ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
121
2002
510
Dronsch Strecker VogelWar das frühe Christentum eine Religion?
121
2002
Ulrich Berner
znt5100054
54 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 1. Zur Problematik des Religionsbegriffes Auf den ersten Blick erscheint die Frage vielleicht ganz sinnlos - der Blick in ein religionswissenschaftliches Handbuch zeigt sofort, dass das Christentum als eine der großen Religionen dargestellt wird, ohne dass irgendeine Einschränkung im Hinblick auf seine (Früh)Geschichte vorgenommen würde. Wenn noch dazu festgestellt wird, die Geschichte des Christentums beginne im Judentum und wenn das Judentum selbst wiederum als Religion dargestellt wird, dann scheint es ganz selbstverständlich zu sein, dass die im Thema gestellte Frage mit »Ja« zu beantworten ist. 1 Der Herausgeber des zitierten Handbuches, der Religionswissenschaftler Peter Antes, hat in der Einleitung allerdings darauf hingewiesen, dass es keine verbindliche Definition des Religionsbegriffes gibt - so sei es z.B. eine bloße Konvention, den Konfuzianismus, der eigentlich eine Art Staatsphilosophie sei, als chinesische Religion einzuordnen; die Religionswissenschaft könne auch dann nicht weiterhelfen, wenn es um die aktuelle Frage geht, ob eine Bewegung wie die Scientology Church als Religion anzuerkennen sei. 2 Damit wird eine Problematik des Religionsbegriffes angedeutet, die es auf den zweiten Blick doch sinnvoll erscheinen lässt, die vorgegebene Frage zu erörtern. Als ein Vergleichsbeispiel könnte der frühe Buddhismus herangezogen werden: der Buddhismus wird ebenfalls in jedem Handbuch als eine der großen Religionen dargestellt, und doch hat der Religionshistoriker Geo Widengren es für nötig gehalten, die Auffassung zu begründen, dass auch der ältere Buddhismus als Religion betrachtet werden kann. 3 In diesem Falle liegt die Problematik darin, dass die Gleichsetzung von Religion und Gottesglauben, wie sie sich in der christlich-abendländischen Tradition herausgebildet hat, nicht anwendbar ist - zumindest nicht auf den frühen Buddhismus. Emile Durkheim hatte dies zum Anlass genommen, den Religionsbegriff neu zu definieren: die Unterscheidung zwischen Heilig und Profan, meinte er, sei auch im Buddhismus gegeben. 4 Die Antwort auf die im Thema gestellte Frage hängt also vor allem davon ab, was unter Religion verstanden wird, so dass es eigentlich gar nicht wichtig ist, ob ein »Ja« oder »Nein« am Ende der Überlegungen steht. Die entscheidende Frage ist, ob eine Reflexion über die Problematik des Religionsbegriffes neue Perspektiven auf das frühe Christentum und seine Umwelt eröffnen kann. Für eine solche Reflexion bieten sich mehrere Ansatzpunkte an. Zunächst könnte daran gedacht werden, dass eine religiöse Bewegung erst in einem Prozess der Institutionalisierung zu einer Religion wird - nach diesem Verständnis des Religionsbegriffes wäre die Institution das zentrale Element. Ein solcher Prozess der Institutionalisierung kann auch im frühen Christentum beobachtet werden, z.B. durch den Vergleich der Gemeindeordnungen, von der »Didache« bis zur »Traditio Apostolica«. 5 Der Begriff »New Religious Movement«, der in der Erforschung des afrikanischen Christentums eine große Rolle spielt, soll eben auch der Tatsache Rechnung tragen, dass die religiöse Dynamik, die durch eine charismatische Gestalt ausgelöst wird, erst in einem längeren Prozess der Routinisierung Ulrich Berner War das frühe Christentum eine Religion? »Die entscheidende Frage ist, ob eine Reflexion über die Problematik des Religionsbegriffes neue Perspektiven auf das frühe Christentum und seine Umwelt eröffnen kann.« 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 54 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 55 Ulrich Berner War das frühe Christentum eine Religion? zu einer religiösen Institution wird - in diesem Fall als »Kirche« bezeichnet. 6 Sodann könnte daran gedacht werden, dass es eine einheitliche Dogmatik geben muss, wenn von einer Religion gesprochen werden soll - nach diesem Verständnis des Religionsbegriffes wäre der Glaube das zentrale Element. Ein solcher Prozess der Dogmatisierung, der eine Vereinheitlichung des Glaubenssystems intendiert, kann ebenfalls im frühen Christentum beobachtet werden, spätestens seit dem ersten ökumenischen Konzil. 7 Wenn die Einheit des Glaubens als Kriterium genommen wird, dann erscheint es allerdings nicht mehr sinnvoll, den Hinduismus als eine Religion zu bezeichnen. Der Indologe Heinrich von Stietencron hat deshalb vorgeschlagen, die sogenannten Sekten des Hinduismus jeweils als eigene Religionen zu betrachten. 8 In seiner neuen Darstellung des Hinduismus spricht er denn auch von mehreren »Hindu-Religionen«. 9 Dieses Verständnis des Religionsbegriffes könnte noch in der Weise zugespitzt werden, dass Glaubensinhalte, wie z.B. die Eigenschaften, die einem Gott zugeschrieben werden, als Konstitutionsmerkmale einer Religion genommen werden: so könnte z.B. von der Religion des Fundamentalismus gesprochen werden, wenn an einen Gott geglaubt wird, der von seinen Anhängern verlangt, jede Blasphemie zu rächen - in welcher Tradition auch immer diese Art des Gottesglaubens auftritt. 10 Schließlich könnte überlegt werden, dass der Religionsbegriff möglichst weit gefasst als ein Gattungsbegriff gebraucht werden sollte, um das frühe Christentum in seine Umwelt einzuordnen und darüber hinaus eine Vergleichbarkeit mit anderen Kulturen herzustellen. Das frühe Christentum ist dann eben eine Religion wie viele andere auch, von den anderen Religionen in seiner Umwelt nur in einzelnen Inhalten unterschieden, z.B. als monotheistisch gegenüber polytheistischen, als missionierend gegenüber nichtmissionierenden oder auch als universal gegenüber ethnisch gebundenen Religionen. In der älteren Forschung scheint dies als selbstverständlich vorausgesetzt worden zu sein, wie es noch im Titel eines klassischen Werkes von Rudolf Bultmann zu erkennen ist: »Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen«. In der zweiten Hälfte des 20. Jh.s, also in der Zeit nach dem Erscheinen jenes Werkes, ist der Religionsbegriff jedoch immer stärker problematisiert worden. Es erscheint deshalb sinnvoll, im Folgenden die Frage zu erörtern, ob der Begriff der Religion überhaupt dazu geeignet ist, als Gattungsbegriff zu dienen, der das frühe Christentum ebenso wie andere kulturelle Phänomene seiner Umwelt bezeichnet. In den 60er Jahren machte der Religionshistoriker Wilfred Cantwell Smith den überraschenden Vorschlag, den Begriff »Religion« fallen zu lassen und durch das Begriffspaar »faith« und »(cumulative) tradition« zu ersetzen; auch die Bezeichnungen der einzelnen Religionen, wie z.B. »das Christentum« oder »der Buddhismus«, sollten eliminiert werden. 11 Dieser Vorschlag hat sich in der Religionswissenschaft nicht durchsetzen können, was sicherlich auch darin begründet war, dass Smith mit seinen religionshistorischen Untersuchungen ein theologisches (Dialog)Interesse verbunden hatte. In den 70er Jahren sprach Peter Antes »einmal anders« über Religion und richtete den Blick auf jene Begriffe, die in den außereuropäischen Sprachen, vom Arabischen bis zum Japanischen, als Äquivalente für den europäischen Religionsbegriff in Frage kommen. Eine »Liste Ulrich Berner Ulrich Berner, Jahrgang 1948, studierte Theologie, Philosophie, Indologie und Allgemeine Religionsgeschichte in Göttingen. Promotion 1974, Habilitation für Allgemeine Religionsgeschichte 1980 an der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen. Seit 1986 Professor für Religionswissenschaft an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität in Bayreuth. 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 55 56 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Kontroverse solcher Termini und Wortfelder«, meinte er, könnte »eine Art Katalog ethnozentrischer Prioritäten liefern«. 12 Im Jahre 1990 war der Kongress der IAHR (International Association for the History of Religions) ganz diesem Thema gewidmet. Im Mittelpunkt stand das Problem der eurozentrischen Fixierung des Religionsbegriffes - die Frage, ob die außereuropäischen Kulturen damit überhaupt verstanden werden können. 13 Für Theologen wird sich vor allem die Frage stellen, ob der Religionsbegriff durch seine spezifisch christliche Prägung den Blick auf die Umwelt des frühen Christentums verzerrt. Ein erster Ansatzpunkt zur Reflexion wäre die Feststellung, dass der Religionsbegriff, wie er durch die christlich-abendländische Tradition geprägt ist, meistens die Vorstellung impliziert, ein Individuum könne nur einer und nicht mehreren Religionen angehören, also z.B. nicht zugleich Christ und Hindu sein. 14 Ein solches Verständnis würde es aber schon unmöglich machen, von den Mysterienreligionen in der Umwelt des frühen Christentums zu sprechen: diese erhoben ja keine Exklusivansprüche, so dass eine Mitgliedschaft in mehreren Mysterienreligionen möglich war - eben deshalb wäre es vielleicht besser, nur von Mysterienkulten zu sprechen. 15 Ein zweiter Ansatzpunkt ist die Frage, wie das frühe Christentum aus der Sicht der Römer eingeordnet wurde. Der Abstand zwischen »religio« im (vorchristlichen) römischen Sprachgebrauch und »Religion« im modernen Sprachgebrauch, wie er durch die christliche Tradition geprägt ist, könnte durch diese Betrachtung deutlich hervortreten. 2. Das frühe Christentum aus der Sicht der Anderen Einer der ersten Römer, die über einen Christen- Prozess berichten, ist Plinius d. J., in dem bekannten Brief an den Kaiser Trajan. Einige der Angeklagten haben diesem Bericht zufolge ausgesagt, sie seien früher Christen gewesen, hätten sich aber vom Christentum abgewandt und »ihre ganze Schuld oder ihr Irrtum habe in folgendem bestanden: Gewöhnlich seien sie an einem bestimmten Tag vor Sonnenaufgang zusammengekommen und hätten Christus als ihrem Gott einen Wechselgesang gesungen. Durch einen feierlichen Eid hätten sie sich nicht etwa zu Verbrechen verpflichtet, sondern dazu, keinen Diebstahl, keinen Raub und keinen Ehebruch zu begehen, ... Danach seien sie ihrer Gewohnheit gemäß auseinandergegangen und dann wieder zusammengekommen, um Speise zu sich zu nehmen, jedoch ganz gewöhnliche und harmlose.» 16 Was in diesem Bericht des Plinius andeutungsweise zu erkennen ist, entspricht durchaus einem modernen Religionsbegriff: es handelt sich um einen (Gottes)Glauben, der mit einer Ethik und einem Kult verbunden ist, und dieser Kult als Ort religiöser Erfahrung ist anscheinend nicht in die sozialen Institutionen der Familie und / oder des Staates eingebettet. 17 Für den modernen Leser des Briefes ist es deshalb klar, daß die Christen wegen ihrer Religion angeklagt, verhört und - soweit sie nicht widerrufen haben - verurteilt worden sind. Festzuhalten ist allerdings, dass Plinius in diesem Zusammenhang eben nicht von »religio« spricht, sondern von »superstitio« - Aberglauben. Was sich auf den ersten Blick nur als Polemik darstellt, wird verständlich, wenn die bekannte Definition Ciceros in Erinnerung gerufen wird: superstitio ist demnach eine falsche religiöse Einstellung, die das Interesse des Individuums bzw. der Familie über das des Staates stellt, im Unterschied zu religio als der sorgfältigen Beachtung kultischer Pflichten gegenüber den Göttern. 18 Festzuhalten ist ebenfalls, dass Plinius an dem Inhalt jenes neuen Glaubens gar nicht interessiert ist - was er bei seiner Befragung herausgefunden hat, bezeichnet er zusammenfassend als »maßlosen und verworrenen Aberglauben«, und er hält »Es erscheint deshalb sinnvoll, im Folgenden die Frage zu erörtern, ob der Begriff der Religion überhaupt dazu geeignet ist, als Gattungsbegriff zu dienen, der das frühe Christentum ebenso wie andere kulturelle Phänomene seiner Umwelt bezeichnet.« 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 56 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 57 Ulrich Berner War das frühe Christentum eine Religion? es offenbar nicht für nötig, den Kaiser über den Inhalt zu informieren. Sein Interesse geht vielmehr dahin, herauszufinden, ob die Personen, die als Christen angezeigt worden sind, gegenüber Kaiser und Staat loyal eingestellt sind. Die Aufforderung, die Götter anzurufen und der Kaiserstatue Weihrauch und Wein zu opfern, dient dieser Prüfung der Loyalität. Was Plinius nicht duldet und wohl auch nicht versteht, ist das exklusive Kult-Verständnis, das die Christen vertreten. Es geht ihm nicht darum, die Christen dazu zu bringen, an die Göttlichkeit des Kaisers zu glauben - Plinius selbst sagt in seiner Lobrede auf den Kaiser Trajan: »Laßt uns an keiner Stelle ihm schmeicheln wie einem Gott, wie einem höheren Wesen ...“. 19 Er fordert nur die Teilnahme an einer rituellen Handlung, in der die Loyalität gegenüber dem römischen Staat symbolisch zum Ausdruck gebracht wird. Auch die Forderung, den Namen Christi zu verfluchen, ist auf dieser Ebene zu sehen - bestraft wird nur der Ungehorsam, nicht der Glaube der Christen. Diese Asymmetrie könnte verdeckt werden, wenn die Begegnung als Konflikt zwischen römischer und christlicher Religion beschrieben wird, ohne dass die Problematik des Religionsbegriffes reflektiert wird. Eine solche Asymmetrie zeigt sich z.B. auch in den Akten der Märtyrer von Scilly. Wieder ist der römische Beamte, der das Verhör führt, nicht an dem Inhalt des christlichen Glaubens interessiert - er zeigt kein Interesse an den Schriften und Briefen des Paulus, die einer der Angeklagten bei sich hat. Es geht ihm nur darum, die angeklagten Christen zu einer vernünftigen Gesinnung (bona mens) zurückzuführen, einer Einstellung, die es ihnen erlauben würde, sich in die kulturellen Traditionen ihrer Gesellschaft (Romanorum mos) einzuordnen. 20 Aus der Sicht des römischen Beamten erscheint die Einstellung der Christen, die sich dieser Einordnung verweigern, als Verrücktheit (dementia). Für den modernen Leser ist es plausibel, das als Religion zu bezeichnen, wofür die angeklagten Christen zu sterben bereit sind - nicht aber das, was jener Römer als »religio nostra« bezeichnet. Die Frage erscheint deshalb berechtigt, ob im Hinblick auf diese Anderen überhaupt von einer Religion in diesem Sinne gesprochen werden kann, als von einem eigenen Erfahrungsbereich, der nicht »eingebettet« ist in die zentralen Institutionen der antiken Gesellschaften. Für eine Erörterung dieser Frage ist es aber nötig, andere Vergleichsbeispiele zu wählen. Plinius ist ja kein religiöser oder philosophischer Schriftsteller, der auf dieser Ebene mit einem christlichen Kirchenvater verglichen werden könnte. Als Vergleichsbeispiel bietet sich sein Zeitgenosse Plutarch von Chaironeia an, ebenso Apuleius von Madaura, beide bekannt als philosophische Schriftsteller. 3. Die Religion nichtchristlicher Philosophen in der späteren Antike Plutarch ist nicht nur als Philosoph bekannt, sondern auch als Verfasser einer Reihe von Lebensbeschreibungen, in denen berühmte Griechen und Römer gegenübergestellt werden. Beide Bereiche, Philosophie und Biographie, könnten bereits zur Religion im weiteren Sinne gerechnet werden. Als amtierender Priester in Delphi sowie als Verfasser einiger Schriften, die sich mit dem Orakel von Delphi beschäftigen, gehört er aber unzweifelhaft in die Religionsgeschichte der Antike. 21 In der Schrift »De superstitione« wendet Plutarch sich gegen zwei verfehlte Weltanschauungen: gegen den Aberglauben (deisidaimonia) auf der einen und gegen den Atheismus auf der anderen Seite. Der Aberglaube gilt ihm in diesem Zusammenhang sogar als die schlechtere Alternative. Zwischen diesen beiden falschen Extremen steht die wahre, richtige Art der Religiosität (eusebeia). Dazu gehört vor allem der Glaube an eine göttliche Vorsehung: ein Glaube, der keine Furcht vor göttlicher Willkür und Launenhaftigkeit aufkommen lässt - solche Furcht wäre eben Aberglaube als eine verfehlte Religiosität. 22 Plutarch verteidigt seinen Gottesglauben oft und besonders heftig gegen den Epikureismus. Einer seiner Vorwürfe gegen die Epikuräer ist, dass sie Heuchler sind, wenn sie am Kult teilnehmen, ohne daß sie mit einer Antwort der Götter rechnen. 23 Der Kult ist für Plutarch unzweifelhaft ein Ort religiöser Erfahrung. 24 Im Hinblick darauf, dass Plutarch ein priesterliches Amt in einem alten griechischen Heiligtum innegehabt hat, scheint die Annahme nahezuliegen, dass seine Religion »eingebettet« ist, nicht ein eigener Erfahrungsbereich, wie es einem modernen Religionsbegriff entsprechen würde. Es ist aber zu bedenken, dass Plutarch 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 57 58 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Kontroverse nicht nur die öffentlichen Kulte als Ort religiöser Erfahrung kennt, sondern auch die Mysterienkulte, also einen Bereich der persönlichen Religion. 25 Er war selbst in den Dionysos-Kult eingeweiht, wie es aus dem »Trostbrief« hervorgeht, den er an seine Frau geschrieben hat, anlässlich des Todes der Tochter. 26 Dieser Text lässt zugleich den religiösen Charakter seiner Philosophie deutlich werden: Philosophie als »Lebenskunst« umfasst auch und gerade die Vorbereitung auf das Sterben. 27 Der Trost der Philosophie, wie er z.B. auch von Cicero nach dem Tod seiner Tochter gesucht wurde, verbindet sich bei Plutarch mit der Erinnerung an die Einweihung in einen Mysterienkult. 28 Die Religion Plutarchs, die mit dem Christentum verglichen werden könnte, ist also ein komplexes Gebilde, das zumindest drei Komponenten umfasst: eine philosophische Tradition, zu der auch die Interpretation mythischer Überlieferungen gehört, einen öffentlichen Kult und einen Mysterienkult. Es handelt sich um ein offenes System, insofern als die Auswahl der philosophischen Tradition und der zu interpretierenden Mythen sowie die Einweihung in einen Mysterienkult auf einer persönlichen Entscheidung beruhen, die mit vielen anderen individuellen Entscheidungen kompatibel wäre. Apuleius ist ebenfalls ein platonischer Philosoph, bekannt aber in erster Linie als Anhänger und Verkünder der Isis-Mysterien, die er in seinem Roman „Metamorphosen“ - vielleicht besser bekannt als »Der goldene Esel« - dargestellt hat. Es scheint deshalb nahezuliegen, die Isis-Mysterien als die Religion des Apuleius zu betrachten und diese mit dem Christentum zu vergleichen. Dies würde aber dem Fall des Apuleius nicht ganz gerecht werden. Aus der weniger bekannten »Apologie« des Apuleius, seiner Verteidigung gegen den Vorwurf der Zauberei, geht nämlich hervor, dass er in mehrere Mysterienkulte eingeweiht war. 29 Außerdem war die in seinem Besitz befindliche Götterstatue, die er im Prozess vorzeigt, eine Darstellung des Merkur, nicht der Isis. 30 Schließlich hat er später auch ein Amt im öffentlichen Kult übernommen. 31 Sein Selbstverständnis war das eines Philosophen, der wissenschaftliche Neugier mit Ehrfurcht vor den Göttern verbindet. Auch in diesem Fall würde gelten, dass ein moderner Religionsbegriff anwendbar ist und dass es sich wiederum um ein offenes System handelt: eine individuelle Verbindung von Philosophie, Mysterienkulten und öffentlichem Kult. Angesichts dieser Beispiele erscheint es durchaus sinnvoll, den Religionsbegriff als Gattungsbegriff zu verwenden, der nicht nur auf das frühe Christentum, sondern auch auf das spätantike Heidentum angewendet werden kann. Allerdings müssten dann andere begriffliche Differenzierungen eingeführt werden, vor allem die Unterscheidung zwischen exklusivistischer und pluralistischer Religiosität. 32 Der pluralistische Ansatz, wie er der Religion Plutarchs zugrunde liegt, ist in der Spätantike sogar zu einer Theorie des religiösen Pluralismus ausgebaut worden. Bekannt ist der Ausspruch des Symmachus, der den christlichen Kaiser Gratian (vergeblich) um die Wiederherstellung des Victoria-Altars gebeten hat: »Warum ist es so wichtig, nach welcher Lehre jeder die Wahrheit sucht? Man kann nicht nur auf einem einzigen Weg zu einem so erhabenen Geheimnis finden.« 33 Ebenso hatte Themistios vor dem Kaiser Jovian die Auffassung vertreten, »dass zwar der große und wahre Richter ein einziger ist, dass aber nicht ein einziger Weg zu ihm hinführt«. 34 Dem pluralistischen Ansatz ist auf christlicher Seite heftig widersprochen worden: die »wahre Religion« (religio) ist Augustin zufolge »weder im Wirrwar des Heidentums noch im Unflat der Ketzer, weder bei der Krankhaftigkeit der Sektierer noch »Das von ihm als Ersatz vorgeschlagene Begriffspaar ›faith‹ und ›(cumulative) tradition‹ lenkt den Blick von den Religionen auf die Menschen, die ihren Glauben zumeist im Rahmen der Tradition(en) entfalten, in die sie sich hineingestellt finden, und in seltenen Fällen durch ihre Auslegung eine neue Tradition begründen.« 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 58 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 59 Ulrich Berner War das frühe Christentum eine Religion? bei der Blindheit des Judentums zu suchen, sondern allein bei denen, die Christen, Katholiken und Rechtgläubige genannt werden ...«. 35 Ein anderes religionstheologisches Modell, das keine Absage an den Pluralismus enthält, findet sich bei Synesios von Kyrene, einem weniger bekannten Kirchenvater und Zeitgenossen Augustins. 36 Auch wenn der Religionsbegriff weiterhin verwendet wird, kann der Vorschlag von W.C. Smith doch zumindest als Anregung aufgenommen werden. Das von ihm als Ersatz vorgeschlagene Begriffspaar »faith« und »(cumulative) tradition« lenkt den Blick von den Religionen auf die Menschen, die ihren Glauben zumeist im Rahmen der Tradition(en) entfalten, in die sie sich hineingestellt finden, und in seltenen Fällen durch ihre Auslegung eine neue Tradition begründen. Diese Betrachtungsweise könnte auch und gerade im Hinblick auf das frühe Christentum und das Verhältnis zum Judentum von Interesse sein. 37 l Anmerkungen 1 Siehe P. Antes, Christentum, in: ders. (Hg.), Die Religionen der Gegenwart. Geschichte und Glauben, München 1996, 44-65, hier: 45. 2 Ebd., 10f. 3 Siehe G. Widengren, Religionsphänomenologie, Berlin 1969, 4. Der Indologe Klaus Mylius hat dagegen die Auffassung vertreten, der originäre Buddhismus sei keine Religion gewesen, und die Entwicklung zur Religion habe erst später eingesetzt (Die vier edlen Wahrheiten. Texte des ursprünglichen Buddhismus, München 1985, 34f). 4 Siehe E. Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, 2. Aufl., Frankfurt 1984, 54-57; 63. 5 Vgl. dazu Chr. Markschies, Zwischen den Welten wandern. Strukturen des antiken Christentums, Frankfurt a.M. 1997, 208-225. 6 Vgl. dazu U. Berner, Reflections upon the Concept of »New Religious Movement«, in: Method and Theory in the Study of Religion 12 (2000), 267-276. 7 Vgl. dazu Markschies, Zwischen den Welten wandern, 199f. 8 Siehe H. v. Stietencron, Der Begriff der Religion in der Religionswissenschaft, in: W. Kerber (Hg.), Der Begriff der Religion, München 1993, 111-137; hier: 133f. 9 H. v. Stietencron, Der Hinduismus, München 2001, 7. Axel Michaels spricht zwar auch von mehreren »Hindu-Religionen«, gibt aber eine ganz andere Einteilung, da er sich sich nicht an der Dogmatik, sondern am Ritual orientiert (Der Hinduismus, München 1998, 37- 39). 10 Vgl. dazu G. Wießner, Fundamentalismus in der Religionsgeschichte, in: D. Lange (Hg.), Religionen. Fundamentalismus. Politik, Frankfurt u.a. 1996, 47-64. 11 Siehe W.C. Smith, The Meaning and End of Religion, New York u.a. 1978, 194f; vgl. ders., Faith and Belief, Princeton 1979, 4f. 12 P. Antes, »Religion« einmal anders, in: Temenos 14 (1978), 183-197, hier: 197. 13 Siehe dazu: K. Rudolph, Inwieweit ist der Begriff »Religion« eurozentrisch? , in: U. Bianchi (Hg.), The Notion of Religion in Comparative Research, Roma 1994 (Storia delle religioni 8), 131-139. Vgl. auch: H. Zinser, Der Begriff der Religion, in: ders., Der Markt der Religionen, München 1997, 149-169, hier: 164; 168. 14 So hat z.B. auch der indische Theologe S.J. Samartha, selbst ein Vertreter des religiösen Pluralismus, eine begriffliche Differenzierung vorgenommen, wenn er von sich sagt: »I am a Christian by faith and a Hindu by culture« (Gespräch in Bangalore, Oktober 1988). Zum theologischen Ansatz Samarthas siehe z.B.: The Cross and the Rainbow: Christ in a Multi-Religious Culture, in: S. Das (Ed.), Christian Faith and Multiform Culture in India, Bangalore 1987, 15-47. Vgl. dazu auch: U. Berner, Zur Hermeneutik religiöser Symbole. Das Kreuzsymbol in der frühchristlichen und in der modernen indischen Theologie, in: Th. Sundermeier (Hg.), Die Begegnung mit dem Anderen, Gütersloh 1991 (Studien zum Verstehen fremder Religionen 2), 94-108, hier: 97f. 15 So auch W. Burkert, Ancient Mystery Cults, Cambridge Ma. 1987, 3f. 16 Plinius, ep. X,96,7 (Übersetzung: M.Giebel, Stuttgart 1985). 17 Zum Begriff der »eingebetteten« Religion in Gegenüberstellung zum modernen Begriff der Religion, vgl. W. Stegemann, Christentum als universalisiertes Judentum? Anfragen an G. Theissens »Theorie des Urchristentums«, in: Kirche und Israel 16 (2001), 130- 151, hier: 144-146. 18 Siehe Cicero, De natura deorum II,72. Vgl. dazu: U. Berner, Religio und superstitio. Betrachtungen zur römischen Religionsgeschichte, in: Th. Sundermeier (Hg.), Den Fremden wahrnehmen, Gütersloh 1992 (Studien zum Verstehen fremder Religionen 5), 45-64. Vgl. dazu auch J. Irmscher, der allerdings nicht auf diese Definition Ciceros eingeht: Der Terminus religio und seine antiken Entsprechungen im philologischen und religionsgeschichtlichen Vergleich, in: U. Bianchi (Hg.), The Notion of Religion, 63-73. 19 Siehe Plinius, Panegyricus 2,3. Vgl. dazu: P. Herz, Der römische Kaiser und der Kaiserkult. Gott oder primus inter pares? , in: D. Zeller (Hg.), Menschwerdung Gottes - Vergöttlichung von Menschen, Göttingen u.a. 1988, 115-140, hier: 137-139; dagegen: M. Clauss, Kaiser und Gott. Herrscherkult im Römischen Reich, Stuttgart u.a. 1999, 30f. Die Stellung des Kaisers zwischen Göttern und Menschen wird besonders deutlich formuliert in Panegyrikos 67,5. Diese Stelle wird in der Monographie von Clauss nicht berücksichtigt. Zur Problematik des Religionsbegriffes in der Deutung des Herrscherkultes vgl. G. Löhr, Religiöse und philosophische Legitimation politischer Macht im antiken Herrscherkult, in: J. Mehlhausen (Hg.), Recht. Macht. Gerechtigkeit, Gütersloh 2000, 745-758. 20 Siehe Passio Sanctorum Scillitanorum 1; 8; 14. 21 Vgl. dazu R. Feldmeier, Philosoph und Priester: Plutarch als Theologe, in: M. Baumbach u.a. (Hg.), Mousopolos Stephanos, FS H. Görgemanns, Heidelberg 1998, 412-425. 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 59 60 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Kontroverse 22 Siehe Plutarch, De superstitione 170E; 171F. 23 Siehe Plutarch, Non posse suaviter vivi secundum Epicurum 1102B/ C. Vgl. dazu: U. Berner, Plutarch und Epikur, in: Plutarch, Ist »Lebe im Verborgenen« eine gute Lebensregel? , Eingeleitet, übersetzt und mit interpretierenden Essays versehen von U. Berner, R. Feldmeier, B. Heininger, R. Hirsch-Luipold (SAPERE 1), Darmstadt 2000, 117-139, hier: 130f. 24 Siehe Plutarch, De superstitione 169D; Non posse suaviter vivi secundum Epicurum 1101E. 25 Zum Begriff »personal religion« vgl. Burkert, Ancient Mystery Cults, 10f. Auch J. Rüpke stellt fest, daß sich »die religiösen Aktivitäten des einzelnen nicht in der Verbindung von familiärem Hauskult und öffentlichen Festen erschöpfen« (Die Religion der Römer, München 2001, 199). 26 Siehe Plutarch, Consolatio ad uxorem 611D. 27 Dies wird besonders deutlich im pseudoplatonischen Dialog »Axiochus«. Vgl. auch A. Dihle, Philosophie als Lebenskunst, Opladen 1990 (Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften. Vorträge G 304). 28 Siehe Cicero, Briefe an Atticus XII, 14f. 29 Siehe Apuleius, Apologie 55,8-10. 30 Siehe Apuleius, Apologie 63. 31 Vgl. dazu: J. Hammerstaedt, Apuleius: Leben und Werk, in: Apuleius, De magia, Darmstadt (SAPERE 5) (im Druck). 32 Der Religionssoziologe R. Stark unterscheidet »zwei sehr unterschiedliche Arten religiöser Unternehmen«: die Religionsfirma des einen Typs verlangt »exklusive Zugehörigkeit«, die Firmen des anderen Typs »akzeptieren, dass ihre Mitglieder anderweitig religiöse Bindungen haben« (Der Aufstieg des Christentums, Weinheim 1997, 237). Vgl. dazu: R. Stark / R. Finke, Acts of Faith. Explaining the Human Side of Religion, Berkeley u.a. 2000, 193-217: »A Theoretical Model of Religious Economies«. 33 Symmachus, Relatio III, 10 (Übersetzung: R. Klein, Darmstadt 1972). 34 Themistios, 5. Rede, 69a (Übersetzung: H. Leppin / W. Portmann, Stuttgart 1998). 35 Augustin, de vera religione V.9 (Übersetzung: W. Thimme, Stuttgart 1983). 36 Vgl. dazu: U. Berner, Die antiken Religionen und ihre Relevanz für Religionswissenschaft und Theologie, in: G. Löhr (Hg.), Die Identität der Religionswissenschaft, Frankfurt 2001, 13-32, hier: 20-22. 37 Zur Problematik konventioneller Beschreibungen des Verhältnisses zwischen Judentum und frühem Christentum (insbesondere die Metapher von Mutter und Tochter) vgl. Stegemann, Christentum als universalisiertes Judentum? , 139-144. In wichtigen Situationen und an entscheidenden Wendepunkten seines Lebens hat Dostojewskij sich grundsätzlich zum Wesen und Werk und zur Bedeutung Jesu Christi geäußert, und in jedem seiner fünf großen Romane ist dessen Gestalt in zentralen Szenen und in jeweils wechselnder Problematik gegenwärtig. Der emeritierte Tübinger Slawist und Theologe Ludolf Müller stellt in diesem Buch alle wichtigen Äußerungen Dostojewskijs über Christus zusammen, gibt die entscheidenden Stellen in eigener Übersetzung wieder und interpretiert sie nach ihrer philosophischen und theologischen Aussage. In einem abschließenden Kapitel über die Religion Dostojewskijs stellt er dessen Auffassung von der Gestalt Christi in den Gesamtzusammenhang seiner religiösen Weltanschauung. Dabei wird deutlich, daß Dostojewskij einer der leidenschaftlichsten religiösen Sucher und aktuellsten religiösen Denker der Moderne war. Aus dem Inhalt: Der junge Dostojewskij; »An Maschas Bahre«; Die Auferweckung des Lazarus (»Schuld und Sühne«); Der tote Christus im Grabe (»Der Idiot«); »Die bösen Geister«; Christus und der Tod Gottes (»Der Jüngling«); Der Kampf Christi mit dem Geist der Wüste (»Der Großinquisitor«); »Die Brüder Karamasow«; Die Religion Dostojewsjijs. Ludolf Müller Die Gestalt Jesu Christi im Leben und Werk Dostojewskijs 2002, ca. 160 Seiten, ca. 19,-/ SFr 32,30 ISBN 3-89308-351-0 Attempto Verlag · Dischingerweg 5 · 72070 Tübingen 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 60
