ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
121
2002
510
Dronsch Strecker VogelZur Entstehung (und zur Überwindung) des christlichen Antijudaismus, 1. Teil
121
2002
Michael Bachmann
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44 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 1. Teil Die Kontroverse zwischen H.-F. Weiß und A. von Dobbeler in ZNT 8 hinsichtlich matthäischer und, allgemeiner, frühchristlicher Ermöglichung von christlichem Antijudaismus 1 bringt wichtige Momente zur Sprache. Auffälliger als die Differenzen zwischen diesen Voten 2 scheint mir, dass beide Autoren jedenfalls in einem zentralen Punkt ähnlich urteilen: Christlicher Antijudaismus knüpft nach ihnen früher oder später an innerjüdische Kontroversen an, in welche das älteste Christentum als eine zunächst rein jüdische Gruppe in seiner Auseinandersetzung mit anderen jüdischen Gemeinschaften - und Institutionen - involviert war. 3 Obwohl ich diesem partiellen Konsens der Sache nach weithin zustimmen kann, meine ich doch einer - in unterschiedlicher Akzentuierung vertretenen - weiteren Gemeinsamkeit dieser Exegeten gegenüber Skepsis äußern zu sollen, nämlich gegenüber beider Redeweise von den »Wurzeln« des oder eines christlichen Antijudaismus. 4 Derartige Formulierungen sind m.E. der hermeneutischen Klärung nicht sonderlich zuträglich. Die Metapher suggeriert ja die Zugehörigkeit solcher »Wurzeln« zu dem, was da entsteht oder schon dasteht, d.h. zur »Pflanze« oder zum »Baum« Antijudaismus. Dementsprechend betont Weiß so etwas wie eine Kontinuität zwischen matthäischen »Ansätzen« und späteren, noch stärker verallgemeinernden Aussagen - z.B. über die »Heuchelei« der Pharisäer (vgl. nur Mt 23,27f.). 5 Und von Dobbeler, der den hermeneutischen Aspekten mehr Raum gibt, zitiert nicht nur zustimmend I. Broers Aussage: »Nach dem Holocaust kann niemand mehr ausschließlich aus wissenschaftlicher Distanz heraus über antijüdische Texte oder Tendenzen sprechen, erst recht nicht in Deutschland. Auch ist eine rein synchrone Betrachtung der alten antijüdischen Texte des Neuen Testaments nicht mehr erlaubt - wir können bei der Betrachtung dieser Texte von ihrer Wirkungsgeschichte nicht absehen.« 6 Von Dobbeler, dem bei diesem Zitat wohl weniger an der Wendung von den »alten antijüdischen Texten des Neuen Testaments« gelegen ist als eben an der hermeneutischen Intention, formuliert im Zusammenhang damit überdies sein »methodisches Prinzip: Bei der Frage nach den Wurzeln des christlichen Antijudaismus ist stets der lectio difficilior der Vorrang zu geben«. 7 Es wird sodann 8 gerade auch auf O. Michels These bezogen: »Der Weg zum ›christlichen Antisimitismus (sic)‹, der so verhängnisvoll für viele Kreise des deutschen Volkes wurde, arbeitet mit einem Mißverständnis der urchristlichen Polemik und ist eine Schuld vor allem am Evangelium selbst.« 9 Das Prinzip von der lectio difficilior »verbietet« nämlich, so von Dobbeler, diesen »von allzu durchsichtigen apologetischen Motiven getragene[n] Verweis darauf, ... dass die Anfänge [des Christentums] ... ›rein‹, d.h. nicht antijudaistisch waren« 10 - und das, obwohl historisch gelte: »Hinter letzterer [nämlich Michels] These steht ... die durchaus zutreffende Einschätzung, dass sich im Zuge des Prozesses, der schließlich zum ›Auseinandergehen der Wege‹ führte, qualitativ die entscheidende Wende vollzogen haben muss: nämlich von einer ... innerjüdischen Auseinandersetzung, die in traditioneller Weise mit harten Bandagen geführt wurde, zu einer ›von außen‹ an das Judentum bzw. die Juden gerichteten Polemik, die sich ... nicht nur zur schroffen Verurteilung des ›alten‹ Gottesvolkes, sondern auch zu dessen Enterbung legitimiert sah.« 11 Es sei trotz dieser Wende indes - angesichts der »Falle einer vorschnellen Apologetik« 12 - im Sinne einer gewissen Kontinuität »mindestens ebenso bedeutsam festzuhalten, dass sich der christliche Antijudaismus aus Texten und Thesen ›genährt‹ hat, die ursprünglich nicht antijudaistisch gemeint waren.« 13 2. Teil Freilich, bei dieser mit der Wurzel-Metapher verbundenen Auffassung von einer nicht unerhebli- Zum Thema Michael Bachmann Zur Entstehung (und zur Überwindung) des christlichen Antijudaismus 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 44 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 45 Michael Bachmann Zur Entstehung (und zur Überwindung) des christlichen Antijudaismus chen Kontinuität zwischen urchristlicher - innerjüdischer - Polemik und christlichem Antijudaismus kommen, zumindest bei von Dobbeler, 14 historisches Urteil und wertende (theologische) Einschätzung (»Apologetik«) in recht problematischer Weise zusammen, und mag der Apologetik-Verdacht in vielen Fällen auch nicht unbegründet sein, so trifft er doch schwerlich jeden Versuch, neutestamentliche Aussagen als nicht-antijudaistisch zu beschreiben. 15 1. Das zitierte Wort O. Michels zeigt ja, sofern es - gerade im Blick auf »viele Kreise des deutschen Volkes« - von »Schuld ... am Evangelium« spricht, 16 dass die angesprochene Unterscheidung zwischen früheren und späteren christlichen Aussagen nicht nur zu einer (teilweisen) »Freisprechung« des Neuen Testaments, sondern durchaus auch zu einer (weitgehenden) Kritik späterer Christentümer führen kann - bei der dann selbstverständlich nicht allein von »Schuld ... am Evangelium«, sondern auch von Schuld an Millionen von Menschen zu sprechen ist. Eine solche - für viele christliche Erneuerungsbewegungen und natürlich nicht zuletzt für den Protestantismus des 16. Jh.s mit seinem Schriftprinzip (sola scriptura) charakteristische - kritische Funktion wird Bibelauslegung indes nur dann ausüben können, wenn sie die hermeneutische Einsicht, dass die Situation der Leser und Hörer die Interpretation notwendig beeinflusst, nicht zur Immunisierung gegenüber den Textgegebenheiten missbraucht (»Vorurteil«), sondern als Aufforderung zur Unterscheidung versteht, nämlich zwischen diesen Gegebenheiten und der sie bestimmenden Kommunikationssituation einerseits und der Rezeption und den in sie eingehenden Umständen andererseits. Das hat im Übrigen den Vorzug, dass der m.E. zu postulierende Anspruch von Texten und hinter ihnen stehenden Gruppen und Autoren auf gewissenhafte Würdigung hochgehalten wird - und insofern »die Redlichkeit des Historikers«. 17 Und im Blick auf die Rezeption ist zwar kaum zu leugnen, was eine antike Sentenz (Terentianus Maurus) behauptet: Pro captu lectoris habent sua fata libelli (Gemäß der Auffassung / Fassungskraft des Lesers haben Büchlein / Schriftstücke ihre Schicksale); es sollte aber doch zugleich wohl auch als möglich erachtet werden, was die Mediziner- und Apotheker-Regel sagt: Abusus non tollit usum (Missbrauch hebt den [rechten / förderlichen] Gebrauch nicht auf). Noch einmal anders ausgedrückt: Auch und gerade gegenüber ursprünglich nicht-antijudaistischen Texten sollte das Prinzip von einer Priorität der Synchronie geltend gemacht werden - und das a fortiori nach dem Holocaust. 18 2. Was die »Situationen« angeht, in denen derartige des Antijudaismus verdächtige neutestamentliche Texte innerhalb christlicher Gemeinschaften zu verstehen waren und sind, wird man - Michael Bachmann Michael Bachmann, Jahrgang 1946, studierte Evangelische Theologie und Mathematik in Münster. Promotion 1978, ebenfalls in Münster, und Habilitation 1990 in Basel. 1975ff. Assistent am Institutum Judaicum Delitzschianum in Münster, 1978ff. Gymnasiallehrer. Seit 1980 Hochschullehrer an der Pädagogischen Hochschule in Freiburg und seit 1995 Universitätsprofessor in Siegen. 2000 Ablehnung eines Rufs auf den Neutestamentlichen Lehrstuhl an der Universität Aarhus. »Noch einmal anders ausgedrückt: Auch und gerade gegenüber ursprünglich nicht-antijudaistischen Texten sollte das Prinzip von einer Priorität der Synchronie geltend gemacht werden - und das a fortiori nach dem Holocaust.« 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 45 46 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Zum Thema das dürfte einleuchtend sein - idealtypisch zumindest drei Phasen unterscheiden können, deren soziologisches Profil »mengentheoretisch« mit den folgenden Diagrammen grob umrissen sei (siehe Grafik). 19 Die nicht als Ganze, nicht durchgehend - also: die nur partiell - grau hinterlegten Kreisflächen sollen dabei das (in sich mehr oder weniger vielgestaltige) Judentum symbolisieren, die dunklen Zonen entsprechend die Gemeinschaft(en) der Christen (Judenwie Heidenchristen). Gehörten die Christusgläubigen zunächst sämtlich oder doch nahezu ausschließlich zum Judentum (i), galt das bald nicht mehr, ja, die Judenchristen befanden sich ziemlich schnell weithin gegenüber den Heidenchristen in einer recht isolierten Position (ii). Der Holocaust veränderte die Situation insofern radikal, als Millionen von Juden ermordet wurden und der Kreis der Judenschaft so erheblich dezimiert wurde (iii) - und die Christenheit stellte bei der Shoah den Großteil der Täter, von denen, die (insgeheim) zustimmten oder nicht protestierten, ganz zu schweigen. Es kann nicht anders sein, als dass derartig gravierende soziologische Veränderungen, wie sie zwischen den »Situationen« (i) und (ii) sowie entsprechend zwischen (ii) und (iii) zustande kamen, das Verständnis früherer Aussagen betreffen müssen, sofern diese es irgendwie mit Gruppenmerkmalen von Juden, Judenchristen und Heidenchristen zu tun haben. Bei von Dobbeler heißt es in diesem Sinne zu Recht: »Es steht außer Frage, dass es für die Entscheidung, ob ein Text als ›antijudaistisch‹ zu kennzeichnen ist oder nicht, von einiger Bedeutung ist zu klären, von welcher Position aus gegen Juden oder das Judentum polemisiert wird, ob der Standort eines Textes bzw. seines Autors noch intra muros des Judentums liegt oder bereits extra muros.« 20 Es ist indes hinzuzufügen: Auch derart soziologisch relevante polemische Aussagen, die - und das wurde beim ersten Diagramm schon berücksichtigt - gegenüber einem aus Juden- und Heidenchristen gemischten Publikum oder gegenüber einem dominant oder ausschließlich heidenchristlichen Adressatenkreis gemacht werden, können, falls dabei, wie im Römer- und Galaterbrief (s. nur Röm 1,16; Gal 2,15f.), die Verbindung mit der jüdischen Mutter-Gruppe noch selbstverständliche Voraussetzung ist, dann zu erheblichen Missverständnissen führen, wenn mittlerweile die Verschiebung zu »Situation« (ii) erfolgt und dabei jene Selbstverständlichkeit verloren gegangen ist. 21 Mit anderen Worten: Es könnte - jedenfalls hier und da - angemessen sein, eine in »Situation« (i) formulierte polemische Aussage nicht unbesehen den »Wurzeln« des oder eines christlichen Antijudaismus zuzurechnen, vielmehr den soziologischen Wechsel zu »Situation« (ii) und die damit notwendigerweise veränderten Verstehensvoraussetzungen als entscheidend für die antijudaistische Lektüre einzuschätzen. Insofern scheint es - auch wenn Weiß diesen Faktor (bei seinen Bezugnahmen auf Formulierungen von M. Gielen) nicht unberücksichtigt lässt 22 und von Dobbeler das »Hinzukommen von Menschen aus den Völ kern« eigens zu den »Wurzeln des christlichen Antijudaismus« zählt 23 - klug zu sein, vorsichtiger zu verfahren. So meidet B. Schaller eine Redeweise, bei der die angesprochenen polemischen Äußerungen den neutestamentlichen »Wurzeln« des christlichen Antijudaismus zugewiesen werden. Er formuliert stattdessen zurückhaltender: »Antijudaistische Potenz haben Texte des NT ... wirkungsgesch.[ichtlich] entwickelt« 24 - obwohl sie ursprünglich »durchweg binnenjüd.[isch] bedingte Zwistigkeiten und Abgrenzungen« 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 46 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 47 Michael Bachmann Zur Entstehung (und zur Überwindung) des christlichen Antijudaismus reflektierten, »antipharisäisch bzw. antisadduzäisch gemünzt, z.T. auch gegen konkurrierende christl.[liche] Gruppen (›Judaisten‹ ...) gerichtet« waren. 25 Verursacht worden sei diese - offenkundig als ein Zweites, als etwas Sekundäres beurteilte - Entwicklung antijudaistischer Potenz durch eine »sich durchsetzende personelle, institutionelle und ideelle Abtrennung bzw. Ablösung der christl.[ichen] Gemeinden von der jüd.[ischen] Umwelt«. 26 Lässt man die christliche Exegese der letzten Jahrzehnte und der vergangenen Jahrhunderte an seinem inneren Auge vorbeistreichen, wird man wohl urteilen müssen, dass mit und nach dem Geschehen der Shoah, dass - so makaber das ist - erst mit dem neuen Aufmerken auf das jüngste Gegen- und Miteinander von Christentum und Judentum, dass also erst mit »Situation« (iii) langsam deutlicher geworden ist, wie wenig die zuvor, nämlich in »Situation« (ii), bestimmende Perspektive jenen polemischen Äußerungen des frühen Christentums - aus »Situation« (i) - gerecht werden konnte. 27 Es handelt sich auch in der Gegenwart natürlich um einen von Irrungen und Wirrungen nicht freien Prozess der Wieder- Entdeckungen, und zu Hochmut gegenüber den exegetischen Vorfahren besteht kein Anlass, zumal sie trotz ihrer, wenn man so sagen darf, hermeneutisch ungünstigeren Situation, verschiedentlich Spuren aufgewiesen haben, die auf ein angemessenes Verständnis deut(et)en. 3. Teil Dass es sich um einen zwar in den Einzelergebnissen noch durchaus umstrittenen, in der Tendenz indes recht klaren Prozess der Wieder-Entdeckungen handelt, der in den »heidenchristlichen Jahrhunderten« vor dem Holocaust so kaum möglich gewesen ist, sei mit Hinweisen auf einige jüngere Thesen ins Gedächtnis gerufen. 1. A. von Dobbeler plädierte vor kurzem - das hat die Kontroverse, auf die ich hier Bezug nehme, ja ausgelöst 28 - dafür, den »Missionsbefehl« Mt 28,18b-20 und die dortige Erwähnung der »Völker« (V. 19a) so zu begreifen, dass da allein die nicht-jüdischen »Völker«, die gojim, im Blick seien. Den Juden falle, sozusagen in alttestamentlicher Perspektive (s. nur Jes 49,6; Mi 4,1-5), eine besondere Rolle zu, wie die »komplementäre« Formulierung Mt 10,5b.6 (vgl. Mt 15,24) erkennen lasse 29 - in welcher die Negationen »Gehet nicht auf den Weg zu den ›Völkern‹, und betretet nicht eine Stadt der Samariter« dann wie Abgrenzungen gegenüber einer Auffassung wirken, die Juden und Nicht-Juden auf eine Stufe stellt 30 . In einer Zeit, in der man bei »Heiden«, bei gentes, an Nicht-Christen zu denken gewohnt war, wird es nicht leicht gewesen sein, auf eine solche Auslegung zu verfallen. 2. Ähnlich wie »Matthäi am Letzten« wurde in den vergangenen Jahren auch der Abschluss des lukanischen Werks neu interpretiert. So fragten M. Karrer und M. Vahrenhorst, ob das dort, in Apg 28,25b.26f., begegnende Zitat von Jes 6,9f.LXX, mit dem hier fraglos Erfahrungen der Ablehnung der christlichen Botschaft durch Juden (s. nur Apg 28,24.25a) - und Missionserfolge unter Nicht-Juden (s. nur V. 28) - polemisch verarbeitet werden, wirklich, wie herkömmlicherweise ausgelegt wird, die bleibende »Verstockung« Israels belegen solle. Dagegen könne sprechen, dass die Bedeutung des Prophetenworts im zeitgenössischen Judentum nicht auf völlige und bleibende »Verstockung« hin festgelegt worden ist (vgl. bes. 4Q 177 IX,3) und Lukas - der noch in V. 20 Paulus von der ihn bestimmenden »Hoffnung Israels« reden ließ - es nicht mit dem »Es handelt sich auch in der Gegenwart natürlich um einen von Irrungen und Wirrungen nicht freien Prozess der Wieder-Entdeckungen, und zu Hochmut gegenüber den exegetischen Vorfahren besteht kein Anlass, zumal sie trotz ihrer, wenn man so sagen darf, hermeneutisch ungünstigeren Situation, verschiedentlich Spuren aufgewiesen haben, die auf ein angemessenes Verständnis deut(et)en.« 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 47 48 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Zum Thema zuvor mehrfach verwandten Konjunktiv beendet. Er hält sich vielmehr an die futurische Formulierung der Septuaginta: »und ich [Gott] werde sie [die Angehörigen des Volkes der Juden] heilen.« 31 In den Jahrhunderten, in denen Juden von Christen als »Ungläubige« verstanden wurden und im christlichen Raum als »Gottesmörder« und als deshalb heimatlos herumziehend (»ewiger Jude«) galten, lag eine derartige Interpretation schwerlich nahe. 3. G. Schrenk, P. Richardson und ich gaben bzw. geben zu bedenken, dass entsprechend auch gegen Schluss des so polemischen Galaterbriefs 32 das dem »Israel Gottes« Frieden und göttliches Erbarmen wünschende Paulus-Wort (Gal 6,16) nicht, wie in der Regel gedeutet worden ist (und wird), die »Enterbung« des Judentums meine oder doch die Übertragung der Israel-Begrifflichkeit auf Nicht-Juden dokumentiere. Die Formulierung bringe vielmehr (ähnlich wie Röm 11,26) Hoffnung für das jüdische Gemeinwesen - oder doch für bestimmte Juden - zum Ausdruck, 33 dem sich die »Gemeinde Gottes« (Gal 1,13) trotz mancher Verfolgungserfahrung (vgl. Gal 1,13; 4,29; 5,11) verdankt. 34 In einer weithin heidenchristlichen Kirche, welche die entsprechenden jüdischen Friedenswünsche (insbesondere die 19. Benediktion des Achtzehngebets) kaum noch oder gar nicht mehr betend sprach und das Alte Testament typologisch wie christologisch zu lesen gewohnt war, überdies seit Justin, dem Märtyrer, den Israel-Terminus auf sich bezog (Dial 123,7 u.ö.), musste es schwer halten, 35 bei dem auf die Zukunft bezogenen Satz an das »alte« Gottesvolk zu denken. 4. Nachdem schon vor dem Holocaust gelegentlich die Besonderheiten des zuerst im Galaterbrief (Gal 2,16 u.ö.) begegnenden paulinischen Ausdrucks »Werke des Gesetzes« zu der Vermutung geführt hatten, es gehe bei der Wendung um bestimmte Vorschriften, 36 hat vor allem J.D.G. Dunn dafür plädiert, hier nicht mit der abendländischen und besonders der reformatorischen Tradition an »jüdische Werkgerechtigkeit« und an »gute Werke« (oder an deren Gegenteil) zu denken, sondern primär an solche Identitäts- und Grenzmarkierungen des Judentums wie Beschneidung (s. Gal 5,2f.; 6,12f.) und Essensregeln (s. Gal 2,11-14). 37 Während dieser Gelehrte dabei sowohl die betreffenden Vorschriften als auch deren Befolgung im Blick hatte, 38 wurde die These von anderen Autoren, so von J.A. Fitzmyer (1993) und mir (1992), danach etwa auch von R. Bergmeier (2000), (modifiziert und) präzisiert, nämlich eben auf solche Regelungen bezogen, 39 und das nicht zuletzt deshalb, weil die (erst 1994 edierte) Parallele in 4QMMT C27 »precepts of the torah« meinen dürfte. 40 Dann ginge es bei Paulus, sozusagen entgegengesetzt zur Argumentationsrichtung dieses Qumran-Schreibens - möglicherweise ist es ein Brief des »Lehrers der Gerechtigkeit« -, 41 um Polemik gegenüber einer Auffassung, nach der die Hochschätzung gewisser »Halakhot« von erheblicher Relevanz, von Heilsrelevanz ist. Zur Zeit der pelagianischen Streitigkeiten oder der evangelisch-katholischen Auseinandersetzungen über Gnade und »gute Werke«, als jeweils »the introspective conscience of the West« 42 die Auslegung dominierte, wäre eine derartige, primär soziologische Kategorien berücksichtigende Interpretation kaum möglich gewesen. 43 So scheint »Situation« (iii) es zu ermöglichen, bestimmte antijudaistische Auslegungsgewohnheiten, zu denen es mit »Situation« (ii) gekommen ist, zu überwinden und die betreffenden Texte als nicht-antijudaistisch - aber polemisch - neu zu Gesicht zu bekommen. 44 Nicht sie selbst sind dann den »Wurzeln« des oder eines christlichen Antijudaismus zuzurechnen. Dafür ist man eher an die soziologische Wende zwischen den »Situationen« (i) und (ii) gewiesen. »Und für die Überwindung des abendländischen Antijudaismus und Antisemitismus dürfte es hilfreich sein, sich der Kritik durch (sozusagen wieder-entdeckte) frühchristliche Aussagen nicht zu entziehen - ungewollt zu entziehen -, die einen solchen Antijudaismus gerade nicht praktizieren und auch nicht tolerieren.« 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 48 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 49 Michael Bachmann Zur Entstehung (und zur Überwindung) des christlichen Antijudaismus Zusammengefasst: Die lectio difficilior von Dobbelers ist, was die Frage eines frühen christlichen Antijudaismus angeht, bedenkenswert, aber doch wohl zu simpel. Und für die Überwindung des abendländischen Antijudaismus und Antisemitismus dürfte es hilfreich sein, sich der Kritik durch (sozusagen wieder-entdeckte) frühchristliche Aussagen nicht zu entziehen - ungewollt zu entziehen -, die einen solchen Antijudaismus gerade nicht praktizieren und auch nicht tolerieren. l Anmerkungen 1 H.-F. Weiß, Noch einmal: Zur Frage eines Antijudaismus bzw. Antipharisäismus im Matthäusevangelium, in: ZNT 8 ( 2001), 37-41 (vgl. ders., Kirche und Judentum im Matthäusevangelium. Zur Frage des ›Antipharisäismus‹ im ersten Evangelium, in: ANRW II,26,3 [1996], 2038-2098); A. von Dobbeler, Wo liegen die Wurzeln des christlichen Antijudaismus? , in: ZNT 8 (2001), 42- 47 (vgl. ders., Die Restitution Israels und die Bekehrung der Heiden. Das Verhältnis von Mt 10,5b.6 und Mt 28,18-20 unter dem Aspekt der Komplementarität. Erwägungen zum Standort des Matthäusevangeliums, in: ZNW 91 [2000], 18-44). 2 Vgl. dazu K. Erlemann, Einleitung [zur Kontroverse zwischen H.-F. Weiß und A. von Dobbeler], in: ZNT 8 (2001), 35f. 3 S. dazu bes. Weiß, Antijudaismus, 37, und von Dobbeler, Wurzeln, 43f. 4 S. dazu bes. Weiß, Antijudaismus, 37, und von Dobbeler, Wurzeln, 42. 5 S. dazu bes. Weiß, Antijudaismus, 38. 6 Von Dobbeler, Wurzeln, 42, wo zurückgegriffen wird auf I. Broer, Antijudaismus im Neuen Testament? Versuch einer Annäherung anhand von zwei Texten (1Thess 2,14-16 und Mt 27,24f.), in: L. Oberlinner / P. Fiedler (Hg.), Salz der Erde - Licht der Welt. Exegetische Studien zum Matthäusevangelium. FS A. Vögtle, Stuttgart 1991, 321-355, 326. 7 Von Dobbeler, Wurzeln, 42. 8 Ebd., 43. Vgl. u. (bei) Anm. 16. 9 O. Michel, Polemik und Scheidung. Eine biblische und religionsgeschichtliche Studie, in: Jud. 15 (1959), 193- 212, 204. Ähnlich ist in dem unter Kardinal Edward Idris Cassidy von der »Päpstlichen Kommission für die religiösen Beziehungen zu den Juden« erarbeiteten und am 16. März 1998 vorgelegten Dokument »Wir erinnern: Eine Reflexion über die Shoah« (http: / / www.stjosef.at/ dokumente/ shoah-reflexion.htm) mit Worten von Papst Johannes Paul II. davon die Rede, »Antisemitismus und Rassismus« seien »mit den Grundsätzen des Christentums unvereinbar« (bei Anm. 19 [Ansprache an die Jüdische Gemeinde in Straßburg vom 8. Oktober 1988]), auch seien »irrige und ungerechte Interpretationen des Neuen Testaments bezüglich des jüdischen Volkes ... allzu lange Zeit im Umlauf« gewesen (bei Anm. 8 [Ansprache an das Kolloquium über »Die Wurzeln des Antijudaismus im christlichen Bereich« vom 31. Oktober 1997]). Die Wurzel-Metapher wird in diesem Papier hingegen - unter Anspielung auf Röm 11,17f. - an anderer Stelle benutzt, nämlich in dem Aufruf »an unsere katholischen Brüder und Schwestern, sich der hebräischen Wurzel ihres Glaubens wieder bewußt zu werden« (bei Anm. 21). 10 Von Dobbeler, Wurzeln, 42f. 11 Ebd., 43. 12 Ebd., 42. In sie könne man gerade »als christlicher Forscher ... tappen«, also leicht hineingeraten. Vgl. ebd., 44, wo davor gewarnt wird, es könne »der bereits 1978 von David Flusser empfundene Eindruck bestätigt werden, bei den christlichen Bemühungen um eine Auseinandersetzung mit der ureigenen antijudaistischen Tradition handele es sich fast durchweg um Versuche, ›zu beweisen, dass es im Neuen Testament keinen Antijudaismus gibt‹« (Rückgriff auf D. Flusser, Bemerkungen eines Juden zur christlichen Theologie des Judentums, in: C. Thoma, Christliche Theologie des Judentums [CiW V, 4a/ b], Aschaffenburg 1978, 6-32, 28). In der Tat wird man diese Gefahr sehen müssen »dieser Frage nicht ausweichen können« (Flusser, Theologie, 28). Aber die Gefahr darf andererseits nicht den Blick für Indizien trüben, die gegen das Vorliegen von Antijudaismus sprechen. Auch »politische Korrektheit« ist nicht ohne Risiken. Vgl. u. (bei) Anm. 15.44. 13 Von Dobbeler, Wurzeln, 43. 14 S. bes. ebd., 42-44. Vgl. Weiß, Antijudaismus, 38f. 15 Vgl. o. Anm. 12. 16 Beides wird bei von Dobbeler, Wurzeln, 43, nicht mit aufgegriffen (vgl. o. [bei] Anm. 8f.). Übrigens versteht sich (auch) das o. in Anm. 9 genannte katholische Dokument als »ein Akt der Umkehr und Reue« angesichts christlichen Fehlverhaltens (»Sünden«) gegenüber Juden und zudem als »verbindliche Verpflichtung«, »eine neue Zukunft aufzubauen, in der es keinen Anti- Judaismus unter Christen ... mehr geben wird« (bei Anm. 22). 17 Von Dobbeler, Wurzeln, 43. 18 Vgl. zum vorangehenden Absatz etwa M. Bachmann, Vom Lesen des Neuen Testaments, in: K.-W. Niebuhr (Hg.), Grundinformation Neues Testament. Eine bibelkundlich-theologische Einführung (UTB 2108), Göttingen 2000, 32-43, bes. 35f.41f.44. 19 Solche Diagramme scheinen mir die Verständigung zu erleichtern. Mit einer etwas anders aussehenden Fassung des sogleich voranstehenden arbeite ich an einem in diesen Tagen erscheinenden Beitrag: M. Bachmann, Verus Israel. Ein Vorschlag zu einer ›mengentheoretischen‹ Neubeschreibung der betreffenden paulinischen Terminologie, in : NTS 48 (2002) 500-512 (vgl. ders., Antijudaismus im Galaterbrief? Exegetische Studien zu einem polemischen Schreiben und zur Theologie des Apostels Paulus, Freiburg [Schweiz] / Göttingen 1999, 146f.189 [Anm. 136 zu 188], ferner etwa M. Theobald, Der Römerbrief [EdF 294], Darmstadt 2000, 271). 20 Von Dobbeler, Wurzeln, 43 (doch vgl. ebd., 46 [Anm. 2 zu 42]), wo das dann an einem Beispiel erläutert wird: »pauschalisierende Wendungen wie die Rede von ›den Juden‹ gewinnen erst dort antijudaistischen Charakter im Sinne der Diffamierung der Gesamtheit der Juden aufgrund ihres Judeseins, wo sie von außen auf das Judentum zielen; eine intra muros geäußerte, gegen ›die 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 49 50 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Zum Thema Juden‹ gerichtete Polemik hat dagegen einen ganz anderen Charakter«. Vgl. zu der analogen Diskussion über die - irgendwie - das Judentum und »die Juden« betreffenden Aussagen des lukanischen Werks zumal W. Stegemann, Zur neueren exegetischen Diskussion um die Apostelgeschichte, in: EvErz 46 (1994), 198-219, 215-219 (wo insbesondere Bezug genommen wird auf: M. Salmon, Insider or Outsider? Luke’s Relationship with Judaism, in: J.B. Tyson [Hg.], Luke-Acts and the Jewish People. Eight Critical Perspectives, Minneapolis, Minnesota, 1988, 76-82 [samt 149f.]; vgl. zumal V.A. Lehnert, Die Provokation Israels. Die paradoxe Funktion von Jes 6,9-10 bei Markus und Lukas. Ein textpragmatischer Versuch im Kontext gegenwärtiger Rezeptionsästhetik und Lesetheorie [Neukirchener Theologische Dissertationen und Habilitationen 25], Neukirchen-Vluyn 1999, bes. 214-224.284f.293-296, ferner: M. Rese, The Jews in Luke-Acts. Some Second Thoughts, in: J. Verheyden [Hg.], The Unity of Luke- Acts [BEThL 142], Leuven 1999, 185-201; M. Bachmann, Die Stephanusepisode (Apg 6,1-8,3). Ihre Bedeutung für die lukanische Sicht des jerusalemischen Tempels und des Judentums, ebd., 545-562; Ch. Kurth, »Die Stimmen der Propheten erfüllt«. Jesu Geschick und »die« Juden nach der Darstellung des Lukas [BWANT 148], Stuttgart / Berlin / Köln 2000, bes. 19-36.217-220), und u. (bei) Anm. 31. 21 Vgl. dazu z.B. Theobald, Der Römerbrief, bes. 263-285, und Th. Söding, Der Skopos der paulinischen Rechtfertigungslehre. Exegetische Interpretationen in ökumenischer Absicht, in: ZThK 47 (2000), 404-433, bes. 407f.411-415.426-428, sowie meinen Beitrag: M. Bachmann, Die Botschaft für alle und der Antijudaismus: Nachdenken über Paulus und die Folgen, in: M. Hofheinz / G. Plasger (Hg.) Ernstfall Frieden. Biblischtheologische Perspektiven, Wuppertal 2002, 57-54, 63- 69. 72f. 22 Vgl. Weiß, Antijudaismus, 38 (sowie ebd., 40), wo zurückgegriffen wird auf M. Gielen, Der Konflikt Jesu mit den religiösen und politischen Autoritäten seines Volkes im Spiegel der matthäischen Jesusgeschichte (BBB 115), Bodenheim 1998, 467-476, bes. 472f. 23 Von Dobbeler, Wurzeln, 46 (vgl. ebd., 44f.). 24 B. Schaller, Art. Antisemitismus / Antijudaismus III: Neues Testament (Ur- und Frühchristentum), in: RGG 4 I (1998), 558f., 559. Zuvor heißt es (u.a. bezüglich der johanneischen Redeweise, welche »die Juden« negativ beleuchtet): »selbst in diesen Fällen kann von Antijudaismus als Ausdruck prinzipieller Gegnerschaft gegen das Judentum noch nicht die Rede sein«. 25 Jeweils: ebd., 558. Etwas weniger vorsichtig meint M. Weinrich, Art. Antisemitismus, in: NHThG 2 I (1991), 32-50, dass es aufgrund der Entscheidung (des Apostelkonzils) für die Beschneidungsfreiheit der Heidenmission schon früh zu »prinzipiellen Abweisungs-, Verwerfungs- und Diffamierungsversuchen« zwischen Christen und Juden gekommen sei (34) und dass »in diesem situativ polemischen Sinne ... auch bereits im Blick auf das Neue Testament von Antijudaismus« geredet werden könne (35). Vgl. u. (bei) Anm. 32. 26 Schaller, Antisemitismus, 559. Vgl. u. (bei) Anm. 44. 27 Vgl. dazu etwa Bachmann, Botschaft, 67. 74. 28 S. nochmals Erlemann, Einleitung, 35 (samt Anm. 1). 29 Von Dobbeler, Restitution, bes. 36-41. 30 Vgl. (indes) ebd., 41-44. 31 M. Karrer, »Und ich werde sie heilen«. Das Verstockungsmotiv aus Jes 6,9f. in Apg 28,26f., in: ders. / W. Kraus / O. Merk (Hg.), Kirche und Volk Gottes. FS J. Roloff, Neukirchen-Vluyn 2000, 255-271, bes. 270f. (vgl. M. Karrer, Zuwendung zu den Völkern - lohnt eine religionstheologische Entdeckung des Neuen Testaments? , in: A. Th. Khoury / G. Vanoni, »Geglaubt habe ich, deshalb habe ich geredet«. FS A. Bsteh, Würzburg / Altenberge 1998, 152-178, 175 samt Anm. 90); M. Vahrenhorst, Gift oder Arznei? Perspektiven für das neutestamentliche Verständnis von Jes 6,9f. im Rahmen der jüdischen Rezeptionsgeschichte, in: ZNW 92 (2001), 145-167, bes. 147. 165. Vgl. Bachmann, Stephanusepisode, 561f., ferner Lehnert, Provokation, bes. 203- 272, und vgl. o. (bei) Anm. 20. 32 Zur Frage von Galaterbrief und Antijudaismus (s. bes. Gal 2,11-21; 3,19f.; 4,21-5,1; 6,16) s. meine Aufsatzsammlung: Bachmann, Galaterbrief. Mir scheint, dass auch noch S. Vollenweider, Antijudaismus im Neuen Testament. Der Anfang einer unseligen Tradition, in: W. Dietrich / M. George / U. Luz (Hg.), Antijudaismus - christliche Erblast, Stuttgart 1999, 40-55, und P. Fiedler, Antijudaismus als Argumentationsfigur. Gegen die Verabsolutierung von Kampfesäußerungen des Paulus im Galaterbrief, in: R. Kampling (Hg.), »Nun steht aber diese Sache im Evangelium...«. Zur Frage nach den Anfängen des christlichen Antijudaismus, Paderborn / München / Wien / Zürich 1999, 251-279, zu sehr der traditionellen, antijudaistischen Lektüre dieses Schreibens verhaftet sind. Nach Vollenweider soll nicht nur allgemein gelten: »Deutliche Zeichen des Antijudaismus tauchen nicht erst in der nachapostolischen Kirche, sondern in der Heiligen Schrift selbst auf« (Anfang, 41); es soll auch die Veränderung, welche »die Selbstabgrenzung jüdischer Gruppen untereinander, zu denen ursprünglich auch die Gemeinschaft der Jesusanhänger zählte, ... schon früh zur viel weiterreichenden Abgrenzung der Kirche aus Juden und Heiden von Israel« transformierte, im Besonderen »bereits bei Paulus ... in vollem Gang« gewesen sein (ebd., 48). Obwohl der Schweizer Exeget einräumt. »Der Galaterbrief nimmt in keiner Weise direkt Stellung gegen die Juden, sondern bezeugt eine heftige innerchristliche Kontroverse« (ebd.), tendiert dieser Interpret, verstehe ich ihn recht, doch dazu, das Schreiben sogar in die Nähe des Antisemitismus zu rücken (ebd., 48f.): Es bietet »ausgesprochen negative Aussagen über das gegenwärtige Jerusalem, also über das Judentum. Darf man hier noch von Antijudaismus sprechen? « Bei der sich in dieser Formulierung niederschlagenden Auslegung von Gal 4,21-31 (bes. von V. 25f.29) bezieht sich Vollenweider nicht zuletzt auf Gal 6,16, auf »den Segen über das ›Israel Gottes‹ ..., nämlich ... die Kirche« (ebd., 48). Indes: Das »also« und das »nämlich« suggerieren Zwangsläufigkeit, wo sie schwerlich gegeben ist (s. dazu nur Bachmann, Galaterbrief, 127-158, bes. 150f., und G. Sellin, Hagar und Sara. Religionsgeschichtliche Hintergründe der Schriftallegorese Gal 4,21-31, in: U. Mell / U.B. Müller [Hg.], Das Urchristentum in seiner literarischen Geschichte. FS J. Becker [BZNW 100], Berlin / New York 1999, 59-84, bes. 72f., sowie das sogleich o. im Text Anzusprechende). Ähnlich wie Vollenweider meint Fiedler im Blick auf den Galaterbrief von einem 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 50 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 51 Michael Bachmann Zur Entstehung (und zur Überwindung) des christlichen Antijudaismus »Gestrüpp von ‘objektiv’ antijüdischen Behauptungen« sprechen zu sollen (Antijudaismus, 275), bei dem freilich »eine situationsbedingte ›Argumentationsfigur‹« gegeben sei (ebd., 276) - die denn auch im Römerbrief überwunden worden sei (s. ebd., 272-275). Wenn - beispielsweise - für Gal 4,29-31 die Auffassung vertreten wird, »dass Paulus ad hoc Schriftauslegung betreibt und dabei vor keiner Gewaltsamkeit zurückschreckt« (ebd., 270) und dass das aus Gen 21,10 zitierte Wort vom Herauswerfen der Sklavin und ihres Sohnes zu begreifen sei als »implizite Aufforderung an die Galater, mit den Widersachern des Paulus entsprechend zu verfahren«, ja, als »sozusagen von Gott angeordnete Verstoßung der an der Tora vom Sinai festhaltenden Landsleute« (ebd., 271), so kann man freilich auch bei solch exegetischer Rezeption den Eindruck von »Gewaltsamkeit« gewinnen. Denn, das deutet Fiedler (ebd., 271) selbst an, nicht erst Paulus dürfte das »Scherzen« Ismaels (mit Isaak) von Gen 21,9 pejorativ verstanden haben (s. nur Josephus, Ant 1,215; vgl., was zumal die Targumim angeht, Bachmann, Galaterbrief, 139f. samt Anm. 32, und ferner M. Grohmann, Aneignung der Schrift. Wege einer christlichen Rezeption jüdischer Hermeneutik, Neukirchen-Vluyn 2000, 205-230, bes. 219 [»Hier stehen rabbinische Traditionen wie ... BerR 53,11 ... im Hintergrund«]), und der Apostel deutet Gen 21,9 gerade nicht im Sinne einer Vertreibung und Verstoßung von Juden, sondern im Sinne einer Ortsbestimmung der Adressaten (s. Bachmann, Galaterbrief, 136-143; vgl. Grohmann, Aneignung, 225 samt Anm. 172). In V. 31 formuliert er ja folgernd: »Deshalb, Brüder, sind wir nicht Kinder der Sklavin, sondern der Freien! « Vgl. o. Anm. 25 und u. (bei) Anm. 44. 33 G. Schrenk, Was bedeutet »Israel Gottes«? , in: Jud. 5 (1949), 81-94, bes. 93f. (vgl. ders., Der Segenswunsch nach der Kampfepistel, in: Jud. 6 [1950], 170-190); P. Richardson, Israel in the Apostolic Church (MSSNTS 10), Cambridge 1969, bes. 74-84; Bachmann, Galaterbrief, 159-189 (vgl. ders., Verus Israel, bes. 11f.). Vgl. etwa J.G. Gager, The Origins of Anti-Semitism. Attitudes Toward Judaism in Pagan and Christian Antiquity, New York / Oxford 1983, 228f. 34 Von Dobbeler, Wurzeln, 45 (samt Anm. 34), greift auf E. Stegemann, Zwischen Juden und Heiden, aber »mehr« als Juden und Heiden? Neutestamentliche Anmerkungen zu Identitätsproblematik des frühen Christentums, in: KuI 9 (1994), 53-69, und dessen im Blick auf 1Kor 10,32 gewählte Formulierung zurück, dass da »die ›Gemeinde Gottes‹ als Drittes neben Juden und Griechen« trete (ebd., 59 [bei S. weithin kursiv]). Das korrespondiert der o. (bei Anm. 19) »mengentheoretisch« skizzierten »Situation« (i). Aber Stegemann betont zu Recht, dass dabei nicht etwa »die Gründung einer neuen Religion« (H.D. Betz, Der Galaterbrief. Ein Kommentar zum Brief des Apostels Paulus an die Gemeinden in Galatien [Hermeneia], München 1988 [zuerst englisch, und zwar 1979], 543) im Blick sei, vielmehr dem »eschatologischen Anspruch« (Stegemann, Juden, 59) Ausdruck gegeben werde, und das so, dass zugleich »auch die heilsgeschichtliche Kontinuität« betont werde (ebd., 60 [bei S. teils kursiv]). Vgl. J. Roloff, Die Kirche im Neuen Testament (GNT 10), Göttingen 1993, bes. 83-85.96-99, ferner etwa Bachmann, Galaterbrief, 186. 35 Unmöglich war es indes keineswegs. S. dazu nur die Hinweise bei Schrenk, »Israel Gottes«, 93f. samt Anm. 29, und Bachmann, Galaterbrief, 162 samt Anm. 17. 36 S. zumal: F. Sieffert, Der Brief an die Galater (KEK VII, 9. Aufl.), neu bearb., Göttingen 1899, 143 (Hinweis von F.W. Horn), und E. Lohmeyer, »Gesetzeswerke«, in: ders., Probleme paulinischer Theologie, Darmstadt 1954, 31-74 (zuerst 1929), bes. 64. 37 S. zumal: J.D.G. Dunn, The New Perspective on Paul, in: ders., Jesus, Paul, and the Law. Studies in Mark und Galatians, Westminster / Louisville, Kentucky, 1990, 183-205 (zuerst 1982), 191-200, bes. 191-193. 38 S. bes. ders., A Response to Peter Stuhlmacher, in: F. Avemarie / H. Lichtenberger (Hg.), Auferstehung - Resurrection. The Fourth Durham-Tübingen Research Symposion (WUNT 135), Tübingen 2001, 363-368, 367 (samt Anm. 14f.). Vgl. W. Reinbold, Gal 3,6-14 und das Problem der Erfüllbarkeit des Gesetzes bei Paulus, in: ZNW 91 (2000), 91-106, 96f. samt Anm. 16. 39 J.A. Fitzmyer, Paul’s Jewish Background and the Deeds of the Law, in: ders., According to Paul. Studies in the Theology of the Apostle, New York / Mahwah, New Jersey, 1993, 18-35 (samt 125-130), 20-24, bes. 20; M. Bachmann, Sünder oder Übertreter. Studien zur Argumentation in Gal 2,15ff. (WUNT 59), Tübingen 1992, 91-100, bes. 99f. (vgl. ders., Rechtfertigung und Gesetzeswerke bei Paulus, in: ders., Galaterbrief, 1-31 [zuerst 1993], bes. 14; 4QMMT und Galaterbrief, ma’ase hatorah und erga nomou, ebd., 33-56 [zuerst 1998], bes. 47-55); R. Bergmeier, Das Gesetz im Römerbrief, in: ders., Das Gesetz im Römerbrief und andere Studien zum Neuen Testament (WUNT 121), Tübingen 2000, 31-102, 37-43, bes. 41. Vgl. K. Haacker, Der Brief des Paulus an die Römer (ThHKNT 6), Leipzig 1999, 83f., und M. Theobald, Der Kanon von der Rechtfertigung (Gal 2,16; Röm 3,28). Eigentum des Paulus oder Gemeingut der Kirche? , in: ders., Studien zum Römerbrief (WUNT 136), Tübingen 2001, 164-225 (zuerst 1999), bes. 190 (samt) Anm. 117 (sowie ferner F. Hahn, Gerechtigkeit Gottes und Rechtfertigung des Menschen nach dem Zeugnis des Neuen Testaments, in: EvTh 59 (1999), 335-346, 340). Wer etwa die lexikalischen Ausführungen bei Haacker und Bergmeier (oder auch bei mir) zur Kenntnis genommen hat, wird sich fragen, wie J. Schröter, Die Universalisierung des Gesetzes im Galaterbrief. Ein Beitrag zum Gesetzesverständnis bei Paulus, in: U. Kern (Hg.), Das Verständnis des Gesetzes bei Juden, Christen und im Islam (Rostocker Theologische Studien 5), München / Hamburg / London 2000, 27-63, 34 Anm. 19, zu der apodiktischen Aussage kommen mag: Das Verständnis der erga nomou im Sinne von Regelungen, nicht von Erfüllungen des Gesetzes »wird ... vom lexikalischen Befund zu ergon nicht gedeckt.« (Ganz anders I. Maisch, Rez. von: Bachmann, Galaterbrief, in: FrRu NF 8 [2001], 59-61, 59: »Dieses Verständnis ist sowohl vom Profangriechischen (Werk als Aufgabe) als auch von der Septuaginta (Werk als Gebot, Vorschrift) gedeckt und wird auch von dem Qumran- Dokument 4 QMMT gestützt«.) Natürlich gibt es im Blick auf die These auch argumentative Anfragen (s. bes. J.C.R. de Roo, The Concept of ›Works of the Law‹ in Jewish and Christian Literature, in: S.E. Porter / B.W.R. Pearson [Hg.], Christian-Jewish Relations through the Centuries [JSNT.S 192], Sheffield 2000, 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 51 52 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Zum Thema 116-147; F. Avemarie, Die Werke des Gesetzes im Spiegel des Jakobusbriefs. A Very Old Perspective on Paul, in: ZThK 98 [2001], 282-309; J.D.G. Dunn, Noch einmal »Works of the Law«: The Dialogue Continues, in: I. Dunderberg / C.M. Tuckett / K. Syreeni [Hg.], Fair Play: Diversity and Conflicts in Early Christianity. FS H. Räisänen [NT.S 103], Leiden / Boston / Köln 2002, 273- 290, 279-284, bes. 284 [wo Dunn sich übrigens ausdrücklich davon absetzt, es sei »the regulations of the law« »an inadmissable sense for the term« erga nomou: »Not at all«]; vgl. J. Woyke, ›Einst‹ und ›Jetzt‹ in Röm 1-3? Zur Bedeutung von nuni de in Röm 3,21, in: ZNW 92 [2001], 185-206, 197 samt Anm. 44). Auf sie eingehend zu reagieren, ist hier nicht der Ort. Immerhin sei daran erinnert (vgl. dazu o. [bei] Anm. 36): Indizien, erga nomou in einem eher technischen Sinne zu verstehen, bieten bereits die paulinischen Belege selbst (z.B.: das durchgängige Fehlen von Personalpronomina und qualifizierenden Adjektiva; der Kontext von Gal 2,16; die Spannung zwischen Röm 2,13 und Röm 3,20.28 [vgl. Avemarie, Werke, 207]). Und jeder technische Sprachgebrauch ist der Gefahr des - frühen - Missverständnisses ausgesetzt (vgl. u. [bei] Anm. 43). 40 E. Qimron / J. Strugnell, Qumran Cave 4. Bd. V: Miqsat Ma‘ase Ha-Torah (Discoveries of the Judaean Desert X), Oxford 1994, 43-63, (62-)63. Ganz unumstritten ist die Übersetzung der hebräischen Wendung, die ihrerseits in den Zusammenhang der Rezeptionsgeschichte von Ex 18,20 (LXX: erga) gehört (s. dazu nur Bachmann, Galaterbrief, 28f.45-49 [sowie VI Anm. 3]), freilich nicht (s. dazu nur Bachmann, ebd., 41f. samt Anm. 38f.). Bei 4QMMT C27 handelt es sich im Übrigen bislang um die einzige enge antike Entsprechung zum paulinischen Ausdruck erga nomou, die nicht auf den Apostel zurückgeht. 41 S. dazu nur Bachmann, ebd., 33-40 - samt Anm. 9 -. 42 Diese Formulierung verwendet K. Stendahl (in einem solchen Sinne) bekanntlich im Titel eines für die Geschichte der »Neuen Paulusperspektive« (s. dazu nur o. Anm. 37) wichtigen Beitrags (von 1960 bzw. 1961/ 63), der seit einigen Jahren auch auf Deutsch vorliegt: Der Apostel Paulus und das ›introspektive‹ Gewissen des Westens, in: KuI 11 (1996), 1-11. 43 Nicht einmal für eine deutlich frühere Zeit, z.B. bei der Formulierung von Eph 2,10 (»gute Werke«) oder von Jak 2,18 (»meine Werke«), scheint gesichert zu sein, dass der technisch wirkende Ausdruck erga nomou als solcher noch adäquat aufgegriffen wurde und aufgegriffen werden konnte (vgl. dazu o. Anm. 39, ferner Bachmann, Galaterbrief, 54f. samt Anm. 105). 44 Vgl. (o. [bei] Anm. 23-26 und) Grohmann, Aneignung, 229 (»Es ist sinnvoll, die von der christlichen Wirkungsgeschichte geprägte Brille, die manche polemische Schriftauslegung des Paulus auf das christliche Verhältnis zum Judentum auslegt, abzulegen und die Texte in ihren historischen Kontext innerjüdischer Auseinandersetzungen einzuordnen«). Insofern scheint eine gewisse Vorsicht gegenüber solchen Positionen angebracht, die den Antijudaismus als sogleich mit frühchristlicher Christologie oder mit den dann in das Neue Testament eingegangenen Schriften gegeben einschätzen (s. dazu nur von Dobbeler, Wurzeln, 42 [samt Anm. 1-6], wo für eine solche antijudaistische Lektüre auf R. [R.] Ruether, S. Sandmel, R.L. Wilken und H. Schnädelbach verwiesen und die Gegenposition von J. Isaac [vgl. ferner etwa Gager, Anti-Semitism, bes. 268] erwähnt wird [vgl. noch o. Anm. 12.32]). Gager spricht recht umsichtig davon, dass es für das frühe Christentum keine »evidence for a consistently negative understanding of Judaism« gebe (Anti-Semitism, 268), dass aber nachfolgende Entwicklungen und »the formation of the New Testament« gerade auch »our perception of earlier Christianity« geprägt hätten, nämlich im anti-jüdischen Sinne (ebd., 269 [Hervorhebung durch mich]). TANZ - Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter Michael Labahn/ Jürgen Zangenberg (Hrsg.) Zwischen den Reichen: Neues Testament und Römische Herrschaft Vorträge auf der Ersten Konferenz der European Association for Biblical Studies TANZ 36, 2002, VIII, 286 Seiten, 48,-/ SFr 79,30 ISBN 3-7720-2828-4 Das Interesse eines international und kompetent besetzten Seminars der European Association for Biblical Studies galt der Frage, wie die römische Herrschaft das Denken und die Lebenswelt frühchristlicher Gemeinden beeinflußt hat. Die hier vorgelegten 13 Studien geben einen exemplarischen Einblick in das komplexe Zusammenspiel von Neuem Testament und römischer Herrschaft. Zu den Themen gehören Fragen der Epigraphik und Papyrologie Palästinas im 1. Jh.n.Chr., der römischen Baupolitik (Korinth), des römischen Vereinswesens, der synoptischen und johanneischen Christologie, der Wahrnehmung des römischen Staates in der Apostelgeschichte, im 1. Petrusbrief und der Johannesapokalypse. Ergänzt wird der Band durch Studien zur Musik in paulinischen Gemeinden und zu Vorstellungen vom Leben nach dem Tod im Lichte zeitgenössischer Parallelen. A. Francke Verlag Tübingen und Basel 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 52
