ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
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2002
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Dronsch Strecker VogelEckart Reinmuth - Hermeneutik des Neuen Testaments. Eine Einführung in die Lektüre des Neuen Testaments UTB 2310 Göttingen 2002, 118 S., ISBN 3-8252-2310-8
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Stefan Alkier
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ZNT 10 (5. Jg. 2002) 79 Eckart Reinmuth Hermeneutik des Neuen Testaments. Eine Einführung in die Lektüre des Neuen Testaments UTB 2310 Göttingen 2002, 118 S., ISBN 3-8252-2310-8 Um es gleich zu Beginn zu sagen: dieses Buch sollten Sie lesen! »Es richtet sich an Studienanfänger in Religionspädagogik und Theologie, an interessierte Nichtfachleute, aber auch an Menschen, die beruflich mit der öffentlichen Rechenschaft darüber, was das Neue Testament heute zu sagen hat, betraut sind.« (10) Dieses Buch sollten Sie lesen, wenn Sie daran interessiert sind, in grundlegende Fragen des Verstehens auf der Höhe gegenwärtiger Methoden- und Theoriediskussion eingeführt zu werden, denn es gelingt Reinmuth, auf nur 118 Seiten in einer nicht nur verständlichen, sondern sehr ansprechenden Weise schwierige Theorie- und Methodenkomplexe elementarisiert darzustellen, ohne sie der Sache nach zu verkürzen oder zu verplätten. Schon allein deshalb gebührt Reinmuth hier Lob und Anerkennung, denn mit diesem Buch ermöglicht er es, grundlegende Probleme und neue Denkansätze neutestamentlicher Wissenschaft einer breiten Öffentlichkeit darzulegen. Seine Hermeneutik wird gerade auch als akademisches Lehrbuch in der Lage sein, Studierende aller theologischen Studiengänge in ihrer »Lesekunst« (5) nachdrücklich zu fördern. Aber auch meine Kritik an dem Buch möchte ich vorwegschicken: Reinmuth verzichtet vollständig auf die Möglichkeiten eines Anmerkungsapparates und zwar zum Schaden seines Anliegens. Er nimmt damit gerade den mit der Theorie nicht oder nur wenig vertrauten Leserinnen und Leser die Möglichkeit, an den Stellen selbstständig weiterzuarbeiten, die sie für besonders relevant oder überprüfenswert halten. Mit gezielten Literaturhinweisen und sparsamen Erläuterungen hätte dieses Buch auch zum weiteren Selbststudium anleiten können. Dies kann die Literaturliste nicht auffangen, da der überwiegende Teil der angesprochenen Leserschaft nicht über die Zeit verfügen wird, erst einmal alle angegebenen Titel auf die sie interessierenden Probleme hin durchzusehen. Zudem handelt es sich bei der Literaturliste nur um eine allzu knappe Auswahl an relevanten Titeln. Beides sollte in einer zweiten Auflage, die ich diesem Buch wünsche, unbedingt verbessert werden. Zur Sache: Gerade auf dem Gebiet der Hermeneutik befindet sich die neutestamentliche Wissenschaft in einem radikalen Umbruch. Die einäugige produktionsorientierte Hermeneutik, die den Sinn eines Textes allein in der Rekonstruktion seiner Genese aufzuspüren meinte, ging davon aus, ein Text habe einen Sinn, den es zu rekonstruieren gelte. Die Vermittlung des rekonstruierten Sinnes wurde dann als der Exegese nachgeordnete Aufgabe der Religionspädagogik bzw. der Praktischen Theologie deklariert. Nachdem diese Fächer sich von dieser Überheblichkeit und Bevormundung der einsinnig historisch ausgerichteten neutestamentlichen Wissenschaft durch die Etablierung einer eigenen Praktisch-Theologischen Hermeneutik 1 emanzipiert haben, wächst auch in der neutestamentlichen Wissenschaft die Bereitschaft, die »offenenen Fragen« 2 , die von einzelnen Fachvertretern bereits Anfang der 1970er Jahre gestellt worden waren und in der anglo- und frankophonen Welt bereits zu einer anhaltenden Diskussion um die grundlegenden Paradigmen neutestamentlicher Wissenschaft führten, aufzugreifen und zu diskutieren. 3 Diese offenen Fragen betreffen maßgeblich die Hermeneutik als diejenige Theorie, die Grundfragen des Verstehens erörtert: Was heißt es, einen Text zu verstehen? Welche Bedingungen des Verstehens gilt es zu berücksichtigen? In welchem Verhältnis stehen Text und Geschichte? Wie entsteht Sinn? Gibt es nur einen Textsinn oder gibt der Text mehrere Sinne zu verstehen? Was ist ein Text? Wie funktioniert Lesen? Darf man mit einem Text alles machen? Bedarf es einer Ethik der Interpretation? Die wohl wichtigste Einsicht einer zeitgemäßen Hermeneutik besteht in dem Wissen um die Notwendigkeit einer interdisziplinären Theoriebildung. Ohne literaturwissenschaftliche, textlinguistische, rezeptionsästhetische, geschichtstheoretische und semiotische Grundkenntnisse kann eine Hermeneutik des Neuen Testaments nicht mehr geschrieben werden. Die Einbindung der neutestamentlichen Hermeneutik in diese interdisziplinäre Landschaft führt zu drei grundlegenden Anforderungen: 1. Eine informierte und sachgemäße Hermeneutik bedarf einer Texttheorie. 2. Eine informierte und sachgemäße Hermeneutik darf nicht mehr einäugig produktionsorientiert sein, sondern muß die Rezeptionsvorgänge in ihre Theorie integrieren, damit die Funktion des Leseres / der Leserin für die Sinnkonstitution des Textes in den Blick kommt. 3. Eine informierte und sachgemäße Hermeneutik bedarf einer Theorie über das Verhältnis von Text und Geschichte. Diese Theorieanforderungen erfüllt Reinmuths Hermeneutik in beeindruckender Weise. Ohne sich in den Netzen endloser Theoriedebatten zu verfangen, führt Reinmuth seine Leserinnen und Leser durch die vier Kapitel seines Buches. Im ersten Kapitel »Eine Geschichte verstehen« (11-38) führt Reinmuth sein Paradigma der Jesus-Christus-Geschichte ein, das er rezeptionsästhetisch, geschichtstheoretisch und theologisch in überzeugender Abgrenzung zur Leben-Jesu-Forschung entfaltet. Es dient zudem als Kriterium einer sachgemäßen Auseinandersetzung mit Buchreport 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 79 80 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Buchreport den Texten des Neuen Testaments. Das zweite Kapitel (39-64) trägt die Überschrift »In Bildern sprechen«, in dem das Problem der Übersetzung, Jesu zeichenhaftes Handeln und die Entdeckung der Metaphorizität der Sprache thematisiert werden. Gesetztes Ziel des dritten Kapitels (65-90) ist es, »die Frage nach der Wahrheit des Neuen Testaments neu zu stellen« (88), um im letzten Kapitel (91-111) die pragmatische Dimension einer Hermeneutik des Neuen Testament unter der Überschrift »Mit Texten handeln« in den Blick zu bekommen. Dabei benennt der Untertitel von Reinmuths Buch bereits die Position des Autors: Er versteht Hermeneutik dezidiert als eine Theorie der Lektüre. Damit vollzieht er nicht weniger als einen Paradigmenwechsel neutestamentlicher Wissenschaft nämlich den von der zu rekonstruierenden Historie hin zum zu lesenden Text. Der biblische Text und seine Lektüre unter den Rezeptionsbedingungen der Gegenwart ist der Leitfaden der Hermeneutik Reinmuths. Gekonnt umgeht er den Fehler einiger Reader-Response Theorien, die Einseitigkeit autorzentrierter Hermeneutik durch die Einseitigkeit leserorientierter Hermeneutik lediglich abzulösen. Auch die irreführende Alternative zwischen »Diachronie« und »Synchronie« vermeidet er terminologisch und der Sache nach konsequent. Dies gelingt ihm auf der Theorieebene durch seine explizite Texttheorie (vgl. 91f.) und die eingebrachten geschichtstheoretischen Einsichten (vgl. 23ff.). Die Überzeugungskraft seines Ansatzes besteht dann aber darin, dass er diese theoretischen Aspekte direkt für die Auslegung des Neuen Testaments fruchtbar macht, wofür sein Terminus »Jesus- Christus-Geschichte« steht: »Die Jesus-Christus-Geschichte ist etwas im Kern anderes als eine historischkritische Konstruktion des Lebens Jesu von Nazareth. Sie ist ein Sammelbegriff für die Geschichten und Erinnerungen, die sich dem Angesprochensein von diesem Menschen und seiner Geschichte verdanken, den Wahrheitserfahrungen, die Menschen mit dieser Geschichte machten und mit ihren Erinnerungen teilten.« (21) Damit versteht er die neutestamentlichen Schriften als verschiedene Erinnerungen der Jesus-Christus- Geschichte und leistet damit dreierlei: 1. Die reale Vorgegebenheit der Jesus- Christus-Geschichte bleibt gewahrt und schützt vor Beliebigkeit und Willkür der Rezeption. 2. Die Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit der Erinnerungsbilder bleibt gewahrt und wird für die Rezeption der Gegenwart fruchtbar gemacht 3. Die Frage nach der Wahrheit der Jesus-Christus-Geschichte wird zur Frage der Lebenswahrheit ihrer jeweiligen Rezipienten. Die Hermeneutik Reinmuths erfüllt nicht nur die theoretischen Grundanforderungen zeit- und sachgemäßer Hermeneutik, sondern sie bietet auf eindringliche und weiterführende Weise auch einen Beitrag zur theologischen Relevanz neutestamentlicher Wissenschaft. Durch das Paradigma des gelesenen Textes wird die theoretische Frage des Verstehens eines Textes zur lebenspraktischen Frage nach der Relevanz der Weise des Lesens. Reinmuths Ermutigung und Anleitung zu einer hermeneutisch begründeten Lesekunst eröffnet auch Perspektiven für eine theologisch begründete Lebenskunst. Stefan Alkier l Anmerkungen 1 Vgl. Henning Schröer, Art. Hermeneutik. Praktisch-Theologisch, in: TRE XV, 150-156, sowie die ihm gewidmete Festschrift: Praktisch-Theologische Hermeneutik. Ansätze-Anregungen-Aufgaben, hg.v. D.Zilleßen u.a., Rheinbach- Merzbach 1991. 2 Erhardt Güttgemanns, Offene Fragen zur Formgeschichte des Evangeliums. Eine methodologische Skizze der Grundlagenproblematik der Form- und Redaktionsgeschichte, 2.Aufl., München 1971; ders., ›Text‹ und ›Geschichte‹ als Grundkategorien der Generativen Poetik. Thesen zur aktuellen Diskussion um die ›Wirklichkeit‹ der Auferstehungstexte, in: Linguistica Biblica 11 (1972), 1-12; ders., fragmenta semiotico-hermeneutica. Eine Texthermeneutik für den Umgang mit der Heiligen Schrift (FThL 9), Bonn 1983. 3 Vgl. George Aichele (Hg.), The Postmodern Bible. The Bible and Culture Collective, Yale 1995; Stefan Alkier / Ralph Brucker (Hg.), Exegese und Methodendiskussion (TANZ 23), Tübingen / Basel 1998. 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 80