ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
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2001
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Dronsch Strecker VogelWar Jesus wirklich Gottes Sohn? Die neue Debatte um Jesus und die Christologie
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2001
Thomas Söding
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Das Interesse am »historischen Jesus« ist ungebrochen. Selten sind in einem Jahrzehnt so viele Jesusbücher erschienen wie gerade jetzt: wissenschaftliche und populäre, kritische und meditative, jüdische und christliche, gläubige und ungläubige. 1 Jesus so zu sehen, »wie er wirklich war« - das ist die Erwartung nicht nur der Theologen und der meisten Christenmenschen, sondern auch vieler Zeitgenossen, für die das Neue Testament zwar nicht die Urkunde des Glaubens, aber doch ein bedeutendes Dokument der Kulturgeschichte ist. Die Erwartungen sind groß. Muss die Enttäuschung desto größer sein? Oder kann die Erfüllung die Erwartungen übersteigen? In der Gottessohnschaft Jesu spitzt sich die Frage zu. Denn »Sohn Gottes« ist in allen neutestamentlichen Schriften und für die gesamte Lehre der Kirche zu dem Hoheitstitel geworden. 2 Seine Attraktivität resultiert daraus, dass er sowohl die essentielle Verbundenheit Jesu mit Gott, dem Vater, als auch die essentielle Verbundenheit mit den Menschen, den Söhnen und Töchtern Gottes, auszudrücken vermag, sowohl die Theozentrik Jesu als auch die Christozentrik des neutestamentlichen Heilsgeschehens. Der Gottessohntitel verbindet sich schon vor Paulus und besonders betont bei Johannes mit der Präexistenz Jesu. Die Gottessohnschaft Jesu bildet den Ausgangspunkt der altkirchlichen Trinitätstheologie. An der Gottessohnschaft macht sich deshalb auch die kritische Diskussion des Verhältnisses zwischen dem geschichtlichen Jesus und der neutestamentlichen Christologie fest. 1. Welche Interessen sind im Spiel? Die Motive, der Geschichte Jesu auf den Grund zu gehen, sind sehr verschieden. Die einen misstrauen prinzipiell der Kirche, dem Kanon und den neutestamentlichen Evangelien. Gibt nicht allein die Tatsache, dass sich die immer noch mächtige Institution Kirche auf Jesus als Christus und Gottessohn beruft, allen Grund zum Misstrauen? Hat nicht die Bibelwissenschaft gezeigt, dass keineswegs die Unbestechlichkeit des Historikers das Jesusbild der Evangelien bestimmt, sondern die Gläubigkeit der Jünger? Verschwindet nicht der Mann aus Nazareth hinter einer Wolke von Hoheitstiteln, Christusbekenntnissen und Glaubenssymbolen? Selbst wo man den Evangelisten nicht (mehr) gezielte Fälschungen vorwirft, herrscht der Verdacht, naive Bewunderung sei an die Stelle objektiver Information getreten. Im Zentrum der Skepsis steht freilich nicht das eine oder andere Detail, sondern die zentrale These der neutestamentlichen Christologie, Jesus sei der menschgewordene Gottessohn, der um des Heiles der Welt willen gestorben und von den Toten auferstanden sei. In dieser Skepsis meldet sich nicht nur der alte und immer neue Vorbehalt, ob es denn wirklich wahr sein kann, dass einmal »alles gut« wird und dass dies nicht an einem selbst liegt, sondern am »ganz Anderen«; es meldet sich auch der moderne Instinkt, um Himmels willen nur ja nicht durch eine Ideologie vereinnahmt zu werden und sich nicht mit Haut und Haaren einer Sache oder einer Person zu verschreiben, sondern kritische Distanz zu wahren. Der »historische Jesus« soll aus den Klauen der Dogmatik befreien und befreit werden; er soll den kritischen Christen Freiräume des Denkens und Glaubens öffnen; er soll denen, die sich lieber im Vorhof der Heiden aufhalten, Anlass zu Neugier, vielleicht zur Zustimmung geben, aber nicht zum Bekenntnis und zur Nachfolge. Kann historische Jesusforschung diese Erwartung erfüllen? Dass es einen alles bestimmenden, immer gefährdeten und deshalb permanent hart zu erarbeitenden Primat der Christologie vor der Ekklesiologie gibt, haben alle guten Theologen aller Zeiten und Konfessionen immer gewusst. Aber wie »christologisch« war Jesus von Nazareth? Und wie »jesuanisch« ist die neutestamentliche Christologie? So sehr die einen versuchen, Jesus und die Christologie gegeneinander auszuspielen, so sehr gibt es die anderen, die Jesus selbst schon zum Christologen machen wollen. Seit einiger Zeit er- Neues Testament aktuell Thomas Söding War Jesus wirklich Gottes Sohn? Die neue Debatte um Jesus und die Christologie 2 ZNT 8 (4. Jg. 2001) ZNT 8 (4. Jg. 2001) 3 Thomas Söding War Jesus wirklich Gottes Sohn? Thomas Söding Thomas Söding, Jahrgang 1956, Professor für Biblische Theologie an der Bergischen Universität Wuppertal. Foschungsschwerpunkte: Markus, Paulus, Biblische Theologie scheinen in regelmäßigen Abständen »historische« Werke, die verheißen, die kritische Jesusforschung vom Kopf auf die Füße zu stellen. Mal wird behauptet, in Qumran sei ein Fragment des Markusevangeliums aufgetaucht, geschrieben Mitte der vierziger Jahre 3 ; mal wird gesagt, die apostolische Herkunft der Evangelien, von der historisch-kritischen Exegese geleugnet, sei nun doch erwiesen 4 ; mal heißt es, ein Papyrus des Matthäusevangeliums, den die Forschung an die Schwelle vom 2. zum 3. Jh. datiert, stamme aus der Zeit der Augenzeugen 5 ; jüngst soll sogar die Kreuzesreliquie in Santa Croce zu Rom »echt« sein 6 ; weitere »Sensationen« werden nicht auf sich warten lassen, zur Not gibt es immer noch das Grabtuch von Turin 7 . Man braucht nicht auf alles das Etikett des »Fundamentalismus« zu kleben; aber das Strickmuster ist klar und einfach: Die Christologie der Evangelien soll historisch abgestützt werden; je kürzer die Traditionswege erscheinen, desto zuverlässiger sollen die historischen Nachrichten sein. Archäologie und Papyrologie müssen beweisen: Die Bibel hat doch recht; die Evangelien sind wahr; alle Zweifel sind Ideologie; die wesentlichen Daten der Christologie sind schon bei Jesus von Nazareth zu finden. Kann eine historische Bibelwissenschaft diese Meinung bestätigen? Wieviel Christologie vermag die Historik zu schultern? Und auf welche Geschichte kommt es christologisch an? Die meisten lassen sich auf die extremen Alternativen nicht ein. Sie wollen nicht die Geschichte Jesu gegen den Glauben an seine Gottessohnschaft ausspielen oder das eine in das andere überführen. Sie wollen objektiv über das informiert werden, was man von der Geschichte Jesu sicher sagen kann. Sie erwarten von historischen Urteilen, die Theologen über Jesus treffen, dass ihnen - prinzipiell jedenfalls - jeder Geschichtswissenschaftler zustimmen könnte. Diesen Interessenten gegenüber hat die Exegese eine Bringschuld. Sie besteht darin, offen sowohl über den christologischen Stellenwert der Gottessohnschaft Jesu zu informieren als auch über die Möglichkeiten und Grenzen historischer Arbeit an den Evangelien, nicht zuletzt über das, was nach christologischem Verständnis von der Historie überhaupt erwartet werden kann und was nach historischem Verständnis Christologie genannt zu werden verdient. Vom Gottessohntitel auf andere, theologisch weniger aufgeladene Würdenamen auszuweichen, löst das Problem so wenig wie die Ablösung der neutestamentlichen Prädikate durch moderne Abstrakta wie »absoluter Heilsmittler«, »eschatologischer Offenbarer« oder »definitiver Repräsentant der Gottesherrschaft«. Im Kern geht es um die Frage, aus welchem Grund schon die frühesten Zeugnisse des Christusglaubens in eminenter Weise die Gottessohnschaft Jesu affirmieren und welche theologische Bedeutung diesem Titel innewohnt. 2. Welche Kritik ist angebracht? Der Vorstoß der Aufklärung im 18. Jh., der Durchbruch des geschichtlichen Denkens im 19. Jh. und die Etablierung der Hermeneutik im 20. Jh. haben der Theologie Möglichkeiten der Differenzierung zwischen Jesus von Nazareth und dem Christus des Glaubens verschafft, die zwar zu enormen Spannungen und in manche Zerreißprobe, aufs Ganze aber zu einer erheblichen Vitalisierung der Christologie geführt haben. Gleichwohl führt eine selbstkritische Betrachtung der Geschichte hist orisch-kritischer Jesusforschung zu einem ernüchternden Urteil. In großer Klarheit hat es Albert Schweitzer im Rückblick auf das 19. Jh. gefällt: »Die geschichtliche Erforschung des Lebens Jesu ging nicht von dem rein geschichtlichen Interesse aus, sondern sie suchte den Jesus der Geschichte als Helfer im Befreiungskampf vom Dogma. … So fand jede folgende Epoche der Theologie ihre Gedanken in Jesus, und anders konnte sie ihn nicht beleben. Und nicht nur die Epochen fanden sich in ihm wieder: jeder einzelne schuf ihn nach seiner eigenen Persönlichkeit.« 8 Dieses Urteil hat nichts an Aktualität verloren. Schaut man über die Grenzen der akademischen Theologie auf die Bestseller der Jesusliteratur, wähnt man sich bisweilen in einem Kuriositätenkabinett 9 : Auf jeweils »streng wissenschaftlicher Grundlage« ist Jesus mal ein Vorkämpfer für die Befreiung der Frauen und mal ein esoterischer Guru, mal ein sanfter Propagandist des ökologischen Gleichgewichts und mal ein Sympathisant politischer Gewalt gegen die Römer; nur eines ist er in keinem Fall: der Kyrios, als den ihn die syrophönizische Frau um die Heilung ihrer Tochter bittet (Mk 7,24-30), der Christus, als den ihn Petrus in Caesarea Philippi bekennt (Mk 8,27- 30), der Gottessohn, als den ihn der heidnische Hauptmann sterben sieht (Mk 15,39). Aber auch die wissenschaftliche Rückfrage nach Jesus hat im letzten Jahrhundert nicht nur Ruhmesblätter beschrieben. Es fehlt freilich ein Albert Schweitzer, der ihre Geschichte schreibt. Die meisten Belege für seine These würde ihm derzeit das in Amerika veranstaltete »Jesus-Seminary« liefern, das mit wissenschaftlichem Anspruch - auf der Basis von Mehrheitsentscheidungen - die Jesusworte je nach dem Grad ihrer vermuteten Authentizität in verschiedenen Farben drucken lässt: mit dem überraschenden Ergebnis, dass nicht nur alle christologisch geprägten Texte, sondern auch alle, die mit dem Reich Gottes als der künftigen Größe vollendeten Heiles rechnen, als »unecht« eingestuft werden 10 ; der Christusglaube der Evangelien wäre demnach nichts anderes als ein ideologisches Konstrukt, Jesus erscheint als palästinischer Kyniker, als wundertätiger Magier und militanter Tempelkritiker, als stiller Genießer, als kluger Ratgeber für ein vernünftiges Leben auf dem Lande, allenfalls als verständnisvoller Seelenarzt unglücklicher Menschen 11 : ein »Jesus light« mit einer Botschaft, die »mehr kalifornisches als galiläisches Lokalkolorit« 12 hat. Ist diese Theorie undogmatischer als die härteste Neuscholastik? Umgekehrt ist in den neofundamentalistischen Theorien der Evangelienentstehung nicht weniger der Wunsch der Vater des Gedankens. Schaut man in die seriösen Werke der Einleitungswissenschaft, zeigt sich, wie brüchig die Argumentationsbasis für die extremen Frühdatierungen der Evangelien und ihre apostolische Herkunft ist. Zum Jesus der Geschichte gelangt man von den Evangelien aus nicht durch einen großen Sprung oder ein schlichtes Kurzschlussverfahren, sondern nur auf den langen, verschlungenen, engen und steinigen Wegen der urchristlichen Traditionsbildung. Jeder synoptische Vergleich zeigt, dass die Evangelien das moderne Interesse an Originaltönen, an genauen Datierungen und Lokalisierungen nicht teilen. Nüchterne Historiker können, je nach Temperament, nur mit Stirnrunzeln oder amüsierter Heiterkeit beobachten, welche Anstrengungen von übereifrigen Theologen unternommen werden, den Glauben historisch-kritisch wasserdicht zu machen (und manchmal auch, wie schwer sich historisch-kritische Exegeten mit ihren Quellentexten tun können, um zu historischen Urteilen zu gelangen.) Ist die Alternative, auf die historische Rückfrage ganz zu verzichten? Das hieße, das Kind mit dem Bade ausschütten. Die Christologie hat ein inneres Verhältnis zur Geschichte, wenn anders Jesu Menschsein, sein Evangelium und seine Passion eschatologische Fakten sind. Unter den Bedingungen der Neuzeit ist historische Jesusforschung angezeigt - als notwendige Hilfswissenschaft der Christologie, die dem Mann aus Nazareth in der Geschichte seines Lebens und Sterbens gerecht werden muss, so wie es umgekehrt einer elaborierten Christologie angemessen ist, historisch-kritische Forschung als Ausdruck ihres ureigenen Interesses am Christus Jesus zu betrachten. Freilich ist eine radikale Neubesinnung auf die Methoden und Ziele geschichtlicher Jesusforschung angebracht. Sie ist im vollen Gange, aber auch noch in voller Gärung. Gefragt ist nicht nur eine ausgefeiltere Methodik oder eine differenziertere Handhabe der vorhandenen Instrumente. Gefragt ist vor allem eine Besinnung auf den theologischen Stellenwert der historischen Jesusforschung und auf die Erinnerungsarbeit, die zu den neutestamentlichen Jesusbüchern geführt hat. Sind die Evangelien Barrieren, die es aus dem Weg zu räumen gilt, wenn man zu Jesus vordringen will, oder sind sie Spiegel, die im Lichte des Auferstehungsglaubens und in den Brechungen menschlicher Perspektiven von unterschiedlichen Standpunkten aus verschiedene Ansichten Jesu von Nazareth liefern? 4 ZNT 8 (4. Jg. 2001) Neues Testament aktuell 3. Welche Spannungen und Widersprüche prägen das Jesusbild der Evangelien? Nach Rudolf Bultmann ist die Verkündigung Jesu nicht Gegenstand, sondern Voraussetzung neutestamentlicher Theologie. 13 Die Gottessohnschaft Jesu gehört zum Kerygma; ihre historische Basis ist unsicher und unwesentlich. Joachim Jeremias hingegen hat in seiner »Theologie« nur den ersten Band herausgebracht: »Die Verkündigung Jesu« 14 . Für ihn ist entscheidend, dass Jesus Gott in singulärer Weise als seinen »Vater«, genauer: als Abba gesehen und dass er sich dezidiert als »Sohn« verstanden und zur Sprache gebracht hat; die entwickelte Christologie ist die Antwort, mit der die Jünger auf den Ruf Jesu reagieren. Zwischen diesen Extremen bewegt sich bis heute die Diskussion. 15 Sie kreist um die Bedeutung der Auferstehung für die Geschichte und der Geschichte für die Auferstehung Jesu. 16 Kennzeichnend für die Evangelien ist es, die Verkündigung, die Passion und die Auferstehung so aufeinander zu beziehen, dass sie als spannungsvolle Einheit, d.h. als radikaler Widerspruch und als dessen endgültige Auflösung erscheinen. Nach den Evangelien kann man die Geschichte, das Geschick und die Gestalt Jesu von Nazareth nicht verstehen, wenn man nicht auf seinen Tod sieht und an seine Auferstehung glaubt; umgekehrt kann man nicht an seinen Heilstod und seine Auferstehung glauben, wenn man sich nicht seine Worte und Taten vor Augen führt. Ihre Glaubensüberzeugung ist: Die Einheit zwischen Wirken, Leiden, Tod und Auferstehung Jesu, ist im Heilsplan und Heilshandeln Gottes vorgegeben; er hat Jesus zur Verkündigung der Gottesherrschaft gesendet (Mk 1,14f); er hat ihn in den Tod anstelle der »Vielen« hingegeben (Mk 10,45); er hat ihn von den Toten auferweckt und zu seiner Rechten erhöht (Mk 12,35ff); er wird ihn wiederkommen lassen (Mk 13,24-27), um Lebende und Tote zu richten (Mt 25,31-46). Die Spannung, von der diese Einheit lebt, könnte größer nicht sein. Es ist die Spannung zwischen Karfreitag und Ostern, Erniedrigung und Erhöhung, Leben und Tod und neuem Leben aus dem Tod. Diese Spannung darf gerade nicht aufgelöst, sie muss bis aufs äußerste aufgeladen werden; nur dann kann deutlich werden, dass und wie in Jesus alles Heil zu finden ist (Apg 4,12). Die Einheit, die aus dieser Spannung besteht, ist alles andere als Harmonie oder Uniformität, sie fußt auf der Eindeutigkeit der Liebe Gottes, die stärker ist als der Tod, und zeigt sich deshalb in einer Vielfalt von Aspekten, die so bunt ist wie das Leben selbst. Die Spannung zwischen der Geschichte Jesu, die mit seinem Kreuzestod endet, und seiner Auferweckung, die eine ganz neue Geschichte seines Wirkens aus dem Geheimnis Gottes heraus bis in alle Ewigkeit beginnen lässt, definiert das neutestamentliche Verhältnis zwischen Christologie und Geschichte. Die historische Rückfrage kann nicht alle wesentlichen Aussagen der Christologie verifizieren (wollen). Golgotha war ein Ende - und Ostern ist ein neuer Anfang. Die Christologie des Neuen Testaments, auch die der Evangelien, reagiert nicht nur auf die Worte und Werke des Irdischen, sondern auch auf seinen Kreuzestod und seine Auferweckung. Durch Ostern wird nicht nur die »Sache« Jesu definitiv bestätigt und die »Person« Jesu definitiv gerechtfertigt, sondern auch Jesus in uneingeschränkter Weise an Gottes Macht Anteil gegeben, um seine Herrschaft zu verwirklichen (Mt 28,16-20; 1Kor 15,20-28). Zu dieser Herrschaft gehört die Verkündigung des Evangeliums an Juden und Heiden samt der Konstituierung einer österlichen Nachfolgegemeinschaft, der Ekklesia, die wesentlich Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft im Namen Jesu ist. Im Jesusbild der Evangelien spiegelt sich all dies wider. Das bestimmt die Theologie der Rückfrage. Die Widersprüche in den historischen Angaben und theologischen Deutungen der Evangelien, die den Alten so viel Kopfschmerzen bereitet haben und die in der Neuzeit viele an der Glaubwürdigkeit des Neuen Testaments haben irre werden lassen, lassen sich »historisch-kritisch« aus der Entstehungsgeschichte und der Theologie der Evangelien vergleichsweise leicht erklären. Entscheidend ist der Widerspruch zwischen Jesu Tod und Auferweckung. Er ist nicht ein Problem, dass es hermeneutisch zu lösen gilt, sondern seinerseits die Lösung des hermeneutischen Problems. Wer die ganze Christologie Jesus in den Mund legen will, muss sich fragen lassen, wie ernst er die Inkarnation und das Pascha Jesu nimmt. Es ist theologisch falsch, die Christologie der Gottessohnschaft Jesu umfassend durch die historische Rückfrage verifizieren zu wollen, wenn denn das neutestamentliche Bekenntnis zur Gottessohnschaft Jesu das Bekenntnis zu seiner Auferstehung von den Toten ZNT 8 (4. Jg. 2001) 5 Thomas Söding War Jesus wirklich Gottes Sohn? umschließt. Es ist ebenso theologisch falsch, die Geschichte Jesu, »angefangen von der Taufe durch Johannes bis zu dem Tage, an dem er … in den Himmel aufgenommen wurde« (Apg 1,22), von ihrer Wirkungsgeschichte in der Urkirche zu trennen, wenn denn Jesus selbst Jüngerinnen und Jünger berufen hat, um seine Botschaft zu verbreiten, und die Erscheinungen des Auferstandenen auf die Sammlung und Sendung der Apostel zielen (1Kor 15,1- 11). Es ist deshalb theologisch aufschlussreich, dass die Formgeschichte - in welchen Grenzen und mit welchen Verzerrungen auch immer - die Prägung der Jesustraditionen durch die vom Osterglauben bewegten Tradenten herausgearbeitet hat. 17 Dies eröffnet nicht nur eine Möglichkeit ökumenisch weitreichender Verständigungen im Grundverhältnis von Schrift und Tradition. 18 Es verweist auch auf den Kontext christologischer Rezeption, in den die historische Rückfrage durch ihre Quellentexte immer schon gestellt ist und den sie ihrerseits zur historischen Urteilsbildung nutzen muss. Wer umgekehrt die Christologie der Evangelien als historischen Betrug oder Selbstbetrug beurteilt, muss sich fragen lassen, welchen Dogmen er seinerseits folgt, wenn er - theoretisch oder praktisch, prinzipiell oder experimentell, permanent oder sporadisch - der Botschaft von der Auferstehung Jesu keinen Glauben schenkt. Das christologische Bekenntnis und die historische Glaubwürdigkeit der Evangelien wären nicht schon dann widerlegt, wenn man - mit hinreichender Sicherheit - erweisen könnte, Jesus selbst habe nicht so von sich gesprochen, wie es bei Johannes und den Synoptikern geschrieben steht, wenn denn das Neue Testament auf die hermeneutische Schlüsselfunktion des Ostergeschehens verweist. Andererseits ist es theologisch wichtig, den skeptischen Widerspruch nicht zu übertönen, weil er nicht nur die Skandalosität des Kreuzes und die Unglaublichkeit der Auferstehung widerspiegelt, die von den Evangelien stark herausgearbeitet werden (Mk 16,1-8), sondern auch das Glaubensbekenntnis von der historischen Urteilsbildung zu unterscheiden hilft und in aller Schärfe die Frage nach der intellektuellen Verantwortbarkeit des Christusglaubens stellt. Gottessohn im Vollsinn synoptischer und johanneischer Christologie ist Jesus als Irdischer und als Auferstandener, als Gekreuzigter und als Erhöhter. Ob Jesus »wirklich« Gottes Sohn war, entscheidet sich also vor allem daran, ob er wirklich Mensch gewesen und ob er wirklich am Kreuz gestorben ist - und ob Gott ihn dann wirklich von den Toten auferweckt hat. Die beiden ersten Bedingungen sind zweifelsfrei erfüllt. Kein ernsthafter Historiker käme heute noch (anders als vor 100 oder 200 Jahren) ernsthaft auf die Idee, die Existenz und den Kreuzestod Jesu »sub Pontio Pilato« zu bestreiten. Strittig sind allein das Wie, das Wozu und das Woher seines Leidens und Sterbens. Auf das Wie kann und muss sich historische Forschung im Interesse christologischer Wahrheitsfindung konzentrieren. Das Wozu und Woher ist letztlich nicht ohne Ostern zu bestimmen. Strittig ist freilich auch die Auferstehung Jesu von den Toten - nicht in dem Sinn, dass die Jünger nicht wirklich an sie geglaubt hätten (das in Abrede zu stellen, war ein Irrweg des Rationalismus), sondern in dem Sinn, ob wirklich passiert ist, was von den ersten Zeugen in Form des Bekenntnisses gesagt worden ist. Dies zu klären, ist nicht mit den Mitteln historischer Vernunft möglich - wiewohl ihr nicht unzugänglich bleibt, welche Bedeutung der Osterglaube für die Erinnerung Jesu gewonnen hat und in welchem Kontext seine Geschichte erscheint, wenn er wirklich auferweckt worden ist. 4. Von welchen theologischen Voraussetzungen gehen die Evangelien aus? Die Konsequenzen der Auferweckung für die Darstellung der Geschichte Jesu in den Evangelien sind gravierend. Das Wirken Jesu erscheint im Prisma seines Todes und seiner Auferstehung, seine Auferstehung im Prisma seines vollmächtigen Wirkens und ohnmächtigen Leidens, sein Kreuz im Prisma des Basileia-Evangeliums und der Osterbotschaft. Die Evangelisten versuchen, Jesus mit den Augen zu sehen, die er selbst seinen Jüngern - und allen, die seine Botschaft hören wollten - zu öffnen versucht hat und die ihnen erst nach Ostern aufgegangen sind. Um Jesus zu verstehen, bleibt wichtig, was er wirklich getan und gesagt hat - und was nicht. Aber was Jesus wirklich gesagt und getan hat, worin der Sinn seiner Worte und Taten lag, welche wichtig und welche unwichtig sind, welche im Zentrum und welche am Rande stehen - das zu entscheiden, setzt den Evangelien zufolge viererlei voraus. 19 6 ZNT 8 (4. Jg. 2001) Neues Testament aktuell Erstens muss die Geschichte Jesu im Horizont der Verheißungsgeschichte Israels gesehen werden und diese neu im Licht der Geschichte Jesu. Die Grundlinien der alttestamentlichen Theologie von der Einzigkeit Gottes bis zur Erwartung eines Messias, von der Schöpfung bis zur Vollendung der Geschichte, von der Erwählung Israels bis zur Hoffnung für die Völker, von der Gabe des Gesetzes bis zur Hoffnung auf eine Gerechtigkeit, die reine Liebe ist, hat Jesus nicht nur vorausgesetzt, sondern geteilt und akzentuiert. Die Gottessohnschaft Jesu, von der die Evangelien reden, lässt sich nur im Horizont frühjüdischer Messianologie verstehen - und prägt sie doch entscheidend um: durch den Kreuzestod, den Jesus stirbt. Zweitens müssen die »ureigenen Worte und Taten« in der Perspektive der nahegekommenen Gottesherrschaft gesehen werden, die Jesus geöffnet hat; sonst verweigert man gerade den Blick auf das, was Jesus am wichtigsten gewesen ist: das Gottsein Gottes als Grund aller Hoffnung für die Menschen und seine Macht als Inbegriff des Heiles. Durch die Auswahl und Komposition der Texte vermitteln die Synoptiker den Eindruck, dass Jesus vor allem sein Ziel darin gesehen hat, die Gottesherrschaft nahezubringen. Prägend wurde, dass Markus die Proklamation der Basileia, als Programmwort Jesu gestaltet, an den Beginn der öffentlichen Wirksamkeit Jesu (Mk 1,14f) gestellt hat. Während Matthäus und Lukas dem im wesentlichen darin gefolgt sind, hat Johannes das Stichwort im Nikodemus-Gespräch fallengelassen (3,3.5), um von dort her sein Schlüsselwort Jesu einzuführen: ewiges Leben. Sowohl die synoptischen Evangelien als auch die johanneische Transposition erhellen, wie facettenreich das Thema Gottesherrschaft in ihren Augen ist: dass es nicht nur eschatologische, sondern auch theologische, christologische, soteriologische, ekklesiologische und anthropologische Aspekte hat und allein in diesem breiten Spektrum das Thema Jesu genannt zu werden verdient. Die Gottessohnschaft Jesu ist bei Markus - ähnlich bei Lukas und Matthäus, signifikant variiert bei Johannes - essentiell auf seine Verkündigung und Vermittlung der Gottesherrschaft bezogen. Jesus ist der Sohn Gottes um der Herrschaft Gottes willen, und dass Gottes Herrschaft nahekommt, um eschatologisch vollendet zu werden, hängt daran, dass ihr prophetischer Mittler der Gottessohn ist. Drittens darf das öffentliche Wirken nicht ohne die Leidensgeschichte Jesu betrachtet werden; sonst wird er auf seine Wunderkraft, sein Ethos, sein Charisma, seine Intelligenz und Sensibilität reduziert; er kann nicht der sein, der er am Kreuz gewesen ist. Als »Biographien« Jesu, wie sich die Evangelien in einem weiten Wortsinn verstehen lassen, verbinden sie die Berichte von seinen Worten und Taten mit der Leidensgeschichte. Durch ein eng geknüpftes Netz von Vor-, Rück- und Querverweisen vermitteln sie das Bild, es sei gerade das Wirken Jesu, das zu seinem Tode geführt hat, und es sei gerade sein Tod, der seinen Dienst für Gott und die Menschen endgültig verifiziert. Am sensiblen Beispiel der Wundergeschich ten wird in den Evangelien - auf recht verschiedene Weise - zweierlei deutlich: dass sie zum einen Machttaten des Gottessohnes und Zeichen des ewigen Lebens sind, dass sie aber zum anderen nicht vom gesamten Verkündigungsweg Jesu getrennt werden dürfen, der zum Schluss Leidensweg wird. Umgekehrt ist die synoptische wie die johanneische Passionsgeschichte (wenngleich sehr unterschiedlich) nicht nur ein Zeugnis der Niedrigkeit, sondern auch der Hoheit Jesu, der zwar um Verschonung bittet, aber durch die Annahme des Leidens eine Stärke gewinnt, die über seine psychische Kraft hinaus die unzerstörbare Zuwendung des Vaters inmitten aller Gottverlasssenheit widerspiegelt (Mk 15,34). Markus gibt die hermeneutische Leitlinie vor: Jesus, der von allem Anfang an Gottes Sohn ist und als solcher das Evangelium Gottes von der Herrschaft Gottes verkündet (Mk 1,9-15), kann von einem Menschen doch erst auf Golgotha als Gottessohn erkannt werden (Mk 15,39). Wo die anderen Evangelisten von dieser Linie abweichen (vgl. Mt 14,33; 16,16; Joh 1,49; 11,27), wollen sie die Verbindung zwischen Jesu Wirken und Leiden nicht auflösen, sondern noch enger knüpfen. Viertens erschließt sich die wahre Geschichte Jesu erst durch Ostern, weil (zum einen) für die Jünger erst zu diesem Zeitpunkt deutlich geworden ist, wie wahr das Evangelium Jesu ist, und weil (zum anderen) Gott durch die Auferstehung die irdische Geschichte Jesu nicht überblendet, sondern in ihrer eschatologischen Heilswahrheit erhellt. Markus hat nach der »Verklärung«, die bereits die Erhöhung des Gottessohnes antizipiert (Mk 9,2-8), die Auferstehung zum Kairos erklärt, von dem an öffentlich publiziert werden kann, was gesehen ZNT 8 (4. Jg. 2001) 7 Thomas Söding War Jesus wirklich Gottes Sohn? und gehört worden war - weil die Jünger erst noch verstehen müssen, was es heißt, dass der Menschensohn von den Toten aufersteht (Mk 9,9f); umgekehrt geht Jesus nach seiner Auferstehung den Seinen nach Galiläa voran, damit sie ihn dort sehen, wo er mit seiner Verkündigung begonnen hat (Mk 14,28; 16,7). Bei Matthäus ist an den Zweifel unter den elf Jüngern bei der Erscheinung des Jesu, des göttlichen Immanuel (vgl. 1,23) zu denken (Mt 28,16-20), bei Lukas an die ratlose Trauer der beiden Wanderer nach Emmaus (Lk 24,13-24); Johannes streut in sein Evangelium verschiedene Kommentar- und Herrenworte ein, die eigens herausstellen, dass erst von Ostern her die Heilsbedeutung der Geschichte wie des Todes Jesu verstanden werden kann (2,22; 7,39; vgl. 13,7) und klärt durch Jesu Abschiedsreden, dass gerade dies die Aufgabe des verheißenen Parakleten ist: die Wahrheit des Evangeliums im Sinn zu behalten (14,16f.26; vgl. 15,26; 16,7-14), um dann das Gottessohnbekenntnis (20,30f) des Thomas: »Mein Herr und mein Gott« (20,28) dadurch auslösen zu lassen, dass der Auferstandene seinem zweifelnden Jünger die Wundmale zeigt. Alle vier Voraussetzungen prägen die Jesusgeschichten der Evangelien. Sie drücken sich am klarsten in der »Form« des Evangeliums aus. Diese Form ist christologisch begründet und weist ihrerseits auf den Grund aller Christologie. 5. Sind die theologischen Voraussetzungen der Evangelien erfüllt? Markus, Matthäus, Lukas und Johannes hätten bestritten, dass die Optik eines neutralen, distanzierten Beobachters genauer, gerechter, wahrhaftiger wäre als die eines Jüngers, der sich auf den Weg der Nachfolge begibt. Sie verschweigen nicht, dass Jesus vielfach auf schlichtes Desinteresse gestoßen ist (Lk 14,15-24 par. Mt 22,1-10; Lk 1334) und dass der Eindruck, den Jesus auf interessierte Zeitgenossen gemacht hat, ambivalent geblieben ist (Mk 6,14ff parr.; 8,28 parr.; Joh 2,22ff; 6,14ff; 7,25-36 u.ö.). Aber sie kritisieren selbst die sehr positiv gemeinten Einschätzungen Jesu als auferstandener Täufer, wiedergekommener Elias und einer der Propheten, indem sie sagen: nach Gottes Wahl und Willen ist Jesus von Nazareth in Wahrheit der Sohn Gottes. Die entscheidende Frage dreht sich um den Begriff der Wirklichkeit. Die Exegese kann in ihrem Verständnis geschichtlicher Realität nicht mehr Theologie voraussetzen als die Texte, die sie zu analysieren, zu interpretieren und auf ihren historischen Quellenwert zu prüfen hat. Kann sie es aber vor der Vernunft verantworten, das theologische Wirklichkeitsverständnis Jesu und seiner Jünger, ihre Schöpfungs- und Geschichtstheologie (zumindest heuristisch) zu bejahen? Damit ist nicht gemeint, dass auch für heutige Menschen Gott im Himmel und die Toten in der Unterwelt sein müssen, dass die Sonne sich um die Erde dreht und dass unweit des Mittelmeeres die Welt zuende ist. Der Anspruch ist erheblich größer: Gott ist weder der unbewegte Beweger noch der Deus ex machina, sondern der Gott der Geschichte und der eschatologischen Vollendung, der sich durch Menschen auf menschliche Weise und durch seine Schöpfung auf natürliche Weise offenbart; damit ist er der alles entscheidende »Faktor« nicht nur für das Verstehen, sondern auch für das Entstehen der Wirklichkeit; er ist der Schöpfer, der die Welt jeden Tag neu erschafft, und der Erlöser, der seine Herrschaft vollendet und sie schon gegenwärtig verwirklicht. Diese Frage stellt sich nicht nur beim Blick auf Karfreitag und Ostern, sondern auch beim Blick auf das Leben Jesu. So anstößig die Rede vom stellvertretenden Sühnetod Jesu und seiner Auferstehung von den Toten ist - wäre Jesu Prophetie, die Gottesherrschaft sei nahegekommen, weniger skandalös? Die Evangelien erwecken diesen Eindruck ganz und gar nicht. Sie zeigen im Gegenteil, wie schwer es den Jüngern gefallen ist, zu verstehen und zu bejahen, was Jesus verkündet hat. Zum Schibboleth wird die Frage an Petrus, ob er den Mann aus Nazareth kenne; in keinem Evangelium wird die unrühmliche Rolle des Apostels verschwiegen. Bei Lichte besehen, zeigt sich aber, dass die urchristliche Vorstellung, Gott habe Jesus, den Gekreuzigten von den Toten auferweckt, damit er der Erstgeborene vieler Brüder und Schwestern sei (Röm 8; 1Kor 15), exakt dieselben Prämissen des Gottesglaubens macht wie Jesus, wenn er die Armen seligpreist (Lk 6,20f par.), die Ehebrecherin vor dem Tode rettet (Joh 8,1-11) und das Gleichnis vom verlorenen Sohn erzählt (Lk 15,11-32). Jesus selbst hat - mit den Pharisäern und gegen den Widerspruch der Sadduzäer - an die Auferstehung 8 ZNT 8 (4. Jg. 2001) Neues Testament aktuell der Toten geglaubt (Mk 12,18-27); Jesus selbst hat gehofft, dass die Herrschaft Gottes eine Zukunft jenseits seines Todes haben wird (Mk 14,25); Jesus selbst ist in den Tod gegangen, damit Gott ihn zum Mittel machen möge, den Menschen das ewige Leben zu schenken (Mk 14,22ff). Ist es vernünftig, sich dieser Hoffnung und diesem Realitätssinn Jesu zu öffnen? Eine Hermeneutik geschichtlichen Verstehens fordert, mindestens gedanklich sich in die Glaubenswelt Jesu und seiner Jünger hineinzuversetzen. Nur dann können die Evangelientexte so verstanden werden, wie sie selbst sich verstanden haben. Sicher ist es - für einen Christen nicht anders als für einen Juden oder einen Agnostiker - nur annäherungsweise, nicht ohne erhebliche Abstriche und nicht ohne die Anerkenntnis einer letztlichen Fremdheit möglich, die Begegnung mit der Kultur Jesu und des frühen Christentums zu suchen. Aber man wird den Zugang zu den Gleichnissen und den Streitgesprächen, den Nachfolgeworten und den »Antithesen« jedenfalls dann sicher verfehlen, wenn man ausschließt, dass Gottes Herrschaft nahegekommen ist und in Zukunft vollendet sein wird, wie Jesus es gesagt hat. Nur wer - gläubig oder nicht - ins Kalkül zu ziehen bereit ist, dass Jesus jedes Wort des Vaterunser ganz und gar ernst genommen hat und dass es ein authentischer Ausdruck biblischen Glaubens ist, wird die Möglichkeit haben, annäherungsweise zu verstehen, was der Sinn dieses Gebetes ist. Nur wer nicht um jeden Preis darauf beharrt, das leere Grab als Legende und die Erscheinungen des Auferstandenen als Autosuggestionen zu »erklären«, kann sich die Chance verschaffen, das Osterevangelium zu hören. Der theologische Anspruch historischer Jesusforschung geht aber weiter. Er zielt nicht nur auf hermeneutische Empathie, sondern auf die Wahrnehmung des Bezeugten als Wirklichkeit. Die Realität, die das Evangelium beansprucht, ist eschatologische Heilswirklichkeit: Heilswirklichkeit, weil nicht irgendwelche physikalischen, biologischen, soziologischen, psychologischen, historischen Fakten geschaffen werden, die nur für den Glaubenden gälten, sondern dass menschliches und kosmisches Leben vor dem sicheren Untergang, den das Böse bewirkt, gerettet wird; Heilswirklichkeit, weil nicht fromme Wünsche geweckt, schöne Illusionen gemacht und reine Behauptungen aufgestellt werden, sondern Befreiung vom Bösen als Grundbestimmung geschöpflichen Daseins geschieht; eschatologische Heilswirklichkeit, weil nicht momentane Glückserlebnisse ins Unendliche extrapoliert werden, sondern die Heilsvollendung des zukünftig-jenseitigen Gottesreiches antizipiert wird. Wenn Jesus selbst von dieser Wahrheit seiner Worte und Taten überzeugt war - ist es einem Mitglied der scientific community und der aufgeklärten Bürgergesellschaft möglich, diesen Glauben zu teilen? Glaube bleibt Glaube und lässt sich nicht in Wissenschaft und Sozialethik überführen. Aber die Zeit des Rationalismus, da es vielen schien, der Glaube sei ein sacrificium intellectus, ist vorbei. Die ethische Orientierungskraft der Basileia-Botschaft Jesu und des Osterevangeliums lässt sich kaum bezweifeln, wie die Bergpredigt zeigt. Dass der Glaube an Gott die Natur- und Humanwie die Sozial- und Geisteswissenschaften zwar kritisieren muss, wenn sie - häufig genug - ideologisch ihren Geltungsanspruch überziehen, um sich als Heilslehre anzupreisen, aber sie als Wissenschaften gerade nicht behindern darf, sondern im Verein mit der Philosophie - nicht zuletzt durch die Markierung ethischer Standards und die Kritik unwissenschaftlicher Geltungsansprüche - in ihrer Wissenschaftlichkeit fordern und fördern muss, ist eine Lektion, die zu lernen der Theologie offensichtlich sehr schwergefallen ist, die aber inzwischen doch vielleicht angekommen ist. Ob Jesus »wirklich« Gottes Sohn war, entscheidet sich nicht nur am Dass, sondern auch am Wie seines Lebens, seines Sterbens und seiner Auferstehung; es entscheidet sich aber an genau den Kriterien, die nicht erst durch die spätere Dogmenentwicklung oder gar moderne Christologien, sondern durch die Form des Evangeliums definiert werden. Die geschichtliche Jesusforschung trägt - in einem breiten Spektrum von Forschungskontroversen - entscheidend zur fundamentaltheologischen Verantwortung des Glaubens an die Gottessohnschaft Jesu bei, der grundlegend durch die Evangelien definiert wird. Zwar hängt die Legitimität der Christologie nicht daran, was heutige Historik über die Psychologie Jesu in Erfahrung bringen kann. Aber es spricht nicht sehr viel dagegen, dass Jesus tatsächlich in der Proklamation der Gottesherrschaft die Mitte seiner Botschaft gesehen hat (ohne dass er sie permanent thematisiert zu haben braucht) 20 ZNT 8 (4. Jg. 2001) 9 Thomas Söding War Jesus wirklich Gottes Sohn? und dass er seine »Sache« und seine »Person« als (differenzierte) Einheit gesehen hat. Es spricht einiges dafür, dass Jesus weder blind in sein Unglück gerannt noch den Tod gesucht, sondern das Kreuz, nachdem es ihm auferlegt worden war, notgedrungen und leidend aus Treue zu seiner Sendung auf sich genommen hat (vgl. Mk 8,34 und 14,36). Es gibt auch genügend Hinweise, dass die (männlichen, anders als die weiblichen) Jünger tatsächlich Jesus während seiner Passion verlassen haben und erst durch die Erscheinungen des Auferstandenen wieder in die Nachfolge gerufen worden sind. Es ist deutlich genug nachzuweisen, dass es in den Predigten und Katechesen schwerlich nur um den Tod und die Auferstehung gegangen ist, sondern auch um den Basileia-Dienst Jesu; der »Sitz im Leben« der synoptischen und der johanneischen Traditionen sind die Aktivitäten der urchristlichen Missionare und die Grundvollzüge der sich herausbildenden Gemeinden. (Paulus hat weit mehr von Jesus gewusst und verkündet, als seine Briefe erkennen lassen.) Freilich stößt die historische Forschung auf unübersteigbare Grenzen: Zu urteilen, Jesus habe nicht im Namen des Teufels, sondern im Namen Gottes Dämonen ausgetrieben (vgl. Mk 3,22-30) und er habe sein Leben weder zur Demonstration seines moralischen Heroismus und noch als Konsequenz religiöser Verblendung, sondern aus Liebe zu Gott und den Menschen hingegeben, gibt es sehr gute Gründe, die aus dem Ethos Jesu resultieren, aber keinen unumstößlichen Beweis, der den Glauben ersetzen könnte. Historisches Wissen kann den Glauben an die Gottessohnschaft Jesu nicht verifizieren; aber es kann wesentlich dazu beitragen, dass geklärt wird, was der Glaube glaubt. 6. Welche Ziele kann sich die Rückfrage nach Jesus stecken? Jesus ist für die Evangelisten (und ihre Gemeinden) nicht nur eine Gestalt der Vergangenheit, sondern auch der Gegenwart und der Zukunft: als Gottessohn, der sich als Kyrios der Seinen offenbart, und als Menschensohn, der am Ende der Zeit wiederkommen wird. Einzelne Episoden aus dem Leben Jesu werden nicht schon um ihrer selbst, sondern immer auch um ihrer Signifikanz und Paradigmatik willen in die Evangelien aufgenommen und damit ins kollektive Gedächtnis der Ekklesia eingeschrieben - als Erinnerung an eine normativ gewordene und insofern lebendige Vergangenheit, mithin zugleich als aktuelle Orientierung an Jesus und (wenigstens intentional) als sachgerechte Übertragung in eine neue Situation. Memoria und applicatio sind die Motive, Sammlung und Komposition, Selektion und Stilisierung, Fortschreibung und Relecture, Konzentration und Transposition die Gesetze der synoptischen (Lk 1,1-4) und johanneischen (Joh 20,30f) Tradition. Sie stellen die historische Rückfrage vor erhebliche Schwierigkeiten und verschaffen ihr großartige Chancen. 21 Es war die große Hoffnung (und ein wesentlicher Antrieb) der Literarkritik, durch die Unterscheidung zwischen Tradition und Redaktion den jesuanischen Urbestand von späteren Ergänzungen, Erweiterungen und Neubildungen unterscheiden zu können. Die Methode hat auf dem Felde der Evangelienexegese zu wesentlichen Klärungen geführt; vor allem hat sie die Priorität des Markus herausgearbeitet und die Zwei-Quellen-Theorie (mit mancherlei Variationen) aufgestellt. Aber wiewohl noch neueste Arbeiten große Stücke auf die Literarkritik halten, ist die Skepsis gewachsen. Welchen Grad an Wahrscheinlichkeit kann eine Rekonstruktion beanspruchen, die nacheinander mehrere Wachstumsschichten abzutragen verspricht? Dass eine diachronische Analyse bei Evangelien, die qua Gattung Traditionsliteratur sind, legitim ist und fruchtbar wird, sollte - gegen einige neuere Tendenzen - nicht in Abrede gestellt werden. Aber was ist gewonnen, wenn man Hypothese auf Hypothese türmt? Welche Vorstellung antiker Traditionspflege herrscht, wenn »kleine Einheiten« geradezu umstandslos kombiniert und modifiziert worden sein sollten? Welche Ästhetik herrscht, wenn Spannungsfreiheit zum Leitkriterium für Ursprünglichkeit wird? Führt nicht die Suche nach den jeweils »ältesten« zur offenen oder sublimen Abwertung der »sekundären« Texte? Der Ehrgeiz der Literarkritik, später durch die Traditionsgeschichte forciert, besteht darin, ipsissima verba Jesu zu rekonstruieren. Im Bereich der Wunder und prophetischen Zeichenhandlungen Jesu kommt es dann auf ipsissima facta an. In beiden Fällen geht es nicht nur darum, zu erkennen, was Jesus eigentlich gesagt und getan hat, sondern immer auch darum »unechtes« Überlieferungsgut, 10 ZNT 8 (4. Jg. 2001) Neues Testament aktuell also nachösterliche Traditionen, auszuscheiden. Dieses Projekt ist zum Scheitern verurteilt. Die Sprachgrenze zwischen dem Aramäischen Jesu und dem Griechischen der Evangelien lässt sich nicht mehr überwinden. (Selbstverständlich kann man »rückübersetzen«; aber das Ergebnis ist methodisch kaum anders einzuschätzen als das einer Übersetzung in andere Sprachen, seien sie antike oder moderne.) Vor allem jedoch scheint es kaum möglich, Originalworte klar von Gemeindebildungen zu unterscheiden. Kennzeichnend für die synoptische und die johanneische Traditionsbildung scheint viel eher zu sein, ein überliefertes Jesuswort nicht nur zu konservieren, sondern immer zugleich zu interpretieren: sei es durch eine Kombination mit anderen Worten, sei es durch eine aktualisierende Variation, sei es durch eine Fortschreibung unter Verwendung anderer als jesuanisch geltender Motive, und von einer Tat Jesu so zu berichten, dass ihre Typik hervortritt. Wer kennt die mündlichen Traditionswege, die allemal weitläufiger und engmaschiger sind als die schriftlichen, die sich rekonstruieren lassen? Wer sagt im übrigen, dass Jesus einen guten Gedanken nur einmal geäußert, ein gutes Gleichnis nur einmal erzählt, einen guten Handlungsimpuls nur einmal gegeben hat? Welche Kritierien taugen, der Rückfrage sicheren Halt zu geben? 22 Aussichtsreicher ist es, sich ein wesentliches bescheideneres Ziel zu stecken: Statt der ipsissima verba et facta gilt als Ziel der Suche die ipsissima intentio Jesu. 23 Gemeint ist nicht nur eine vage Vorstellung von dem, was Jesus »wirklich« wollte, sondern eine präzise Rekonstruktion der Besonderheiten wie der Gemeinsamkeiten, der Querverbindungen wie der Differenzen, der Konsonanzen wie der Dissonanzen der zahlreichen und verschiedenen Überlieferungen. Ziel ist, dass aus zahlreichen Einzelbeobachtungen ein facettenreiches Mosaik aus vielen Steinchen entsteht, das ohne Zweifel fragmentarisch bleibt, dessen Themen, Farben und Konturen aber erkennbar sind und wiederum Rückschlüsse erlauben auf den Ort, das Aussehen und die Ansichten jedes einzelnen Steinchens und jeder einzelnen Motivgruppe. In dieser Richtung zu suchen, heißt nicht, auf diachronische Analysen, auf Literarkritik und Traditionsgeschichte zu verzichten, hat aber erhebliche Konsequenzen für die Antwort auf die Frage, ob Jesus wirklich Gottes Sohn war. Wo man ipsissima verba et facta Jesu herausschälen will, bleibt man auf Texte fixiert, in denen Jesus ausdrücklich von sich selbst als Gottessohn, als Menschensohn und Messias spricht oder klare messianische Zeichen setzt. Wo man hofft, durch ein literarkritisches Subtraktionsverfahren zum eigentlichen Kern der Botschaft Jesu vorzustoßen, bleiben diese ausdrücklichen Christusworte und Christustaten meist auf der Strecke - sei es aus Gründen methodischer Vorsicht, sei es aus der (letztlich nicht begründeten) Überzeugung, Jesus habe ein unmessianisches Leben geführt und sei erst durch seine Jünger (nach Ostern) zum Messias gemacht worden. 24 Wo man die ipsissima intentio Jesu zu rekonstruieren versucht, bleibt die Frage nach der Historizität der Christusworte und der Christustaten wichtig, aber sie weitet sich. Einerseits wird die »implizite Christologie« wichtig: das, was zwischen den Zeilen gesagt ist und was erst deutlich wird, wenn man den Sprecher der Worte und das Subjekt der Taten Jesu ins Spiel bringt; andererseits wird danach gesucht, was die christologische Rede von der Gottessohnschaft Jesu, die entscheidend durch die Auferstehung geprägt ist, elementar auszeichnet und überhaupt schon vorösterlich erwartet werden kann: die radikale Theozentrik und Proexistenz Jesu, die untrennbare Zusammengehörigkeit von Person und Sache. 7. Zu welchen Antworten kann die Rückfrage führen? Die synoptischen Evangelien erwecken keineswegs den Eindruck, Jesus habe dauernd und mit größtem Nachdruck von seiner Gottessohnschaft gesprochen. Dies ist weder ein christologisches Manko, das durch verstärkte historische Anstrengungen ausgeglichen werden müsste, noch ein Indikator für die historische Substanzlosigkeit der Christologie, sondern spiegelt sowohl die christologische und hermeneutische Bedeutung des Ostergeschehens wider als auch die herausragende Bedeutung des Titels. Ein einziges Mal bekennt Jesus sich zu seiner Gottessohnschaft: vor dem Hohen Rat, der ihn deshalb prompt zum Tode verurteilt (Mk 14,62f parr.). Auch Johannes überliefert ein einziges ausdrückliches Selbstbekenntnis Jesu (10,36), das freilich, auf eine Fülle einschlägiger Aussagen über den Gottessohn zurückbezogen ZNT 8 (4. Jg. 2001) 11 Thomas Söding War Jesus wirklich Gottes Sohn? (3,17f.35; 5,19-27; 14,13), schon während seines öffentlichen Wirkens platziert ist, aber dazu dient, den Widerspruch gegen Jesus zu provozieren, der schließlich zu seinem heilstiftenden Kreuzestod führt. Für alle Evangelien ist kennzeichnend, dass Jesu Gottessohnschaft einerseits auf der Seite menschlicher Bekenntnisse steht (Mk 15,39 parr.; Mt 14,33; 16,16; Joh 1,34.49; 11,27, vgl. 1,18), und andererseits auf der Seite göttlicher Offenbarung (Mk 1,9ff parr.; 9,2-9 parr.; Joh 1,34). Beides ist aufeinander bezogen: Jesus kann nicht von einem neutralen Beobachterstandpunkt aus als Gottessohn erkannt werden, sondern nur in dem hermeneutischen Horizont, den Gottes Offenbarung definiert und in den das christliche Bekenntnis hineinführt. Das historische Problem ist damit noch nicht neutralisiert. Das Verhör durch den Hohenpriester ist ein ernsthaft zu erwägender Ort für ein messianisches Selbstbekenntnis Jesu. Der Kreuzestitulus verweist darauf, dass die - vermutete, unterstellte oder proklamierte und verzerrte - Messianität Jesu eine entscheidende Rolle beim Tod Jesu gespielt hat. Gleichwohl hat unverkennbar christliche Bekenntnissprache den dramatischen Dialog vor dem Hohen Rat geprägt, so dass bei den Synoptikern wie bei Johannes auf unterschiedliche Weise hervortritt, was erst post factum erkannt werden konnte: Worin immer die genauen Motive der Hohenpriester, Jesus den Prozess zu machen, bestanden haben - letztlich ging es, was vielleicht den Beteiligten noch gar nicht klar war, um die Gottessohnschaft Jesu. Doch steht die Szene vor dem Hohen Rat nicht allein. Dass die johanneische, aber auch die synoptische Tradition zu einer eminenten Explikation der Christologie im Munde Jesu geführt hat, ist mehr als wahrscheinlich. Um so interessanter sind die weniger exponierten, aber starken Anknüpfungspunkte für die spätere Entwicklung. Dass die Gleichnisse wirklich vom Reich Gottes handeln, die Seligpreisungen nicht nur Illusionen machen, die Bergpredigt Gehorsam heischt, die Streitgespräche richtig geführt sind, die Wunder Zeichen der Gottesherrschaft sind, hängt an der Person des Sprechers und Täters Jesus. Ihm muss man abnehmen, was er in Wort und Tat verkündet; er tritt mit seiner Person für die Wahrheit seines Wortes ein; das Evangelium bedarf eines Predigers - auf ihn, der nicht selten prononciert »Ich« sagen kann, fällt das Licht der Basileia. Dass Jesu Basileia-Verkündigung nicht die Frage aufgeworfen hätte, ob er vielleicht der Messias sei, wäre verwunderlich. Der Hoheitstitel »Menschensohn« fällt so oft in den Evangelien, dass es erstaunlich wäre, sollte es keinen anderen Anhaltspunkt geben, als dass Jesus die Hoffnungen Daniels auf den Richter am Jüngsten Tage geteilt hätte (Dan 7.12). Nach Mk 12,35ff hat Jesus sich mit Verweis auf Ps 110 einschlägig und kritisch zur populären Erwartung eines davidischen Messiaskönigs geäußert; die Aussage ist durchaus gegenläufig zu einem Hauptstrom neutestamentlicher Christologie und deshalb im Kern wohl doch vorösterlich. Das Stichwort »Gottessohn« fällt nicht, steht aber unausgesprochen im Raum. Im Gleichnis von den bösen Winzern (Mk 12,1-12) ist der letzte Gesandte der »geliebte Sohn« Gottes, - nicht unmittelbar auf den Gleichniserzähler Jesus zu deuten, aber doch auch nicht unabhängig von ihm. Die Evangelien differenzieren in Jesu Worten durchweg zwischen »mein« und »euer Vater«; die Gebetsanrede »Abba«, die ihre frühjüdischen Parallelen hat, erscheint in den Evangelien primär als Ausdruck der Gottesbeziehung Jesu. Nach Mt 11,27 par. Lk 10,22 beruht das prophetische Wissen Jesu um die Gottesherrschaft auf einer Offenbarung, die Gott, der »Vater«, ihm, »dem Sohn« gegeben hat, damit er sie anderen bekanntmache. Die Vision Jesu bei seiner Taufe im Jordan (Mk 1,9ff), mit der vermutlich seine öffentliche Wirksamkeit begonnen hat, hat seine Gottessohnschaft zum Inhalt. Jeder einzelne dieser Texte ist in der exegetischen Literatur historisch sehr umstritten. Jeder ist erkennbar nachösterlich geformt und christologisch interpretiert. Dennoch: Es gibt zu viele Anhaltspunkte, als dass sie »historisch-kritisch« wegdiskutiert werden könnten; der Anspruch Jesu war zu skandalös, sein Vertrauen auf die Gottesherrschaft zu groß, als dass er ohne eine geklärte Beziehung der Gottunmittelbarkeit vorstellbar wäre. Historisch am wahrscheinlichsten ist, dass Jesus sich seit der Taufe im Jordan als Gottessohn zur Verkündigung der Herrschaft Gottes gesandt wusste. Dass er »Sohn« ist, hebt ihn nicht schon aus der Schar der Söhne und Töchter Israels heraus, sondern meint ihn als Mitglied des erwählten Gottesvolkes der Juden. Aber seine Sohnschaft ist insofern von ihren geschichtlichen Anfängen her singulär, als der Dienst, den er zu leisten hat, einmalig ist. Die Got- 12 ZNT 8 (4. Jg. 2001) Neues Testament aktuell tesherrschaft definiert die Gottessohnschaft Jesu, und der Gottessohn ist es, der die Gottesherrschaft definiert. Der Hoheitstitel Gottessohn nimmt diese Impulse positiv auf und füllt sie durch das Grundgeschehen der Auferweckung des Gekreuzigten mit neuem Inhalt, der die vorösterlichen Wurzeln nicht ausreißt, sondern wachsen lässt. War Jesus wirklich Gottes Sohn? Die Antwort kann nur bejahen, wer glaubt, dass er Gottes Herrschaft nahebringt, »für die Vielen« den Tod am Kreuz erlitten hat und von den Toten auferstanden ist. Aber wer glaubt, was Jesus selbst verkündet hat, wofür er gestorben ist und was er für seine Auferstehung womöglich selbst nicht zu hoffen wagte, der kann auch im Blick auf seine Geschichte Jesus als den Christus und Gottessohn erkennen (Joh 20,30f). Anmerkungen 1 Genannt seien nur einige Bücher mit wissenschaftlichem Anspruch und repräsentativer Bedeutung: J. Gnilka, Jesus von Nazaret. Botschaft und Geschichte, Freiburg u.a. 6 2000 (1990); J.P. Meier, A Marginal Jew. Rethinking the Historical Jesus, bisl. 2 Bde., New York 1991.1994; G. Theißen/ A. Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 1996; J. Becker, Jesus von Nazaret, Berlin 1995; E.P. Sanders, Sohn Gottes. Eine historische Biographie Jesu (engl. 1993), Stuttgart 1996, 226-233; D. Marguerat, Jésus de Nazareth, in: Histoire du Christianisme I, Paris 2001, 7-58. Ihnen gesellen sich gute Bücher zu, die auf wissenschaftlicher Basis einen breiteren Leserkreis erreichen wollen: G. Vermes, Jesus der Jude. Ein Historiker liest die Evangelien, Neukirchen-Vluyn 1993; K. Berger, Wer war Jesus wirklich? , Stuttgart 1995; R. Hoppe, Jesus. Von der Krippe an den Galgen, Stuttgart 1996; E. Schweizer, Jesus, das Gleichnis Gottes. Was wissen wir wirklich vom Leben Jesu? , Göttingen 1996; J. Roloff, Jesus, München 2000. 2 Vgl. M. Karrer, Jesus Christus im Neuen Testament (NTD.E 11), Göttingen 1998. 3 So C.P. Thiede, Die älteste Evangelienhandschrift? Das Markusfragment von Qumran und die Anfänge der schriftlichen Überlieferung des Neuen Testaments, Wuppertal 2 1990 ( 1 1988). 4 So H.-J. Schulz, Die apostolische Herkunft der Evangelien (QD 145), Freiburg u.a. 3 1997 (1993). 5 So C.P. Thiede/ M. d‹Ancona, Der Jesus-Papyrus. Die Entdeckung einer Evangelien-Handschrift aus der Zeit der Augenzeugen, München 1996. 6 So M. Hesemann, Die Jesus-Tafel. Die Entdeckung der Kreuz-Inschrift, Freiburg u.a. 1999. 7 So M.G. Silato, Und das Grabtuch ist doch echt, Augsburg 1998. 8 Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen 1913 (1906), 4. 9 Als kundig-ironischer Führer eignet sich R. Heiligenthal, Der verfälschte Jesus. Eine Kritik moderner Jesusbilder, Darmstadt 1997. 10 Vgl. R.W. Funk/ R.W. Hoover/ Jesus Seminary (Hgg.), The Five Gospels, The Search for the Authentic Words of Jesus, New York 1993. 11 So die Tendenz von J.D. Crossan, Der historische Jesus (engl. 1991), München 1995. 12 G. Theißen/ A. Merz, Jesus 29. 13 Theologie des Neuen Testaments (1958), hg. v. O. Merk, Tübingen 9 1984, 1. 14 Neutestamentliche Theologie I: Die Verkündigung Jesu, Gütersloh 2 1973 ( 1 1971). 15 Wie konstruktiv sie über die Alternative hinausgeführt werden kann, zeigt jedoch P. Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments. 2 Bde., Göttingen 1992.1999, I 40-161. 16 Die differenzierteste Position finde ich bei W. Thüsing, Die neutestamentlichen Theologien und Jesus Christus. Grundlegung einer Theologie des Neuen Testaments. (bisl. 3 Bde.), Münster 1996-1999. 17 So eine Pointe der harschen Kritik durch J. Ratzinger, Schriftauslegung im Widerstreit. Zur Frage nach Grundlagen und Wert der Exegese heute, in: ders. (Hg.), Schriftauslegung im Widerstreit (QD 117), Freiburg u.a. 1989, 15-44. 18 Vgl. W. Pannenberg/ Th. Schneider (Hgg.), Verbindliches Zeugnis. 3 Bde. (DiKi 7.9.10), Freiburg/ Göttingen 1995-1998. 19 Vgl. Th. Söding, Ein Jesus - Vier Evangelien. Vielseitigkeit und Eindeutigkeit der neutestamentlichen Jesustradition, in: Theologie und Glaube 91 (2001), 413-447. 20 Vgl. H. Merklein, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft, Eine Skizze (SBS 111), Stuttgart 3 1989. 21 Zu den Schwierigkeiten und Möglichkeiten vgl. F. Hahn, Methodologische Überlegungen zur Rückfrage nach Jesus, in: K. Kertelge (Hg.), Rückfrage nach Jesus. Zur Methodik und Bedeutung der Frage nach dem historischen Jesus (QD 63), Freiburg u.a. 1974, 11-77. 22 Das Problem der Kriteriologie kann hier aus Raumgründen nicht diskutiert werden; vgl. aber Th. Söding, Wege der Schriftauslegung. Methodenbuch zum Neuen Testament. Unter Mitarbeit von C. Münch, Freiburg u.a. 1998, 286-294. Die Kriterien-Diskussion darf freilich nicht, wie dies meist geschieht, auf die geläufigen Parameter beschränkt, sie muss auf eine kritische Reflexion der Voraussetzungen historischer Urteilsbildung ausgeweitet werden. 23 Vgl. W. Thüsing, Theologien I 57ff. 24 Das meinte bekanntlich W. Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien, Göttingen 1901. ZNT 8 (4. Jg. 2001) 13 Thomas Söding War Jesus wirklich Gottes Sohn?
