eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 4/7

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
61
2001
47 Dronsch Strecker Vogel

Wunder im frühen Christentum - Wirklichkeit oder Propaganda?

61
2001
Roman Heiligenthal
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Seit der Aufklärung wurde die Realität der neutestamentlichen Wundergeschichten mit rationalistischen Argumenten und mythologischen Deutungsversuchen in Frage gestellt. Die rationalistischen Erklärungsversuche sahen in den Wundergeschichten meist Inszenierungen der Jünger, um das einfache Volk von der Lehre Jesu zu überzeugen oder sie rekurrierten auf besondere Fähigkeiten Jesu im Grenzbereich von Medizin und Parapsychologie. Der mythologische Deutungsversuch bestritt radikal die Geschichtlichkeit der Wunder überhaupt. Seine Vertreter sahen in ihnen Äußerungen eines voraufklärerischen Verständnisses von Wirklichkeit und bereiteten damit den Boden für ein kerygmatisches Wunderverständnis, das in den Wundern vornehmlich Glaubenszeugnisse antiker Menschen sah. Forschungsgeschichtlich wirksam wurde diese Debatte ab Ende der vierziger Jahre im Streit um die Entmythologisierung des Neuen Testaments, der untrennbar mit dem Namen Rudolf Bultmanns und seiner Schüler verbunden ist. Dieser Streit wurde innerhalb der Kirche äußerst heftig und teils mit verletzender bis ins Persönliche gehender Schärfe geführt. Er hatte aber auch in den fünfziger und frühen sechziger Jahre über den innerkirchlichen und innertheologischen Diskurs hinaus große Aufmerksamkeit in der Gesellschaft erregt. Für eine ganze Generation historisch-kritisch orientierter Theologen und Theologinnen schien die Frage nach der Historizität der neutestamentlichen Wundergeschichten mit Rudolf Bultmanns Entmythologisierungsprogramm endgültig erledigt. Hart und die aufgeklärte Moderne ernst nehmend formulierte er 1941: »Die Wunder des Neuen Testaments sind … als Wunder erledigt, und wer ihre Historizität durch Rekurs auf Nervenstörungen, auf hypnotische Einflüsse, auf Suggestion und dergl. retten will, der bestätigt das nur … Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben.« 1 Für Bultmann und seine Anhänger war damit sowohl die supranaturalistische als auch die rationalistische Wundererklärung in all ihren Varianten für den modernen Menschen ein in eine historische und theologische Sackgasse führender Weg. Die Wundergeschichte des Neuen Testaments dienten einzig dazu, Glaubenswahrheiten zu veranschaulichen. Hierin liege ihr eigentlicher Wert. Heute stehen wir in der nur auf den ersten Blick erstaunlichen Situation, dass die Frage nach einer rechten Interpretation der neutestamentlichen Wundergeschichten mitnichten der Vergangenheit angehört, sondern wieder in den Focus der wissenschaftlichen Diskussion gerückt ist. Ihre Realität wird wieder ernsthaft auch unter dem Gesichtspunkt der Historizität diskutiert. Diese Trendwende ist nicht unumstritten. Stefan Alkier schreibt hierzu in seiner Habilitationsschrift, in der er für eine Interpretation der Wunder jenseits von Entmythologisierung und Rehistorisierung plädiert: »Vorbereitet wurde diese Trendwende in der (Fernseh)Gesellschaft und in der neutestamentlichen Wissenschaft unter anderem durch einen Antirationalismus, der in kryptorationalistischer Weise mit Hilfe von psychosomatischen und parapsychologischen ›Beweisen‹ für die Möglichkeit der Faktizität der neutestamentlichen Wunder eintritt.« 2 Sowohl Michael Wohlers als auch Rainer Riesner bejahen in der nachfolgenden Kontroverse grundsätzlich die Möglichkeit der Faktizität neutestamentlicher Wunder. Michael Wohlers schränkt dies allerdings auf Krankenheilungen und Exorzismen ein, die durchaus von Jesus und den frühen Gemeinden praktiziert worden wären. Andere Wundergeschichten seien Spiegelungen des Osterglaubens. Wohlers steht damit dem Ansatz Gerd Theißens nahe, der mit der Argumentationsfigur des »Paranormalen« Exorzismen und Therapien für historisch unbezweifelbar hält. Rainer Riesner streitet für die Wirklichkeit der Wunder Jesu, die als Kontingenzerfahrungen den Einbruch göttlicher Wirklichkeit in die beschränkte Realität des Menschenmöglichen beschreiben. Die wohltuend Kontroverse Roman Heiligenthal Wunder im frühen Christentum - Wirklichkeit oder Propaganda ? Einleitung zur Kontroverse 46 ZNT 7 (4. Jg. 2001) sachlich geführte Kontroverse zeigt, dass es sich bei den Wundergeschichten beileibe nicht um einen Nebenkrater neutestamentlicher Theologie handelt. Wie schreibt Klaus Berger in seinem Wunderbuch: »Da auch die Auferstehung zu den Wundern gehört, gilt der Satz: Der Verzicht darauf würde das Christentums verwechselbar machen.« 3 Anmerkungen 1 R. Bultmann, Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung, in: H.W. Bartsch, Kerygma und Mythos I, Hamburg 1948, 18. 2 S. Alkier, Wunder und Wirklichkeit in den Briefen des Apostels Paulus. Ein Beitrag zu einem Wunderverständnis jenseits von Entmythologisierung und Rehistorisierung, Habil. masch. Hamburg 1999, 42. 3 K. Berger, Darf man an Wunder glauben? , Stuttgart 1996, 11. ZNT 7 (4. Jg. 2001) 47 Roman Heiligenthal Einleitung zur Kontroverse