ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
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Dronsch Strecker VogelHeike Bee-Schroedter - Neutestamentliche Wundergeschichten im Spiegel vergangener und gegenwärtiger Rezeptionen. Historisch-exegetische und empirisch-entwicklungspsychologische Studien (SBB 39). Stuttgart: Katholisches Bibelwerk GmbH 1998, 482 S., DM 89,-, ISBN 3-460-00391-X
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Kurt Erlemann
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ZNT 7 (4. Jg. 2001) 69 Buchreport über die Hauptgedanken des Buches machen. Was die Lektüre zusätzlich erschwert, sind die im strukturalistisch-semiotischen Bereich üblichen Kürzel, selbst wenn sie in einem eigenen Abkürzungsverzeichnis erläutert werden. Inhaltlich ist zu sagen, dass im Hinblick auf die Differenzierung zwischen den einzelnen Evangelisten die Ergebnisse nicht schlechthin innovativ sind. Für die Frage nach dem »göttlichen Menschen« (theios aner) indes eröffnen sich neue Perspektiven. In seiner religionsgeschichtlich einzigartigen Verbindung von menschlicher Natur und göttlicher Macht erscheint für Kahl Jesus als idealtypischer theios aner (231). - Systemimmanent zu beurteilen ist die fast völlige Ausblendung der Frage nach der Historizität der Wunder oder des sie tragenden Wirklichkeitsverständnisses. Auch die sozialhistorische Verortung der Wundergeschichten in ihren Trägergruppen (»Sitz im Leben«) gerät weitgehend aus dem Blick. Fokus sind für Kahl die kulturelle Umgebung und das Glaubenssystem der Erzähler, nicht die historischen Vorgänge um Jesus von Nazareth (11). Gleichwohl - wen methodische Fragen zur Wunderauslegung interessieren und wer dazu noch ausgiebiges religionsgeschichtliches Material sucht, dem ist das Buch von Werner Kahl warm zu empfehlen! Anmerkungen 1 Die exakte Abgrenzung dieses Typus sei letztlich unmöglich. »This makes it clear that classification based on the method of the main performance [ … ] are not helpful means.« (173, kursiv im Original) 2 Die Person des Wundertäters wird über den Forschungsstand hinaus in ihrer jeweiligen Funktion als Träger, Vermittler oder Bittsteller der göttllichen Macht differenziert. 3 Kahl interpretiert das mk. Schweigegebot in dem Sinne, dass die Geheilten als lebende Demonstrationen der göttlichen Kompetenz Jesu fungieren. Zweck sei die unvermeidliche Enthüllung der Identität Jesu. Kurt Erlemann Heike Bee-Schroedter Neutestamentliche Wundergeschichten im Spiegel vergangener und gegenwärtiger Rezeptionen. Historisch-exegetische und empirisch-entwicklungspsychologische Studien (SBB 39). Stuttgart: Katholisches Bibelwerk GmbH 1998, 482 S., DM 89,- ISBN 3-460-00391-X Die 1997 in Paderborn als Dissertation angenommene Studie von Heike B ee-Schroedter kreist um die Kernfrage »Wie rezipieren Heranwachsende neutestamentliche Wundergeschichten? « (4). Das Ziel der Arbeit ist ein ausgesprochen religionsdidaktisches, sie soll zu einer schülergerechten Vermittlung der Gattung Wundergeschichten anleiten. Den Anlass für dieses Unterfangen sieht Bee-Schroedter im Fehlen entwicklungspsychologischer Erkenntnisse in den gängigen Religionsbüchern mit der Folge eines Religionsunterrichts, der am Entwicklungsstand der Schülerinnen und Schüler vorbeigehe. Darüber hinausgehend formuliert die Autorin den »Anspruch der Studie, nicht nur religionspädagogisch, sondern auch hermeneutisch und damit auch für die biblische Exegese selbst relevant zu sein.« (1) Die weit gefasste Leitfrage lautet demnach: »Wie sind neutestamentliche Wundergeschichten überhaupt angemessen zu verstehen? « (6) Ein Buch also, das in seiner interdisziplinären Ausrichtung und Zielvorgabe weitreichende Erwartungen weckt. Methodologisch fußt das Buch besonders auf religionsdidaktischen und entwicklungspsychologischen Überlegungen und orientiert sich an der »qualitativen Sozialforschung«. Anstatt vom Text und seiner Auslegung zu Unterrichtsentwürfen zu kommen, geht Bee- Schroedter den umgekehrten Weg: In bewusster Distanzierung von historisch-kritischer Arbeit, deren Geltungsanspruch sie deutlich herabmindert, 1 stellt die Autorin die Lesarten bzw. Rezeptionen von ausgewählten Schülerinnen und Schülern (»Probanden«) in den Mittelpunkt, um von hier aus Erkenntnisse über die Verstehensmöglichkeiten und das Weltbild dieser Klientel zu schöpfen. 2 Texttheoretischer Hintergrund dieser Vorgehensweise ist die von der Semiotik (Eco) und der Rezeptionsästhetik (Iser, Warning, Jauß) hervorgehobene Rolle des Lesers bei der Konstituierung von Sinn. Die Möglichkeit eines »objektiven«, via historisch-kritischer Analyse zu erhebenden Textsinns, wird nach dieser Theorie kategorisch bestritten und dem Text eine grundsätzliche Offenheit für verschiedenste, gleichermaßen legitime Leseformen, bescheinigt. Von daher liegt es nahe, die Leseformen »moderner« Jugendlicher zum Maßstab einer angemessenen Hermeneutik der Wundergeschichten zu machen. 3 Für die 70 ZNT 7 (4. Jg. 2001) Buchreport notwendige altersspezifische Differenzierung sorgen von Piaget herkommende kognitiv-strukturelle Entwicklungstheorien. Ihre Validität kann mithilfe der empirischen Untersuchung zugleich geprüft werden. Zur Illustration ihrer rezeptionsästhetischen Sichtweise stellt Bee- Schroedter in einem ersten Durchgang (Teil III, S. 63-110) die Rezeption neutestamentlicher Wundergeschichten in der exegetischen Literatur dar. 200 Jahre Forschungsgeschichte, vom Rationalismus bis zu den neuesten Tendenzen, werden auf ihren jeweiligen geistesgeschichtlichen Hintergrund hin untersucht. Leitend ist dabei nicht die Frage nach einem objektiven Erkenntnisfortschritt, sondern nach der je eigenen Legitimität der exegetischen Fragestellungen und Ergebnisse. 4 Den eigentlichen Durchbruch in der exegetischen Forschung formuliert Bee- Schroedter folgendermaßen (110): »Erst das hermeneutische Selbstverständnis, diese Texte [scil. die Wundergeschichten, K.E.] nicht nach naturwissenschaftlichen oder historischen Maßstäben beurteilen zu müssen, ermöglicht es, oder vorsichtiger formuliert: erleichtert es, sie als Angebote zur Deutung von (gegenwärtiger) Wirklichkeit im Lichte der beschriebenen Handlungen Jesu zu interpretieren. Erst das Bewusstsein, eine solche Glaubensperspektive gleichberechtigt neben den auch vom eigenen Anspruch her relativierten geschichts- und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen einordnen zu können, ermöglicht m.E. die hier zu beobachtende positive Wertschätzung dieser so lange in der Neuzeit umstrittenen Wundergeschichten.« Vollends weise die Aufnahme der genannten rezeptionsästhetischen Fragestellungen, die die historische Dimension zugunsten der pragmatischen Dimension der Texte ins Spiel bringe und dadurch den Lebensbezug der Texte betone, in eine neue, heilsame Richtung. 5 Äußerst konsequent verfolgt Bee- Schroedter im Hauptteil der Studie (Teil IV, S.115-455) das Ziel, eine von jeglichen theoretischen Vorgaben freie, empirische Erhebung »jugendlicher« Leseformen der Wundergeschichten zu leisten. Die Leitfrage lautet: »Wie rezipieren Kinder und Jugendliche heute biblische Wundergeschichten? « Das methodische Vorgehen ist rein induktiv, auf eine Definition der Gattung »Wundergeschichte« und auf gängige exegetische Fragemuster wird verzichtet. Die theoretische Begründung des induktiven Vorgehens findet Bee-Schroedter in der qualitativen Sozialforschung, die zwar menschliches Verhalten erklären will, dabei aber nicht von den eigenen erkenntnisleitenden Interessen und der persönlichen Vorstellung über die soziale Wirklichkeit des Forschers absieht. (126) Die mit der Erhebung verbundene Leitvorstellung ist entsprechend bescheiden formuliert: »Die vermutlich unters chiedlichen Rezeptionen neutestamentlicher Wundergeschichten sollen dokumentiert und mit Hilfe entwicklungspsychologischer Theorien erklärt werden.« (145) Praktisch erfolgt die empirische Untersuchung durch eine Querschnittsstudie: Über 20 Jugendliche zwischen 9 und 20 Jahren werden zu verschiedenen Wundergeschichten in Form halbstandardisierter Interviews befragt, die Interviews anschließend ausgewertet und die Ergebnisse zuletzt noch methodologisch reflektiert. Konkret wurden die Kinder und Jugendlichen zur Blindenheilung Lk 18,35-43, zum Seewandel Mt 14,22- 33 und zum Speisungswunder Mt 15,32-39 befragt. Der Fragenkatalog bezieht sich auf die Historizität des Erzählten, die Identität des Wundertäters, die Absicht der Erzählung, auf das subjektive Gefallen an der Erzählung, auf ein mögliches Interesse, die Erzählung im Bekanntenkreis weiterzuerzählen sowie ggf. auf eine erkennbare Entwicklung der Probanden im Verständnis der Erzählung. Die Kriterien für die Auswahl der Probanden sind das Alter (in der Studie werden Interviews mit Jugendlichen im Alter von 9, 13 und 20 Jahren ausführlich besprochen), kommunikative Kompetenz und eine minimale religiöse Sozialisation. Die Auswertung der Interviews bezieht Fragestellungen von vier unterschiedlichen entwicklungspsychologischen Theorien ein; diese werden in einem ausführlichen Kapitel (S. 175-253) eigens besprochen und diskutiert (Oser/ Gmünder, Entwicklung des religiösen Urteils; Reich/ Valentin, Entwicklung des Weltbildes; Selman, Entwicklung des sozialen Verstehens; Fetz, Fowler, Entwicklung der Wahrnehmung von Symbolen). Die interessierten Leser, die sich bis zu diesem Punkt tapfer durch alle Methoden- und Theoriedarstellungen gekämpft haben, sind natürlich höchst gespannt auf das Ergebnis der empirischen Erhebung. Doch spätestens hier macht sich Enttäuschung breit: Ein griffiges Ergebnis, das seine Auswirkungen auf die Gestaltung von Lehrplänen oder des konkreten Religionsunterrichts haben könnte, sucht man vergeblich. Spuren eines solchen Ergebnisses sind mühsam aus den reflektierenden Abschnitten am Ende einer jeden Intervieweinheit herauszudestillieren. Und so drängt sich die Frage auf, was der immense Aufwand an Reflexionsarbeit, an hermeneutischen, exegetischen, erkenntnistheoretischen und entwicklungspsychologischen Überlegungen am Ende erbringt. Die Studie ist ein Beispiel für vorbildliche, wenn auch zuweilen überzogen wirkende methodologische Reflexion. Aber ist es enttäuschend, wenn lediglich Feststellungen wie: »Die Phasen des Übergangs zwischen entwicklungspsychologischen Stufen sind erheblich länger anzusetzen als die Stufen selbst« (385) oder: »Die ZNT 7 (4. Jg. 2001) 71 Buchreport ko gnitive Entwicklung eines Jugendlichen ist in der gymnasialen Oberstufe längst nicht abgeschlossen, sondern weist durchaus noch unfertige Weltbilder auf« (454) als Ergebnis konstatiert werden. Es bleibt am Ende bei der Modifizierung der entwicklungspsychologischen Theorien. Dazu kommt die - von der Autorin selbst konzedierte - Begrenztheit des Ergebnisses im Blick auf die relativ kleine Zahl an Probanden. Zudem fällt der antiexegetische Affekt der Studie auf, der der historisch-kritisch arbeitenden Exegese unterstellt, sie sehe tendenziell von der eigenen Lebenssituation ab, reflektiere zu wenig über die eigenen Verstehensvoraussetzungen und verabsolutiere in der Folge ihre Ergebnisse als »objektive« Erkenntnisse. Dies ist seit der neueren Hermeneutik (vgl. Gadamer und noch mehr die Frankfurter Schule) so nicht mehr zu behaupten, und es wäre zu fragen, ob das Zusammenspiel der Disziplinen nicht anders gestaltet werden kann als in der in Bee-Schroedters Buch erfolgenden programmatischen Absage an exegetisch-historische Arbeit. Das Anliegen der Studie ist durchaus berechtigt und spannend, leider bleiben die Ergebnisse stark hinter den Erwartungen zurück. Kurt Erlemann Anmerkungen 1 Die »Bibelwissenschaft« hat nach Bee-Schroedter lediglich die Funktion, eine bestimmte Glaubenspraxis als christlich bzw. nichtchristlich zu erweisen (19) und dafür zu sorgen, dass nicht willkürlich Erfahrungen in den Text eingetragen werden. (54) 2 Das Manko bei herkömmlichen Elementarisierungskonzepten in der Religionsdidaktik (Baldermann, Nipkow) sieht die Autorin in einer zu schnellen Identifizierung biblischer Didaktik mit exegetischer Theologie. (32) Das Vorbild für die eigene Studie sieht Bee-Schroedter in der Studie von A. Bucher, Gleichnisse verstehen lernen. Strukturgenetische Untersuchungen zur Rezeption synoptischer Parabeln, Freiburg (Schweiz) 1990, der konkret nach der Rezeption von Gleichnistexten durch Schüler fragt, der allerdings, so ihre Kritik, dabei noch zu sehr von exegetischer Theorie geleitet sei und die Schülervoten letztlich nicht eigenständig genug bewerte. (33) - Die Arbeit von W. Ritter, Wundergeschichten für Grundschulkinder? Aspekte einer religionspädagogischen Kontroverse und weiterführende religionsdidaktische Überlegungen, in: F. Harz/ M. Schreiner (Hgg.), Glauben im Lebenszyklus, München 1994, 139-159, weist nach Bee- Schroedter in die richtige Richtung, bleibe allerdings, was sein Bild von den Kinder betrifft, in vorgefaßten Theorien stecken, die empirisch nicht überprüft würden. (35f.) 3 Laien werden ausdrücklich als gleichwertige Leser bezeichnet. (61) 4 Begründet wird dies erkenntnistheoretisch unter Hinweis auf die immer perspektivisch erfolgende Sicht auf Wirklichkeit, wobei sich die verschiedenen Arten der Wahrnehmung komplementär zueinander verhalten. (100) 5 Als Beispiele für diese textpragmatische »Wende« nennt Bee- Schroedter ihren Doktorvater Hubert Frankemölle, Biblische Handlungsanweisungen. Beispiele pragmatischer Exegese, Mainz 1983, sowie den Matthäuskommentar von Ulrich Luz (EKK I, Neukirchen/ Vluyn 1985ff.). Von religionspädagogischer Seite wird besonders auf H. Berg, Ein Wort wie Feuer, München 1991, verwiesen.
