nahtlos in die rationalistische Exegese einreihend, erklärt Drewermann die Krankheiten und ihre Heilungen durch Jesus als psychische bzw. psychosomatische Vorgänge. 67 5. Die Wunderdiskussion und die neuere Problematisierung des Wirklichkeitsbegriffs Während Walter Wink in seiner Programmschrift Bibelauslegung als Interaktion (1973; dt. 1976) sich noch der Entmythologisierung verpflichtet zeigt, wendet er sich von ihr in seiner Arbeit Naming the Powers (1984) ab. Winks Anliegen ist es aber nicht, die Weltsicht des Neuen Testaments vorkritisch für seine Kultur als gültig zu deklarieren. Er stimmt auch nicht in das Klagelied der Säkularisierung ein. Vielmehr möchte er der Weltsicht der neutestamentlichen Texte nachspüren, um an ihrer Sicht der Dinge heutigen Menschen Fremderfahrungen zu ermöglichen, die heutige Weltsichten und Lebensvollzüge kritisch bereichern können. Hinsichtlich dieser historisch-semiotischen Aufgabe ist Wink dann weniger an psychonalytischen Modellen orientiert als an der Archäologie Michel Foucaults. Auch Klaus Bergers Kritik an der formgeschichtlichen Gattungsbezeichnung Wundererzählung zielt auf die angemessene Berücksichtigung der Differenz heutiger und antiker Wirklichkeitsverständnisse: »Wunder/ Wundererzählung ist kein Gattungsbegriff, sondern moderne Beschreibung eines antiken Wirklichkeitsverständnisses.« 68 Auch wenn man nicht so weit gehen möchte, die Gattung Wundererzählungen grundsätzlich zu bestreiten, ist Berger darin zuzustimmen, daß das Phänomen des Wunderbaren nicht auf die unter der Gattung Wundererzählung verhandelten Texte einzuschränken ist. Berger hat auch damit recht, daß die formgeschichtlich bestimmten Wundererzählungen recht disparaten Stoff bieten und kein einheitliches Verständnis dessen nahelegen, was denn das ›Wunderbare‹ sei. Vor allem aber ist ihm darin zuzustimmen, daß insbesondere den Fremdheitsphänomenen antiker Texte nur unter Thematisierung der jeweiligen Wirklichkeitsverständnisse auf die Spur zu kommen ist. Auf je unterschiedliche Weise und mit verschiedenen Theoriehintergründen haben auch Gerd Petzke, Howard Clark Kee, Susan Garrett und Heike Bee-Schroedter 69 dafür plädiert, das Wunderverständnis frühchristlicher Texte nicht auf dem Hintergrund eines unthematisierten modernen Wirklichkeitsverständnisses zu untersuchen, sondern die Konstruktion der Wirklichkeit in der Antike selbst zu bearbeiten. In der neuesten exegetischen Theoriediskussion wird darauf verwiesen, daß grundlegende Begriffe, mit denen die neutestamentliche Exegese operiert, neu geklärt werden müssen. Es ist eine wichtige Aufgabe heutiger neutestamentlicher Wissenschaft, »danach zu fragen, was Geschichte, was Wirklichkeit, was Sprache, was ein Text ist, bzw. wie wir sie heute unter den Bedingungen unserer Lebenswelt auffassen können.« 70 Eckart Reinmuth zufolge zeigt der Streit 12 ZNT 7 (4. Jg. 2001) Neues Testament aktuell um Gerd Lüdemanns Buch Die Auferstehung Jesu »nicht nur, daß über manche Grundlagenfragen unserer theologischen Arbeit keineswegs hinreichende Einigkeit besteht, sondern daß zugleich nicht klar genug ist, was für einen Begriff von Geschichte wir voraussetzen.« 71 Wird bereits bei Reinmuths Frage nach dem Geschichtsbegriff und seiner Relevanz für die Frage der Auferstehung Jesu deutlich, daß damit zugleich die umfassende Frage nach dem Konzept von Wirklichkeit gestellt ist, rückt Peter Lampe die Frage nach dem Wirklichkeitsbegriff in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Er fragt: »Welchen Realitätsbegriff haben Theologen und Exegetinnen, wenn sie von ›Wirklichkeit Gottes‹, ›Auferstehungswirklichkeit‹ oder ›eschatologischer Wirklichkeit‹ reden? «. 72 Lampe insistiert darauf, daß die diesbezügliche notwendige »Selbstverständigung im theologischen Lager« angemessen nur unter Einbeziehung der »gegenwärtigen interdisziplinären Diskussion um den Realitätsbegriff« 73 geführt werden kann. Mit Blick auf die Kontroverse um die Wirklichkeit der Auferstehung Jesu forderte Erhardt Güttgemanns bereits 1972 in seinem grundlegenden Aufsatz ›Text‹ und ›Geschichte‹ als Grundkategorien der Generativen Poetik. Thesen zur aktuellen Diskussion um die ›Wirklichkeit‹ der Auferstehungstexte, das Verhältnis von Text und Wirklichkeit bzw. von Text und Geschichte semiotisch zu problematisieren. Er gibt zu bedenken, daß Wirklichkeit/ Geschichte nur erfahren werden kann, wenn sie mit »Bedeutsamkeit« 74 ausgestattet ist. Das, was als Wirklichkeit erlebt wird, ist daher abhängig von dem Bedeutungszusammenhang, dem Text, in dem es verortet wird: »›Text‹ und ›Geschichte‹ sind keine statischen Gegebenheiten, sondern relationale Faktoren eines semiotischen Systems. Sie lassen sich daher nur in ihrer semiotischen Relationalität adäquat analysieren.« 75 In meiner Habilitationsschrift Wunder und Wirklichkeit in den Briefen des Apostels Paulus habe ich versucht, dieser semiotischen Einsicht folgend, den Ort des Wunderdiskurses der paulinischen Briefe in ihrer jeweiligen Wirklichkeitskonstruktion zu untersuchen. Bei dem Streit um die rechte Wunderinterpretation geht es immer auch um die Frage nach dem zumeist unausgesprochenen Verständnis dessen, was Wirklichkeit ist. Es scheint daher vielversprechend zu sein, die bei Güttgemanns, Wink und anderen aufgezeigte Möglichkeit, die Frage nach dem Wunder jenseits von Metaphorisierung und Rehistorisierung zu stellen, auszuarbeiten, wobei man aber die berechtigten Anliegen metaphorischer und rehistorisierender Wunderauffassungen als kritische Gesprächspartner ernst zu nehmen hat. Anmerkungen 1 Au sfüh rlicher und mit mehr Quellenbelegen habe ich die Forschungsgeschichte dargestellt in meiner Habilitationsschrift, Wunder und Wirklichkeit in den Briefen des Apostels Paulus. Ein Beitrag zu einem Wunderverständnis jenseits von Entmythologisierung und Rehistorisierung, WUNT 1.Reihe, Tübingen 2001. Vgl. zur Forschungsgeschichte auch E. u. M.-L. Keller, Der Streit um die Wunder. Kritik und Auslegung des Übernatürlichen in der Neuzeit, Gütersloh 1968; B. Bron, Das Wunder. Das theologische Wunderverständnis im Horizont des neuzeitlichen Natur- und Geschichtsbegriffs (GTA 2), Göttingen 1975; H. Weder, Wunder Jesu und Wundergeschichten, VuF 29 (1984), 25-49; B. Kollmann, Jesus und die Christen als Wundertäter. Studien zu Magie, Medizin und Schamanismus in Antike und Christentum (FRLANT 170), Göttingen 1996, 18-41; H. Bee-Schroedter, Neutestamentliche Wundergeschichten im Spiegel vergangener und gegenwärtiger Rezeptionen. Historisch-exegetische und empirisch-entwicklungspsychologische Studien (SBB 39), Stuttgart 1998, 63-110. 2 Vgl. P. Brown, Die Heiligenverehrung. Ihre Entstehung und Funktion in der lateinischen Christenheit, Leipzig 1991, 79; ders., Die letzten Heiden. Eine kleine Geschichte der Spätantike, Berlin 1986, 54.71.89.92f. 3 G. Theißen, Urchristliche Wundergeschichten. Ein Beitrag zur formgeschichtlichen Erforschung der synoptischen Evangelien (StNT 8), Gütersloh 1974, 266. 4 J. Becker, Paulus: Der Apostel der Völker, Tübingen 1989, 253, stellt bereits für die Zeit des Paulus fest: »Die Zeit war insgesamt recht wundersüchtig«. 5 E.R. Dodds, Heiden und Christen in einem Zeitalter der Angst. Aspekte religiöser Erfahrung von Marc Aurel bis Konstantin, Frankfurt/ Main 1985. 6 Gegen eine Auffassung der Spätantike als eine Verfallsepoche hat sich dezidiert ausgesprochen P. Brown, Heiden, 19-22. 7 Die in Klammern stehende Seitenzahlen beziehen sich auf B. de Spinoza, Sämtliche Werke 3. Theologisch-politischer Traktat, auf der Grundlage der Übers. v. C. Gebhardt neu bearb., eingel. u. hg. v. G. Gawlick, (PhB 93), Hamburg 1994. 8 Voltaire, Essais sur les mœurs et l’esprit des nations, introduction et notes par J. Marchand, Paris 1962, 147. 9 D. Hume, The Natural History of Religion, in: ders., The Philosophical Works 4. Essays. Moral, Political and ZNT 7 (4. Jg. 2001) 13 Stefan Alkier Wen wundert was ? Literary II, ed. by T.H. Green and T.H. Grose, Reprint of the New Edition London 1882, Aalen 1964, 362. 10 D. Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, J. Kulenkampff (Hg.), (PhB 35), Hamburg 12 1993, 134. 11 H.S. Reimarus, Vom Zwecke Jesu und seiner Jünger, in: G.E. Lessing, Sämtliche Schriften 13, K. Lachmann (Hg.), Leipzig 3 1897, 314. 12 Ebd., 146. 13 Ebd. 14 Vgl. zu Gabler O. Merk, Biblische Theologie des Neuen Testaments in ihrer Anfangszeit. Ihre methodischen Probleme bei Johann Philipp Gabler und Georg Lorenz Bauer und deren Nachwirkungen (MThSt 9), Marburg 1972, 29-140, insbes. 52-81. 15 D.F. Strauß, Das Leben Jesu I, Tübingen 1835, 75. 16 Vgl. R. Bultmann, Glauben und Verstehen IV. Gesammelte Aufsätze, Tübingen 1965, 130.146. 17 D.F. Strauß, Leben Jesu, 18. 18 Hervorhebung durch mich. Die eingeklammerten Seitenzahlen beziehen sich auf R. Bultmann, GuV IV. 19 Vgl. dazu S. Alkier, Urchristentum. Zur Geschichte und Theologie einer exegetischen Disziplin (BHTh 83), Tübingen 1993. 20 In: J.P. Gabler, Kleinere Theologische Schriften I, Ulm 1831, 179-198. 21 Wieder abgedruckt in F.C. Baur, Ausgewählte Werke in Einzelausgaben III, K. Scholder (Hg.), Stuttgart/ Bad Cannstatt 1966, 1. 22 R. Bultmann, GuV I, 227. 23 Ebd., 216. 24 S.M. Fischbach, Totenerweckungen. Zur Geschichte einer Gattung (FzB 69), Würzburg 1992, 302. 25 R. u. M. Hengel, Die Heilungen Jesu und medizinisches Denken, in: Medicus Viator. Fragen und Gedanken am Wege Richard Siebecks (wieder abgedr. in: A. Suhl (Hg.), Der Wunderbegriff im Neuen Testament, 338- 373), Tübingen/ Stuttgart 1959, 331-361, hier: 357. 26 Diesen Gedanken hat Theißen theoretisch vertieft in seinem Aufsatz »Synoptische Wundergeschichten im Lichte unseres Sprachverhältnisses«, WPKG 65 (1976), 289-308. 27 W. Kahl, New Testament Miracle Stories in their Religious-Historical Setting. A Religionsgeschichtliche Comparison from a Structural Perspective (FRLANT 163), Göttingen 1994, 238. 28 Ebd., 153. 29 Ebd., 153, Anm. 1. 30 Vgl. D.-A. Koch, Die Bedeutung der Wundererzählungen für die Christologie des Markusevangeliums (BZNW 42), Berlin/ New York 1975; K. Kertelge, Die Wunder Jesu im Markusevangelium. Eine redaktionsgeschichtliche Untersuchung (StANT 23), München 1970; L. Schenke, Die Wundererzählungen des Markusevangeliums (SBB 33), Stuttgart 1974; H.J. Held, Matthäus als Interpret der Wundergeschichten, in: G. Bornkamm/ G. Barth/ H.J. Held, Überlieferung und Auslegung im Matthäusevangelium (WMANT 1), Neukirchen 1960, 155-287; U. Busse, Die Wunder des Propheten Jesu. Die Rezeption, Komposition und Integration der Wundertradition im Evangelium des Lukas (FzB 24), Stuttgart 1977; S. Schreiber, Paulus als Wundertäter. Redaktionsgeschichtliche Untersuchungen zur Apostelgeschichte und den authentischen Paulusbriefen (BZNW 79), Berlin/ New York 1996. 31 R. Bultmann, GuV I, 227. 32 Ebd. 33 In: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen I, Göttingen 6 1970, 224. 34 Theologia Practica 24 (1989), Internationale katholische Zeitschrift 18 (1989), Katechetische Blätter 114 (1989). 35 O. Betz/ W. Grimm, Wesen und Wirklichkeit der Wunder Jesu. Heilungen - Rettungen - Zeichen - Aufleuchtungen (ANTI 2), Frankfurt/ Main, 1977, 5f. Auf dieser Welle schwimmt auch K. Bergers Schrift Darf man an Wunder glauben? Stuttgart 1996. 36 R. Gerloff, Historische Aspekte von Heilung, ThPr 24 (1989), 20-28, hier: 26, berichtet von Gruppen, »die darauf bestanden, daß neutestamentliche Wunder heute noch möglich und realisierbar sind. Gegen die rein akademische Theologie und die verfaßte Kirche […] setzen sie ein leibliches und korporatives Verständnis der christlichen Gemeinschaft und erweckten so ›apostolische‹ Kräfte.« 37 H. Weder, Wunder Jesu, 28. 38 Theißen, Urchristliche Wundergeschichten, 274. 39 Ebd., 253. Vgl. dagegen die Arbeiten zur Spätantike von P. Brown. 40 U. Eco, Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen, Supplemente 5, München 1987, 19: »Einfache Schrägstriche bezeichnen etwas, das als Ausdruck oder Signifikat gemeint ist, während doppelte Winkelklammern etwas als Inhalt Gemeintes kennzeichnen. / xxxx/ signifiziert, drückt aus oder bezieht sich also auf »xxxx«. […] Um etwa den Gegenstand Auto vom Wort Auto zu unterscheiden, wird im ersten Fall das Wort zwischen Doppelschrägstriche gesetzt und kursiv geschrieben. / / Auto / / ist also der dem verbalen Ausdruck / Auto/ korrespondierende Gegenstand, und beide beziehen sich auf die Inhaltseinheit »Auto«.« 41 G. Theißen, Argumente für einen kritischen Glauben oder: Was hält der Religionskritik stand? (TEH 202), München 1978, 14, vgl. ebd., 45.48f.90f.103. 42 Theißen, Urchristliche Wundergeschichten, 253. 43 Vgl. Kollmann, Jesus und die Christen, 22. 44 D.F. Strauß, Leben Jesu II, Tübingen 1836, 49f. 45 S. Alkier/ B. Dressler, Wundergeschichten als fremde Welten lesen lernen. Didaktische Überlegungen zu Mk 4,35-41, in: B. Dressler/ M. Meyer-Blanck (Hgg.), Religion zeigen. Religionspädagogik und Semiotik (Grundlegungen 4), Münster 1998, 163-187, hier: 173. 46 R. Mack, Die Wunder Jesu im Urteil der Bibelwissenschaft, in: ders/ D. Volpert, Der Mann aus Nazareth - Jesus Christus. Oberstufe Religion Materialheft 7, Stuttgart 1993, 28. 47 Theißen, Argumente, 115. 14 ZNT 7 (4. Jg. 2001) Neues Testament aktuell 48 Ebd., 15. 49 Vgl. dazu S. Alkier, Lazarus - Fact, Fiction, Friction, Loccumer Pelikan 4/ 1996, 153-159. 50 G. Theißen, Der Schatten des Galiläers. Historische Jesusforschung in erzählender Form, Gütersloh 13 1993, 167. 51 Theißen, Urchristliche Wundergeschichten, 112. 52 Ebd., 113. 53 Theißen, Schatten des Galiläers, 168. 54 Ebd., 168f. 55 Theißen, Urchristliche Wundergeschichten, 284f. 56 Vgl. R. Veller, Zeichen und Wunder - die charismatische Bewegung erfaßt die evangelischen Kirchen Ostafrikas, ThBeitr 23 (1992), 139-150. Neutestamentliche Wunderauslegung muß das ökumenische Gespräch im Blick haben! 57 Theißen, Urchristliche Wundergeschichten, 229. 58 G. Theißen/ A. Merz, Der historische Jesus, Ein Lehrbuch, Göttingen 21997, 260. 59 Theißen, Urchristliche Wundergeschichten, 279, Hervorhebung von mir. 60 Theißen/ Merz, Historische Jesus, 494. Hervorhebung von mir. 61 Theißen, Urchristliche Wundergeschichten, 90. 62 Vgl. ebd., 98, Anm. 25. 63 B. Kollmann, Jesus und die Christen, 265 (Hervorhebung von mir). Vgl. auch Theißen, Urchristliche Wundergeschichten, 98, Anm. 25: »Totenerweckungen gehören zu den Therapien: Einmal können fast alle antiken Totenerweckungen durch Wundertäter als Wiedererweckung Scheintoter verstanden werden«. 64 E. Drewermann, Mißverständnisse und Irrwege der Wunderauslegung, KatBl 114 (1989), 408-413, hier: 408. 65 Ebd., 410. Hervorhebung von mir. 66 E. Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese II, Freiburg/ Breisgau 1985, 125. 67 Vgl. ebd., 98f. 68 K. Berger, Formgeschichte des Neuen Testaments, Heidelberg 1984, 305. 69 Vgl. G. Petzke, Historizität und Bedeutsamkeit von Wunderberichten. Möglichkeiten und Grenzen des religionsgeschichtlichen Vergleichs, in: H.D. Betz/ L. Schottroff (Hgg.), Neues Testament und christliche Existenz, FS Herbert Braun zum 70.Geburtstag, 1973, 367- -385; H.C. Kee, Miracle in the Early Christian World. A Study in Sociohistorical Method, New Haven/ London 1983; ders., Medicine, Miracle and Magic in New Testament Times (SNTS Monograph Series 55), Cambridge 1986; S. Garrett, The Demise of the Devil: Magic and the Demonic in Luke’s Writings, Minneapolis 1989; H. Bee- Schroedter, Wundergeschichten. 70 S. Alkier/ R. Brucker, Neutestamentliche Exegesen interdisziplinär - ein Plädoyer, in: dies. (Hgg.), Exegese und Methodendiskussion (TANZ 23), Tübingen/ Basel 1998, XIII. 71 E. Reinmuth, Historik und Exegese - zum Streit um die Auferstehung Jesu nach der Moderne, in: S. Alkier/ R. Brucker (Hgg.), Exegese und Methodendiskussion (TANZ 23), Tübingen/ Basel 1998, 1-20, hier: 1. 72 P. Lampe, Die urchristliche Rede von der ›Neuschöpfung des Menschen‹ im Lichte konstruktivistischer Wissenssoziologie, in: Alkier/ Brucker (Hgg.), Exegese, 21- 32, hier: 21. 73 Ebd. 74 E. Güttgemanns, ›Text‹ und ›Geschichte‹ als Grundkategorien der Generativen Poetik. Thesen zur aktuellen Diskussion um die ›Wirklichkeit‹ der Auferstehungstexte, LingBib 11 (1972), 1-12, hier: 8. 75 Ebd., 10. ZNT 7 (4. Jg. 2001) 15 Stefan Alkier Wen wundert was ?