ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
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Dronsch Strecker VogelAeneas und Abraham. Paulus unter dem Aspekt der Latinität?
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Dieter Georgi
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ZNT 10 (5. Jg. 2002) 37 1. Voraussetzungen Die folgenden Überlegungen werden die phänomenologischen und die typologischen Möglichkeiten der Gestalt des Aeneas in ihrer Vergleichbarkeit mit Abraham darstellen und ihre Verwendbarkeit für die Paulusexegese darlegen. Dies wird im Zusammenhang der hellenistisch-römischen Kultur geschehen. Wenn eine solche Vergleichbarkeit denkbar wird, dann konnte auch sie für die hellenistisch-jüdische Synagoge relevant sein und damit für einen ihrer bedeutendsten Söhne, Paulus. Mit ihm käme dann auch sein Publikum in den Gesichtskreis der Bedeutsamkeit dieses Vergleichs, denn Hörerinnen und Hörer, Leserinnen und Leser von Wort und Schrift des Paulus waren wesentlich durch die hellenistische Diasporasynagoge bestimmt, und dieser Einfluß schloß auch die heidnische Öffentlichkeit des Paulus mit ein. Paulus und die auf ihn Hörenden und ihn Lesenden haben dann unter dem Eindruck solcher Intertextualität gestanden und der Verfasser ebenso wie Adressatinnen und Adressaten von Gal 3 and Röm 3 könnten die in diesen Texten zu verhandelnden Themen unter Perspektiven betrachtet haben, die in der gegenwärtigen Exegese normaler Weise nicht in Betracht gezogen werden. Die Möglichkeit, Aeneas in den geschichtlichen Horizont der paulinischen Exegese einzubeziehen, resultiert aus folgenden Beobachtungen: Die Diasporasynagoge zur Zeit des Paulus war durch den durchaus gegenseitigen Kontakt und Dialog mit römischer Politik, Wirtschaft und Kultur bestimmt. Beide Seiten in diesem Dialog waren durch Religion und Ideologie geprägt. Die Erfahrungen, die man mit der hellenistischen Umwelt gemacht hatte, setzte man mit der römischen fort, die über weite Strecken bewußt die hellenistische Tradition fortsetzen und vollenden wollte. Die beiden bedeutsamsten Zeugnisse für diesen engen und fruchtbaren Kontakt sind einmal die Privilegien, die den Juden von den Römern garantiert wurden. Wir wissen darum vor allem durch Josephus. Dazu kommt als zweites sprechendes Zeugnis die positive, stellenweise sogar euphorische Wertschätzung, die die Caesaren vor Caligula aus jüdischem Munde bzw. aus jüdischer Federn durch Philo erhielten. Abraham und die drei Engel. Gemälde von Lucas van Leyden (1513). Rom, der Ort, an den der letzte uns erhaltene Brief des Paulus adressiert wurde, war nicht nur die Hauptstadt des römischen Imperiums und damit der Mittelmeerwelt und ihrer Randgebiete, sondern war auch zur Zeit des Paulus als Sitz der Caesarenreligion fest etabliert. Diese war um die Mitte des ersten Jahrhunderts, der Zeit der Wirksamkeit des Paulus, nicht länger nur der offizielle Kult, von den gemeinen Leuten in den Städten und Provinzen außerhalb Roms weit entfernt, sondern - nicht zuletzt als Konsequenz erfolgreicher Manipulation - Objekt allgemeiner Faszination der Menschen des Imperiums insgesamt, in Zum Thema Dieter Georgi Aeneas und Abraham. Paulus unter dem Aspekt der Latinität? 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 37 38 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Zum Thema der Tat eine praktizierte Religion von einiger Popularität, die sogar Spuren einer Mysterienreligion entwickelt hatte, wie es der Verfasser der Johannesapokalypse widerwillig konzediert. In der Provinz Galatien waren die Errichtung von Augustustempeln und die Etablierung ihrer Priester die offenkundigste Demonstration des römischen Willens, die Caesarenreligion dort als Mittelpunkt eines grandiosen soziopolitischen und soziopsychologischen Experiments einzurichten, eines Experiments, das Augustus in dieser so merkwürdig zusammengesetzten Provinz begonnen hatte. Der Erfolg dieses Experiments in der Provinz war gemischt. Kleinasien insgesamt, besonders sein westlicher Teil, war tatsächlich besonders eifrig in seinem Interesse an der Caesarenreligion und ihrer Ausübung. Das findet so gut wie keine Beachtung in der Diskussion der missionarischen Aktivität des Paulus in dieser Halbinsel und in der Interpretation seines Briefs an die Galater. Überhaupt hat neutestamentliche Auslegung bislang nicht ausreichende Notiz von der Tatsache genommen, daß das Evangelium des Augustus, die ›Res Gestae Augusti‹, ein nicht nur politisches, sondern eindeutig auch theologisches Dokument, von Paulus in solchen kleinasiatischen Städten angetroffen und gelesen wurde, die einen Augustustempel besaßen, und deren gab es eine ganze Anzahl. Dieses Evangelium des Augustus war ja nicht nur in seiner lateinischen Fassung im Innern der Tempel inschriftlich verewigt, sondern es fand sich auch eine griechische Übersetzung auf der Außenseite der jeweiligen Tempelbauten, für Paulus also deutlich lesbar und verstehbar, unmöglich zu übersehen. Paulus, ebenso wie die Adressatinnen und Adressaten seiner Briefe und seine Gemeinden, ebenso wie die Juden in der mediterranen Diaspora mußten die Details dieses bedeutenden theologischen Dokuments kennen. Die Paulusexegese muß diese Bedingungen der wirklichen Leserinnen und Leser des Paulus und ihre möglichen Assoziationen und Reaktionen als Bewohner und Bewohnerinnen des ›Imperium Romanum‹ mit seiner aktiven, geradezu aggressiven Ideologie stärker beachten. Die ›Res Gestae Augusti‹ und ihr traditionsgeschichtlicher Kontext wollen in den engeren Bereich neutestamentlicher Intertextualität mit einbezogen werden. Die Bedeutung dieses allgegenwärtigen »kaiserlichen« Texts für die Paulusbriefe ist schon allein deshalb offenkundig, weil in ihrer von Paulus und seinem Publikum sicher überall wahrzunehmenden griechischen Übersetzung an den Außenwänden der Augustustempel die Begriffe dikaiosynee und pistis mehrfach vorkommen, Begriffe, die auch für die Pauluskorrespondenz bedeutsam sind. Auch epieikeia (Schicklichkeit), aretee und eireenee, dem Paulus gleichfalls nicht unvertraute Termini, finden sich in den ›Res Gestae‹. »Friede« und »Frieden schaffen / stiften« sind von wesentlicher Bedeutung für das Evangelium des Augustus. Wenngleich der Begriff »Friede« bei Paulus nicht häufig ist, so taucht er doch an prominenten Stellen auf, nicht zuletzt in den Briefen an die Galater und die Römer. Es ist weiter von großer Wichtigkeit für unsere Überlegungen, daß Troas im Nordwesten von Kleinasien, eine der Brückenköpfe der missionarischen Aktivität des Paulus, wie Philippi und Korinth eine Kolonie römischer Veteranen war. Troas und Korinth waren in besonderer Weise mit Julius Caesar verbunden, während Philippi mit »Überhaupt hat neutestamentliche Auslegung bislang nicht ausreichende Notiz von der Tatsache genommen, dass das Evangelium des Augustus, die ›Res Gestae Augusti‹, einem nicht nur politischen, sondern eindeutig auch theologischen Dokument, von Paulus in solchen kleinasiatischen Städten angetroffen und gelesen wurde, die einen Augustustempel besaßen, und deren gab es eine ganze Anzahl.« 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 38 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 39 Dieter Georgi Aeneas und Abraham. Paulus unter dem Aspekt der Latinität? Octavius Augustus verknüpft war. Der hatte aber auch viel für Troas getan. Troas und Philippi hatten andererseits aber auch eine enge Beziehung zur Alexandertradition und Alexanderideologie, von Julius Caesar ebenso wie von Augustus sehr geschätzt, geradezu verehrt, und nicht ohne Einfluß auf ihre Propaganda und ihre politische Praxis. Nicht nur die Stadt (Alexandria) Troas, sondern auch das ganze Gebiet, ebenfalls Troas genannt, war seit homerischen Zeit voller Gedenkstücke an Aeneas, den Sohn des Anchises und Vater des Ascanius. Aeneas war der Mittelpunkt einer Sagentradition gewesen, die über die Jahrhunderte nicht nur in Etrurien, Rom und Italien sondern auch an der kleinasiatischen Küste gewachsen war. Von dort hatte sie ihren Ausgang genommen, und dort wurde sie durch die neuen römischen Herren, besonders seit Julius Caesar und Octavius Augustus, wiederbelebt und vorangetrieben. Beide Repräsentanten des julischen Hauses hatten ihre Familie zurück verfolgt bis auf Julus, ein anderer Name für Ascanius, den Sohn des Aeneas. Die beiden ersten Caesaren liierten sich also genealogisch mit Aeneas. Julius Caesar hatte geplant, entweder Alexandria Troas oder das benachbarte Ilion, den Ort des alten Troia, zu seiner neuen Hauptstadt zu machen. Als Alexander über zweihundert Jahre zuvor die homerische Tradition über Troia durch einen Besuch dieses berühmten Ortes wieder belebte, betonte er die gloriose griechische Seite der Geschichte. Die Römer betonten statt dessen mehr die trojanische Tragödie selbst, die Erfahrung der Unterlegenen und die Rettung des Aeneas und eines Teils der Familie aus der brennenden Stadt. Ursprünglich hatte Augustus, als er die Nachfolge Julius Caesars antrat, die Absicht, die Hauptstadtpläne seines ermordeten Adoptivvaters weiter zu verfolgen. Dann aber begrenzte er seine Absichten darauf, Troas in eine römische Kolonie zu verwandeln. Augustus machte die ursprünglich mit der Troas verknüpfte aber dann auch in Italien lebendige Aeneastradition zu einem wesentlichen Teil des von ihm geformten Caesarenkults und der aus diesem herauswachsenden Caesarenreligion. Teil dieser Überlieferung von Aeneas war die Verheißung des Poseidon, daß Aeneas Herrschaft gewinnen würde, zuerst über Troas, dann über Rom, das ›Imperium Romanum‹ und schließlich über die ganze Welt. Diese Tradition wanderte von Troas aus ins Ausland. Seit Augustus gewann die Aeneassage kanonischen Charakter und fungierte als offizielle Gründungsideologie der Stadt Rom. Sie überschattete sogar die Sage von Romulus und Remus, die bereits viel früher den gleichen Zweck hatte, nämlich als Gründungssage zu wirken. Diese Entwicklung war nicht nur der Vermittlung des Vergil zu verdanken. Bereits das ›Carmen Saeculare‹ des Horaz demonstrierte, daß Aeneas nicht nur ein wesentliches Symbol des Caesarenkults geworden war, sondern auch zu seiner Form als Religion gehörte, die die Massen ansprechen sollte und tatsächlich auch bewegte. Die Aeneis des Vergil erhielt in den Lehrplänen der Schulen schnell einen der Ilias und der Odyssee des Homer gleichen Rang. Sie wurde so etwas wie das Dieter Georgi Dieter Georgi, Jahrgang 1929, promovierte und habilitierte sich in Heidelberg. 1966 Professor für Neues Testament am San Francisco Theological Seminary in San Anselmo und an der Graduate Theological Union in Berkeley/ Kalifornien. 1969 Frothingham Professor of Biblical Studies an der Harvard University/ Divinty School. Seit 1983 bis zu seiner Emeritierung 1996 Professor für Neues Testament an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt/ Main. 1987 Gründungsdekan des Fachbereichs Evangelische Theologie an der Frankfurter Universität. Zahlreiche Veröffentlichungen, aufgelistet in: L. Bormann, u.a. (Hrsg.), Religious Propaganda and Missionary Competition in the New Testament World. Essays Honoring Dieter Georgi (Supplements to Novum Testamentum 74), Leiden u.a. 1994. 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 39 40 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Zum Thema Neue Testament im Verhältnis zu den homerischen Epen, die gleichsam die Rolle eines Alten Testaments für die Caesarenreligion einnahmen. Schließlich ersetzte die Aeneis sogar das doppelte Epos des Homer, die Bibel des Hellenismus. 2. Vergleich von Abraham- und Aeneastraditionen Es ist bemerkenswert, wie sehr Abraham und Aeneas vergleichbar sind, besonders, wenn man sich nicht auf die ausgesprochen kanonischen Texte beschränkt, das Buch Genesis und die Aeneis, sondern die hellenistisch-römischen und die hellenistisch-jüdischen Traditionen mit einbezieht. Beide, Aeneas und Abraham, sind Patriarchen, Gründungsväter ihrer Völker, der Israeliten bzw. der Juden auf der einen Seite, der Römer auf der anderen Seite. Es ist ebenfalls beachtenswürdig, daß die Behauptung der Beziehung beider Männer zu »ihren« Völkern in gewisser Hinsicht ungenau ist, denn Abraham war anfänglich genauso wenig ein Israelit wie Aeneas zu Anfang ein Römer. Der erstere war ursprünglich ein Chaldäer, der zweite ein Trojaner. Beide, Abraham und Aeneas, waren also in bezug auf die sie beerbenden Völker Ausländer, in gewisser Hinsicht sogar nicht von dem gleichen Glauben. Abraham ebenso wie Aeneas repräsentieren das Motiv des Wanderns, aber auch das Phänomen der Fremde und der Fremdheit und zwar als konstitutive Elemente, nicht nur als anthropologisches sondern vor allem auch als gesellschaftliches Konstituens. Sie teilen das nicht nur mit Herakles und Odysseus, sondern auch mit anderen Heroen der mediterranen und auch der vorderasiatischen Sagen, nicht zuletzt dem Gilgamesch, was belegt, daß es sich dabei um fundamentale Faktoren im kulturellen Selbstverständnis der mediterranen und der vorderorientalischen Welt handelte. Aeneas spiegelt aber in der Überlieferung nicht einfach nur die odysseischen Züge des Wanderers, sondern er ist noch stärker als Odysseus und auch als Abraham bedroht durch Gefahr und Katastrophe. Andererseits zeigen sich in der Geschichte des Aeneas auch weit mehr als in der des Odysseus die positiven Zeichen von Rettung und Heil. Die Aeneassage belegt auch noch mehr als die Abrahamssage 1 die gegenseitige Beziehung von Fremdheit, Prophetie und Unsterblichkeit - auf dem Hintergrund solcher echten Bedrohung und Entfremdung, ja Katastrophenerfahrungen. Das Thema der Überwindung des Todes wird im Aeneaszyklus weiter entwickelt in Richtung auf Unsterblichkeit und Aufstieg / Himmelfahrt unter anderem unter dem Begriff des ›Aeneas Indiges‹. Aeneas und Abraham teilen verschiedene bedeutsame Charakteristika und Funktionen mit anderen Gründerpersönlichkeiten, die in der hellenistischen Welt sagenhafte Bedeutung gewonnen hatten. Solche Gestalten waren für die gesellschaftliche, kulturelle und religiöse Verfassung in hellenistisch-römischer Kultur und die in ihr vertretene und gepflegte politische Identität von wesentlicher Tragweite. Das Judentum der damaligen Zeit, nicht nur das der Diaspora, wurde ebenfalls durch solche Interessen bestimmt. Diese Gründergestalten repräsentierten oft in heroischer Form das Vertrauen in die Mission und die Verheißung ihrer Nachfahren, Nachfolger und Nachahmer, kurz gesagt: ihrer Erben. In ihrer Funktion als Beispiele symbolisierten Aeneas und Abraham ebenso gut wie andere Gründerpersönlichkeiten der mediterranen Subkulturen die Beauftragung und die Vision des religiösen und politischen Erbes der Kultur, auf die sie sich bezogen, demonstrierten deren Potential. Was die jeweilige Subkultur vertrat und vermochte, wurde durch diese antiken Gestalten typisiert, und zwar auf eine ebenso faszinierende wie engagierende und herausfordernde Weise. Hinterlassenschaft wurde hier nicht nur in dem Sinn von Gegebenem verstanden, sondern auch im Sinn von Ausstrahlung und Forderung, eine vergrößerte Form von Inklusivität also, geradezu mit Werbecharakter. Mit dieser Form von Konzentration wurde die ganze Welt in den Blick genommen. Universale Repräsentation gehörte zu diesem Verständnis von Erbe in den hellenistischrömischen Subkulturen, das Judentum mit eingeschlossen. Abraham und Aeneas wurden beide für ihre Mission von der Gottheit ausgewählt. Beide wurden unter eine Verheißung gestellt, die sich über alle Zeiten hinaus erstreckte. Sie versprach nicht nur persönlichen Schutz für sie selbst, ihre unmittelbaren Familien und ihre direkten Nachkom- 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 40 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 41 Dieter Georgi Aeneas und Abraham. Paulus unter dem Aspekt der Latinität? men, sondern sie verhieß auch ihren späteren Erben Größe, nicht nur in Zahlen sondern auch an Bedeutung. In beiden Fällen erstreckte sich die Bedeutung der Gründerväter zusammen mit ihren Erben, die sehr viel späteren eingeschlossen, auf die ganze Welt. Die durch sie begründeten Völker und Religionen erhielten Heilsbedeutung für die Menschheit. In den Texten werden beide, Abraham und Aeneas, durch Gottesfurcht, Gehorsam, Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit ausgezeichnet, durch Glaubwürdigkeit und Gerechtigkeit, kurz gesagt: sie sind fromm. Die Frömmigkeit des Abraham ist beinahe sprichwörtlich, besonders in der Diasporasynagoge. Geradezu schlagwortartig wird sie im Fall von Aeneas. Seine Überlieferung ist des Lobes voll von seiner ›pietas‹ / eusebeia. Er ist eben ›pius Aeneas‹. 2 Bei Philo von Alexandrien zeigt sich wie sehr die Gestalt des frommen Abraham in dem Licht des Themas »Wanderung unter der Verheißung« gesehen werden kann. Dasselbe trifft auf die Schilderung des Aeneas zu, vor allem in der Darstellung des Vergil. Aeneas erreicht schließlich wie Abraham das verheißene Land. Aeneas ebenso wie Abraham bringt seine Familie in die neue Heimat. Im Fall von Aeneas ist das sein Vater zusammen mit Ascanius / Julus, seinem Sohn, dem Gründer einer Dynastie auf fremdem Boden. Die Erzählung beider Heroen ist voll der Beweise der Frömmigkeit beider, erprobt und bewiesen in mannigfachen Versuchungsszenen, die sie auf ihren Wanderungen bzw. Irrfahrten zu überstehen haben. Nie sind sie völlig zuhause, Aeneas noch weniger als Abraham. In diesem Wanderleben erfahren sie nicht nur Versuchung sondern auch ständigen Schutz durch die Gottheit. Aber auch Gefährdung durch die Gottheit ist Teil ihrer Mühen. Im Falle Abrahams ist das zwar nicht so ausgebreitet wie bei Aeneas. Aber das Motiv der Bedrohung findet sich auch bei ihm, nämlich indirekt bei der Zerstörung von Sodom und Gomorrha und bei der Gefährdung der Ahnfrau Sarah in Ägypten, vor allem aber unmittelbar in der ›Aqeda‹ des Isaak. Im Fall des Aeneas haben wir dessen Erfahrung des andauernden Fluchs der Hera. Dieser wirkt sich nicht nur an ihm selbst aus sondern auch indirekt an anderen und durch andere, Natur wie Menschen. Ein wesentlicher Faktor beim Bewahren solchen Erbes und Durchführung solcher Mission ist in beiden Gründertraditionen das Festhalten an der durch die Tradition vermittelten Aufgabe. In solchem Festhalten treffen sich göttliche und menschliche Loyalität - für hellenistisches und noch mehr für römisches Bewußtsein eine Realisierung von pistis bzw. ›fides‹ als einer Mischung von Vertrauen und Loyalität, jeweils bilateral and gegenseitig, sowohl von der Seite der Gottheit her wie auch von der des Heros. Es ist auch nicht unwichtig, daß das lateinische Synonym für pistis, ›fides‹, in seiner absoluten Form ein bedeutender Begriff in augusteischer und nachaugusteischer Latinität geworden war. ›Fides‹ war eben eine Gottheit und Augustus hatte ihren Kultus wieder an vielen Orten eingeführt und Tempel für sie bauen lassen. Er hatte ›fides‹ auch zu einem wesentlichen Element der Caesarenreligion gemacht. Der lateinische Begriff ›fides‹ entsprach fast durchweg der Bedeutungsbreite seines griechischen Synonyms, jedoch mit starker Betonung seiner rechtlichen Dimensionen. Die Leserinnen und Leser des Paulus mußten an die vielen Verweise auf und Darstellungen von ›fides‹ / pistis im Rom und in den römischen Provinzen denken, wenn sie die Predigt des Paulus hörten und seine Briefe lasen, wo der griechische Begriff so häufig und wichtig ist. Aber diese Umwelt mit ihren Assoziationen erinnerte das Publikum ganz selbstverständlich an die Perspektive des Rechts, sowohl in seinen privat- und vertragsrechtlichen wie auch in seinen staatsrechtlichen und religionsrechtlichen Aspekten. Gerade auch in ihrer rechtlichen Bedeutung stand die pistis / ›fides‹ unter göttlichem Schutz, in ihrem Verhältnis zu der Gotttheit ebenso wie in »In den Texten werden beide, Abraham und Aeneas, durch Gottesfurcht, Gehorsam, Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit ausgezeichnet, durch Glaubwürdigkeit und Gerechtigkeit, kurz gesagt: sie sind fromm.« 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 41 42 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Zum Thema dem Verhältnis zu den Menschen. Und - das ist für das Paulusverständnis sehr wichtig - pistis / ›fides‹ beruhte auf göttlichem Vorbild. 3 Die Aeneas- und Abrahamüberlieferungen erzählen auch, wie die beiden Helden der Vorzeit in ihren vielfältigen Erfahrungen des göttlichen Schutzes, in Versuchungen und Kämpfen ebenso wie in ihren Siegen ihre königlichen Charakter beweisen, ihre königliche Berufung und Rolle. Bei Aeneas ist das ganz offenkundig. Aber auch im Fall der Abrahamssage liegt das Königsmotiv nicht weit. Die Melchisedekepisode in Gen 14 ist nur das prominenteste Beispiel. Diese Vorstellung von Abraham als königlichem Menschen ist der jüdischen Missionstheologie wichtig. Sie hat dieses Motiv weiter ausgebaut. Sie macht Abraham beispielsweise zum König von Damaskus. Abraham- und Aeneasüberlieferungen haben die beiden auch nicht ganz ohne Spuren prophetischer Fähigkeiten gelassen, durchaus in Übereinstimmung mit hellenistisch-römischer Königsideologie. Diese römische Münze zeigt auf der Vorderseits Venus, die Mutter von Aeneas, und auf der Rückseite Aeneas sowie die Inschrift »Caesar«. Diaspora-Judentum und das Römertum des ersten Jahrhunderts machten Abraham und Aeneas nicht nur zu ihren Gründervätern sondern auch zu Ecksteinen der jüdischen ebenso wie der römischen Religion als Weltreligionen, mit der LXX und der Aeneis als ihren kanonischen Ausdrucksformen. Beide, Abraham und Aeneas, wurden aber verstanden und repräsentiert als Menschen, die in diese jeweilige Religion, die jüdische und die römische, erst in ihren Mannesjahren hineingekommen waren, in die Religion, die ihre späteren Erben verbreiten sollten. Das trifft nicht nur auf Abraham in Gen 12 zu, sondern auch Vergil macht eindeutig den Aeneas zum Anhänger und Verbreiter der Caesarenreligion in seiner augusteischen Form. Beide waren je sozusagen die ersten Konvertiten dieser zukünftigen Religionen. Damit wurde ausgesagt, daß diese beiden Religionen von ihren Anfängen her als Missionsreligionen verstanden werden wollten. Abraham und Aeneas repräsentieren ebenso wie andere Vorväter der hellenistischen Welt jeder für seine Kultur bzw. genauer gesagt: Subkultur, die wesentlichen Voraussetzungen, unter denen Menschen leben und handeln sollen. Im Falle Abrahams ist diese Wirklichkeit eine des Herzens, nämlich die des Vertrauens. Um Vertrauen geht es auch im Fall des Aeneas. In der von ihm repräsentierten Welt richtet sich dieses Vertrauen aber mehr auf Stärke und Macht. Damit sind wesentliche Unterschiede zwischen beiden Gestalten und denen durch sie symbolisierten Subkulturen angezeigt und damit auch wesentliche Unterschiede hinsichtlich des sich in ihnen spiegelnden Verständnisses der für wirklich gehaltenen Basis von Religion, Kultur und Politik, oder auch im Sinne dessen, was man unter einem die Menschheit wirklich einigenden Band verstand. l Anmerkungen 1 Und tut dies repräsentativ besonders für römische, aber auch bis zu einem gewissen Grade für hellenistische Kultur. 2 Für die römische Kultur avisierte ›pietas‹ eine wesentlich patriarchalische Funktion, patriarchalisch im ursprünglichen Sinn, nämlich auf den oder die Vorväter »Diaspora-Judentum und das Römertum des ersten Jahrhunderts machten Abraham und Aeneas nicht nur zu ihren Gründervätern sondern auch zu Ecksteinen der jüdischen ebenso wie der römischen Religion als Weltreligionen, mit der LXX und der Aeneis als ihren kanonischen Ausdrucksformen.« 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 42 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 43 Dieter Georgi Aeneas und Abraham. Paulus unter dem Aspekt der Latinität? bezogen. Die pietas meinte im Römischen das pflichtgerechte Verhalten gegenüber Gott und Welt, wie es sich in nicht nur dem pflichtgerechten Verhalten gegenüber den Göttern, sondern auch gegenüber verstorbenen, lebenden und noch ungeborenen Verwandten äußert, natürlich auch gegenüber der Gesellschaft, der ›res publica / patria‹. ›Pietas‹ wird so auch neben ›fides‹ und ›virtus‹ kultisch verehrt. Sie gehört mit diesen beiden Größen zusammen zu den wesentlichen Programmpunkten der Caesarenreligion. 3 Zweitausend Jahre christlicher Sozialisierung haben glaubende und nichtglaubende Leserinnen und Leser des Neuen Testaments gegen viele Optionen des Verstehens immunisiert, die für Schreib- und Leseseite der neutestamentlichen Zeit selbstverständlich waren. Wir können uns heute kaum noch vorstellen, daß Paulus etwas anderes als »Glaube« im Sinn gehabt kann, wenn er von pistis redete oder schrieb. MAINZER HYMNOLOGISCHE STUDIEN A. Francke Verlag Tübingen und Basel Ansgar Franz (Hrsg.) Kirchenlied im Kirchenjahr Fünfzig neue und alte Lieder zu den christlichen Festen Mainzer Hymnologische Studien 8, 2002, XIV, 579 Seiten + CD, geb. 48,-/ SFr 79,30 ISBN 3-7720-2918-3 Worüber man sprechen kann, darüber soll man singen ... Der Band “Kirchenlied im Kirchenjahr” präsentiert 50 Lieder aus 16 Jahrhunderten in Text und Melodie und mit erschließendem Kommentar. Kristallisationspunkte sind die christlichen Feste und ihre Vorbereitungszeiten. Indem der Band die Zeiten des Kirchenjahres abschreitet, erschließt er zugleich den christlichen Glaubenskosmos in seiner poetischen Dimension. 53 Kommentatorinnen und Kommentatoren konnten für die musikalische, philologische, theologische und kulturgeschichtliche Erschließung gewonnen werden. Der Band verbindet Wissenschaft und Praxis: Die Leser finden fundierte Informationen und eine Fülle von Anregungen, gerade im Bereich des modernen Kirchenliedes. So ist der Band - nicht zuletzt durch die beigefügte CD, auf der ausgewählte Lieder zum Klingen kommen - ein Gewinn für alle, die sich wissenschaftlich und praktisch mit dem Kirchenlied beschäftigen, und eine Empfehlung an jene, die Musik und Dichtung lieben. Johannes Block Verstehen durch Musik: Das gesungene Wort in der Theologie Ein hermeneutischer Beitrag zur Hymnologie am Beispiel Martin Luthers Mainzer Hymnologische Studien 6, 2002, X, 246 Seiten, 48,-/ SFr 79,30 ISBN 3-7720-2916-7 Der Titel “Verstehen durch Musik” bringt die Summe des Buches auf eine kurze Formel: das gesungene Wort der Kirche wird als eine Schule des Verstehens in Erinnerung gerufen. Die Grundfrage lautet, inwiefern im gesungenen Wort theologisches Verstehen als ein personales Ergehen lebendig und leibhaftig wird. Vornehmlich am Schrift- und Musiktheologen Martin Luther wird gezeigt, daß der Gesang und Klang des Wortes sinnerschließende Kraft hat und demnach von hermeneutischem Rang ist. Das Buch arbeitet an der für geistliches Verstehen fruchtbaren Schnittstelle von Theologie, Hymnologie, Liturgie und Kirchenmusik. Es öffnet den Sinn für die Frage, inwiefern das theologische Verstehen auf dem Spiel der Musik steht, und mündet in dem Forschungsfeld einer neuartigen “hermeneutischen Hymnologie”. Die Arbeit wurde mit dem Preis der Hans-Werner-Surkau-Stiftung, Marburg, ausgezeichnet. 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 43