ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
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2001
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Dronsch Strecker VogelWo liegen die Wurzeln des christlichen Antijudaismus?
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Axel von Dobbeler
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1. Der Berliner Philosoph und Pfarrerssohn Herbert Schnädelbach hat in seinem vielbeachteten Pamphlet »Der Fluch des Christentums« 1 unter die sieben »Geburtsfehler«, durch die er das Christentum unheilbar belastet sieht, auch den christlichen Antijudaismus 2 gerechnet. Mit der Metapher des »Geburtsfehlers« möchte Schnädelbach jede Rückzugsmöglichkeit auf das Argument späterer Fehlentwicklungen verstellen. Ist der Antijudaismus in diesem Sinne ein »Geburtsfehler« des Christentums, also nicht heilbar, ohne dass das Christentum sich selbst aufgibt? Handelt es sich beim Antijudaismus mithin um die »Essenz« des Christentums oder schließt das Christentum umgekehrt in seiner Essenz Antijudaismus geradezu aus? 3 Bedarf das Christentum um seiner selbst willen der Ablehnung und Zurückweisung Israels, wie Samuel Sandmel 4 vermutet hat, weil die Christologie als Kernstück des Christentums nach Rosemary Ruethers Einschätzung in sich schon antijudaistische Züge trägt? 5 Mussten die Christen also zu Antijudaisten werden, eben weil sie Christen waren? 6 Diese Fragen sind für die »Theologie nach Auschwitz« von schlechthin zentraler Bedeutung, denn die hier maßgebliche Einsicht in die Mitverantwortung christlicher Theologie für den millionenfachen Mord an jüdischen Menschen bedeutete in erster Linie, sich theologisch dem jahrhundertealten Erbe des christlich motivierten Antijudaismus zu stellen und nach den Wurzeln der christlichen Judenfeindschaft zu fragen. Der Frage nach den Wurzeln ist dabei sowohl in historischer als auch in sachlich-theologischer Perspektive nachzugehen; zu prüfen ist, ob es sich a) beim christlichen Antijudaismus um eine gegenüber den Anfängen sekundäre und diese mithin auch fehlinterpretierende Entwicklung handelt oder bereits die frühesten Zeugnisse des Christentums als Dokumente eines ausgeprägten Antijudaismus zu kennzeichnen sind und ob b) Antijudaismus zum »Wesen« oder nur zur geschichtlichen Gestalt des Christentums gehört, es sich dabei also um ein essentielles oder nur um ein akzidentielles Element des Christentums handelt. Die Gefahr, als christlicher Forscher in die Falle einer vorschnellen Apologetik zu tappen, ist dabei immer mit zu bedenken; sie ist grundsätzlich wohl nicht zu beseitigen. Ebenso wird die Theologie sich nicht auf eine wissenschaftlich-distanzierte Betrachtungsweise, die von unserem geschichtlichen Standort (»nach Auschwitz«) abzusehen versucht, zurückziehen können. Ich schließe mich hier dem Urteil Ingo Broers an: »Nach dem Holocaust kann niemand mehr ausschließlich aus wissenschaftlicher Distanz heraus über antijüdische Texte oder Tendenzen sprechen, erst recht nicht in Deutschland. Auch ist eine rein synchrone Betrachtung der alten antijüdischen Texte des Neuen Testaments nicht mehr erlaubt - wir können bei der Betrachtung dieser Texte von ihrer Wirkungsgeschichte nicht absehen.« 7 2. Daraus folgt als methodisches Prinzip: Bei der Frage nach den Wurzeln des christlichen Antijudaismus ist stets der lectio difficilior der Vorrang zu geben. Damit verbietet sich a) die Beseitigung von Problemen oder als problematisch empfundenen Texten durch literarkritische Operationen, die ihren markantesten Ausdruck wohl in der Interpolationshypothese zu 1Thess 2,13-16 gefunden hat, wonach es sich bei der vehementen antijüdischen Polemik dieses Abschnitts, der zudem Elemente des paganen Judenhasses aufnimmt, 8 um eine nachpaulinische Glosse handelt, 9 b) die Abmilderung von antijudaistischen Äußerungen durch psychologisierende Auslegung oder durch den Hinweise auf das sog. Konvertiten- Syndrom, 10 c) die Relativierung frühchristlicher antijudaistischer Positionen durch den Hinweis auf die »Gesetzmäßigkeiten«, denen Abspaltungen / Ablösungen einer neuen Religion von ihrer Mutterreligion unterliegen; die Entstehung des christlichen Axel von Dobbeler Wo liegen die Wurzeln des christlichen Antijudaismus? 42 ZNT 8 (4. Jg. 2001) ZNT 8 (4. Jg. 2001) 43 Axel von Dobbeler Wo liegen die Wurzeln des christlichen Antijudaismus? Axel von Dobbeler PD Dr. Axel von Dobbeler, Jahrgang 1953, Studium der Evangelischen Theologie in Bonn, Promotion 1984 in Heidelberg, Habilitation 1998 ebenfalls in Heidelberg, seit 2000 Privatdozent an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn. Im Sommersemster 2001 Vertretungsprofessur für den Lehrstuhl für Neues Testament an der Gerhard- Mercator-Universität Duisburg. Veröffentlichungen zur paulinischen Theologie, zur Apostelgeschichte, zum Matthäusevangelium, zur frühchristlichen Mission sowie prosopographische Studien. Antijudaismus erscheint in dieser Perspektive als ein quasi natürlicher Prozess und als »unvermeidlich« 11 ; hierher gehört auch die m.E. fragwürdige Anwendung der Kategorie der »historischen Notwendigkeit« auf die christliche Abgrenzung gegenüber dem Judentum, 12 d) der von allzu durchsichtigen apologetischen Motiven getragene Verweis darauf, dass der Weg zum christlichen Antijudaismus auf einem »Missverständnis der urchristlichen Polemik« basiere, 13 dass die Anfänge mithin »rein«, d.h. nicht antijudaistisch waren. Hinter letzterer These steht zwar die durchaus zutreffende Einschätzung, dass sich im Zuge des Prozesses, der schließlich zum »Auseinandergehen der Wege« führte, qualitativ die entscheidende Wende vollzogen haben muss: nämlich von einer - gerne mit der Metapher des »Familienzwists« belegten - innerjüdischen Auseinandersetzung, die in traditioneller Weise mit harten Bandagen geführt wurde, zu einer »von außen« an das Judentum bzw. die Juden gerichteten Polemik, die sich aufgrund der mehrheitlich ablehnenden Haltung Israels gegenüber dem Messias Jesus nicht nur zur schroffen Verurteilung des »alten« Gottesvolkes, sondern auch zu dessen Enterbung und zur Inanspruchnahme zentraler, für jüdische Identität essentieller Glaubensinhalte für die eigene religiöse Identitätsbildung legitimiert sah. Es steht außer Frage, dass es für die Entscheidung, ob ein Text als »antijudaistisch« zu kennzeichnen ist oder nicht, von einiger Bedeutung ist zu klären, von welcher Position aus gegen Juden oder das Judentum polemisiert wird, ob der Standort eines Textes bzw. seines Autors noch intra muros des Judentums liegt oder bereits extra muros. Denn gerade pauschalisierende Wendungen wie die Rede von »den Juden« gewinnen erst dort antijudaistischen Charakter im Sinne der Diffamierung der Gesamtheit der Juden aufgrund ihres Judeseins, wo sie von außen auf das Judentum zielen; eine intra muros geäußerte, gegen »die Juden« gerichtete Polemik hat dagegen einen ganz anderen Charakter. 14 Dies haben die Arbeiten von James Dunn und anderen überzeugend belegt, und man wird den ntl. Schriften, in denen sich die meisten Invektiven gegen »die Juden« finden (Joh, Apg) daher auch nicht gerecht, wenn man sie pauschal als »antijudaistisch« qualifiziert. Nichtsdestotrotz bleibt es für die Frage nach den Wurzeln mindestens ebenso bedeutsam festzuhalten, dass sich der christliche Antijudaismus aus Texten und Thesen »genährt« hat, die ursprünglich nicht antijudaistisch gemeint waren. Ähnliches gilt auch für die an sich völlig zutreffende Beobachtung, dass dem MtEv kein Antijudaismus, sondern ein »Antipharisäismus« zu attestieren ist. 15 Da es uns nicht genügen kann, unser Augenmerk nur auf die Ursprungssituation der Texte zu richten und ihre Wirkungsgeschichte auszublenden, scheint es mir unmöglich, Texte schon aufgrund ihrer Verortung intra muros des Judentums aus der Frage nach den Wurzeln des christlichen Antijudaismus auszuklammern. So sehr es die Redlichkeit des Historikers gebietet, die Texte in ihrer historischer Eigenart, die zumeist eben noch keine antijudaistische in unserem Sinne war, zu würdigen, so sehr gebietet es eben diese Redlichkeit, der Tatsache Rechnung zu tragen, dass der spätere christliche Antijudaismus seine Kraft aus eben diesen Texten sog und dass es dabei überhaupt keine Rolle spielte, ob sich die Texte nur aufgrund eines kardinalen Missverständnisses ihrer Aussageintention als Kraftquelle des Antijudaismus erwiesen. Dass sie zur Legitimierung christlichen Judenhasses tauglich erschienen und auch faktisch dazu benutzt wurden, kann gerade im Blick auf das MtEv nicht bezweifelt werden und kann nicht durch den Hinweis, dass es sich dabei nur um ein schreckliches Missverständnis handelt, vom Tisch gewischt werden, soll nicht der bereits 1978 von David Flusser empfundene Eindruck bestätigt werden, bei den christlichen Bemühungen um eine Auseinandersetzung mit der ureigenen antijudaistischen Tradition handele es sich fast durchweg um Versuche, »zu beweisen, dass es im Neuen Testament keinen Antijudaismus gibt.« 16 3. Die Jesusbewegung ist als eine »innerjüdische Erneuerungsbewegung« 17 zu betrachten, die im Rahmen der Pluralität jüdischer Gruppen zu verorten ist, in vielfältiger Weise Berührungspunkte mit anderen jüdischen Strömungen aufweist, sich aber auch deutlich von diesen unterscheidet und damit ein eigenes Profil entwickelt, 18 das mit der Kennzeichnung des frühen Christentums als »sectarian movement« 19 oder »jüdische Devianzbewegung« 20 zu umreißen bereits eine m.E. unzutreffende Wertung beinhaltet, da hier die Existenz eines normativen Judentums schon für die Zeit vor 70 n.Chr. vorausgesetzt wird. 21 Man wird die Jesusbewegung und das frühe Christentum vielmehr in den breiten Strom unterschiedlicher Lebensäußerungen jüdischer Religiosität vor 70 n.Chr. einzuordnen haben. 22 Es genügt daher m.E. nicht, von einer »offensichtliche(n) Nähe der Position Jesu selbst und der ursprünglichen Jesusbewegung zum Judentum« zu sprechen, 23 denn das setzt ja voraus, dass sie - obzwar ihm sehr nahe - eben doch nicht zum Judentum gehörten - sie standen ihm lediglich nahe. Aber weder gab es »das« Judentum noch lässt sich die Stellung Jesu, der Jesusbewegung oder der frühen Christen als eine außerhalb des Judentums glaubhaft beschreiben. Ein wichtiges Kennzeichen der jüdischen Messias-Jesus-Bekenner wird dabei ihr ausgeprägtes messianisch-eschatologisches Selbstbewusstsein gewesen sein. Dadurch bekam die Auseinandersetzung mit anderen zeitgenössischen Varianten des Judentums eine ähnliche Schärfe wie die der Qumran-Essener. Das Bewusstsein der »letzten Zeit« und die Selbstsicht als »heiliger Rest« bedingen hier wie dort die harsche Form der Abgrenzung. Was die frühen Christen betrifft, so gewinnt die Abgrenzung gegenüber anderen jüdischen Gruppen zudem an Schärfe durch das gewaltsame Geschick Jesu, das in enge Beziehung zur Ablehnung des Nazareners und zum Widerspruch gegenüber dem für ihn erhobenen messianischen Anspruch durch große Teile Israels gesetzt wird. Es mag sein, dass diese frühe Form judenchristlicher Abgrenzung ihren polemischen Ausdruck in zwei vielleicht sehr alten Formeln gefunden hat, die Günter Haufe 24 als traditionsgeschichtlichen Hintergrund von 1Thess 2,15a vermutet hat: Dabei handelt es sich zum einen um eine »alte vorsynoptische Tradition« 25 , die die deuteronomistische Tradition vom gewaltsamen Geschick der Propheten 26 auf die nicht christusgläubigen Juden anwandte und die sich neben 1Thess 2,15a auch in Mt 23,31-36; Lk 11,47-51 und Lk 13,34 niedergeschlagen hat. Zum anderen um eine »wohl ähnlich alte, in die Missionsreden der Apg und in Joh aufgenommene kerygmatische Formulierung, die in polemischer Zuspitzung von der Tötung Jesu durch Juden sprach« 27 (Apg 2,23.36; 3,15; 4,10; Joh 5,18; 7,19f.25; 8,37.40; 11,53; vgl. auch das Gleichnis von den bösen Weingärtnern Mk 12,1-9par). Beide Traditionen könnten vor dem Hintergrund der weitgehenden Erfolglosigkeit der Israelmission von judenchristlichen Missionaren verknüpft sowie um die Aussage über die Verfolgung der Jesusboten durch Juden erweitert worden sein und in dieser Form dann Eingang in 1Thess 2,15a gefunden haben. Das stark eschatologisch geprägte Selbstbewusstsein der frühen Christen ist zugleich aber auch der sachliche Grund für eine besondere Entwicklung innerhalb dieser Gruppe gewesen: die Öffnung gegenüber den Menschen aus den Völkern, deren Herbeiströmen und Bekehrung zum traditionellen Repertoire jüdisch-eschatologischer Erwartungen gehörte. Dies bedeutete eine Weichenstellung, die sich in der weiteren Geschichte als besonders folgenschwer erwiesen hat, und es hat wohl kaum eine andere Frage die Gruppe der Jesus-Bekenner im ersten Jahrhundert in solcher Weise umgetrieben wie die der Hinzunahme von Menschen aus den Völkern. Interessant ist dabei zweierlei: a) Das gesamte Spektrum der unterschiedlichen Haltungen, mit denen jüdische Gruppen auf den Hellenisierungsdruck reagiert hatten - zwischen Assimilation und Abgrenzung - finden wir auch unter den frühen Jesus-Bekennern im Blick auf die Frage der Heidenmission, wenn man die paulinische Missionstheologie auf der einen und die Ein- 44 ZNT 8 (4. Jg. 2001) Kontroverse stellung christlicher Pharisäer (Apg 15, 5) auf der anderen Seite als Eckpunkte betrachtet. b) Kennzeichnend für die Öffnung gegenüber den Heiden ist zunächst, dass sie konzeptionell so gefasst wird, dass sie im Rahmen der »impliziten Axiome« des Judentums begründet werden kann. Unter »impliziten Axiomen« verstehe ich im Anschluss an Dietrich Ritschl 28 und Gerd Theißen 29 regulative Sätze, die ein religiöses System steuern und die auch dort, wo sie nicht explizit genannt sind, grundlegenden Charakter für dieses religiöse System haben. Das Aufrechterhalten bzw. Verändern solcher für das Judentum impliziter Axiome ist ein wesentlicher Indikator für den Grad der Ausdifferenzierung des frühen Christentums aus dem Judentum. Es gab im frühen Christentum durchaus unterschiedliche Versuche, das Hinzukommen von Menschen aus den Völkern so zu beschreiben, dass die impliziten Axiome des Judentums davon unberührt blieben. Von diesen Versuchen waren die im sog. »Aposteldekret« genannten »Jakobusklauseln« (Apg 15,20.29) sicherlich historisch von besonderer Bedeutung. Daneben gab es aber auch andere Versuche, die Öffnung gegenüber Heiden bzw. das missionarische Überschreiten der Grenzen Israels im Rahmen jüdischer Traditionen zu begründen. So die hinter Gal 2,9 sichtbar werdende Ekklesiologie der getrennten Bereiche, der aus der Sicht des Jakobus offensichtlich die Vorstellung zugrunde lag, »Gott habe neben dem eschatologisch gesammelten und restaurierten Israel sich ein (assoziiertes) Volk aus den Heiden erwählt«, 30 eine Sichtweise, deren ekklesiologische Konsequenz eine Trennung von judenchristlichen und heidenchristlichen Gemeinden bedeutete. Oder die Berufung auf die tritojesajanische Verheißung Jes 56,3ff, die bei den Hellenisten, die eine Vorreiterrolle bei der Heidenmission gespielt haben dürften, und insbesondere in der Missionspraxis des Philippus von Bedeutung war. Denn sie ließ die Einbeziehung von »Verschnittenen« und »Fremden« als Erfüllung prophetischer Verheißungen verstehen und lieferte damit die heilsgeschichtliche Legitimation für die Samaritaner- und Heidenmission. 31 Nicht zuletzt ist auf das MtEv zu verweisen, das in 10,5b.6 und 28,19f zwei einander scheinbar widersprechende Sendungsaufträge (zu Israel, zu den Völkern) bietet, die m.E. jedoch im Sinne der Komplementarität aufeinander zu beziehen sind. 32 Demnach bilden die Restitution Israels und die Bekehrung der Heiden die komplementären Aspekte der einen messianischen Sendung Jesu und seiner Jünger. Wenn wir als ein implizites Axiom des Judentums die besondere Stellung Israels im Gegenüber zur Völkerwelt annehmen dürfen, so wird dieses Axiom durch keine der genannten Konzeptionen infrage gestellt; vielmehr bleibt die Unterscheidung zwischen Israel und den Völkern hier durchgängig konstitutiv. Dies änderte sich erst dort, wo durch die Praxis gemeinschaftlichen Lebens, speziell durch die Tischgemeinschaft von Juden- und Heidenchristen (Kommensalität) 33 eine neue Situation geschaffen war, die nicht mehr mit den Kategorien jüdischen Selbstverständnisses zu fassen war. Als wie problematisch eine solche Praxis empfunden wurde, zeigt mit aller Deutlichkeit der sog. Antiochenische Konflikt (Gal 2,11-16). Die mit dieser Lebenspraxis verbundene Veränderung eines für das Judentum maßgeblichen impliziten Axioms machte die Konstituierung einer neuen, gegenüber Juden wie Heiden unterschiedenen, religiösen Identität notwendig. Ekkehard Stegemann hat vermutet, dass der Versuch einer solchen Identitätsfindung in 1Kor 10,32 sichtbar wird, 34 wo Paulus die »Gemeinde Gottes« als eine dritte Größe Juden und Heiden gegenüberstellt. Gekennzeichnet sei diese neue Identität der ekklesia aus Juden und Heiden durch die eschatologische Gabe des Geistes, der die Differenz von Beschneidung und Unbeschnittenheit zwar nicht grundsätzlich, wohl aber in ihrer soteriologischen Relevanz aufhebt. In ähnlicher Weise ist auch die ekklesiologische Funktion der paulinischen Rede vom Glauben zu begreifen 35 : Der Glaube (pistis) ist für Paulus das zentrale Kennzeichen der christlichen Gemeinden, das Abgrenzung und Unterscheidung sowohl gegenüber Heiden (2Kor 6,14 - 7,1; 1Kor 5,9 - 6,11) 36 als auch gegenüber nicht christusgläubigen Juden (Röm 11,17-24) 37 ermöglicht, aufgrund seiner integrativen Funktion die Gruppenidentität frühchristlicher Gemeinden konstituiert und einen wesentlichen Faktor ihrer Stabilität darstellt. Hierin ist die »soziologische Spitze« der paulinischen Rede von der Rechtfertigung aus Glauben zu sehen. In seinem Abrahams-Midrasch in Röm 4 tritt deutlich zutage, dass Paulus sein Verständnis von Glaubensgerechtigkeit mit dem Ziel darlegt, zur Integration der traditionell verfeindeten Gruppen der Juden und Heiden in der christlichen Ge- ZNT 8 (4. Jg. 2001) 45 Axel von Dobbeler Wo liegen die Wurzeln des christlichen Antijudaismus? meinde beizutragen. 38 Er reagiert damit auf ein zentrales Problem der Mission und des Gemeindeaufbaus und argumentiert daher nicht nur grundsätzlich-theologisch, sondern mit einer deutlich gemeindesoziologischen Ausrichtung. Die für die paulinische Rechtfertigungslehre zentrale Auseinandersetzung mit Gen 15,6 in Röm 4 macht deutlich, welch konkrete soziologische Bedeutung die Konzeption der Glaubensgerechtigkeit für Paulus hatte: Durch die Kennzeichnung Abrahams als »Vater aller« gewinnt er einen historischen Bezugspunkt für Juden und Heiden, die damit in die Erwählungsgeschichte Israels einbezogen werden. Ausschlaggebend ist dafür freilich, dass er die pistis zum alleinigen Kriterium einer legitimen Berufung auf Abraham als Vater erhebt und damit auch zur entscheidenden Voraussetzung der Partizipation an den Heilsverheißungen. Die gemeindesoziologische Bedeutung einer solchen These kann im Blick auf das problematische Zusammenleben von Juden und Heiden gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Insofern ist - neben der Pneumatologie - auch das paulinische Glaubensverständnis u.a. von dem Bemühen her zu verstehen, die »Gemeinde Gottes« als eine gegenüber Juden und Heiden dritte Größe zu etablieren und zu legitimieren. 39 4. Für die Frage nach den Wurzeln des christlichen Antijudaismus ist der Plural »Wurzeln« von entscheidender Bedeutung. Jeder monokausale Erklärungsversuch geht hier ins Leere. Vielmehr scheint mir die Entstehung des christlichen Antijudaismus ihren Grund in dem Zusammentreffen und der Verflochtenheit verschiedener Elemente zu haben: a) der innerjüdischen Polemik des »Geschwisterstreits« einer jüdischen Erneuerungsbewegung, b) dem eschatologischen Selbstbewusstsein dieser Bewegung und der Ablehnung des messianischen Anspruchs für Jesus von Nazareth durch die überwiegende Mehrheit der Menschen in Israel, c) dem Hinzukommen von Menschen aus den Völkern und der darauf aufbauenden Praxis der Kommensalität zwischen Juden und Heiden in der christlichen Gemeinde und schließlich d) dem nach der Katastrophe der Zerstörung Jerusalems, des Tempels und der nationalen Identität immens wachsenden Konsolidierungsdruck innerhalb des Judentums und der damit einhergehenden, heterodoxe Gruppen ausgrenzenden Einschränkung der innerjüdischen Pluralität. Anmerkungen 1 DIE ZEIT Nr. 20/ 2000 vom 11.Mai 2000 (= ZEITdokument 2.2000, 6-12). 2 Zur Begriffsdiskussion vgl. J.D.G. Dunn, The Question of Anti-semitism in the New Testament, in: ders. (Hg.), Jews and Christians. The Parting of the Ways A.D. 70 to 135 (WUNT 66), Tübingen 1992, 177-211: 179-182. »Antisemitismus« ist als eine Begriffsbildung des späten 19. Jahrhunderts und durch seine rassenideologische Prägung sicherlich ein ungeeigneter Terminus zur Beschreibung des christlichen Judenhasses. Dunn weist aber zurecht darauf hin, dass auch die Begriffe »Antijudaismus« / »antijüdisch« nicht unproblematisch sind, weil sie eine fest umrissene Größe »Judentum« voraussetzen. Douglas Hares Unterteilung in einen prophetischen, einen judenchristlichen und einen heidenchristlichen Antisemtismus trägt mehr zur Verwirrung als zur Klärung bei; vgl. D.R.A. Hare, The Rejection of the Jews in the Synoptics and Acts, in: A.T. Davies (Hg.), Anti-Semitism and the Foundations of Christianity, New York 1979, 27-47: 28-32. 3 Zu einem solchen Urteil kamen übrigens keineswegs nur christliche Forscher, sondern auch jüdische Gelehrte wie der franzöische Historker Jules Isaac, L’Antisémitisme at-il des racines chrétiennes? , Paris 1960, 21. 4 S. Sandmel, Anti-Semitism in the New Testament, Philadelphia 1978, 163. 5 So R.R. Ruether, Faith and Fratricide. The Theological Roots of Anti-Semitism, New York 1974, 246. 6 Wie R.L. Wilken, The Myth of Christian Beginnings, New York 1979, 197, behauptet. 7 I. Broer, Antijudaismus im Neuen Testament? Versuch einer Annäherung anhand von zwei Texten (1 Thess 2,14-16 und Mt 27,24f), in: L. Oberlinner/ P. Fiedler (Hgg.), Salz der Erde - Licht der Welt, FS A.Vögtle, Stuttgart 1991, 321-355: 326. 8 Vgl. zu der den Juden in 1Thess 2,15 attestierten Menschenfeindlichkeit Tacitus, Hist. V 5: »adversus omnes alios hostile odium«. 9 Die Vertreter der Interpolationshypothese berufen sich zumeist auf die Untersuchung von Birger A. Pearson, 1 Thessalonians 2,13-16. A Deutero-Pauline Interpolation, HThR 64 (1971), 79-94; das Hauptargument für die Annahme einer Interpolation ist, dass V.16c sich nur auf die Zerstörung Jerusalems beziehen könne; demgegenüber hat Robert Jewett zurecht darauf hingewiesen, dass Pearsons Argumentation »an unmistakable quality of retrospection« enthalte (The Thessalonian Correspondence. Pauline Rhetoric and Millenarian Piety, Philadelphia, 1986,37). Nur wer schon um die Katastrophe von 70 wisse, halte den Bezug von 1Thess 2,16c darauf für unausweichlich. Zur Kritik an der Interpolationshypothese vgl. auch Broer, Antijudaismus, 327f; G. Haufe, Der erste Brief des Paulus an die Thessalonicher (ThHK 12/ 1), Leipzig 1999, 4f.42ff 10 So »weiß« z.B. G. Baumbach, Antijudaismus im Neuen 46 ZNT 8 (4. Jg. 2001) Kontroverse Testament - Fragestellung und Lösungsmöglichkeit, KAIROS 25 (1983), 68-85: 70, nicht nur, dass der einstige Verfolger der Christen, Paulus, Hass auf seine eigene Vergangenheit hegte, sondern sieht sich darüber hinaus noch dort zur psychoanalytischen Diagnose einer »Übertragung« befähigt, wo Paulus sich antijüdisch äußert: in 1Thess 2,14-16 und Phil 3,3ff handele es sich um biographisch gefärbte Aussagen in der Sprache des Konvertiten, die - jedenfalls was 1Thess 2,14ff betrifft - als Projektion des paulinischen Selbsthasses auf die Christus ablehnenden Juden zu beschreiben sind, die er mit seinem »Trauma« belastet; vgl. auch S. Ben-Chorin, Antijüdische Elemente im Neuen Testament, EvTh 40 (1980), 203-214, der davon ausgeht, dass in 1Thess 2,14ff »ein ganz individueller Selbsthass« des Paulus mitspricht (205). 11 Vgl. M.J. Cook, The New Testament and Judaism: An Historical Perspective on the Theme, RExp 84 (1987), 183-199, hält es für »more constructive« die Entstehung des christlichen Antijudaismus zu verstehen »as more in the realm of the natural than the demonic, more in the realm of the inevitable than the unexpected« (188). 12 Vgl. H-F. Weiss, Kirche und Judentum im Matthäusevangelium. Zur Frage des ›Antipharisäismus‹ im ersten Evangelium, ANRW II 26.3, Berlin/ New York 1996, 2038-2098: 2094. 13 O. Michel, Polemik und Scheidung. Eine biblische und religionsgeschichtliche Studie, Jud. 15 (1959), 193-213: 204. 14 Dunn, Question, 184 A.27, schildert zur Illustration als eine »modern parallel« die Heftigkeit mit der z.B. ein Schotte auf »die Schotten« schimpfen kann, die sich während eines Fußballspiels auf eine Prügelei einlassen, ohne dass er damit alle schottischen Zuschauer geschweige denn die Schotten als Nation meint oder sich von den Schotten als seinen Landleuten grundsätzlich distanziert. Man könnte auch auf die in fast schon stereotyper Manier von Deutschen geäußerte Invektive gegen das dummdreiste Auftreten »der Deutschen« im Auslandsurlaub verweisen. 15 Vgl. Weiss, Kirche. 16 D. Flusser, Bemerkungen eines Juden zur christlichen Theologie des Judentums, in: C. Thoma, Christliche Theologie des Judentums, Aschaffenburg 1978, 6-32: 28. 17 Vgl. E.P. Sanders, Jesus and Judaism, Philadelphia 1985/ 3 1991. 18 Vgl. G. Theißen, Jesus im Judentum. Drei Versuche einer Ortsbestimmung, KuI 14 (1999), 93-109. 19 Vgl. R. Scroggs, The Earliest Christian Communities as Sectarian Movement, in: J. Neusner (Hg.), Christianity, Judaism and other Greco-Roman Cults. Studies for Morton Smith at Sixty II: Early Christianity, 1975, 1-23; A.J. Saldarini, Matthew’s Christian-Jewish Community (CSHJ), Chicago, 1994, 107-116; D. C. Sim, The Gospel of Matthew and Christian Judaism. The History and Social Setting of the Matthean Community, Edinburgh 1998. 20 E. Stegemann, Zwischen Juden und Heiden, aber »mehr« als Juden und Heiden? Neutestamentliche Anmerkungen zur Identitätsproblematik des frühen Christentums, KuI 9 (1994), 53-69: 54. 21 Demgegenüber spricht Jacob Neusner zutreffend von »varieties of Judaism« bzw. von »Judaisms« (Varieties of Judaism in the Formative Age, in: Formative Hudaism. Second Series, BJS 41 (1983) 59-89). 22 Nach Dunn, Question, 181, war »Judaism« »a word or concept whose reference was in some dispute, whose range was shifting, whose identity was developing«. 23 Weiss, Kirche, 2041. 24 Haufe, Thessalonicher, 46. 25 Ebd. 26 Vgl. dazu O.H. Steck, Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten (WMANT 23), Neukirchen 1967. 27 Haufe, Thessalonicher, 46. 28 D. Ritschl, Der Erfahrung der Wahrheit. Die Steuerung von Denken und Handeln durch implizite Axiome, in: ders., Konzepte, München 1986, 147-166. 29 G. Theißen, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000, 24f. 30 R. Pesch, Die Apostelgeschichte (Apg 13-28) (EKK V/ 2), Zürich u.a. 1986, 87. 31 Vgl. A. von Dobbeler, Der Evangelist Philippus in der Geschichte des Urchristentums. Eine prosopographische Skizze (TANZ 30), Tübingen 2000, 114ff.306. 32 Vgl. A. von Dobbeler, Die Restitution Israels und die Bekehrung der Heiden. Das Verhältnis von Mt 10,5b.6 und Mt 28,18-20 unter dem Aspekt der Komplementarität. Erwägungen zum Standort des Matthäusevangeliums, ZNW 91 (2000), 18-44. 33 Vgl. Stegemann, Juden, 56 u.ö. 34 Ebd., 58ff. 35 Vgl. A. von Dobbeler, Glaube als Teilhabe. Historische und semantische Grundlagen der paulinischen Theologie und Ekklesiologie des Glaubens (WUNT 2/ 22), Tübingen 1987. 36 Vgl. ebd., 244-248. 37 Vgl. ebd., 248-251; anders als das Verhältnis zu den Heiden bestimmt Paulus freilich die Beziehung zu Israel nicht allein durch Abgrenzung, sondern im Sinne einer differenzierten Identität. 38 Vgl. ebd., 133ff. 166-170. 39 Einen besonderen Akzent gewinnt die gemeindesoziologische Bedeutung von pistis bei Paulus noch dadurch, dass die Rede von den »Hausgenossen des Glaubens« in Gal 6,10 darauf zu deuten scheint, dass Paulus pistis sowohl in vertikaler (als Ausdruck eines neuen Gottesverhältnisses) als auch in horizontaler Hinsicht (als Ausdruck eines die Gemeindeglieder verbindenden Treueverhältnisses) für das wesentliche Identifikationsmerkmal christlicher Gemeinden verstehen konnte; vgl. von Dobbeler, Glaube, 251-273. ZNT 8 (4. Jg. 2001) 47 Axel von Dobbeler Wo liegen die Wurzeln des christlichen Antijudaismus?
