ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
61
2003
611
Dronsch Strecker VogelNeutestamentliche Ethik im Spiegel der Forschung
61
2003
Werner Zager
znt6110003
ZNT 11 (6. Jg. 2003) 3 Neues Testament aktuell Werner Zager Neutestamentliche Ethik im Spiegel der Forschung Vorbemerkung In einer Zeit der Orientierungskrise und der Verhaltensunsicherheit wie der unsrigen - man denke nur an folgende Problemfelder: Friedenssicherung, Ökologie, Weltbevölkerungswachstum, Gentechnologie und -medizin - ist eine Rückbesinnung auf die im Neuen Testament zur Sprache kommende Ethik geboten. Und zwar nicht deshalb, weil für uns als Christen und Christinnen im Neuen Testament Patentlösungen bereitlägen. Vielmehr ist die Beschäftigung mit neutestamentlicher Ethik da unverzichtbar, wo wir nach Ermöglichung, Begründung und Kriterien christlicher Ethik fragen. Welches Gewicht die frühe Christenheit auf das rechte ethische Verhalten legte, sei an einigen Beispielen kurz angedeutet: In Jak 2,14-17 heißt es: »Was nutzt es, meine Brüder, wenn jemand behauptet, Glauben zu haben, ohne dass er Werke hat? Kann der Glaube ihn retten? Wenn da ein Bruder oder eine Schwester keine Kleider haben und des tägli chen Unterhalts entbehren und einer von euch sagt ihnen: ›Geht hin in Frieden, wärmt euch und esst euch satt‹ - ihr gebt ihnen aber nicht, was dem Leibe Not tut -, was nutzt das? So ist es auch mit dem Glauben, wenn er keine Werke hat; für sich allein ist er tot.« Und selbst nach dem Urteil des Apostels Paulus - dem Verfechter der Rechtfertigung sola fide - ist der Glaube, der aus dem Zorngericht Gottes rettet, keine in sich ruhende religiöse Innerlichkeit, sondern laut Gal 5,6 die »pistis di’ agapes energoumene« (der Glaube, der in der Liebe wirksam ist). Schließlich wird gemäß Mt 25,31-46 der wiederkommende Menschensohn uns nicht danach fragen, was wir geglaubt, sondern was wir getan oder unterlassen haben. Das von den Christen erwartete Endgericht erfolgt kata erga (nach den Werken) und nicht kata pistin (nach dem Glauben). Glaube ist für das Neue Testament eben nicht primär Spekulation oder Bejahung von Ideen und Theorien, nicht kultische Übung oder mystische Versenkung, sondern Hören auf das Wort, in dem Gottes Wille sich kundtut. Glaube und Tun gehören darum auf das Engste zusammen. 1. Neuere Gesamtdarstellungen neutestamentlicher Ethik Mit meinem Überblick 1 setze ich ein mit der »Ethik des Neuen Testaments« 2 von H EINZ - D IETRICH W ENDLAND , die im Jahre 1970 erschien. Mit dieser Publikation ist nämlich innerhalb der protestantischen Theologie die Diskussion neutestamentlicher Ethik in eine neue Phase eingetreten. Die ethischen Fragen wurden nun nicht nur im Rahmen der neutestamentlichen Theologie behandelt, sondern bildeten auch ein eigenständiges Thema im Rahmen eines Gesamtentwurfs neutestamentlicher Ethik. Neutestamentliche Ethik sollte nicht mehr länger - wie noch in R UDOLF B ULT - MANN s »Theologie des Neuen Testaments« 3 - am Rande der neutestamentlichen Theologie stehen. 1.1. »Ethik des Neuen Testaments« von Heinz-Dietrich Wendland Mit seiner »Ethik des Neuen Testaments« beabsichtigte H EINZ -D IETRICH W ENDLAND nicht, eine umfassende Darstellung »der« Ethik des Neuen Testaments vorzulegen. Vielmehr ging es ihm lediglich um eine Einführung in zentrale Themen und historisch bedeutsame Haupttypen neutestamentlicher Ethik. Zugleich stellte er damit in Frage, dass es »die« Ethik des Neuen Testaments gibt, also ein allen neutestamentlichen Schriften gemeinsames ethisches System. »In einer Zeit der Orientierungskrise und der Verhaltensunsicherheit wie der unsrigen[...] ist eine Rückbesinnung auf die im Neuen Testament zur Sprache kommende Ethik geboten« 011603 ZNT 11 - Inhalt 31.03.2003 15: 02 Uhr Seite 3 4 ZNT 11 (6. Jg. 2003) Neues Testament aktuell In chronologischer Reihenfolge untersucht Wendland die ethische Verkündigung der Hauptzeugen des Neuen Testaments, d.h. er stellt neutestamentliche Ethik entsprechend ihrer geschichtlichen Genese unter traditionsgeschichtlichem Aspekt dar. Dabei beschreibt er die verschiedenen Ethiken der neutestamentlichen Traditionsschichten von der Verkündigung Jesu, über die Urgemeinde mit Berücksichtigung der ersten hellenistischen Gemeinde, Paulus, die Deuteropaulinen (einschließlich 1Petr), Jakobusbrief, johanneische Schriften bis hin zu den Sendschreiben der Johannesapokalypse. Für die Entwicklung der Ethik wird dem Ostergeschehen eine entscheidende Rolle zuerkannt. Nach Wendland »beginnt mit Ostern jene Epoche der Entwicklung der christlichen, der Gemeinde-Ethik, die bis heute anhält: einer Ethik, die a) von der Heilsbotschaft und der Christologie herkommt, und die sich b) in ständiger Auseinandersetzung mit der Welt, mit der Ethik von Heiden und Juden, mit neuen, geschichtlichen Fragen und Situationen befindet«. 4 Wendland unterscheidet neutestamentliche Ethik von einer philosophischen Ethik, »die sich als Normen- oder Tugendlehre begreift und von einem Begriff der moralischen Vernunft, des sittlichen Geistes, des kategorischen Imperativs oder dergleichen leiten ließe«. 5 Demnach ist Ethik des Neuen Testaments im Grunde nur als theologische Ethik zu begreifen. Der griechischem Denken entstammende Begriff »Ethik« kann nur bedingt auf das Neue Testament angewendet werden; denn im Neuen Testament handelt es sich nicht um eine autonome, sondern um eine »theonome« oder »christonome« Ethik. 6 Den christlichen Charakter der neutestamentlichen Ethik fasst Wendland in ihren vier Voraussetzungen zusammen: 1. Grundvoraussetzung ist »der Glaube an eine Offenbarung des Willens Gottes, an welche alle Glaubenden gebunden sind«. 2. Diese Offenbarung ist »durch die Sendung Christi erfüllt und abgeschlossen«, weil christliche Ethik nur vom Heilsgeschehen des Kreuzes und der Auferstehung Christi her begründet werden kann. 3. Solche Ethik ist »durchweg kirchliche Ethik«, weshalb die ethischen Mahnungen an Gemeinden und an Christen ergehen bzw. - in der Predigt Jesu - an solche, denen das Kommen der Gottesherrschaft angekündigt wird. 4. »Die Christus-Verkündigung ist nicht nur Grund, sondern auch Grenze der Ethik«, zum einen weil sie nie autonom und absolut im philosophischen Sinne sein kann und zum anderen eschatologisch bestimmt ist. »Ethik gibt es nur in dieser Weltzeit, bis hin zur Vollendung des Reiches Gottes. ... die christliche Ethik gilt allein für die Zeit der Kirche.« 7 Die von Wendland angeführten vier Voraussetzungen urchristlicher Ethik dürfen jedoch nicht dahingehend missverstanden werden, als sei neutestamentliche Ethik sozusagen »vom Himmel gefallen«. Dabei weist Wendland auf folgende Tatbestände hin: Die ersten christlichen Gemeinden »sind, wie alles in der Welt, geschichtlichen Einflüssen unterworfen, jüdischen wie hellenistischen und Einflüssen aus den Mischungen zwischen Judentum und Hellenismus in den Synagogen der weltweiten Diaspora. ... Die Ethik des Neuen Testaments ist in dieser Hinsicht offen und nicht in sich abgeschlossen.« 8 Nach Wendlands Urteil hängt dies mit einer wichtigen Vorentscheidung zusammen, wie sie etwa in Phil 4,8 ausdrücklich benannt wird: »das, was damals allgemein als Tugend galt, als lobenswertes Benehmen, als gerecht oder als gütig, das wird von der Ethik der christlichen Gemeinden an- und aufgenommen«. 9 Die bürgerliche Ethik wird folglich nicht einfach verneint; vielmehr bekommt sie ein neues Vorzeichen im Sinne der christlichen Ethik. Insofern erhält nun auch der profane Begriff der Ethik sein Recht für die sittlichen Weisungen im Neuen Testament. Bei den übernommenen Traditionen handelt es sich allerdings nicht um »philosophisch reflektierte Ethik«, sondern um »volkstümliche Moral des Alltags«, um »die gesellschaftliche Durchschnittsethik der Zeit«. 10 Wendland untersucht in seinem Buch die Vielfalt der neutestamentlichen Ethik mit ihrem Spannungsbogen von Matthäus zu Paulus, von Paulus zu Jakobus und von den Pastoralbriefen bis zu Johannes. Am Ende seiner Studie wendet sich Wendland der Frage nach der Einheit neutestamentlicher Ethik zu. In folgenden vier Punkten stellt Wendland eine solche Einheit fest: 1. Das Liebesgebot bildet bei den Synoptikern und Paulus, bei Jakobus und Johannes die Mitte und höchste Norm der Ethik. 2. Gegenüber der Welt wird ein kritisches, distanziertes Verhältnis eingenommen, ob nun theologisch und eschatologisch 011603 ZNT 11 - Inhalt 31.03.2003 15: 02 Uhr Seite 4 ZNT 11 (6. Jg. 2003) 5 Werner Zager Neutestamentliche Ethik im Spiegel der Forschung motiviert oder moralisch gefärbt. 3. Bei der Ethik in den neutestamentlichen Schriften handelt es sich um »Ethik der Gemeinde für die Gemeinde«. 4. Eschatologie und Ethik sind miteinander verbunden, freilich in sehr verschiedenen Formen. 11 Damit will Wendland nicht die theologische Pluralität der neutestamentlichen Texte nivellieren. Einprägsam formuliert er: »Viele Theologien - aber ein Herr! Viele Ethiken - aber ein Gebot der Liebe! « 12 Alle ethischen Formeln und Traditionen im Neuen Testament sind nach Wendland an der Bergpredigt »als der ersten und letzten, kritischen Instanz« 13 zu messen, welche die neutestamentliche Ethik offen hält und alle Einzelaussagen auf das Eschaton des Reiches Gottes richtet. 1.2. »Ethik des Neuen Testaments« von Wolfgang Schrage Im Jahre 1982 ersetzte W OLFGANG S CHRAGE s »Ethik des Neuen Testaments« 14 das frühere Werk von Wendland im Rahmen der »Grundrisse zum Neuen Testament«. Seine Darstellung ist verglichen mit dem Buch seines Vorgängers erheblich umfangreicher. Es werden nicht nur die Grundfragen »nach Ermöglichung und Begründung, Kriterien und Inhalten urchristlichen Handelns und urchristlicher Lebenspraxis« 15 erörtert, sondern auch viele neutestamentliche Einzeltexte ausgelegt. Ferner wird die Sekundärliteratur umfassend berücksichtigt und kritisch ausgewertet. Somit darf Schrages Darstellung der neutestamentlichen Ethik mit Recht als ein Standardwerk bezeichnet werden, auf dem die weitere Forschung aufbauen kann. Nach Schrage sind in einer neutestamentlichen Ethik nicht nur Motive und Gründe, sondern gerade auch Kriterien und Inhalte urchristlicher Lebensgestaltung darzustellen. Wegen der Problematik des statisch gedachten Normenbegriffs vermeidet Schrage diesen Terminus und spricht stattdessen von Kriterien, »die eher dynamisch-geschichtliche Freiheit und Verbindlichkeit neutestamentlicher Ethik zusammenhalten können«. 16 Insbesondere kommt es Schrage auf die konkreten Inhalte an: »Gleichwohl dringt das Neue Testament nicht bloß auf ein neues Fundament oder eine Veränderung der Grundhaltung und Sinngebung, sondern auch auf christliche Lebensgestaltung und konkretes Weltverhalten im einzelnen. Für eine inhalt- und konturenlose, bloß formale Situationsethik, die alle Inhalte der Entscheidung dem einzelnen überläßt und dabei nur allzu leicht bei einer materialen Beliebigkeit oder Weltförmigkeit landet, ist das Neue Testament nicht in Anspruch zu nehmen.« 17 Während Schrage seine Darstellung - ähnlich wie Wendland - chronologisch anlegt, sind die einzelnen Abschnitte systematisch nach dem Schema: Motivation - Kriterien - konkrete Inhalte aufgebaut. Dabei fällt auf, dass Schrage die synoptischen Evangelien vor Paulus bespricht, obwohl sie und die Deuteropaulinen zwei auch in ihren ethischen Konzeptionen nebeneinander laufende Stränge bilden. »Daß die Hauptvertreter neutestamentlicher Ethik nacheinander behandelt werden, impliziert« für Schrage »nicht von vornherein ein negatives Urteil über die Spätschriften, als ob die Entwicklung von Jesus bis hin zu den Pastoralbriefen und den Katholischen Briefen als bloßer Abfallprozeß zu verstehen sei«. 18 Damit ist Sachkritik gegenüber patriarchalischen und androzentrischen Aussagen sowie Vergesetzlichungstendenzen nicht ausgeschlossen. »Nur kann das Sachkriterium nicht einfach das Älteste und Ursprüngliche oder gar ein formaler Radikalismus sein, sondern nur Werner Zager Prof. Dr. Werner Zager, Jahrgang 1959, Studium der Evangelischen Theologie in Frankfurt am Main, Mainz und Tübingen. Promotion in Mainz 1987, Habilitation in Bochum 1996, nach Pfarrtätigkeit seit 1997 Hochschuldozent und seit 2002 apl. Professor für Neues Testament an der Ruhr-Universität Bochum. Forschungsschwerpunkte: Eschatologie und Apokalyptik, historischer Jesus, Christologie im frühen Christentum, Religionsgeschichtliche Schule, liberale Theologie. 011603 ZNT 11 - Inhalt 31.03.2003 15: 02 Uhr Seite 5 6 ZNT 11 (6. Jg. 2003) Neues Testament aktuell das das Christusereignis verkündigende Evangelium und die dem entsprechende Liebe im Wandel der Zeiten.« 19 Als gemeinsamen Grundzug neutestamentlicher Ethik stellt Schrage ihre »theologische bzw. christologische Verwurzelung und Orientierung« 20 heraus. Neutestamentliche Ethik basiert auf Gottes Herrschaft und seinem Heilshandeln in Kreuz und Auferstehung. Durchgehend im neutestamentlichen Schrifttum ist Ethik in die Theologie eingebunden und integriert: »Zwar werden die Fundamente und Motive nicht überall expressis verbis aufgedeckt und expliziert, aber zur neutestamentlichen Ethik gehört unabdingbar der theologische Kontext und der Rückgriff auf die neutestamentliche ›Dogmatik‹ hinzu.« 21 Im Anschluss an die Darstellung der verschiedenen ethischen Konzepte in ihrer spannungsreichen Pluralität widmet sich Schrage in der zweiten Auflage seines Buchs der Frage nach einer Mitte und einem Sachkriterium. Dabei stellt er fest, dass auf dem Felde der Ethik der neutestamentliche Konsens breiter als sonst üblich zu sein scheint: Hinsichtlich der Ethik macht Schrage als inhaltliche Einheit und zugleich als ein innerkanonisches Sachkriterium aus, dass in den Hauptschriften des Neuen Testaments das Liebesgebot als oberstes Gebot christlicher Ethik fungiert. 22 Nach Schrage ist die Liebe »Zentrum, Einheitsband und Leitfaden aller Einzelgebote«; sie ist gleichsam »der Gesamttenor« in der Polyphonie neutestamentlicher Ethik. 23 Sämtliche Einzelgebote müssen sich an der Liebe messen lassen, ohne dass freilich alle Konkretion der Entscheidung dem Einzelnen überlassen bleibt. 24 Für den von Schrage vorgelegten Entwurf ist charakteristisch, dass die hier dargestellte neutestamentliche Ethik zugleich eine Orientierungshilfe für die Gegenwart sein will. Zwar werde das christliche Handeln durch das Neue Testament »gewiß nicht ein für allemal auf bestimmte politische, gesellschaftliche oder soziale Einstellungen und Praktiken festgelegt, aber die materialen Weisungen des Neuen Testaments lassen« - wie Schrage urteilt - »paradigmatisch Typen und Perspektiven, Prioritäten und Präferenzen bei der Entscheidungsfindung erkennen, die auch für neue Denkhorizonte und Gestaltungen richtungsweisend sein und zu weitergehenden Schritten ermutigen können«. 25 1.3. »Die sittliche Botschaft des Neuen Testaments« von Rudolf Schnackenburg Eine erste Gesamtdarstellung neutestamentlicher Ethik legte auf katholischer Seite R UDOLF S CHNACKENBURG bereits 1954 im Rahmen des »Handbuchs der Moraltheologie« mit seiner Abhandlung »Die sittliche Botschaft des Neuen Testaments« vor, der nach einer zweiten, erweiterten Auflage von 1962 in den Jahren 1986 und 1988 eine völlig neubearbeitete Fassung in zwei Bänden folgte. 26 Wegen zahlreicher Gemeinsamkeiten mit den Ethiken von Wendland und Schrage beschränke ich mich hier auf einige wesentliche Punkte: Schnackenburg unterteilt sein Werk in zwei Hauptteile: zum einen »Die sittlichen Forderungen Jesu« und zum anderen »Die Sittenlehre der Urkirche«. Die gesonderte, an erster Stelle erfolgende Behandlung der Ethik Jesu begründet er mit folgendem Argument: Ein geschichtliches Verstehen des Urchristentums ist kaum möglich, wenn man nicht voraussetzt, daß die frühen Gemeinden den ›Ruf Jesu‹ aufgenommen und mit einer ›Antwort‹ darauf reagiert haben. ... Das ›Kerygma‹ vom gekreuzigten und auferstandenen Christus allein begründet noch nicht das volle Selbstverständnis der Urchristenheit, schon deshalb nicht, weil der Osterglaube den irdischen ›Jesus‹ mit dem auferweckten ›Christus‹ verbindet. 27 Auch im Rahmen einer neutestamentlichen Ethik hält Schnackenburg die historische Rückfrage nach Jesus für »eine legitime, unentbehrliche und nach dem jetzt erreichten Forschungsstand auch - in den Grenzen historischer Erkenntnis - zu bewältigende Aufgabe«. 28 Entsprechend diesen grundsätzlichen theologischen Erwägungen gliedert sich der mit »Von Jesus zur Urkirche« überschriebene erste Band in die beiden Abschnitte »Die sittlichen Forderungen Jesu« und »Die Urkirche vor den sittlichen Forderungen Jesu«. Dabei dient der zweite Abschnitt dem Vergleich der ethischen Botschaft Jesu mit der ethischen Praxis der frühen Christenheit, die durch den Wandel der Verhältnisse zu neuen Entscheidungen veranlasst wurde. Als wirksame Faktoren stellt Schnackenburg die Geisterfahrungen, das Gemeinschaftsleben und die Parusieerwartung heraus. 29 Der zweite Band - betitelt mit »Die urchristlichen Verkündiger« - 011603 ZNT 11 - Inhalt 31.03.2003 15: 02 Uhr Seite 6 ZNT 11 (6. Jg. 2003) 7 Werner Zager Neutestamentliche Ethik im Spiegel der Forschung behandelt die spezifischen Konzeptionen der einzelnen neutestamentlichen Schriftengruppen. Schnackenburg arbeitet nicht nur Grundzüge neutestamentlicher Ethik heraus, sondern auch ihre Bedeutung für die Gegenwart. Die stets gestellte Grundfrage ist, ob neutestamentliches Ethos auch der heutigen christlichen Existenz eine ethische Orientierung anbieten kann. Nach Schnackenburgs Meinung lässt sich neutestamentliches Ethos als Orientierungshilfe zur konkreten Normfindung für die gegenwärtige Zeit anwenden. Das Besondere christlicher Ethik kommt im neutestamentlichen Menschenbild und Weltverständnis sowie in der Glaubensgemeinschaft als dem vorzüglichen Ort christlichen Lebensvollzugs zum Vorschein. 30 Für den Christen resultiert das ethische Engagement »aus seinem Glauben, aus der Grundforderung der Liebe als Antwort auf die von Gott in Christus erfahrene Liebe«. 31 1.4. »Neutestamentliche Ethik« von Siegfried Schulz In dem 1987 erschienenen Werk bestimmt es S IEGFRIED S CHULZ als Sache einer neutestamentlichen Ethik, »die Ermöglichung und Begründung urchristlichen Handelns zu erfragen wie darzulegen, um dieses Potential für die Übersetzung in unseren Gegenwartshorizont bereitzustellen«. 32 Zwar stimmt diese hermeneutische Zielsetzung mit der von Schrage und Schnackenburg überein, im Unterschied zu beiden aber konzentriert sich Schulz darauf, die Eigenart des neutestamentlichen Textes herauszuarbeiten, ohne die Übertragbarkeit ethischer Aussagen des Neuen Testaments in unsere Zeit eigens zu diskutieren. Dies hängt wohl mit seiner Absicht zusammen, die Eigenständigkeit der neutestamentlichen Texte zur Geltung zu bringen. 33 Gleichwohl hält Schulz fest: Weil das Neue Testament eine Vielfalt von Inhalten, Kriterien und Motivationen christlichen Handelns wie christlicher Lebenspraxis enthält, sind diese für die Kirche aller Zeiten unaufgebbar. Ohne das Neue Testament gibt es deshalb keine überzeugende Begründung ethischer Normen für den jeweiligen Gegenwartshorizont. 34 Wie Wendland, Schrage und Schnackenburg stellt auch Schulz die neutestamentliche Ethik chronologisch gegliedert dar. Den historischen Entwicklungslinien des frühen Christentums folgend, disponiert Schulz seinen Stoff wie folgt: Jesus von Nazareth, die nachösterlichen Jesusgemeinden, die hellenistische Kirche, der Kampf gegen gnostischen Libertinismus und gnostische Askese, Paulus, die Synoptiker, die johanneischen Schriften, die Deuteropaulinen und die katholischen Briefe. Für Schulz’ Vorgehensweise ist es kennzeichnend, dass er die in den neutestamentlichen Schriften erhobenen Traditionsschichten soziologisch auf eine Vielzahl von Gemeinden zurückführt. So nimmt er mehrere nachösterliche Jesusgemeinden an, die er durch Rückschlüsse aus der Q-Überlieferung, der vormarkinischen Tradition sowie dem matthäischen und lukanischen Sondergut postuliert. 35 Außerdem erschließt er aus der sog. »gnostischen Grundschrift« des Johannesevangeliums eine weitere Gemeinde. 36 Hinzu kommen die aramäisch sprechende Gemeinde in Jerusalem und die ebenfalls dort ansässige griechisch sprechende Gemeinde unter der Führung des Stephanus sowie die von den sog. Hellenisten ausgehenden Gemeindegründungen, von Schulz behandelt in dem mit »Die hellenistische Kirche« überschriebenen Kapitel. Bei der Darstellung der paulinischen Ethik wird zwischen einer Früh- und einer Spätphase unterschieden. Durch diese Differenzierung in der Darstellungsgliederung versucht Schulz, die historische Entwicklung der jeweiligen neutestamentlichen Ethik sachgemäß nachzuzeichnen. Von der Methodik her stellt sich allerdings die Frage, ob es berechtigt ist, von den Traditionsschichten der neutestamentlichen Schriften auf verschiedene Gemeinden und entsprechende verschiedene Ethiken zu schließen. Der Ansatz von Schulz, die Entwicklung frühchristlicher Ethik in Verbindung mit der Theologiegeschichte zu untersuchen, ist sowohl unter historischen als auch theologischen Gesichtspunkten plausibel. Als problematisch muss aber beurteilt werden, wenn Schulz die Rechtfertigungslehre des Paulus und dessen Zuordnung von Indikativ und Imperativ als Maßstab nimmt, an Hand dessen er die späteren ethischen Konzeptionen des Neuen Testaments beurteilt, ohne diese zunächst einmal aus ihren eigenen Voraussetzungen zu verstehen. Wenn Schulz in einseitiger Weise die geschichtliche Entwicklung christlicher Ethik nach Paulus als Moralisierungs- und damit als 011603 ZNT 11 - Inhalt 31.03.2003 15: 02 Uhr Seite 7 8 ZNT 11 (6. Jg. 2003) Neues Testament aktuell Abfallprozess erfasst, kommt die innere Einheit neutestamentlicher Ethik nicht mehr in den Blick. 1.5. »Theologische Ethik des Neuen Testaments« von Eduard Lohse 1988 erschien E DUARD L OHSE s »Theologische Ethik des Neuen Testaments«. 37 Dieses Buch steht selbständig neben Lohses »Grundriß der neutestamentlichen Theologie«, in dem die Ethik nur als ein Aspekt verhandelt wird. 38 Lohse will einen »Grundriß« neutestamentlicher Ethik bieten, der übersichtlich gehalten ist und sich auf die wesentlichen Zusammenhänge konzentriert, »ohne den Anspruch zu erheben, die Fragenkreise vollständig abzuschreiten«. 39 Im Unterschied zu seinem »Grundriß der neutestamentlichen Theologie« und zum weithin üblichen Aufriss einer neutestamentlichen Ethik vermeidet Lohse einerseits eine streng historisch orientierte Darstellungsweise, bei der »der weithin gemeinchristliche Charakter urchristlicher Unterweisung und die systematischen Motive, die die vom Evangelium geleitete Entfaltung der ethischen Inhalte bestimmen«, 40 nicht recht zur Geltung kommen können. Andererseits ordnet er die ethischen Gehalte des Neuen Testaments auch nicht lediglich nach rein thematischen Gesichtspunkten, ohne Berücksichtigung der historischen Bedingtheiten und Besonderheiten der einzelnen neutestamentlichen Schriften. Vielmehr wählt Lohse einen »mittleren Weg«, indem er nach dem Aufweis der religionsgeschichtlichen Voraussetzungen die ethischen Aussagen des Neuen Testaments nach den leitenden systematischen Motiven gliedert, in der Darstellung der einzelnen ethischen Gedankenzusammenhänge zugleich aber der Vielfalt der jeweiligen Zeugen Rechnung trägt. 41 Aufgabe einer theologischen Ethik des Neuen Testaments ist es nach Lohse »darzustellen, welche Konsequenzen aus dem Bekenntnis zum gekreuzigten und auferstandenen Christus in den Schriften des NT gezogen werden, um Leben und Handeln der Glaubenden zu bestimmen«. 42 Im einleitenden Kapitel »Ethische Überlieferungen in der Umwelt des Neuen Testaments« geht Lohse von zwei religionsgeschichtlichen Voraussetzungen neutestamentlicher Ethik aus: zum einen dem Alten Testament und dem Judentum, zum anderen der griechisch-hellenistischen Welt. In einem weiteren einleitenden Kapitel behandelt Lohse »Die christologische Begründung urchristlicher Ethik«: Dabei setzt er mit den »Worte[n] des Herrn« ein - seien es nun ursprüngliche Jesusworte oder von urchristlichen Propheten gesprochene Worte -, welchen bindende Kraft zugemessen wird. Sodann kommt Lohse in einem zweiten Abschnitt auf den »Wandel im Herrn« zu sprechen: »Aus dem Bekenntnis zu Christus als dem Herrn folgt die Verpflichtung, daß Christen ihrer Berufung entsprechend zu leben haben.« 43 Im Anschluss daran schreitet Lohse folgende Themenkreise ab: »Die Herrschaft Gottes«, »Die neue Gerechtigkeit«, »Weisungen für den Alltag der Christen«, »Die neue Schöpfung im Leben der Glaubenden«, »Weltlichkeit des Glaubens«, »Gebot und Gesetz«, »Bewährung im Leiden«, »Urchristliche Ethik in der spätantiken Welt«. Lohse zufolge liegt das Proprium frühchristlicher Ethik »weder in einem ethischen Programm noch in einem Plan christlicher Weltgestaltung, sondern in der beispielhaften Veranschaulichung der Nachfolge Christi«. 44 Dabei hat das Liebesgebot zentrale Bedeutung für die ethische Orientierung der Gemeinde. Neben dem Liebesgebot ist auch der Dekalog in seiner verbindlichen Gültigkeit unbestritten. Beide haben aber nicht den Charakter eines Heilsweges, sondern sind »ein Ausdruck dessen, was Gottes Wille fordert, um im dankbaren Lobpreis seine Ehre zu bekennen«. 45 Insofern begreift Lohse neutestamentliche Ethik als Ethik der Dankbarkeit. Lohse schreibt: Nicht durch seine Werke, sondern durch die Zusage des Evangeliums, das ihm um Christi willen die Freiheit schenkt, gewinnt er [sc. der Christ] den tragenden Grund seines Lebens. Daraus folgt, daß der spezifisch christliche Charakter ethischer Unterweisung nicht in einer Vermehrung oder Steigerung von Geboten und Verboten besteht, sondern in der Konzentration auf das eine Grundgebot der Liebe, die aus der Erfahrung der empfangenen Liebe Gottes ihre Kraft gewinnt. Die Liebe, die nicht das ihre, sondern das des anderen sucht, orientiert sich mit kritischen Sinnen an den mannigfaltigen Überlieferungen ethischer Sätze. 46 Diese Charakterisierung neutestamentlicher Ethik trifft in »Reinkultur« m.E. nur für Paulus, 011603 ZNT 11 - Inhalt 31.03.2003 15: 02 Uhr Seite 8 ZNT 11 (6. Jg. 2003) 9 Werner Zager Neutestamentliche Ethik im Spiegel der Forschung das Johannesevangelium und den 1. Johannesbrief zu, dagegen wohl nicht für den Jakobusbrief. 1.6. »›Christliche‹ und christliche Ethik im Neuen Testament« von Willi Marxsen Im Vergleich zu den bisher vorgestellten Gesamtdarstellungen zur neutestamentlichen Ethik weist die im Jahre 1989 publizierte von W ILLI M ARX - SEN 47 etliche eigenwillige Besonderheiten auf. Wie bereits der Titel dieses Werkes andeutet, legt Marxsen nicht eine »Ethik des Neuen Testaments« vor, sondern eine »Ethik im Neuen Testament«. Dabei lässt er sich von seiner Beobachtung leiten, »daß die Verfasser der neutestamentlichen Schriften nicht nur unterschiedliche, sondern zum Teil auch nur schwer miteinander zu vereinbarende Ethiken vortragen«. 48 Darum fragt Marxsen, inwiefern man sich auf das Neue Testament als »Orientierungspunkt« für die christliche Ethik beziehen kann. Zur Beantwortung dieser Frage unterscheidet er zwischen »christlicher« und christlicher Ethik: Das in Anführungszeichen gesetzte Adjektiv meint das authentisch Christliche, hingegen das ohne Anführungszeichen verwendete Adjektiv das nur für christlich Erachtete. Mit Hilfe dieser den üblichen Sprachgebrauch auf den Kopf stellenden Regelung versucht Marxsen, ein Kriterium für die Unterscheidung zwischen (genuin) »christlicher« Ethik und (nur so genannter) christlicher Ethik zu finden und damit die Christlichkeit der verschiedenen Ethiken der neutestamentlichen Schriften zu prüfen. Marxsen bezeichnet eine Ethik nur dann als »christlich«, wenn sie »ein Aspekt christlicher Theologie« ist . 49 Nach den Prolegomena zur Ethik als einem Aspekt von Theologie gliedert Marxsen sein Buch in zwei Hauptteile, wobei der erste mit »Die Ansätze«, der zweite mit »Entwicklungen und Fehlentwicklungen« überschrieben ist. Im ersten Hauptteil zeigt Marxsen, dass bis heute kein Konsens darüber erzielt werden konnte, ob der Anfang des »Christlichen« im Leben und Wirken des irdischen Jesus oder erst im Ostergeschehen liegt. 50 In der Durchführung seines Werkes geht Marxsen daher von einem doppelten Anfang aus: vom Leben und Wirken Jesu und vom Ostergeschehen. Er untergliedert den ersten Hauptteil in die beiden Abschnitte: »Die an Jesus orientierte Ethik« und »Die Ethik des Paulus«. Dabei muss nach Marxsen die Frage nach dem historischen Jesus »ersetzt werden durch die historische Frage nach Jesus, und das heißt durch die Frage nach den Zeugen, die, von Jesus beeindruckt, Ethik als einen Aspekt ihrer Christologie formulieren«. 51 Paulus wiederum reiht Marxsen vor allem deshalb in den Hauptteil »Die Ansätze« ein, weil jener einen prägenden Anfang verkörpert. 52 Das Damaskus-Erlebnis begreift Marxsen als die Mitte zum Verständnis der paulinischen Ethik. 53 Die übrigen Schriften des Neuen Testaments werden nach den Abschnitten zu Jesus und Paulus im zweiten Hauptteil unter der Überschrift »Entwicklungen und Fehlentwicklungen« behandelt, wobei sich Marxsen zufolge ein Abfallprozess der frühen Christenheit im Verlauf der Zeit erkennen lässt. Kriterium der Beurteilung ist die Frage, ob die Ethik auch in der zweiten und dritten Generation des Christentums wie am Anfang ein Aspekt der Christologie bleibt oder nicht. 54 Diesem Kriterium genügen Kolosser-, 1. Petrus- und Hebräerbrief, während 2. Thessalonicher- und Jakobusbrief sowie die Pastoralbriefe negativ beurteilt werden. Ohne auf die Problematik der von Marxsen vorgenommenen Bewertungen näher einzugehen, sei nur dies angemerkt, dass der von Marxsen so geschätzte Apostel Paulus schwerlich dessen These zugestimmt hätte: »Die Sendung der Kirche in die Welt hat nur einen einzigen Inhalt: den Menschen immer wieder den Indikativ zu vermitteln.« 55 Oder ging es Paulus in den paränetischen Passagen seiner Briefe lediglich um so genannte christliche Ethik? 1.7. »The Moral Vision of the New Testament« von Richard B. Hays Eine neue Gesamtdarstellung neutestamentlicher Ethik hat R ICHARD B. H AYS 1997 mit seinem Buch »The Moral Vision of the New Testament« 56 vorgelegt. Das Besondere dieses Werks besteht darin, dass es nicht nur - wie vielfach üblich - die verschiedenen ethischen Konzeptionen der neutestamentlichen Schriften nachzeichnet, sondern darüber hinaus danach fragt, wie in unserer Zeit die »moralische Vision« des Neuen Testaments gelebt werden kann. Eine zeitgenössische Einführung in die neutestamentliche Ethik hat sich daher vier Aufgaben zu stellen, die Hays nacheinander abhandelt: 011603 ZNT 11 - Inhalt 31.03.2003 15: 02 Uhr Seite 9 10 ZNT 11 (6. Jg. 2003) Neues Testament aktuell An erster Stelle steht die deskriptive Aufgabe, die »moralischen Visionen« der Hauptschriften des Neuen Testaments zu skizzieren (Paulusbriefe, Deuteropaulinen, Markus- und Matthäusevangelium, lukanisches Doppelwerk, Johannesevangelium und -briefe, Johannesapokalypse). Da es Hays nicht um den geschichtlichen Hintergrund und die Entwicklung christlicher Ethik zu tun ist, beginnt er den exegetischen Teil nicht mit einer Rekonstruktion der Ethik Jesu. Würde doch auch eine solche Rekonstruktion - wie er in einem Exkurs darlegt - materialiter nichts Neues der Ethik des Neuen Testaments hinzufügen. Es folgt die synthetische Aufgabe, inmitten der theologischen Vielfalt des neutestamentlichen Kanons eine einheitliche ethische Perspektive zu beschreiben. Dabei bedient sich Hays der Begriffe »Gemeinschaft«, »Kreuz« und »neue Schöpfung« als Leitvorstellungen. Die hermeneutische Aufgabe besteht dann darin, in puncto christliche Ethik das Neue Testament über eine große zeitliche und kulturelle Distanz zu uns sprechen zu lassen. Nachdem Hays einige repräsentative hermeneutische Strategien (Reinhold Niebuhr, Karl Barth, John Howard Yoder, Stanley Hauerwas, Elisabeth Schüssler Fiorenza) besprochen hat, entwickelt er selbst zehn hermeneutische Leitlinien für neutestamentliche Ethik als einer normativen theologischen Disziplin. Die pragmatische Aufgabe schließlich hat zum Ziel, ethische Weisungen des Neuen Testaments auf unsere heutige Situation anzuwenden und zu konkretisieren. Diese seine sich in vier Schritten vollziehende methodische Vorgehensweise - Exegese, Synthese im kanonischen Kontext, Hermeneutik und praktische Applikation (»living the text«) - exemplifiziert Hays an Hand von folgenden fünf »Testfällen« aus der aktuellen christlichen Debatte: Gewalt in der Verteidigung der Gerechtigkeit, Scheidung und Wiederverheiratung, Homosexualität, Antijudaismus und ethischer Konflikt, Abtreibung. Hays gelingt es dabei, den ethischen Anspruch des Neuen Testaments für unsere Gegenwart zur Geltung zu bringen - und dies auf eine methodisch reflektierte und zugleich ansprechende Art und Weise. 2. Ethik im Neuen Testament und deren religionsgeschichtlicher Kontext Was den religionsgeschichtlichen Kontext frühchristlicher Ethik betrifft, so sind hier noch zwei Beiträge aus dem im Jahre 2001 erschienenen Tagungsband über »Hellenistische Anthropologie und Ethik im Neuen Testament« 57 von Interesse. D IETER Z ELLER stellt heraus, dass die neutestamentlichen Briefautoren sich in den paränetischen Abschnitten nicht unmittelbar an antiken Moralphilosophen ausrichten, sondern Anklänge daran durch das hellenistische Judentum vermittelt worden sind. 58 Betrachtet man doch die eigene Moral im Vergleich zur heidnischen als höher stehend. Stärkere Berührungen der Ethik in den neutestamentlichen Briefen erkennt Zeller mit hellenistischer »Vulgärethik« als mit kynisch-stoischer Popularphilosophie. 59 Paulus etwa greift Wendungen volkstümlicher Ethik auf: »nicht mehr sich selber leben« (Röm 14,7; 2Kor 5,15), »nicht sich selbst gefallen« (Röm 15,1). Außerdem machen die paulinischen Briefe hellenistische Freundschaftsethik fruchtbar sowohl für das Verhältnis von Apostel und christlicher Gemeinde als auch für die Beziehungen der Gemeindeglieder untereinander. 60 L ORENZ O BERLINNER entnimmt den Pastoralbriefen, dass angesichts des Zurücktretens der Parusieerwartung um die Wende vom 1. zum 2. Jahrhundert Christen ihre Lebensweise nicht im Gegensatz zu ihrer Umwelt, sondern vielmehr in Übereinstimmung mit den Wertvorstellungen der griechisch-römischen Tradition zu gestalten suchen. 61 Dies zeigt sich an der Hochschätzung der Tugend der Besonnenheit (1Tim 2,9.15; 3,2; 2Tim 1,7; Tit 1,8; 2,2.4-6.12) und der Propagierung des Ideals der Unterordnung der Frau unter den Mann (1Tim 2,9-15; Tit 2,3-5). 62 Wer sich über den religionsgeschichtlichen und kulturellen Kontext frühchristlicher Ethik Rechenschaft geben möchte, sei auf G ERD T HEISSEN s Buch »Die Religion der ersten Christen« 63 verwiesen. Im zweiten Teil behandelt Theißen »Das Ethos des Urchristentums«, wobei er in der Verbindung der beiden Werte (Nächsten-)Liebe und Demut bzw. Statusverzicht die Grundstruktur und das Neue des urchristlichen Ethos erkennt. Dieses Ethos sucht ethische Ansätze im Judentum durch Radikalisierung zu überbieten. Gegenüber heidnischen Werten und Normen findet sich 011603 ZNT 11 - Inhalt 31.03.2003 15: 02 Uhr Seite 10 ZNT 11 (6. Jg. 2003) 11 Werner Zager Neutestamentliche Ethik im Spiegel der Forschung sowohl Anpassung als auch Widerspruch. Mythos und Ethos im Urchristentum gehören für Theißen auf das Engste zusammen, bestimmen doch die beiden ethischen Grundwerte den urchristlichen Mythos: So korrespondiert dem Grundwert der Liebe die Sendung und Inkarnation des Gottessohnes und der Grundwert des Statusverzichts entspricht der Selbsterniedrigung des Präexistenten bis zum Tod am Kreuz. Inwiefern die beiden Grundwerte andere ethische Werte und Normen prägen, zeigt Theißen daran, wie man im Urchristentum einerseits mit Macht und Besitz und andererseits mit Weisheit und Heiligkeit umgegangen ist. Das Nebeneinander eines radikalen und eines moderaten Ethos wird sozialgeschichtlich erklärt. 3. Neutestamentliche Ethik und christliche Dogmatik Die unter der Betreuung von Hans Weder in Zürich verfasste und 2001 publizierte Dissertation von M ATTHIAS P FEIFFER »Einweisung in das neue Sein« 64 setzt sich kritisch mit dem »Selbstverständnis des neuzeitlichen Menschen« auseinander. Dieses wird wie folgt bestimmt: Der Mensch begreift sich als der souveräne Herr seiner selbst; er tritt der Welt als »autonomes Subjekt« gegenüber. Und so soll er »in Freiheit denkend und handelnd die Verantwortung für die Zukunft des Lebens auf der Erde übernehmen«, 65 wie es Hans Jonas in seinem Buch »Das Prinzip Weltverantwortung« 66 fordert. Solches Selbstverständnis des neuzeitlichen Menschen und die damit korrespondierende Ethik konfrontiert Pfeiffer mit dem im Neuen Testament zur Sprache »gebrachte[n] eschatologischen Handeln Gottes in Jesus Christus zugunsten der unter der Herrschaft der Sünde und des Todes befindlichen Welt«. 67 Eine Grundlegung der Ethik aus neutestamentlicher Perspektive müsse »deshalb ›zuerst und zuletzt‹« - wie es unter Berufung auf Eberhard Jüngel heißt - »von Gott und seinem Handeln reden, der den Menschen aus dem Nichts ins Sein, aus dem Tod ins Leben, aus der Finsternis ins Licht zurückruft«. 68 Im Widerspruch zum Selbstverständnis des neuzeitlichen Menschen, dem eine »verhängnisvolle ›Seins- und Gottesvergessenheit‹« attestiert wird, hält Pfeiffer es für entscheidend, »dass der auf sich selbst und sein eigenes Handeln zurückgeworfene Mensch sich von der bewegenden Macht des Evangeliums in das neue Sein einweisen lässt« 69 (vgl. den Titel des Buchs). Und weiter lesen wir: Denn wo der Mensch sich auf das Handeln Gottes existentiell verlässt und ihm die Sorge um das Sein anvertraut, da wird er aus der Herrschaft der Sünde befreit und eingestimmt in das neue Sein, das Gott als subiectum, als tragenden Grund der Wirklichkeit anerkennt. In diesem Augenblick wird die für das Sein der Welt und des Menschen verhängnisvolle Herrschaft des Subjektivismus durchbrochen und der Mensch zurückgeleitet in die Wahrheit seines geschöpflichen Seins. Da ereignet sich neue Schöpfung, die Auferweckung aus dem Tode im Jetzt, und bricht sich das eigentliche Wunder Bahn: die Menschwerdung des Menschen. 70 Im Rahmen der beiden Kapitel »Der Mensch ausserhalb der Wirklichkeit Gottes« und »Der Mensch in der Wirklichkeit Gottes« bietet Pfeiffer Auslegungen einzelner neutestamentlicher Texte, gefolgt von einer Zusammenfassung unter der Überschrift »Einweisung in das neue Sein«. Insgesamt handelt es sich um eine dezidiert dogmatische Grundlegung einer christlichen Ethik, welche zwar mit neutestamentlichen Theologumena argumentiert, dabei aber nicht der spannungsreichen Vielfalt ethischer und theologischer Konzeptionen des frühen Christentums Rechnung trägt. Pfeiffers Polemik gegen das Selbstverständnis des modernen Menschen, dem er »die anthropologische Diagnose des Neuen Testaments« 71 gegenüberstellt, halte ich für hermeneutisch kurzschlüssig gedacht. Zum einen gibt es nämlich nicht die eine Diagnose, weshalb auch in den neutestamentlichen Schriften verschiedene ethische Ansätze begegnen. Zum anderen kann es nicht überzeugen, wenn theologische Aussagen des Neuen Testaments gegen das Selbstverständnis des modernen Menschen und damit gegen die angebliche »Herrschaft des Subjektivismus« 72 ausgespielt werden, ohne deren Eingebundensein in ein mythologisches Weltbild zu berücksichtigen. Erinnert sei hier an die trefflichen Gedanken D IETRICH B ONHEOFFER s, die er in einem Brief vom 8. Juni 1944 aus der Gefängniszelle an seinen Freund Eberhard Bethge schrieb: Die Attacke der christlichen Apologetik auf die Mündigkeit der Welt halte ich erstens für 011603 ZNT 11 - Inhalt 31.03.2003 15: 02 Uhr Seite 11 12 ZNT 11 (6. Jg. 2003) Neues Testament aktuell sinnlos, zweitens für unvornehm, drittens für unchristlich. Sinnlos - weil sie mir wie der Versuch erscheint, einen zum Mann gewordenen Menschen in seine Pubertätszeit zurückzuversetzen, d.h. ihn von lauter Dingen abhängig zu machen, von denen er faktisch nicht mehr abhängig ist, ihn in Probleme hineinzustoßen, die für ihn faktisch nicht mehr Probleme sind. Unvornehm, weil hier ein Ausnutzen der Schwäche eines Menschen zu ihm fremden, von ihm nicht frei bejahten Zwecken versucht wird. Unchristlich - weil Christus mit einer bestimmten Stufe der Religiosität des Menschen, d.h. mit einem menschlichen Gesetz verwechselt wird. 73 4. Einheit und Vielfalt neutestamentlicher Ethik Im Folgenden beschränke ich mich auf eine Zusammenstellung von Beobachtungen in thetischer Form, die Gedanken W OLFGANG S CHRA - GE s 74 aufgreifen: 1. Zwar lassen sich frühchristliche Theologie und frühchristliche Ethik nicht einfach voneinander trennen, aber man kann erkennen: Selbst da, wo zwischen neutestamentlichen Schriften erhebliche theologische Differenzen bestehen, kommen diese Differenzen auf der ethischen Ebene viel weniger zum Tragen. 2. Es gibt durchaus eine m.E. notwendige ethische Pluralität im neutestamentlichen Schrifttum, da nur so den jeweiligen religiösen, kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Kontexten Rechnung getragen werden kann. Dabei ist durchaus nicht alles möglich und christlich legitimiert. 3. Die Einheit neutestamentlicher Ethik wird gerade auf der Motivations- und Begründungsebene erkennbar. Neutestamentliche Ethik ist durchgängig religiös verwurzelt. 4. Trotz aller Übereinstimmung mit antiker Ethik gibt sich neutestamentliche Ethik nicht mit dem zufrieden, was auch die Welt als gut anerkennt. 5. Dass das Tun nicht vom Glauben zu trennen ist, ist trotz einzelner Tendenzen zu einer weltlosen Introvertiertheit (etwa im johanneischen Schrifttum) weder in der Frühnoch in der Spätphase des Neuen Testaments ernsthaft bestritten worden. 6. Während bei Jesus, Paulus und Johannes - also bei den »Hauptzeugen des Neuen Testaments«, um eine Wendung von W ER - NER G EORG K ÜMMEL aufzugreifen - der Heilsindikativ und der ethische Imperativ fest miteinander verklammert sind, kommt es in manchen Schriften des Neuen Testaments zu einer Verselbständigung der Ethik. So wird hier der ethische Imperativ weniger mit dem Heilsindikativ begründet als vielmehr mit Gesetz, Tradition und Amt. 7. Wo im Neuen Testament eine unkritische Anpassung an die herrschende Gesellschaftsmoral droht oder gar wahrzunehmen ist (z.B. das Gebot des Schweigens der Frau im Gottesdienst in 1Kor 14,34f. und 1Tim 2,11-15 oder die in den Haustafeln des Kolosser- und Epheserbriefs hervortretenden patriarchalischen Leitbilder), ist theologische Sachkritik angezeigt. Neben dem Liebesgebot ist hier Gal 3,27f. zur Geltung zu bringen: »... ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Da gibt es nicht mehr Juden und Griechen, Sklaven und Freie, Mann und Frau. Denn ihr alle seid einer in Christus Jesus.« Oder es sei die Mahnung des Paulus in 1Thess 5,21 in Erinnerung gerufen: »Prüfet alles, das Gute behaltet! « 8. Bei aller unterschiedlicher Prägung der einzel- »Es gibt durchaus eine m.E. notwendige ethische Pluralität im neutestamentlichen Schrifttum, da nur so den jeweiligen religiösen, kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Kontexten Rechnung getragen werden kann« »Bei aller unterschiedlicher Prägung der einzelnen neutestamentlichen Texte besteht zumindest in den Hauptschriften des Neuen Testaments eine inhaltliche Einheit der Paränese darin, dass sie das Liebesgebot als oberstes Gebot christlicher Ethik ansehen« 011603 ZNT 11 - Inhalt 31.03.2003 15: 02 Uhr Seite 12 ZNT 11 (6. Jg. 2003) 13 Werner Zager Neutestamentliche Ethik im Spiegel der Forschung nen neutestamentlichen Texte besteht zumindest in den Hauptschriften des Neuen Testaments eine inhaltliche Einheit der Paränese darin, dass sie das Liebesgebot als oberstes Gebot christlicher Ethik ansehen. Der Grund für die ausschlaggebende Bedeutung der Liebe liegt vor allem darin, dass sie dem Heilshandeln Gottes in Jesus Christus und damit Gottes Wesen entspricht (vgl. 1Joh 4,7-19). l Anmerkungen 1 Zu den folgenden Ausführungen vgl. H.-K. Chang, Neuere Entwürfe zur Ethik des Neuen Testaments im deutschsprachigen Raum. Ihre Sichtung und kritische Würdigung, Diss. theol. Erlangen-Nürnberg 1995. 2 H.-D. Wendland, Ethik des Neuen Testaments (GNT 4), Göttingen 1970. 3 Vgl. R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, durchges. u. erg. von O. Merk, Tübingen 9 1984 ( 1 1953), 552-584 (»Das Problem der christlichen Lebensführung«). 4 H.-D. Wendland, Ethik, 36. 5 A.a.O., 2. 6 A.a.O., 3. 7 A.a.O., 2f. 8 A.a.O., 3. 9 Ebd. 10 A.a.O., 4. 11 A.a.O., 122f. 12 A.a.O., 124. 13 Ebd. 14 W. Schrage, Ethik des Neuen Testaments (GNT 4), Göttingen 2 1989. 15 A.a.O., 9. 16 A.a.O., 19. 17 Ebd. 18 A.a.O., 21. 19 A.a.O., 22. 20 A.a.O., 18. 21 Ebd. 22 A.a.O., 348. 23 A.a.O., 354. 24 Vgl. a.a.O., 85. 25 A.a.O., 21. 26 R. Schnackenburg, Die sittliche Botschaft des Neuen Testaments, Bd. I: Von Jesus zur Urkirche; Bd. II: Die urchristlichen Verkündiger (HThK.S I/ II), Freiburg i.Br. / Basel / Wien 1986 / 1988. 27 R. Schnackenburg, Botschaft I, 6. 28 Ebd. 29 Vgl. a.a.O., 160. 30 Vgl. R. Schnackenburg, Botschaft II, 271-281. 31 A.a.O., 274. 32 S. Schulz, Neutestamentliche Ethik (ZGB), Zürich 1987, 5. 33 Vgl. ebd. 34 Ebd. 35 Vgl. a.a.O., 86f. 36 Vgl. a.a.O., 204f. 37 E. Lohse, Theologische Ethik des Neuen Testaments (ThW 5 / 2), Stuttgart / Berlin / Köln / Mainz 1988. 38 Vgl. E. Lohse, Grundriß der neutestamentlichen Theologie (ThW 5 / 1), Stuttgart / Berlin / Köln / Mainz 4 1989 ( 1 1974), 30-35.96-101.155-158. 39 E. Lohse, Theologische Ethik, 7. 40 A.a.O., 11. 41 Vgl. a.a.O., 11f. 42 A.a.O., 9. 43 A.a.O., 28. 44 A.a.O., 134. 45 Ebd. 46 A.a.O., 135. 47 W. Marxsen, »Christliche« und christliche Ethik im Neuen Testament, Gütersloh 1989. 48 A.a.O., 12. 49 Vgl. a.a.O., 32. 50 Vgl. a.a.O., 36. 51 A.a.O., 46. 52 Vgl. a.a.O., 132f. 53 Vgl. a.a.O., 135-152. 54 Vgl. a.a.O., 202. 55 A.a.O., 265. 56 R.B. Hays, The Moral Vision of the New Testament: Community, Cross, New Creation. A Contemporary Introduction to New Testament Ethics, Edinburgh 1997. 57 J. Beutler (Hg.), Der neue Mensch in Christus. Hellenistische Anthropologie und Ethik im Neuen Testament (QD 190), Freiburg i.Br. / Basel / Wien 2001. 58 Vgl. D. Zeller, Konkrete Ethik im hellenistischen Kontext, in: a.a.O., (82-98) 83. 59 Vgl. a.a.O., 98. 60 Vgl. a.a.O., 87.93. 61 Vgl. L. Oberlinner, Öffnung zur Welt oder Verrat am Glauben? Hellenismus in den Pastoralbriefen, in: a.a.O., (135-163) 154-156.163. 62 Vgl. a.a.O., 158-162. 63 G. Theißen, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000. 64 M. Pfeiffer, Einweisung in das neue Sein. Neutestamentliche Erwägungen zur Grundlegung der Ethik (BEvTh 119), Gütersloh 2001. 65 A.a.O., 315. 66 H. Jonas, Das Prinzip Weltverantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation (st 1085), Frankfurt a.M. 1979. 67 M. Pfeiffer, Einweisung, 318. 68 Ebd. 69 Ebd. 70 A.a.O., 318f. 71 A.a.O., 316. 72 Ebd. 73 D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg.v. Ch. Gremmels, E. Bethge u. R. Bethge (DBW 8), Gütersloh 1998, 478f. 74 W. Schrage, Zur Frage nach der Einheit und Mitte neutestamentlicher Ethik, in: Die Mitte des Neuen Testaments. Einheit und Vielfalt neutestamentlicher Theologie (FS E. Schweizer), hg.v. U. Luz u. H. Weder, Göttingen 1983, 238-253. 011603 ZNT 11 - Inhalt 31.03.2003 15: 02 Uhr Seite 13
