eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 4/7

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
61
2001
47 Dronsch Strecker Vogel

Jesus, der Heiler

61
2001
Michael Wohlers
znt470048
Hat der historische Jesus Dämonen ausgetrieben und Kranke geheilt? Herrmann Samuel Reimarus (1694-1768), Professsor für Hebräisch und orientalische Sprachen, hatte in der Neuzeit diese Frage erstmals vehement verneint. In seiner von Gotthold Ephraim Lessing anonym veröffentlichten »Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes« erklärte er: »Ich will … zeigen, dass [in den Wundergeschichten] alles auf leere Einbildung und eitles Vorgeben hinauslaufe.« 1 Die Jünger, so Reimarus, nutzten die Wundersucht und Leichtgläubigkeit des Volkes aus, um Jesus mit erfundenen Wundern als Messias Israels zu erweisen. Reimarus’ Thesen rüttelten an den Grundfesten der damaligen Theologie. Die Diskussion über den historischen Wert der neutestamentlichen Wunderüberlieferung ist seit Reimarus nicht mehr verstummt. 1. Jesus und die Christen als Wundertäter 2 Hat der historische Jesus Wunder getan? In der neutestamentlichen Exegese urteilte man in dieser Frage lange Zeit sehr zurückhaltend. Die Wundergeschichten galten als Bildungen der nachösterlichen Gemeinde, um Jesus als Theios-Aner (göttlichen Menschen) darzustellen. Über das Leben des historischen Jesus besagten sie, so ein weit verbreitetes Urteil, dagegen wenig. Dieter Georgi hatte diese These am Beispiel der Gegner des Paulus im 2. Korintherbrief profiliert: 3 In der Antike, so Georgi, gab es zahlreiche Geschichten von übermenschlichen Wundertätern, den Theioi Andres (göttliche Menschen). Um diese Erzählungen zu übertreffen, erzählte man im frühen Christentum auch von Jesus Wundergeschichten. Diese Wundergeschichten dienten der Missionspropaganda, und lassen damit kaum Rückschlüsse auf den historischen Jesus zu. Die hier skizzierte Einschätzung hat eine Prämisse, die sich an den antiken Quellen nur schwer belegen lässt: Geschichten von übermenschlichen Wundertätern waren bereits vor der Entstehung der neutestamentlichen Literatur weit verbreitet. In dieser Form trifft das nicht zu. Fast alle einschlägigen Berichte über übermenschliche Wundertäter stammen aus dem 2. oder 3. Jh. n. Chr. (Josephus, Lukian, Philostrat, rabbinische Wundercharismatiker) und damit aus der Zeit nach der urchristlichen Literatur. Sie besagen nichts über Wundergeschichten zur Zeit des historischen Jesus. Eine Ausnahme bilden die epidaurischen Inschriften (4. Jh. v. Chr.) über Heilungen durch den griechischen Gott Asklepios. Auch diese Quellen begründen jedoch keinen hellenistischen Typos des übermenschlichen Wundertäters: Wenn Asklepios Kranke heilt, tut er genau das, was man von einem Heilgott erwartet. Ein Heilgott ist aber kein übermenschlich wirkender Wundercharismatiker, kein Theios Aner. Die These, dass urchristliche Wundergeschichten auf umherlaufende Theios- Aner-Propaganda reagierten, hält letztlich einer Überprüfung an den Quellen nicht stand. Sie setzt die Existenz eines vorchristlichen Typs übermenschlicher Wundertäter voraus, kann sie jedoch nicht wirklich schlüssig belegen. Statt dessen gibt es wichtige Gründe für die Annahme, der neutestamentlichen Wunderüberlieferung einen beträchtlichen Wert für das Wirken des historischen Jesus zuzumessen. Dies gilt, so wird sich zeigen, nicht für alle Wundergeschichten des Neuen Testaments, sondern nur für die aus heutiger Perspektive recht anstößigen Exorzis men, Krankenheilungen und Normenwunder (z.B. Immunität gegen Schlangenbiss: Apg 28,1-6). Dieser Teil der Wundergeschichten hat einen historischen Anhalt: Es ist sehr wahrscheinlich, dass der historische Jesus tatsächlich Dämonen ausgetrieben und Kranke geheilt hat. Drei Argumente sprechen für diese These: Michael Wohlers Jesus, der Heiler 48 ZNT 7 (4. Jg. 2001) ZNT 7 (4. Jg. 2001) 49 Michael Wohlers Jesus, der Heiler Michael Wohlers Michael Wohlers, Jahrgang 1966, promovierte im NT an der Philipps-Universität Marburg/ Lahn mit einer Arbeit über neutestamentliche Wundergeschichten und antike Medizin. Zur Zeit leitet er in Hannover »Kirche im Blick-Wiedereintrittsstelle«, eine Servicestelle der Hannoverschen Landeskirche. Veröffentlichungen zu Krankheit im Neuen Testament, antiker Medizin und Astrologie. (1) Sowohl Heilungen als auch Exorzismen werden in unterschiedlichen Quellen und Traditionszusammenhängen bezeugt. Krankenheilungen und Dämonenaustreibungen werden nicht nur in der Logienquelle Q, sondern auch im Markusevangelium, im matthäischen und lukanischen Sondergut, im Johannesevangelium und in der Briefliteratur, also in voneinander unabhängigen Quellen, Jesus bzw. seinen Jüngern zugeschrieben. 4 Beide Wunderarten werden auch außerhalb der eigentlichen Wundergeschichten, nämlich in Spruchüberlieferung und Heilungssummarien erwähnt. (2) Im Neuen Testament werden vergebliche Exorzismen und gegnerische Polemik zu den Dämonenaustreibungen berichtet. Die Synoptiker wissen von misslungenen Wundern und reflektieren, warum Jesus bzw. seine Jünger in bestimmten Situationen nicht heilen konnten (Mk 6,1-6 par; Mk 9,28f.). Ein gutes Beispiel dafür ist die Nazarethperikope Mk 6,1-6: Jesus konnte in seiner Heimatstadt keine Wunder tun, weil er dort auf keinen Glauben stieß. Bereits das Markusevangelium relativiert die Episode durch den Einschub »außer dass er wenigen Kranken die Hände auflegte und sie heilte« (Mk 6,5), da sie seinem erzählerischen Interesse widerspricht. In eine ähnliche Richtung weist die Beelzebul-Kontroverse Mk 3,22ff.: Jesu Gegner bestreiten nicht, dass er Dämonen austreibt, aber bringen dies mit dem Teufel in Verbindung. Diese Anschuldigung wurde kaum von den Christen selbst erfunden, sondern ist ein Reflex tatsächlicher Diskussionen. Beide Beobachtungen - misslungene Wunder und die Anschuldigung, mit dem Teufel im Bunde zu stehen - widersprechen urchristlichen Jesusbildern. Sie lassen sich daher gut als Reminiszenzen tatsächlicher Ereignisse interpretieren. Es ist wahrscheinlich, dass der historische Jesus Dämonen ausgetrieben und Kranke geheilt hat. (3) In der Alten Kirche gibt es zahlreiche Notizen über christliche Wundercharismatiker. 5 Auch der griechische Philosoph Kelsos (2. Jh. n. Chr.), ansonsten profilierter Gegner des Christentums, bestreitet nicht die Existenz christlicher Dämonenbeschwörer. 6 Selbst die im unechten Markusschluss erwähnte Fähigkeit, gefahrlos Giftschlangen berühren zu können (vgl. Mk 16,18), findet in der altkirchlichen Literatur einen historischen Anhalt: Epiphanios, Bischof auf Cypern (4. Jh. n. Chr.), berichtet von einem christlich-gnostischen Schlangengottesdienst, in dem während des Abendmahls eine Giftschlange in die Brote kriecht und von den Gläubigen geküsst wird. 7 Die mehrfache Bezeugung von Heilungen und Exorzismen, die Überlieferung misslungener Wunder und gegnerischer Unterstellungen sowie altkirchliche Notizen über christliche Wundertäter machen es plausibel, dass der historische Jesus und seine Jünger in der Tat Dämonen ausgetrieben und Kranke geheilt haben. Auch wenn es aus heutiger Perspektive schwierig und anstößig wirkt: Es ist historisch wahrscheinlich, dass das frühe Christentum, den historischen Jesus eingeschlossen, eine Bewegung von Exorzisten und Krankenheilern war. 2. Wundergeschichten und urchristliche Praxis Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass sich in den neutestamentlichen Exorzismen und Krankenheilungen urchristliche Praxis widerspiegelt. Trotzdem sind die synoptischen Wundergeschichten keine historischen Berichte von Einzelereignissen. Bereits die klassische Formgeschichte, vertreten durch Rudolf Bultmann und Martin Dibelius, hat gezeigt, dass in den Wundergeschichten die einzelnen Motive zu typischen Kompositionen verarbeitet sind. 8 Gerd Theißen hat die Motive, die in immer neuen Variationen vorkommen, nach ihrer Funktion innerhalb der einzelnen Wundergeschichte geordnet: Auf das Auftreten des Wundertäters und anderer am Geschehen beteiligter Personen folgen expositionelle Motive, z.B. eine Schilderung der Not. In der Mitte der Geschichte steht die Wunderhandlung, an ihrem Ende oft eine Demonstration des Wunders, eine Akklamation der Menge oder ein Schweigegebot. 9 In einer einzelnen Wundergeschichte werden so sehr typische Motive verwandt, dass man sie nicht als historischen Bericht über eine bestimmte Krankenheilung oder Dämonenaustreibung lesen kann. Um ein Beispiel zu nennen: Ob Jesus im Rahmen seines Wirkens irgendwann einen epileptischen Knaben geheilt hat oder nicht (vgl. Mk 9,14-29par.), lässt sich aus den Quellen nicht mehr erheben. In der vorliegenden Form sind synoptische Wundergeschichten zudem durch redaktionelles Interesse geprägt: Sie weisen auf die Personenwürde Jesu hin (Mk 4,41), zeigen das angebrochene Reich Gottes (Lk 11,20) oder beweisen die Vollmacht seiner Lehre (Mk 1,27). Trotzdem erlauben neutestamentliche Wundergeschichten wichtige Schlüsse auf die urchristliche Praxis. Drei Aspekte lassen sich besonders herausarbeiten: (1) Zahlreiche Krankenheilungen und Dämonenaustreibungen zeigen ein besonderes Interesse an einem bestimmten Heilwort. 10 So werden in voneinander unabhängigen Perikopen Lähmungen durch die Formel »Steh auf, nimm deine Bahre und geh umher« oder ähnliche Formulierungen (vgl. Joh 5,8; Mk 2,9; Apg 3,6) therapiert. Andere Heilworte sind »Strecke die Hand aus« (Mk 3,5), »Du bist frei von deiner Krankheit« (Lk 13,12), »NN, es heilt dich Jesus Christus, steh auf« (Apg 9,34), »Stell dich aufrecht auf deine Füße« (Apg 14,10) oder »Ich will, sei rein« (Mk 1,41par). Im Fall von Taubstummheit hat das für griechische Ohren unverständliche semitische Wort effata therapeutische Wirkung (vgl. Mk 7,34). Diese Formulierungen sind wahrscheinlich keine ad hoc gebildeten Ermutigungen des Kranken, sondern Besprechungsformeln, die sich durch wiederholten Gebrauch durch christliche Heiler bewährt haben. Zwei Überlegungen sprechen für diese Einschätzung: Einerseits werden zumindest Lähmungen in voneinander unabhängigen Perikopen durch ähnliche Formulierungen therapiert. Andererseits wissen wir, dass in der Alten Kirche Erkrankungen unter anderem durch Rezitation neutestamentlicher Wundergeschichten behandelt wurden. 11 Es ist daher gut möglich, dass Perikopen, in denen Jesus oder einem prominenten Vertreter der christlichen Gemeinde die erfolgreiche Anwendung heilender Worte zugeschrieben werden, auf urchristliche Krankenbehandlung zielen. Einerseits dienen sie der Anleitung, wie in einem solchen Fall zu verfahren ist. Andererseits legitimieren sie von urchristlichen Heilern verwendete Besprechungsformeln, indem sie sie Jesus oder einer profilierten Gestalt aus den Anfängen der Kirche in den Mund legen. Eine weitere Beobachtung erhärtet diese Vermutung: Urchristliche Heilpraktiken, die uns heute sehr fremd sind, wurden offenbar nicht nur im frühen Christentum angewandt. Die Erzählungen vom fremden Exorzisten (Mk 9,38-41) und den Skeuassöhnen (Apg 19,13-17) setzen sich auf unterschiedliche Weise damit auseinander, dass urchristliche Heiler auch außerhalb der Gemeinde stehende Nachahmer fanden. Die Perikope vom fremden Exorzisten spiegelt die Auseinandersetzung der markinischen Gemeinde mit Beschwörern, die unter Verwendung des Jesusnamens, d.h. mit einer urchristlichen Heilformel, Dämonen austreiben, obwohl sie nicht der markinischen Gemeinde angehören. Dies wird nach einem auf Jesus zurückgeführten Regelsatz gebilligt (vgl. Mk 9,40). Nach der Erzählung Apg 19,13- 17 gilt dagegen eine therapeutische Verwendung des Jesusnamens durch jüdische Exorzisten nicht als legitim. Nicht ohne eine gewisse Häme wird erzählt, wie der Versuch der Söhne des Hohepriesters Skeuas, durch die Formel »Ich beschwöre euch bei Jesus, den Paulus predigt« (Apg 19, 13) kläglich scheitern muss. Offenbar gab es im frühen Christentum keinen Konsens, ob christliche Heilformeln auch von außerhalb der Gemeinde Stehenden benutzt werden dürfen oder nicht. Zahlreiche Wundergeschichten legen daher besonderes Gewicht auf Geheimhaltung des Heilwortes: 12 Auf einer vorliterarischen Ebene sollte dadurch verhindert werden, dass die betreffenden Formeln durch Unberufene verwendet werden. Mit der Entstehung schriftlicher Evangelien wurde diese Intention der Schweigegebote selbstver- 50 ZNT 7 (4. Jg. 2001) Kontroverse ständlich hinfällig; der Verfasser des Markusevangeliums hat sie daher als auf die Personwürde Jesu bezogene Anweisungen uminterpretiert. Zusammengefasst, spricht viel für die Annahme, dass im frühen Christentum bestimmte Heilworte verwendet wurden, die sich durch wiederholten Gebrauch bewährt hatten und deshalb Jesus bzw. einem prominenten Vertreter der frühen Christen in den Mund gelegt wurden. Einige Wundergeschichten in der neutestamentlichen Literatur lassen somit wichtige Rückschlüsse auf urchristliche Praxis zu. (2) Dies gilt auch für Wundergeschichten, in denen kein Heilwort überliefert wird. Zwei Beispiele sollen hier genannt werden: In der Blindenheilung Mk 8,22-26 wird Jesus der Gebrauch von Speichel, einem volksmedizinischen Heilmittel, zugeschrieben. Nach der Erzählung vom Blindgeborenen (Joh 9,1-7) verarbeitet Jesus zu therapeutischen Zwecken Speichel mit Erde zu einer Art Augensalbe. In beiden Erzählungen spiegelt sich volksmedizinische Krankenbehandlung mit Speichel, die ähnlich der volksmedizinischen Verwendung von Öl (vgl. Mk 6,13; Jak 5,14) im frühen Christentum offenbar verbreitet war. (3) Eine wichtige Rolle spielte schließlich die bereits in der Krankenheilungsanweisung Jak 5,14 erwähnte Anwendung von therapeutischen Gebeten. In der markinischen Perikope vom epileptischen Knaben wird beispielsweise das Jüngerversagen bei der Dämonenaustreibung mit der Anwendung des falschen Verfahrens erklärt: Die Jünger hätten, so die Pointe der gemeindliche Praxis reflektierenden Verse Mk 9,28-29, bei diesem Krankheitsbild nicht einen Ausfahrbefehl, sondern ein dämonenbannendes Gebet sprechen sollen. Urchristliche Geschichten von Krankenheilungen und Dämonenaustreibungen sind damit zwar keine Berichte von historischen Einzelereignissen. Dennoch erweitern sie unser Wissen, wie im frühen Christentum Kranke geheilt und Dämonen ausgetrieben wurden. Eine wichtige Rolle spielten offenbar bestimmte Heilworte, volksmedizinische Speichelbehandlung oder therapeutische Gebete. Die Wundergeschichten spiegeln diese Praxis, indem sie die entsprechenden Formeln und Praktiken Jesus in den Mund legen, und damit urchristlichen Wundertätern als Anleitung dienen. 3. Seewandel und Sturmstillung Im Mittelpunkt der bisherigen Überlegungen standen Geschichten von Krankenheilungen und Exorzismen. Dass dem historischen Jesus Krankenheilungen und Dämonenaustreibungen zuzuschreiben sind, besagt aber noch nichts über andere Wundergeschichten im Neuen Testament. Die neutestamentliche Überlieferung berichtet von Jesus auch wunderbare Speisungen (vgl. Mk 6,32-44par), plötzliche Erscheinungen auf See (vgl. Mk 6,45-52) und eine Sturmstillung (Mk 4,35-41par). Spiegelt sich auch in diesen Szenen eine entsprechende Praxis Jesu und der frühen Christen wider? Um diese Frage nicht auf der Ebene zu bearbeiten, ob wir heute an Wunder glauben oder nicht, ist es hilfreich, eine formgeschichtliche Einteilung von Gerd Theißen heranzuziehen. Theißen unterscheidet Therapien (Krankenheilungen), Exorzismen, Normenwunder, Epiphanien (z.B. Verklärung), Rettungswunder (z.B. Sturmstillung) und Geschenkwunder (z.B. Speisung der 5000). 13 Überlieferungsgeschichtlich lassen sich in dieser Einteilung zwei unterschiedliche Gruppen erkennen: Therapien, Exorzismen und Normenwunder sind in Summarien, Logien- und Erzählüberlieferung bezeugt (vgl. Mk 16,17f.! ); Epiphanien, Rettungswunder und Geschenkwunder spielen dagegen nur in der Erzählüberlieferung eine Rolle. Es gibt im Neuen Testament misslungene Krankenheilungen und einen missverstandenen Exorzismus; Berichte von vergeblichen Epiphanien, Rettungs- oder Geschenkwundern fehlen dagegen vollkommen. Auch formgeschichtlich unterscheiden sich beide Gruppen von Wundergeschichten: Epiphanien, Rettungs- und Geschenkwunder setzen in Motiv- und Themeninventar schon auf der erzählerischen Ebene die Ostererfahrung voraus; Krankenheilungen, Dämonenaustreibungen und Normenwunder tun dies nicht. In der Perikope Apg 12,1-11 (Befreiung des Petrus) wird das Schicksal des Petrus beispielsweise in deutlicher Entsprechung zu Jesu Passion und Auferstehung gestaltet. Die Speisungsgeschichten setzen die Abendmahlsparadosis voraus; Seewandel und wunderbarer Fischzug sind nur im Licht der Ostererfahrung verständlich. 14 Der historische Anhalt dieser Geschichten dürfte sich darauf beschränken, dass der historische Jesus mit seinen Jüngern gegessen, in einem Boot gefahren und ZNT 7 (4. Jg. 2001) 51 Michael Wohlers Jesus, der Heiler Fische gefangen hat. In der vorliegenden Form sind es Ostergeschichten, die in das Leben des historischen Jesus zurückprojiziert wurden. Historisch gefragt, muss man daher zwischen Epiphanien, Rettungs- und Geschenkwundern einerseits und Dämonenaustreibungen, Krankenheilungen und Normenwundern andererseits unterscheiden. Erstere sind Früchte des Osterglaubens und durch keine soziale Praxis des historischen Jesus oder seiner Jünger abgedeckt. Letztere sind im Licht des Osterglaubens überliefert, haben ihren Sitz im Leben aber in einer entsprechenden Praxis Jesu und der frühen Christen. 4. Wunder und Glaube Als Gotthold Ephraim Lessing einige Auszüge aus Reimarus’ Schrift unter dem Titel »Fragmente eines Ungenannten« herausgab, beurteilte er selbst die Berichte über Jesu Wunder als historisch zuverlässig. Trotzdem war aus seiner Sicht das Problem des Wunders nicht gelöst: »ich leugne gar nicht, daß Christus Wunder getan: sondern ich leugne, daß diese Wunder, seitdem ihre Wahrheit völlig aufgehöret hat, durch noch gegenwärtig gangbare Wunder erwiesen zu werden, … mich zu dem geringsten Glauben an Christi anderweitige Lehren verbinden können und dürfen. … Zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten nie werden.« 15 Lessing spricht damit an, dass aus der Historizität von Jesu Wundern nicht notwendig der Glaube an seine Person und Lehre folgt. Das war in der Antike nicht anders. Der griechische Arzt Galen (2. Jh. n. Chr.) kritisiert den christlichen Hang zum Wunder, 16 obwohl oder gerade weil zu seinen Lebzeiten christliche Wunderpraxis ungebrochen in Geltung steht. Bei Galen wie bei vielen anderen Zeitgenossen führten Wunder im frühen Christentum nicht zum Glauben an Jesus Christus, sondern zu Verwunderung und Kopfschütteln. In der neutestamentlichen Forschung wurde oft vermutet, dass in der griechisch-römischen Antike Wundergeschichten weit verbreitet waren. »… [B]is heute läßt sich ein allgemein akzeptierter Konsens in etwa auf den Nenner bringen: in der Antike waren Wunder bzw. Wundergeschichten gang und gäbe, in der Neuzeit gibt es die Medizin.« 17 Dieser Konsens beruht jedoch auf falschen Voraussetzungen. 18 In der griechisch-römischen Antike und dem hellenistischen Judentum (vgl. Sir 38,1-15) gab es philosophisch gebildete Ärzte, die nicht nur Gebildete und Wohlhabende, sondern auch sozial schlechter gestellte Patienten behandelten. Daneben spielten Heilkulte, Astrologie und Volksmedizin für den Umgang mit Krankheit eine wichtige Rolle. Heilungen durch Wundertäter waren demgegenüber eine seltene Ausnahme, die erst im frühen Christentum in vorher unbekanntem Ausmaß zur Regel gemacht wurde. Ein besonderer Stein des Anstoßes waren für antikes Denken die Exorzismen, in denen Krankheit auf einen Dämon zurückgeführt wird. Nach diesem Krankheitskonzept nimmt ein böser Geist im Körper seines Opfers Wohnung und tritt an die Stelle von dessen Persönlichkeit. Unreine Geister oder Dämonen können Geistesstörungen (Mk 5,1- 20), Stummheit (Mt 9,32f.; Mt 12,22), Blindheit (Mt 12,22), Verkrümmung (Lk 13,10ff.), Epilepsie (Mk 9,14-29par) und andere, nicht näher bezeichnete Erkrankungen (Mk 1,23ff.par; Mk 7,24ff.par; Mk 16,9) verursachen, indem sie einzeln oder in einer Gruppe (Mk 5,9par; Lk 8,2; Lk 11,24ff.par) ihren Aufenthalt im Körper des Kranken nehmen und von dort nur durch einen Ausfahrbefehl oder ein dämonenbannendes Gebet (Mk 9,29) wieder vertrieben werden können. Die Wurzel dieser für antikes wie modernes Denken gleichermaßen befremdlichen Vorstellung liegt in der zwischentestamentlichen Literatur; 19 sie gewann jedoch erst im frühen Christentum großen Einfluss. 20 Mit der Tätigkeit urchristlicher Exorzisten verbreitetete sich auch die Vorstellung, dass Kranke von einem Dämon besessen sind. Krankenheilungen und Dämonenaustreibungen sind damit bereits im Kontext der griechischrömischen Antike anstößig. Noch Lessing hatte beklagt, dass zwischen historisch zur Kenntnis genommener Wundergeschichte und daraus folgendem Glauben an den Wundertäter ein »garstige[r] breite[r] Graben« 21 bestehe. Dies, so Lessing, sei ein besonderes Problem der Moderne: Im Unterschied zur Antike fehle in der Gegenwart die überzeugende Anschauungskraft gegenwärtiger Wunderheilungen. Der von Lessing angesprochene »garstige breite Graben« bestand jedoch bereits in der Antike: Urchristliche Krankenheilungen und Dämonenaustreibungen waren auch für griechisch- 52 ZNT 7 (4. Jg. 2001) Kontroverse römisches Denken schwierig, da sie in dieser Form vorher nicht geläufig waren. Wundergeschichten waren eine Ausnahme, Dämonenaustreibungen außerhalb des jüdisch-christlichen Milieus nicht verbreitet. Beides wurde von urchristlichen Wundertätern in vorher nie gekanntem Ausmaß praktiziert. Urchristliche Wundergeschichten thematisieren daher in besonderer Weise das Verhältnis von Glaube und Unglaube (Mk 2,5par; Mk 5,34par; Mk 6,6par; Mk 9,19ff.par. u.ö.). In der Perikope vom epileptischen Knaben ist in zweifacher Hinsicht vom Glauben die Rede: Einerseits ist Glaube das schlichte Vertrauen des Vaters, dass Jesus den Knaben heilen kann und will (Mk 9,24). Andererseits ist Glaube eine notwendige Qualität Jesu bzw. seiner Jünger, um erfolgreich Dämonen austreiben zu können (Mk 9,19.23). Dieser Glaube der Jünger ist, der paulinischen Charismenkonzeption in I Kor 12,9 vergleichbar, eine besondere Gabe, ein festes Vertrauen in die helfende und rettende Macht Gottes. Weder der Glaube des Kranken bzw. seines Stellvertreters noch der Glaube Jesu bzw. seiner Jünger sind jedoch christologisch gefüllt: In beiden Fällen ist Glaube die schlichte Zuversicht, dass die anstehende Krankenbehandlung erfolgreich sein wird. Wunder im frühen Christentum bewegen sich damit nicht im Rahmen des zu ihrer Zeit Üblichen: Sie propagieren eine neue Praxis, bringen ein neues Verständnis von Krankheit und Heilung mit sich und setzen Glauben voraus. Mit diesen Zumutungen stoßen sie bereits in ihrem antiken Kontext auf Unverständnis. 5. Jesus, der Heiler Hat der historische Jesus Dämonen ausgetrieben und Kranke geheilt? Historisch gesehen, lässt sich diese Frage bejahen. Es spricht viel für die Annahme, dass das frühe Christentum, den historischen Jesus eingeschlossen, eine Bewegung von Exorzisten und Heilern war. Dies spiegelt sich in einigen neutestamentlichen Wundergeschichten, die urchristliche Praktiken Jesus und seinen Jüngern zuschreiben. Andere Wundergeschichten, nämlich die Epiphanien, Rettungs- und Geschenkwunder sind in die Geschichte Jesu zurückverlegte Ostergeschichten. Sie setzen die Ostererfahrung voraus und werben für sie, haben aber keinen Anhalt am Leben des historischen Jesus. Aus heutiger Perspektive wirkt dieses Jesusbild recht befremdlich: Dämonenaustreibungen und Krankenheilungen sind für modernes Denken schwierig. Das war in der Antike jedoch nicht anders: Auch innerhalb ihres antiken Kontextes lösten urchristliche Dämonenaustreibungen und Krankenheilungen großes Befremden aus, da sie eine neue Praxis propagieren und neue Deutungen von Krankheit und Heilung mit sich bringen. Anmerkungen 1 H.S. Reimarus, Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, G. Alexander (Hg.), Frankfurt a. Main 1972, 2 Bde., 371. 2 So der Titel der Habilitationsschrift von B. Kollmann (FRLANT 170), Göttingen 1996. 3 Vgl. D. Georgi, Die Gegner des Paulus im 2. Korintherbrief (WMANT 11), Neukirchen-Vluyn 1964. 4 Vgl. Mt 11,2-6par; Mk 6,7-13par; Lk 10,1-12.17-19; Lk 13,31-33; Mk 1,21-28par; Mk 1,29-31par; Apg 8,5-8; I Kor 12,28ff.; II Kor 12,12. 5 Vgl. Iren, haer II 31,2; 32,4; Tert, apol 23,15. 6 Vgl. Orig, Cels I, 6.22.25.46.67; III 24. 7 Vgl. Epiph., haer 37,5. 8 Vgl. M. Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums, Tübingen 4 1961 (1919), 34ff., 66ff.; R. Bultmann, Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen 9 1979 (1921), 8ff.; 223ff. 9 Vgl. G. Theißen, Urchristliche Wundergeschichten, Gütersloh 6 1990 (1972), 57ff. 10 Vgl. Mk 2,9; Apg 3,6; Joh 5,8; Mk 3,5; Lk 13,12; Apg 9,34; 14,10; Mk 1,41; Mk 10,52. 11 Vgl. Orig, Cels I,6. III 24; PGM 18; PGM.S 31. 12 Vgl. Mk 1,44par; 5,43; 7,36. 13 Vgl. Theißen, Wundergeschichten, 90ff. u. G. Theißen/ A. Merz, Der historische Jesus, Göttingen 1996, 265ff. 14 Vgl. Theißen/ Merz, Jesus, 273f. 15 G.E. Lessing, Über den Beweis des Geistes und der Kraft, in: G.E. Lessing, Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 8, Frankfurt/ Main 1989, 441f. 16 Vgl. R. Walzer, Galen on Jews and Christians, London 1949. 17 Vgl. D. Lührmann, Neutestamentliche Wundergeschichten und antike Medizin, in: Religious Propaganda and Missionary Competition in the New Testament World, FS D. Georgi, NT.S 74, Leiden 1994, 196f. 18 Vgl. zum Folgenden M. Wohlers, Heilige Krankheit. Epilepsie in antiker Medizin, Astrologie und Religion, MThSt 57, Marburg 1999, 24ff. 19 Vgl. TestSal 18,1. 20 Vgl. Wohlers, Krankheit, 126ff. 21 Lessing, Beweis, 443. ZNT 7 (4. Jg. 2001) 53 Michael Wohlers Jesus, der Heiler