ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
121
2001
48
Dronsch Strecker VogelKontroverse - Einleitung
121
2001
Kurt Erlemann
znt480035
Im Zusammenhang der Frage nach den historischen und theologischen Wurzeln des christlichen Antijudaismus sind die Texte des Neuen Testaments als Dokumente der Konsolidierung christlicher Identität zu lesen, als literarische Produkte einer Zeit also, in der sich in unterschiedlicher Intensität der Ablösungs- und Verselbständigungsprozess des Christentums vom Judentum vollzog. Dabei ist in den vergangenen Jahren neben dem Johannesevangelium zunehmend auch das Matthäusevangelium ins Blickfeld geraten - nicht zuletzt wegen seiner massiven antipharisäischen Polemik. Die folgende Kontroverse bedarf einiger einführender und klärender Sätze, denn sie ist, streng genommen, keine »Kontroverse«. Vielmehr handelt es sich um zwei Perspektiven auf dieselbe Thematik, in denen unterschiedliche Nuancierungen erkennbar sind, was die Lösung der im Titel angesprochenen Frage anbelangt. Beide Geprächspartner haben sich in jüngerer Zeit mit dem Matthäusevangelium unter dem Aspekt des Trennungsprozesses zwischen Judentum und Christentum beschäftigt. 1 Von der Entstehung der Kontroverse her ist zu sagen, dass für Hans-Friedrich Weiß ein in ZNW 91 veröffentlichter Artikel von Axel von Dobbeler (vgl. Anm. 1) die Vorlage abgibt, dass Letzterer aber für die Kontroverse einen Schritt weiter in Richtung auf eine grundsätzlichere Art der Betrachtung gegangen ist. Als ein Ergebnis der Kontroverse lässt sich festhalten, dass die Autoren den Beginn des christlichen Antijudaismus unterschiedlich definieren: Während Hans-Friedrich Weiß im MtEv selbst schon eine dominante antipharisäische Grundlinie erkennt, die die Rezeptionsgeschichte des MtEv maßgeblich vorgeprägt hat, erkennt von Dobbeler eine gewichtige, Israel positiv gegenüber stehende Grundlinie im MtEv, die erst später, und gegen die Intention des Evangelisten, der pharisäerbzw. israelkritischen Linie unterlegen sei. Einig sind sich beide Autoren in der Einschätzung, dass zwischen dem historischen Textbefund, seiner Rezeptions- und Wirkungsgeschichte sowie der bleibenden hermeneutischen Aufgabe in der Zeit nach Auschwitz zu unterscheiden sei. Da sich Hans-Friedrich Weiß im folgenden Beitrag vor allem mit dem in ZNW 91 erschienenen Auf satz Axel von Dobbelers kritisch auseinandersetzt, sollen zum besseren Verständnis die These und die Grundlinien der Argumentation jenes Aufsatzes kurz nachgezeichnet werden: Ausgangspunkt der Untersuchung von Dobbelers ist die Frage nach dem Verhältnis der beiden scheinbar widersprüchlichen Sendungsaufträge in Mt 10,5b.6 und Mt 28,18-20. Während die Jünger nach Mt 28 bekanntlich durch den Auferstandenen ausdrücklich zu allen Völkern gesandt werden, ist ihnen das nach Mt 10,5b.6 ausdrücklich untersagt: »Nicht auf eine Straße der Heiden und nicht in eine Stadt der Samaritaner geht, sondern geht vielmehr zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel«. Wie ist das Verhältnis von exklusivem Partikularismus der Israel-Sendung (vgl. auch Mt 15,24) und universaler Sendung zu den Völkern zu fassen? Die frühere Forschung war sich weitgehend darüber einig, dass zwischen Mt 10,5b.6 und Mt 28,19f eine Spannung, ein Bruch oder gar ein Widerspruch besteht, und sah dementsprechend die Sendung zu Israel entweder durch den Missionsbefehl Mt 28 ersetzt oder aber zu diesem hin ausgeweitet. Demgegenüber vertritt von Dobbeler die These, dass sich die beiden Sendungsaufträge keineswegs ausschließen, sondern im Verhältnis der Komplementarität stehen und dass das komplementäre Nebeneinander von Israel-Sendung und Sendung zu den Völkern als ein Indiz dafür gewertet werden kann, »dass es sich bei den mt Christen um eine Gemeinschaft gehandelt haben könnte, die ihrem Selbstverständnis nach eine Gruppe innerhalb der Erneuerungsbewegung des Judentums nach 70 darstellte, die sich zwar einer starken innerjüdischen Opposition gegenübersah, aber weit davon entfernt war, die eigene Identität ›extra muros‹ des Judentums zu sehen« 2 . Entscheidend für von Dobbeler ist die Beobachtung, dass es sich in Mt 10 und Mt 28 um jeweils anders akzentuierte Sendungen handelt, die unter d em Stichwort »Mission« zusammenzufassen geradezu irreführend ist. Die beiden Sendungsaufträge haben nicht nur unterschiedliche Zielgruppen im Kontroverse Einleitung ZNT 8 (4. Jg. 2001) 35 Auge (die verlorenen Schafe des Hauses Israel / die Völker), sondern verfolgen auch unterschiedliche Ziele: In Mt 10 geht es keinesfalls um Mission in unserem Sinne, also um eine Form der Bekehrung; davon ist hier überhaupt nicht die Rede - auch nicht von der Anerkennung der besonderen Bedeutung Jesu o.ä. Im Blick ist hier vielmehr die Wiederherstellung des am Boden liegenden, verschmachtenden Volkes Israel, das durch die heilvollen »Werke des Christus« (Mt 11,2) aufgerichtet und für die Herrschaft seines Gottes bereitet werden soll. Dagegen ist Zielvorstellung von Mt 28 nun in der Tat die Bekehrung : Die Heiden sollen unter die Herrschaft des einen Gottes gebracht, mithin von den toten Götzen zu dem lebendigen Gott bekehrt werden. Beide Aufträge stehen also keineswegs in Widerspruch zueinander; sie stehen aber auch nicht einfach nur nebeneinander, sondern sind aufeinander bezogen: Restitution Israels und Bekehrung der Heiden sind als komplementäre Wirkungen des Messias Jesus und der in seiner Nachfolge messianisch wirkenden Jünger zu verstehen. Da nach dieser Interpretation die besondere Sendung zu Israel aus mt Sicht weder aufgehoben noch durch die Völkermission ersetzt ist, sondern nach wie vor Gültigkeit besitzt, folgert von Dobbeler für den Standort des ersten Evangelisten und seiner Adressaten, dass es sich dabei um Juden handelte, »die sich in der Nachfolge der messianischen Sendung Jesu zur Restitution Israels und zur Bekehrung der Heiden beauftragt sahen, ihre Identität selbstverständlich im Judentum sahen und dies gegenüber innerjüdischer Kritik zu verteidigen hatten« 3 . Anmerkungen 1 H-F. Weiß, Kirche und Judentum im Matthäusevangelium. Zur Frage des ›Antipharisäismus‹ im ersten Evangelium, ANRW II 26.3, Berlin / New York 1996, 2038- 2098; A. von Dobbeler, Die Restitution Israels und die Bekehrung der Heiden. Das Verhältnis von Mt 10,5b.6 und Mt 28,18-20 unter dem Aspekt der Komplementarität. Erwägungen zum Standort des Matthäusevangeliums, ZNW 91 (2000), 18-44. 2 von Dobbeler, Restitution, 21. 3 von Dobbeler, 43. 36 ZNT 8 (4. Jg. 2001) Kontroverse Die Hauptvertreter der Praktischen Theologie in Selbstportraits Selbstportraits maßgeblicher Vertreterinnen und Vertreter gegenwärtiger Praktischer Theologie geben Studierenden, in der kirchlichen Praxis Tätigen und den Kolleginnen und Kollegen anderer theologischer Disziplinen Einblick in die Vielfalt der Ansätze und vermitteln einen Überblick über die Praktische Theologie am Beginn des 3. Jahrtausends. Der Paradigmenwechsel von der empirischen zu einer lebensweltlich, ästhetisch und semiotisch orientierten Reflexionsperspektive zeichnet sich im Rahmen der wissenschaftlichen Biographien eindrücklich ab. Im Blick auf das Gesamtverständnis wie auch auf die Unterdisziplinen des Faches kommt so ein instruktives Resümee zustande, in dem sich Zukunftsperspektiven für die religiöse Strukturierung kirchlicher Handlungsfelder und lebensweltlicher Vollzüge abzeichnen. Georg Lämmlin/ Stefan Scholpp (Hrsg.) Praktische Theologie der Gegenwart in Selbstdarstellungen UTB 2213 S, 2001, XII, 427 Seiten, 20 Abb., DM 39,80 19,90/ SFr 37,- UTB-ISBN 3-8252-2213-6 A. Francke