eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 5/9

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
121
2002
59 Dronsch Strecker Vogel

Das »letzte Gericht« - ein erledigtes Mythologumenon?

121
2002
Kurt Erlemann
znt590047
Kurt Erlemann Das »letzte Gericht« ein erledigtes Mythologumenon? Gericht und Zorn Gottes gehören nicht zu den Lieblingsthemen der Exegese gerade die protestantische Exegese kann diesem biblischen Komplex der Rede vom Gericht oder vom Zorn Gottes nicht viel abgewinnen. So verwundert es auch nicht, dass in der Forschungsgeschichte der Gerichtsaspekt der Verkündigung zumeist verdrängt und als nicht auf Jesus zurückzuführen eingestuft wurde. 1 1. Die Rede vom Endgericht im Neuen Testament 1.1 Texte, Bildfeld, Endzeitszenario Die Rede vom zornigen und richtenden Gott findet sich expressis verbis oder zumindest in Andeutungen im ganzen Neuen Testament. Im allgemeinen wird mit ihrer Hilfe der Zusammenhang zwischen menschlichem Fehlverhalten und dessen Folgen aufgezeigt. 2 Detailliertere Auskünfte über das Gerichtsszenario geben Mt 25,31-46 und Offb 4. An diesen Texten eines Richterkollegiums, dem der erhöhte Christus oder Gott selbst vorstehen. Kein Text bietet die ganze Bandbreite der Vorstellungen, einzelne Elemente können in Spannung zueinander stehen. Eine Systematisierung findet nicht statt. Ein richtiggehendes Gerichtsverfahren ist nicht erkennbar, vorausgesetzt ist vielmehr, dass das Urteil schon vorher feststeht. 5 Der forensische Gerichtsakt dient lediglich dem Schuldaufweis und der nachfolgenden Urteilsvollstreckung.6 Auch was den Zeitpunkt der eschatologischen krisis anbelangt, gibt es im Neuen Testament eine große Bandbreite von der Vorstellung eines rein zukünftigen Aktes bis hin zu präsentischen Aussagen, wonach bereits mit dem Auftreten J esu von N azareth oder anderen Ereignissen das Endgericht begonnen hat. 1.2 Das zugrundeliegende Geschichtsverständnis In einer lange andauernden Krise seiner Geschichte hat Israel, politisch am Boden und in seinem Glauben an den Gott und einigen weiteren lässt sich ein Bildfeld, das um Gottes Thron- oder Gerichtssaal gruppiert ist, erkennen. So sieht man Gott : , TROV E der Erwählung erschüttert, die Apokalyptik hervorgebracht, mit ihrer negativen Sicht auf die vorfindliche bzw. den erhöhten Christus auf dem Richterstuhl in der Mitte des Saales sitzen, um ihn herum anbetende Gestalten (Offb 4) sowie Zeugen, Ankläger und Verteidiger. Nach Lk 12,8f.par ist der Menschensohn Zeuge für bzw. gegen den Menschen. Auch das Gewissen des Einzelnen kann Zeugenfunktion übernehmen (so bei Paulus und im Hebr). 3 Zu den Anklägern gehören nach neutestamentlicher Auffassung Engel, Mächte und Gewalten (Röm 8,38f.). Verteidiger des Menschen ist der erhöhte Christus zur Rechten Gottes,4 zu nennen ist aber auch der Heilige Geist als Sprachrohr und Fürsprecher des Menschen auf Erden (Röm 8,26; Joh 13-17). Nach Mt 19,28par sind die Jünger, in Offb 20,4 die Märtyrer Mitglieder ZNT 9 (5. Jg. 2002) Gegenwart und ihren Visionen vom kosmischen Endkampf, vom Kommen des Menschensohn-Messias, vom Weltuntergang und Endgericht. Letzteres steht am Schnittpunkt zweier Äonen des jetzigen, bald endenden und des kommenden, ewigen Weltzeitalters. Das Gericht ist Voraussetzung des ersehnten, umfassenden Heils, in welchem es kein Nebeneinander von Erwählten und Feinden, Guten und Bösen mehr geben wird. 7 Die Apokalyptik hat im Neuen Testament und im weiteren frühen Christentum ihre Spuren hinterlassen. 8 Vor rund 40 Jahren war es eine exegetische Kontroversfrage ersten Ranges, ob die Apokalyptik die Mutter der christlichen Theologie sei oder nicht. 9 Die Suche nach dem Spezifikum des christlichen Gottesbildes hat viele 47 Energien freigesetzt, die apokalyptischen Züge in der Predigt Jesu literarkritisch oder, bei Paulus, durch Annahme einer theologischen Entwicklung zu eliminieren als eigentlich überwundene Entwicklungsstufe. Apokalyptische Szenarien und die Rede vom rechtfertigenden, liebenden Gott erschienen und erscheinen als verschiedene Stufen theologischer Reflexion. Ohne die Debatte groß aufzugreifen, ist kurz zu skizzieren, worin m.E. das apokalyptische Erbe besteht und wo die Differenz zum Frühen Judentum zu sehen ist. Jesus ist Apokalyptiker, sofern er die Gegenwart unter dem Vorzeichen des nahen Endes mitsamt Gericht und der aufziehenden Herrschaft Gottes sieht. Er ist es nicht, insofern er das eschatologische Geschehen als bereits jetzt, mit seinem Wirken, einsetzen sieht. 10 In der christologischen Reflexion erfährt das apokalyptische Geschichtsbild eine spezifische Brechung: Die eigentliche geschichtliche Wende ist Szene aus dem »Ägyptischen Totenbuch«. mit dem Christusgeschehen vollzogen; die Gegenwart ist Zeit des Übergangs zwischen den Äonen, zwischen »Nacht und Tag« (Röm 13,12), »Finsternis und Licht« (1Joh 2,8). Der »eschatologische Vorbehalt« betrifft die Erfüllung noch ausstehender Verheißungen bzw. das Offenbarwerden der für den kosmos noch unsichtbaren Wirklichkeit (vgl. Röm 8,24). Dementsprechend stehen auch präsentische und futurische Gerichtsaussagen nebeneinander; je nach Aussageabsicht wird der eine oder der andere Akzent hervorgehoben. Das Gericht wird in Ereignissen der Zeitgeschichte11 bzw. im AuftretenJesu erkannt 12 oder umfassend und endgültig für die nahe Zukunft erwartet. Im Anschluss betrachte ich einzelne Texte genauer, um die Eigenart und den Stellenwert der Rede vom Gericht und Zorn Gottes in ihrem jeweiligen Kontext zu erfassen. Der Verstorbene Hunefer wird von Anubis in den Gerichtssaal zur Großen Waage geführt. Sein Herz muss gegen die Feder der Wahrheit der Göttin Maat gewogen werden. Unter der Waage wartet Amet, der Seelenverschlinger, ein Ungeheuer, das die Herzen der Ungerechten verschlingt. Der ibisköpfige Thot schreibt das Urteil auf. Nachdem Hunefer das Urteil bestanden hat, wird er von Horus zu Osiris, dem Herrn der Unterwelt, geführt. 48 ZNT 9 (5.Jg. 2002) Kurt Erlemann Das »letzte Gericht« ein erledigtes Mythologumenon? Kurt Erlemann Professor Dr. Kurt Erlemann, Jahrgang 1958, Studium der Evangelischen Theologie in München, Zürich und Heidelberg. Promotion 1986, Habilitation 1994, seit 1996 Universitätsprofessor für Neues Testament und Alte Kirchengeschichte an der Universität Wuppertal. 2. Verschiedene neutestamentliche Modelle, Zorn und Gericht Gottes zu denken 2.1 Mt und Q: Die »bessere« Gerechtigkeit Gottes Mt ist stark apokalyptisch eingefärbt, wie die Gleichnisse, die Ölbergrede und vor allem das Bild vom Endgericht Mt 25,31-46 zeigen. Primäre Zielgruppe des Evangelisten ist »seine« Gemeinde, ein corpus permixtum aus »Berufenen« und »Auserwählten« (Mt 22,14), aus Guten und Bösen (Mt 13,24-30). Die matthäischen Gerichtsdrohungen ergehen auf der narrativen Ebene besonders gegen die Pharisäer (Mt 3,7; Mt 23). Hauptvorwurf ist die Heuchelei, das heißt der Gegensatz zwischen Reden und Handeln. Gefordert wird, im gerechten Tun besser als die Pharisäer zu sein, das heißt, dem Reden auch ein entsprechendes Handeln folgen zu lassen. Oder, mit Mt 5,48: so vollkommen wie Gott selbst zu sein. Die Bergpredigt konkretisiert, was mit »besserer Gerechtigkeit« gemeint ist. Wer sie nicht leistet, verfällt dem Urteilsspruch Gottes. Im Gleichnis vom Schalksknecht (Mt 18,23-35) ist Barmherzigkeit das Urteilskriterium. Vor dem Zorn des Königs steht sein übergroßes, notwendendes Erbarmen. Die Verweigerung dieser Haltung dem Mitknecht gegenüber ist Anlass, das ursprüngliche Erbarmen zurückzunehmen. Auf ZNT 9 (5. Jg. 2002) der Ausgangsebene gesprochen: Gott solidarisiert sich mit dem abhängigen zweiten Knecht, und diese Solidarität lässt ihn genauso emotional wie am Anfang reagieren nur mit negativem Vorzeichen. Vergebungsbereitschaft ist nach dem Vaterunser Voraussetzung für eine erfolgreiche Bitte um Gottes Vergebung. Bessere Gerechtigkeit hängt schließlich mit Güte bzw. Großzügigkeit zusammen. So im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1-16). Gottes »bessere Gerechtigkeit« arbeitet nicht nach dem Gesetz des Proporzes, sondern lässt großzügig jedem zukommen, was er braucht, ohne dadurch ungerecht zu werden. Damit sind die für das Endgericht ausschlaggebenden Urteilskriterien genannt: Solidarität mit den Abhängigen und Entrechteten. Die Forderung des Liebesgebots ohne Wenn und Aber wird in Mt in ihrer sozialen Schärfe durchbuchstabiert. Gott ist dabei kein willkürlicher Despot, sondern Anwalt jener Gruppen, die uns anvertraut und von unserer liebenden Solidarität abhängig sind. Die Funktion der Rede vom Endgericht ist es, an diesen Grundzug Gottes und an die Konsequenzen, die sich daraus für das ethische Verhalten ergeben, zu erinnern. Neben diesen mehr futurisch gehaltenen Aussagen kennt das Evangelium auch den Gedanken des sich schon jetzt vollziehenden Gerichtes. Dabei ist die Haltung Jesus gegenüber das entscheidende Urteilskriterium. »Selig ist, wer mich nicht als skandalon empfindet« (Mt 11,6 par Lk 7,23). Der aus Q übernommene Spruch verknüpft das Gericht ebenso mit dem AuftretenJesu wie das Wort von der mit den Exorzismen anbrechenden Gottesherrschaft Mt 12,28par oder wie das Gleichnis vom königlichen Festmahl Mt 22,1-14. Jesus lädt zum himmlischen Fest ein, Gute wie Böse. Wer das Angebot annimmt und es mit seinem Verhalten zu würdigen weiß, gehört zu den Erwählten; wer nicht, wird ausgeschlossen. 2.2 ]oh: Die Liebe Gottes zum Kosmos und dessen Selbstverurteilung Im Gespräch mit Nikodemus thematisiert Jesus das Verhältnis von Gericht und Liebe Gottes (Joh 3,16-21). Grundsätzlich heißt es (V.16): Gott hat den kosmos geliebt, deshalb hat er seinen Gesandten zu ihm geschickt, um den Glaubenden das ewige Leben zu bringen. Die Mission J esu hat für 49 die Welt ein positives Vorzeichen, es ist eigentlich kein Gerichtsszenario, auch wenn Jesus mit dem endzeitlichen Menschensohn-Richter identifiziert wird (Joh 6,53f.). Wenn sich die Sendung Jesu trotzdem als Gericht herausstellt, dann liegt das allein an der Haltung der Menschen, die Jesus als inkarnierten Gottessohn ablehnen. Sie verurteilen sich damit selbst, das Gericht ist negativer Nebeneffekt des rettenden Eingreifens Gottes. Deutlicher als Mt verortet Joh das Gerichtsgeschehen in die Gegenwart der Zeit Jesu bzw. der Gemeinde. Das eigentliche Gerichtsverfahren läuft bereits jetzt, in der persönlichen Konfrontation mit dem Evangelium. Wer es ablehnt, verurteilt sich selbst, wer es annimmt, hat bereits jetzt das ewige Leben. In der konkreten Bekehrungssituation vollzieht sich demnach das, was nach apokalyptischer Vorstellung ein mythisches Ereignis der Zukunft ist. Die Rede vom Endgericht ist dadurch nicht ausgeblendet (vgl. Joh 5,28f.), doch in seiner Bedeutung zurückgenommen. Dort wird sozusagen in zweiter Instanz das Urteil der ersten Instanz bestätigt und dauerhaft vollzogen. Deutlicher als vom Endgericht ist bei Joh von den Zugangskriterien zum ewigen Leben die Rede. Nach den johanneischen Abschiedsreden liegt das Heil der Menschen im Festhalten am Liebesgebot und der dadurch ermöglichten, bleibenden Gemeinschaft mit dem Erhöhten. Wer sie nicht hält, vollzieht an sich selbst das Gericht - oder johanneisch gesprochen: bleibt in der Finsternis bzw. fällt in sie zurück, ist von der Sphäre Gottes und des Lichts getrennt. Das vollzieht sich bereits zu Lebzeiten und setzt sich postmortal fort. 2.3 l]oh: Globale Sündenvergebung und Todsünde Zu Beginn des Briefes wird Christus als bleibender Paraklet/ Fürsprecher der Menschen vor Gottes Thron eingeführt. Seine Funktion besteht darin, Versöhnungsdienst zwischen Gott und Menschen zu leisten bzw. Sünden zu vergeben (1Joh 1,9-2,2). Wichtig ist die Formulierung in 2,2: nicht allein unsere Sünden, sondern die der ganzen Welt (gr. peri holou tau kosmou). Das scheint eine echte Alternative zum matthäischen Gerichtsgedanken zu sein: Statt Endgericht Versöhnung für die Sünden der Welt, statt Vernichtung der Bösen deren Integration ins Heils- 50 geschehen, statt Exekutierung eines menschlich gedachten Gerechtigkeitsbegriffs dessen Aufhebung in die Kategorie der Versöhnung. Die mythisch-archaische Gerichtsvorstellung scheint überwunden, der Gedanke der Unverfügbarkeit Gottes und seiner Maßstäbe mutig weiter gedacht. Da wirkt es ernüchternd, wenn am Ende doch noch von unvergebbarer Todsünde die Rede ist (lJoh 5,16; vgl. 4,15). Wie aus dem Gesamtduktus des Schreibens klar wird, besteht sie in der Verleugnung der Identität Jesu als des inkarnierten Christus und damit in der Aufkündigung der Solidarität mit der Gemeinde. Diese Auskunft relativiert die zitierte Aussage vom Briefanfang, sie zeigt gewissermaßen die Schmerzgrenze auf, jenseits derer Vergebung unmöglich ist. Von der Sündenvergebung soll und kann zwar grundsätzlich jeder profitieren. Wer aber bestreitet, dass Jesus derjenige ist, der dies als erhöhter, himmlischer Anwalt auch leisten kann, für den gilt die Zusage nicht, denn er erfüllt das entscheidende Heilskriterium nicht. Sündenvergebung, Bewahrung vor Gottes Zorn und Gericht sind damit wie bei Joh eng an das Credo gebunden. Das adäquate ethische Verhalten wird nicht als Konsequenz formuliert, sondern als Indiz für den Glauben. Gericht bzw. Ausschluss vom ewigen Leben ist demnach, wie bei Joh, als Selbstausschluss der Betroffenen verstanden, ein besonderer Gerichtsakt in der Zukunft wird nicht erwähnt. 2.4 Röm: Die Liebe als Gegeninstanz zu Gottes Zorn In Röm 2f. führt Paulus aus, dass grundsätzlich alle Menschen dem Zorn Gottes verfallen sind, da sie dessen Gerechtigkeitsmaßstab nicht genügen. Die sarkische Natur des Menschen und der pneumatische Charakter der Tora sind inkompatibel, mit dem Ergebnis, dass die eigentlich gute Tora nichts Gutes bewirken kann, im Gegenteil. Paulus steht mit seiner Gerichtsvorstellung in prophetisch-apokalyptischer Tradition, aber er geht an zwei Stellen entscheidend über sie hinaus: Nach Röm 3,21-31 wird der Mensch aus Gnade und Glauben gerecht vor Gott - Gott selbst sorgt also für die Erfüllung seines Anspruchs, den er als Anwalt der Gerechtigkeit an den Menschen hat. Und Röm 5,5 macht deutlich, worin die gerecht machende Gnade besteht: Die Tora wird zwar ZNT 9 (5. Jg. 2002) Kurt Erlemann Das »letzte Gericht« ein erledigtes IVlythologumenon? nicht suspendiert, aber der Mensch befähigt, sie im eigentlichen Sinn zu erfüllen, aus dem Herzen heraus, mithilfe des Geistes als Manifestation der Liebe Gottes. Gott schenkt den Geist und damit zugleich eine schützende Gegeninstanz gegen seinen Zorn. Der nunmehr pneumabegabte Mensch ist befähigt, die pneumatische Tora zu erfüllen im Sinne des Liebesgebotes, dessen Forderung nach Röm 13,8 niemals endet. Paulus fasst damit das Verhältnis zwischen Gott und Menschen, ähnlich wie Mt, als Rechts- und Geschäftsverhältnis auf. Paradox ist, dass Gott den Menschen dazu verhilft, ihre Bringschuld zu leisten. Was in Mt 18 das vorgängige Erbarmen des Königs ist, ist in Röm die Gabe des Geistes. Dazu kommt, wie in lJoh 2, die Rede von Christus als himmlischem Anwalt der Menschen (Röm 8,34) und zusätzlich vom Geist als Sprachrohr der Menschen vor Gott (Röm 8,26). Wie bei Mt ist die Gerechtigkeit der Grundzug im Gottesbild. Die Rede vom drohenden Zorn bzw. Gericht ist zum einen ein Appell, die geschenkte pneumatische Existenz ernst zu nehmen, und zum anderen, die Grenze zwischen ehemaligen Juden und ehemaligen Heiden aufzulösen beide stünden vor Gottes Zorn gleich da, beide sind dank Gottes Gnade gerettet. Wer demnach seine pneumatische Existenz handelnd realisiert, bekommt Anteil am Heil; wer nicht, schließt sich selbst aus und verfehlt das Leben. Eine Folgerung, die Paulus m Röm 8 (Leben kata sarka) andeutet. 2.5 Eph! Kol: Die Versöhnung des Alls und die Gefährdung des Heilsstandes Die Rede von der Versöhnung der Welt findet sich neben lJoh 2,2 auch in Kol 1,19f. Sinn und Zweck der Sendung J esu ist, dass in ihm alle Fülle (gr. pleroma) wohne, und er das All (gr. ta panta) mit sich versöhne durch sein Blut am Kreuz. 13 Die Aussage des Kol steht im Kontext eines Christushymnus, der wiederum Teil der Beschreibung des Heilsstandes der Gemeinde ist. Thema ist nicht Gottes Gerechtigkeit, sondern die Erhaltung des kosmos. Aber auch im Kol ist vom Zorn Gottes die Rede: zum einen als Phänomen der Vergangenheit der Angesprochenen (vor ihrer Bekehrung aus dem Heidentum waren sie »tot«, wurden durch den Schöpfergott lebendig gemacht, 14 aus dem Reich der Finsternis in sein bzw. Christi Reich versetzt 15 ), ZNT 9 (5. Jg. 2002) zum anderen als Ankündigung für die, die weiterhin lasterhaft leben (Kol 3,5) oder Irrlehre verbreiten. Nicht alle werden ein Erbteil im Reich Gottes erhalten (Eph 5,~f.). Die Aussicht auf Gericht und Zorn soll die Adressaten dazu anleiten, am erreichten Heilsstand festzuhalten und sich von denen, die der Zorn treffen wird, abzugrenzen. 16 Auch für Eph und Kol gilt demnach, dass sich der Mensch letztlich selbst verurteilt, wenn er der angebotenen Versöhnung nicht durch sein Handeln entspricht. 2.6 Fazit: Funktion und Stellenwert der Aussagen Regelmäßig ist in den neutestamentlichen Gerichtstexten der Zusammenhang zwischen menschlichem Fehlverhalten und seinen Folgen das Thema. Damit wird auch explizit oder implizit etwas über die Möglichkeiten gesagt, wie man Zorn und Gericht entgehen kann. Im Grunde werden drei Möglichkeiten genannt: 1) Theologisch: Gott selbst schützt die Menschen mittels Barmherzigkeit, Liebe und Gabe des Geistes. Diese Rede begegnet besonders im Kontext der Beschreibung des Heilsstandes und ist mit dem Aufruf zu adäquatem Handeln verbunden. 2) Christologisch: In vergleichbaren Kontexten wird das Christusgeschehen als Versöhnungsbzw. Rettungsgeschehen gedeutet. 3) Ethisch: Die Glaubenden können sich selbst schützen durch Abgrenzung vom Bösen, Festhalten am Erreichten, Leben nach dem Geist, durch das Üben geschwisterlicher Liebe, die Praktizierung der besseren Gerechtigkeit und das Bekenntnis zu Jesus Christus.17 Unterschiede gibt es in der Vorstellung, wann und wie sich das Gericht vollzieht: a) nach Q, Mt, Paulus und Offb am Jüngsten Tag, und zwar forensisch (tendenziell futurische Eschatologie; das Gericht als Scheidung von Gut und Böse); b) nach J oh entscheidend in der Begegnung mit Jesus und den Jüngern (tendenziell präsentische Eschatologie; Gericht als Selbstausschluss); c) nach lJoh im Auftreten von Irrlehrern und ihrer Verweigerung der Solidarität mit der Gemeinde (ebenfalls Gericht als Selbstausschluss) . 18 Hermeneutisch bedeutsam ist, dass die neutestamentlichen Schriften die Aussicht auf Gottes Zorn und Gericht selbst dann vor Augen halten, wenn sie die grundsätzlich erreichte Versöhnung zwischen Gott und Welt betonen. 19 Die Realität 51 der Gemeinden ist nirgends so ideal, dass die Autoren die Möglichkeit der Gefährdung oder gar Verfehlung des Heils verschweigen könnten. 20 Die Gefahr geht entweder von außen, von Irrlehrern oder von Disharmonien innerhalb der Gemeinden aus. Ziel der jeweiligen Argumentation ist es, zur unverzüglichen metanoia aufzurufen oder den gegenwärtigen Zustand als durchaus heilvollen, aber mehr oder minder stark gefährdeten Zustand wahrnehmen zu lassen. Nicht anfängliches Dabeisein, sondern dauerhaftes Dabeibleiben ist entscheidend, das ist die Botschaft aller Autoren. Das Heilsangebot gilt für alle Menschen, das Gericht ist dem zugeordnet als negative Kehrseite für diejenigen, die es ausschlagen oder nicht dauerhaft daran festhalten. Letztlich spricht sich jeder selbst das Urteil, im Endgericht wird das lediglich aufgedeckt und das Urteil vollstreckt. 21 3. Hermeneutische Überlegungen Von der Erwartung eines nahen Weltendes sind wir nach zweitausend Jahren zumeist weit entfernt. Apokalyptische Gedanken wie der des Jüngsten Gerichts prägen unseren Alltag kaum. Die Frage ist, was wir diesen Vorstellungen heute noch abgewinnen können, ob sie für uns überhaupt noch Relevanz haben. Eine Brücke zu ihnen sind Szenarien wie das am 11. September 2001, und was die Welt seither erlebt. Auch können uns ausweglos scheinende Lebenskrisen an apokalyptische Bilder erinnern. Oftmals, wenn wir uns ohnmächtig und verzweifelt erleben, drückt uns lähmende Angst vor dem schrecklichen Ende, welches die Entwicklung nehmen könnte, drängt sich der Eindruck auf, dass von der Gegenwart nichts Gutes mehr zu erwarten sei, geraten wir in jene niedergeschlagene Stimmung, in der sich Phasen banger Hoffnung und der Resignation abwechseln, und sind wir den sprichwörtlich apokalyptischen Gedanken nahe. Eine zweite Brücke könnte die Erinnerung daran sein, dass die Rede von Zorn und Gericht metaphorische Redeweise ist, eine Redeweise, die mit der Begrenztheit menschlicher Erkenntnis zusammenhängt. Wie Gott wirklich handelt bzw. letztlich handeln wird, entzieht sich unserer Wahrnehmungsfähigkeit. Ob am Ende ein Gerichtsszenario vergleichbar weltlichen Szenarien 52 stattfinden oder das Verhalten des Menschen auf eine ganz andere Weise beurteilt wird, wissen wir nicht. Die Frage ist, was hinter der juridischen Metaphorik steht, ob es theologische Erfahrungen sind, die wir teilen können und die gegebenenfalls auch ohne jene beängstigende Metaphorik ausgedrückt werden könnten. M.E. sind die Metaphern von Zorn und Gericht eine Funktion der Frage nach der Theodizee, nach Gottes Gerechtigkeit und Geschichtsmächtigkeit. Und als solche sind sie hermeneutisch unverzichtbar, und zwar aus mehreren Gründen: 1. Sie drücken die Gewissheit aus, dass Gott seinen Anspruch auf umfassende Gerechtigkeit und Barmherzigkeit stellt und diesen am Ende auch durchsetzen wird. Gott, so die Voraussetzung der Rede von Zorn und Gericht, fordert engagiert Gerechtigkeit ein, und zwar im Sinne von notwendender Barmherzigkeit und großzügiger Güte. Die futurische Rede vom Gerechtigkeit schaffenden Gott ist somit Ausdruck der Hoffnung und des Trostes für diejenigen, die unter Unrecht leiden. 2. Umgekehrt ist sie Mahnung an die, die sich schwer tun, dem Maßstab der göttlichen Gerechtigkeit nachzuleben (um es vorsichtig zu formulieren). Die Metaphorik erinnert überhaupt daran, dass unser gesamtes Tun und Handeln unter dem Maßstab der Gerechtigkeit Gottes steht, dass es kein »wertneutrales« ethisches Verhalten gibt, dass das Liebesgebot ohne Wenn und Aber, als ständige Forderung an uns, gilt. 3. Die Rede vom Endgericht hält fest, dass kein geschehenes Unrecht in den Wind geschrieben ist, und dass es vor allem nicht in der Zuständigkeit von uns Menschen liegt, Unrecht zu sühnen und vollkommene Gerechtigkeit zu schaffen. 4. Die Metaphorik bringt die ganze Emotionalität und Parteilichkeit Gottes zum Ausdruck. Sie ist damit das notwendige Pendant zur Rede von Gottes Liebe zu den Menschen, einer Liebe ohne Ansehen der Person. In der Rede von Gottes Liebe, seinem Erbarmen, von seinem alle Welt angehenden Versöhnungshandeln im Christusgeschehen bzw. in der Taufe findet die Rede vom Gericht und Zorn Gottes ihre Orientierung und Begrenzung. Sie erinnert uns daran, Gott als den Anwalt der Gerechtigkeit ernst zu nehmen, die geschenkten Lebensgrundlagen wahrzunehmen und von da aus auf die Mitmenschen zuzugehen. Eine Pre- ZNT 9 (5. Jg. 2002) Kurt Erlemann Das »letzte Gericht« ein erledigtes Mythologumenon? digt reiner Gnade ohne Hinweis auf die »dunklen« Seiten Gottes stünde letztlich in der Gefahr, die U nverfügbarkeit und Nicht-Manipulierbarkeit dieses Gottes preiszugeben. 22 Anmerkungen Vgl. dazu die Ausführungen in der Monografie von Chr. Riniker, Die Gerichtsverkündigung J esu (EHS 653), Bern u.a. 1999, 13ff. Riniker weist zudem auf die ideologischen Vorbehalte gerade seitens der protestantischen Exegese am Thema hin (ebd. 48). 2 Beispieltexte: Mt 3,7-10; 7,13f.par; Lk 11,39-52par; 13,1-5; Hebr 10,26-31; dazu Gleichnisse wie Mt 18,23-35; Mt 25,1-13; 25,14-30par; Lk 12,35-38; 42-46par. lKor 8,7-11; 2Kor 1,12; Hehr 9,14; 10,22. 4 Röm 8,34; vgl. lJoh 2,1; Apg 7,56. 5 Mit M. Reiser, Die Gerichtsverkündigung Jesu. Eine Untersuchung zur eschatologischen Verkündigung Jesu und ihrem frühjüdischen Hintergrund (NTA NF 23), Münster 1990, 144ff. 6 Vereinzelt findet sich statt der forensischen Vorstellung die einer eschatologischen Strafaktion, so in 2Petr 3 oder in Offb. 7 Ausführlich werden die frühjüdischen Gerichtsvorstellungen bei Reiser, Gerichtspredigt, besprochen. 8 Neben den genannten Texten weise ich besonders auf Mk 13par; lPetr 4,17f. und 2Petr 3 hin. 9 E. Käsemann, Zum Thema der urchristlichen Apokalyptik, in: ZThK 59 (1962), 257-284; R. Buhmann, Ist die Apokalyptik die Mutter der christlichen Theologie? Eine Auseinandersetzung mit Ernst Käsemann (1964), in: K. Koch/ J.M. Schmidt (Hgg.), Apokalyptik (WdF CCCLXV), Darmstadt 1982, 370-376. 10 So in Mt 12,28; Lk 17,20. Dazu Reiser, Gerichtspredigt, 305. 11 Etwa: Zerstörung Jerusalems im Jahre 70: Mt 22,7 u.a.; Leiden der Christen: lPetr 4,17f. 12 Mk 3,27 (Exorzismen); Lk 10,18 (Fall Satans). 13 Der Unterschied zu lJoh liegt in der Zuordnung des Versöhnungsgeschehens zum Tod Jesu (so Kol) bzw. zum erhöhten Christus (so lJoh). 14 Taufe als einmaliges Rettungsgeschehen: Kol 1,13; 2,13f.; vgl. Eph 2,4. 15 Kol 2,13f.; Heiden als »Kinder des Zorns« in Eph 2,3; 5,8. 16 Kol 3,5; vgl. 4,5; Eph 5,6. 17 Die Funktion etwa der Täuferdrohung in Mt 3 ist deutlich appellativ: Die Angesprochenen sollen sich angesichts des drohenden Unheils unverzüglich bekehren und sich taufen lassen. Die prophetische Gerichtsansage lässt noch Raum zum präventiven Handeln, sie fungiert als »paradoxe Intervention«, um einen Begriff von Volker Lehnert (Die Provokation Israels. Die pa- ZNT 9 (5. Jg. 2002) radoxe Funktion vonJes 6,9-10 bei Markus und Lukas. Ein textpragmatischer Versuch im Kontext gegenwärtiger Rezeptionsästhetik und Lesetheorie, Neukirchen 1999) aufzugreifen. Das geforderte Handeln besteht in »rechtschaffener Frucht der Buße«. 18 Nur vereinzelt wird einer Sehnsucht nach dem Gericht Ausdruck verliehen, und zwar da, wo sich Gemeinde in einer unerträglich scheinenden Situation befindet (Mt 13,24-30; Offb 6,9-11). In beiden Fällen wird eingeschärft, dass Gott zu seiner Zeit das Gericht vollziehen wird und Ausharren das Gebot der Stunde ist. 19 Reiser, Gerichtspredigt, 307ff. (dort statistischer Befund und Quellenangaben). 20 Mit Riniker, Gerichtsverkündigung, 459. 21 Mit Reiser, Gerichtspredigt, 308. Unbeschadet davon gibt es die Vorstellung, dass die Menschen bereits in ihrer Existenz die fällige Strafe erleiden, z.B. in der Interpretation der Zerstörung Jerusalems nach Mt 22,7 oder lPetr 4,17f., wo die Leiden der Gemeinde sogar als Privileg verstanden werden, da sie in der möglichst erträglichen Form die jenseitigen Leiden vorweg nehmen. 22 Mit Riniker, Gerichtsverkündigung, 459. Vorschau auf das nächste Heft Neues Testament aktuell Laurence L. Welborn Die Veränderung der hermeneutischen Situation der Bibelwissenschaften in den USA durch die Anschläge vom 11.9.2001 Zum Thema Oda Wischmeyer u.a. Neutestamentliche Wissenschaft heute ein Bericht (Doppelaufsatz) Dieter Georgi Abraham und Aeneas Ruben Zimmermann Lüge und Wahrheit falscher Verfasserangaben im Neuen Testament Kontroverse War das frühe Christentum eine Religion? Hermeneutik und Vermittlung Gerd Buschmann/ Uwe Böhm The »Matrix« und Röm 6 - Christliche Taufvorstellungen im popkulturellem Science-Fiction- Ambiente Buchreport Lothar Triebe! , Vergleichende Darstellung neuerer Methodenbücher Heft 10 erscheint im Oktober 2002 53