eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 6/11

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
61
2003
611 Dronsch Strecker Vogel

Frieden stiften. Impulse des Neuen Testaments

61
2003
Klaus Wengst
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14 ZNT 11 (6. Jg. 2003) Die im Neuen Testament vorliegenden Schriften sind nicht schon je einzeln als kanonische Texte geschrieben oder je für sich kanonisch geworden. Sie sind das vielmehr geworden als zum »Neuen Testament« gesammelte Texte, als Bestandteil einer mit ihnen als zweitem Teil entstehenden christlichen Bibel zusammen mit der beibehaltenen jüdischen Bibel als erstem Teil. Als kanonische Texte sind sie normativ. Die Normativität kanonischer Texte besteht nicht darin, dass sie einfach zitiert werden könnten. Sie bedürfen der Auslegung. Dafür sind sie eine normative Vorgabe. Es verhält sich hier nicht anders als sonst: Die Realität entspricht nur allzu oft nicht der Norm. Das aber macht die Norm nicht überflüssig, sondern die Erinnerung an sie umso notwendiger. Erinnerung heißt hier, dass die Norm nicht einfach abrufbar ist, sondern im Auslegungsprozess auch immer wieder erst neu gewonnen werden muss. Die Texte des Neuen Testaments stammen in ihrer großen Mehrzahl aus einer Zeit, als es »das Christentum«, wie wir es als eine vom Judentum abgegrenzte eigene Größe kennen, noch gar nicht gab. Diese Texte haben bei ihrer Entstehung und ersten Überlieferung als ihre Träger kleine Gruppen, die zunächst wesentlich aus jüdischen Personen bestanden, in den Städten der Mittelmeerwelt mehr und mehr dann auch aus nichtjüdischen. Diese hatten jedoch zuvor meist schon Kontakt zum Judentum: »Gottesverehrer«, die als nichtjüdische Sympathisanten am synagogalen Leben - sozusagen »in der zweiten Reihe« - teilnahmen. Das Bewusstsein einer vom Judentum unterschiedenen eigenen Identität hat sich nur langsam herausgebildet und tritt m.E. in klarer Weise erst im Anfang des 2. Jh.s hervor. Die Frage, seit wann es Christentum gibt, ist eine spannende und gar nicht leicht zu beantwortende. Die Texte des Neuen Testaments sind von Haus aus jüdische bzw. in engster Weise mit dem Judentum in Verbindung stehende Texte. Diese kleinen Gruppen nun - als erste Träger und Überlieferer der dann zum Neuen Testament gesammelten Texte - setzten sich in sozialer Hinsicht in ihrer großen Mehrheit aus kleinen Leuten zusammen, die keine politische Verantwortung trugen und auch gar nicht wahrnehmen konnten. Mit »Friedenspolitik«, überhaupt mit politischer Gestaltung hatten sie nichts zu tun. Dennoch finden sich im Neuen Testament Aussagen zum Frieden, die mit dem politischen Bereich in Zusammenhang stehen und in ihn ausgezogen werden können. 1. Gott als Friedensstifter - und die (möglichen) Folgen Von Friedensstiftung ist im Neuen Testament nur dreimal, aber gewichtig die Rede. In Kol 1,20 steht das Verb »Frieden stiften« bzw. »Frieden machen« am Ende eines hymnischen Zusammenhangs, in dem Jesus Christus als Sohn Gottes überschwänglich gepriesen wird. Es gefiel Gott - so heißt es am Schluss -, »durch ihn alles auf sich hin zu versöhnen - Frieden stiftend durch das Blut seines Kreuzes -, durch ihn: das im Himmel und das auf der Erde«. Gott selbst schafft hier durch das als Einheit verstandene Geschehen von Tod und Auferstehung Jesu Christi, durch diese endzeitliche Neuschöpfung, mit der die Gabe des heiligen Geistes verbunden ist, universale Versöhnung und stiftet Frieden zwischen Himmel und Erde. Ohne dass Paulus in 2Kor 5,19 das Wort »Frieden« gebraucht, macht er dort sachlich dieselbe Aussage: »Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber, indem er ihnen ihre Übertretungen nicht zurechnete und unter uns das Wort von der Versöhnung aufrichtete.« Diese Proklamation umfassender Versöhnung und kosmischen Friedens realisiert sich und gewinnt Gestalt bei denen, die sich auf sie einlassen. So hatte Paulus unmittelbar vorher in 2Kor 5,17f. geschrieben: »Daher, wenn jemand in Christus ist, so gilt: neue Schöpfung! Zum Thema Klaus Wengst Frieden stiften. Impulse des Neuen Testaments 011603 ZNT 11 - Inhalt 31.03.2003 15: 02 Uhr Seite 14 ZNT 11 (6. Jg. 2003) 15 Klaus Wengst Frieden stiften. Impulse des Neuen Testaments Das Alte ist vergangen; siehe, Neues ist geworden. Alles aber von Gott her, der uns mit sich durch Christus versöhnt und uns den Dienst der Versöhnung gegeben hat.« Gottes neuschöpferische Tat am gekreuzigten Jesus schafft auch diejenigen neu, die sich darauf einlassen. Worin sich die »in Christus« gegebene »neue Schöpfung« realisiert und konkretisiert, führt Paulus an anderer Stelle aus, wenn er in Gal 3,28 schreibt: »Hier gibt es nicht Jude oder Grieche, hier gibt es nicht Sklave oder Freier, hier gibt es nicht männlich und weiblich; denn alle seid ihr einer in Jesus Christus.« Auf der Ebene der Gemeinden, auf der Ebene der Kirche hieße das also Frieden zwischen den Geschlechtern, Frieden zwischen den sozialen Klassen, Frieden zwischen den Völkern - und zwar Frieden als gleichberechtigte Teilhabe. Ähnlich heißt es Kol 3,11: »Da gibt es nicht Grieche und Jude, Beschneidung und Unbeschnittenheit, Barbar, Skythe, Sklave, Freier, sondern alles und in allem Christus.« Demnach könnte man - aufgrund der Erwähnung von Barbar und Skythe - auch noch formulieren: Frieden zwischen den Kulturen. Darin steckt ein starkes politisches Potential. Das hätte aktiviert werden können, als sich Kirche und Christen die Möglichkeit politischer Gestaltung bot. In der Regel ist das nicht geschehen. Als es bei der Emanzipation von Frauen um gleiche gesellschaftliche und politische Teilhabe von Frauen und Männern ging, wurde das von den Kirchen alles andere als gefördert. Schon im eigenen Bereich waren die Impulse der frühen Zeit, wie bereits Spätschriften des Neuen Testaments zeigen, bald versandet. Das Potential des Anfangs hätte ein Impuls für die Überwindung von Klassen- und Standesschranken sein können. Aber als die Arbeiterbewegung soziale und politische Rechte für alle erstritt, standen die Kirchen im Wesentlichen auf der anderen Seite. Das Potential des Anfangs hätte ein Impuls sein können für Frieden unter den Völkern. Aber z.B. beim Beginn des 1. Weltkriegs verfiel der Großteil der Kirchen und Christen genauso dem Nationalismus wie der Großteil der Arbeiterbewegung. Aber immerhin - das sei doch auch angeführt - gehörten nach dem 2. Weltkrieg in der Bundesrepublik Deutschland einzelne Christen und kirchliche Gruppen zu den ersten, die Kontakt zu Menschen und Gruppen im neu gegründeten Staat Israel suchten und konkrete Versöhnungsarbeit aufnahmen (z.B. die »Aktion Sühnezeichen und Friedensdienste«). Es waren ebenfalls einzelne Christen und kirchliche Gruppen, die Versöhnung und Frieden mit den Völkern Osteuropas suchten. Die Ostdenkschrift der EKD von 1965 gab nicht nur einem beginnenden Bewusstseinswandel in Westdeutschland gegenüber den Völkern Osteuropas Ausdruck, sondern sie hat ihn auch entscheidend vorangetrieben und kräftige Anstöße für eine veränderte Politik gegeben. In dem zentralen Punkt christlichen Glaubens, dass Gott ein schreckliches Geschehen, Klaus Wengst Prof. Dr. Klaus Wengst studierte Evangelische Theologie von 1961-1967 in Bethel, Tübingen, Heidelberg und Bonn. Promotion 1967, Habilitation 1970 in Bonn. 1967 Wissenschaftlicher Assistent, 1973 Dozent, 1979 apl. Professor in Bonn. Seit 1981 Professor für Neues Testament an der Ruhr-Universität in Bochum. Derzeitige Forschungsschwerpunkte: Sozialgeschichte, das jüdische Profil der neutestamentlichen Schriften sowie das Johannesevangelium. »In dem zentralen Punkt christlichen Glaubens, dass Gott ein schreckliches Geschehen, die Hinrichtung Jesu am Kreuz, heilvoll für die Welt gewendet hat, steckt also ein enormes Potential für Friedenshandeln« 011603 ZNT 11 - Inhalt 31.03.2003 15: 02 Uhr Seite 15 16 ZNT 11 (6. Jg. 2003) Zum Thema die Hinrichtung Jesu am Kreuz, heilvoll für die Welt gewendet hat, steckt also ein enormes Potential für Friedenshandeln. Von daher sind die Gemeinde, die Kirche und auch die Kirchen untereinander als ein eigener Erfahrungsraum von Frieden und Versöhnung zu entdecken und zu erschließen. Wird dieser Raum wirklich wahrgenommen und gelebt, hat das auch Folgen in einem entsprechenden Handeln nach außen. Ich will beides an zwei neutestamentlichen Beispielen erläutern. Im Matthäusevangelium spielt Bereitschaft zur Vergebung und im Raum der Gemeinde praktizierte Versöhnung eine außerordentlich große Rolle. Dabei steht der Evangelist ganz und gar in seiner jüdischen Tradition. In der Ausweitung des Tötungsverbotes auf Zorn und Beschimpfung und also auf den Hass (Mt 5,21f.) stimmt er mit seinem Zeitgenossen Rabbi Elieser genau überein, der seinerseits formuliert: »Wer seinen Mitmenschen hasst, siehe, der gehört zu den Blutvergießern« (DER 11 [57d]). Matthäus fährt erläuternd fort: Wer sich, wenn er ein Opfer darbringen will und schon am Altar steht, daran erinnert, dass er mit seinem Mitmenschen in Unfrieden lebt, soll das Opfer vor dem Altar liegen lassen und sich erst mit seinem Mitmenschen versöhnen (5,23f.). Das ist hyperbolische Redeweise, die nicht wörtlich befolgt werden kann. Wer sich etwa als galiläischer Pilger so verhalten hätte, wäre bei seinem Wiederkommen erst nach Ende des Wallfahrtsfestes eingetroffen. Nachdem Matthäus das Vaterunser zitiert hat, nimmt er nur den Nachsatz der Bitte um Vergebung noch einmal auf: » ... wie auch wir denen vergeben haben (! ), die uns etwas schulden« und macht Gottes Vergebung von der eigenen Vergebungspraxis abhängig (6,14f.; vgl. auch 18,21-35). Die Erfahrung praktizierter Versöhnung im Raum der Gemeinde, die Erfahrung gelebten Friedens, dürfte die Basis dafür bilden, dass Paulus ein entsprechendes Verhalten nach außen anmahnen kann. Er tut das am eindrücklichsten in Röm 12,17-21: »Soweit es von euch abhängt, haltet Frieden mit allen Menschen! « (V.18). Die Einschränkung am Beginn macht deutlich, dass nicht der gute Wille einer Seite allein in jedem Fall Frieden schaffen kann. Aber zum Erreichen von Frieden setzt Paulus doch andererseits keineswegs voraus, dass auf der anderen Seite ein genau gleich großer Wille zum Frieden von vornherein vorhanden sein muss. Das zeigt sich daran, wie er die Einschränkung »soweit es von euch abhängt« hier näher beschreibt. Diese Wendung ist für ihn nämlich nicht eine bloße Floskel, mit der resignierend unfriedliche Zustände hingenommen werden. Die Einschränkung wird präzise ausgeführt. Er verbietet es den Gemeindegliedern, sich zu rächen; die Vergeltung ist Gottes Sache (V.19f.). Statt dessen ermuntert er dazu, die Kette von Untat und Vergeltung zu durchbrechen: »Vergeltet nicht Böses mit Bösem! « (V.17). Dem Verzicht, für den »fälligen« Ausgleich selbst zu sorgen, stellt er sofort die positive Mahnung zur Seite: »Seid im Vorhinein auf Gutes gegenüber allen Menschen bedacht! « (V.17). Den anderen ist Vertrauensvorschuss zu gewähren und das eigene Handeln ihnen gegenüber so zu gestalten, dass es positive Folgen auch für sie zeitigt. Ich sehe eigentlich nicht, wieso dieser Aspekt nicht auch ein Element politischen Friedenshandelns sein könnte. Ich hatte vorher als einen zu entdeckenden und zu erschließenden Raum von Versöhnung und Frieden auch das Verhältnis der Kirchen zueinander genannt. Das Modell, das Einheit als „versöhnte Verschiedenheit“ versteht und zu praktizieren versucht, könnte vielleicht auch ein entwicklungsfähiges Modell für politisches Friedenshandeln im Blick auf die Einheit der Menschheit auf dieser Erde sein. 2. Christen als Friedensstifter - und woran sie dabei zu erinnern haben Ausdrücklich von Friedensstiftung spricht »Das Modell, das Einheit als ›versöhnte Verschiedenheit‹ versteht und zu praktizieren versucht, könnte vielleicht auch ein entwicklungsfähiges Modell für politisches Friedenshandeln im Blick auf die Einheit der Menschheit auf dieser Erde sein« 011603 ZNT 11 - Inhalt 31.03.2003 15: 02 Uhr Seite 16 ZNT 11 (6. Jg. 2003) 17 Klaus Wengst Frieden stiften. Impulse des Neuen Testaments sodann die Seligpreisung der Friedensstifter in der Bergpredigt: »Glücklich die Friedensstifter! Denn sie werden Kinder Gottes heißen« (Mt 5,9). Luthers Übersetzung hat das in seiner Zeit durchaus angemessen wiedergegeben: »Selig sind die Friedfertigen.« Aber das Wort »friedfertig« - wie auch das Wort »selig« - hat inzwischen einen Bedeutungswandel durchgemacht, insofern es in unseren Ohren einen passiven Klang bekommen hat. Es wurde aber - entsprechend dem im griechischen Text stehenden Wort - einmal aktiv gehört: Frieden fertigen. Mit dieser Seligpreisung der Friedensstifter - sie enthält ja implizit die Aufforderung, zu ihnen zu gehören und also selbst Frieden zu stiften - steht Matthäus wieder ganz in seiner jüdischen Tradition. So heißt es von Hillel dem Alten: »Gehöre zu den Schülern Aarons: Frieden liebend und dem Frieden nachjagend, die Menschen liebend und sie der Tora nahebringend! « (mAv 1,12). Aaron gilt als Musterbeispiel für einen Friedensstifter: »Aaron hält Frieden, jagt dem Frieden nach und stiftet Frieden zwischen dem Menschen und seinem Mitmenschen« (bSan 6b). Wie er das macht, wird ausführlich erzählt, dass er nämlich in geschickten Einzelgesprächen zwischen verfeindeten Menschen agiert und sie wieder zusammenbringt. Und zwar überzeugt er den jeweiligen Gesprächspartner vom guten Willen des je anderen und provoziert so überhaupt erst den guten Willen des jeweiligen Gesprächspartners (ARN [A] 12). Aaron vermochte das aufgrund seiner Demut: »Wenn ihn einer verflucht, sagt er zu ihm: Friede sei mit dir! Wenn ein Mensch mit ihm in Streit liegt und nicht mit ihm spricht und wenn zwei (andere miteinander) streiten, demütigt er sich (wörtlich: erniedrigt seinen Geist, d.h. er macht sich klein, um sozusagen dem anderen nicht von oben herab zu begegnen) und geht zu ihnen und versöhnt sie miteinander; denn das war das Handwerk Aarons, des Gerechten« (Kalla Rabbati 3,4). Den Friedensstiftern wird in Mt 5,9 verheißen, Kinder Gottes zu sein. Sie sind es, weil Gott selbst ein Friedensstifter ist. So heißt es an einer Stelle: »Groß ist der Friede. Denn unter den Engeln gibt es weder Feindschaft noch Eifersucht noch Hass noch Häresie noch Rivalitäten noch Streitigkeiten; und doch muss der Heilige, gesegnet er, zwischen ihnen Frieden stiften. (Denn in Hiob 25,2 steht, dass er ›Frieden schafft in seinen Höhen‹.) Um wieviel mehr muss er es tun zwischen den Menschen, die alle diese Eigenschaften haben« (DES 11 [59c]). Dass es Feindschaft, Eifersucht, Hass, Häresie, Rivalität und Streit bei den Menschen gibt, lässt Gott also nicht resignieren, sondern veranlasst ihn dazu, Frieden zu stiften. Entsprechend wird Gott im Neuen Testament geradezu formelhaft als »Gott des Friedens« bezeichnet (Röm 15,36; 16,20; 1Kor 14,33; 2Kor 13,11; Phil 4,9; 1Thess 5,23; Hebr 13,20). Die Seligpreisung der Friedensstifter steht bei Matthäus nicht für sich, sondern in einem deutlich ausgearbeiteten und zugespitzten Zusammenhang. Matthäus hat die überlieferten Seligpreisungen der Armen, Hungernden und Weinenden, wie sie Lk 6,20f. erhalten sind, in den Bereich ethischen Verhaltens übertragen und um entsprechende Seligpreisungen erweitert. Das lässt sich am besten verdeutlichen an der Seligpreisung der Hungernden. In Lk 6,21 sind im wörtlichen Sinn Hungernde angesprochen, die deshalb glücklich gepriesen werden, weil sich ihre schlimme Situation ändern wird: Sie werden satt werden. Bei Matthäus heißt es in 5,6: »Glücklich, die hungern und dürsten nach Marc Chagall, Die weiße Kreuzigung © ADAGP, Paris 2000 © Giraudon 011603 ZNT 11 - Inhalt 31.03.2003 15: 02 Uhr Seite 17 18 ZNT 11 (6. Jg. 2003) Zum Thema Gerechtigkeit! « Hier geht es um ein Verhalten, das auf Gerechtigkeit aus ist. Für diese Übertragung in den ethischen Bereich ist Matthäus nicht zu tadeln, sondern zu loben. Er dürfte wahrgenommen haben, dass es sich bei den Menschen in seiner Gemeinde - anders als bei Jesus und seinen Schülern - nicht um Bettelarme handelte; und so fragte er sich, was Jesu Seligpreisung der Hungernden für Menschen bedeuten könnte, die zwar nicht gerade im Überfluss leben, aber doch so viel haben, dass sie nicht hungern müssen. So meinte er, dass Jesu Seligpreisung verpflichtet, nach Gerechtigkeit zu hungern und zu dürsten, also für diejenigen einzutreten, denen ihr Recht vorenthalten ist, indem sie z.B. immer noch hungern müssen. Hat Matthäus schon in dieser Seligpreisung das Stichwort »Gerechtigkeit« gebracht, so nimmt er es in V.10 noch einmal auf und fasst dort alle in den Versen 3 bis 9 gebrachten Verhaltensweisen mit diesem Begriff zusammen. Das aber heißt, dass Gerechtigkeit die Signatur des zu erringenden Friedens ist. Auch das hat biblische Tradition: »Das Werk der Gerechtigkeit wird Frieden sein und der Dienst der Gerechtigkeit Ruhe und Sicherheit auf immer« (Jes 32,17). Nach Röm 14,17 besteht das Reich Gottes »in Gerechtigkeit, Frieden und Freude«; und Jak 3,18 - dies die dritte Stelle, an der im NT von Friedensstiftung die Rede ist - heißt es: »Die Frucht der Gerechtigkeit wird in Frieden denen gesät, die Frieden stiften.« Gerechtigkeit ist biblisch ein partizipatorischer Begriff. Da es um gleichberechtigte Teilhabe geht, meint er vor allem, dass die zu ihrem Recht kommen, die es noch nicht haben: »Wenn ein Bruder oder eine Schwester Mangel an Kleidung und täglicher Nahrung leiden und einer von euch ihnen sagt: Geht hin in Frieden, wärmt euch und sättigt euch! , ihr ihnen aber nicht gebt, was sie für ihren Leib brauchen, was ist der Nutzen? « (Jak 2,14f.) Dafür hätten daher Christinnen und Christen in der friedenspolitischen Diskussion vor allem zu sorgen, dass die Frage nach Gerechtigkeit in ihr nicht verstummt. Gerechtigkeit bildet den Maßstab, ob etwas, das als Frieden behauptet wird, auch wirklich Frieden ist. Von daher ist es zu verstehen, dass sich im NT im Munde Jesu auch die Aussage findet: »Meint nicht, dass ich gekommen bin, Frieden auf die Erde zu bringen. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert« (Mt 10,34; par Lk 12,51). Und dann zitiert er in bestimmter Weise Micha 7,6: »Ich bin nämlich gekommen, einen Menschen gegen seinen Vater zu entzweien, eine Tochter gegen ihre Mutter und eine Schwiegertochter gegen ihre Schwiegermutter.« Die neue Sozialität der Schülerschaft Jesu, die neue Sozialität der Gemeinde, die durch geschwisterschaftliche Partizipation geprägt ist, steht gegen die traditionelle Gesellschaft, vor allem geprägt durch die hierarchisch bestimmte Familie; und da kommt es zu schmerzhaften Trennungen. Nach Joh 14,27 sagt der Abschied nehmende Jesus zu seinen Schülern: »Frieden lasse ich euch zurück, meinen Frieden gebe ich euch.« Solcher Frieden stellt sich ein, wo auf das Vermächtnis Jesu, einander zu lieben, vertraut und ihm gefolgt wird, wo die Bedrängten untereinander Solidarität üben und Solidarität erfahren. Das Gegenbild wird unmittelbar anschließend ausdrücklich genannt: »Nicht wie die Welt gibt, gebe ich euch.« Dieses Gegenbild, wie die Welt Frieden gibt, stand der Leser- und Hörerschaft des Evangeliums in Gestalt der Pax Romana vor Augen; und es tritt auch im Johannesevangelium in Erscheinung. Die römische Macht gibt »Frieden« durch militärischen Einsatz (11, 48); und um der Friedenssicherung und Machterhaltung willen schreckt sie auch nicht, wie die Passionsgeschichte zeigen wird, vor der Hinrichtung eines Unschuldigen zurück. Der Frieden Jesu entsteht demgegenüber aus Erfahrungen von Solidarität. 3. Pax Romana und der Friede Jesu Christi Der zentrale Inhalt christlicher Verkündigung, das Zeugnis von Tod und Auferweckung Jesu »Dafür hätten daher Christinnen und Christen in der friedenspolitischen Diskussion vor allem zu sorgen, dass die Frage nach Gerechtigkeit in ihr nicht verstummt« 011603 ZNT 11 - Inhalt 31.03.2003 15: 02 Uhr Seite 18 ZNT 11 (6. Jg. 2003) 19 Klaus Wengst Frieden stiften. Impulse des Neuen Testaments Christi, ist also mit gegensätzlichen Friedensvorstellungen verbunden. Jesus wurde durch eine Hinrichtung am Kreuz zu Tode gebracht, also durch die römische Besatzungsmacht. Er wurde nach einem - vermutlich kurzen - Prozess aufgrund der Verurteilung durch den Präfekten der römischen Provinz Judäa, Pontius Pilatus, von Soldaten Roms hingerichtet. Wie immer der Beitrag führender Kreise unter den Landsleuten Jesu dabei zu beschreiben sein mag, die entscheidende Instanz war jedenfalls Rom in der Person des Präfekten. Dass er Jesus am Kreuz hinrichten ließ, zeigt an, dass Jesu Tod unlösbar verknüpft ist mit dem politischen Frieden, den es damals gab, der Pax Romana, von der römischen Macht hergestellt und garantiert. Aus der Sicht des Präfekten war diese Hinrichtung, wie viele andere auch, geradezu ein Akt zur Sicherung und Erhaltung des Friedens. Erhaltene Berichte über den Vollzug der römischen Strafe der Kreuzigung im Land Israel der Zeit Jesu nennen als Delinquenten nur solche, die für Aufrührer gehalten wurden. Dafür genügte es, »Auflauf« erzeugt zu haben. Auf diesen politischen Kontext weisen einmal die Bezeichnung der Mitgekreuzigten Jesu als »Räuber«, wie Aufständische aus der Perspektive der Ordnungsmacht beurteilt wurden, und zum anderen die Aufschrift am Kreuz Jesu: »König der Juden«. In den Augen der römischen Provinzverwaltung war Jesus ein Aufrührer, der den bestehenden Frieden gefährdete. Ein Friedensstörer wurde auf legale Weise von der Friedensmacht aus dem Weg geräumt. Die sich auf Tod und Auferweckung Jesu beziehenden Aussagen des Neuen Testaments, die seine sachliche Mitte bezeichnen, sind also unlösbar mit einem historischen Ereignis verknüpft, der Kreuzigung Jesu, das in den Zusammenhang damaligen politischen Friedenshandelns gehört. Das ist allerdings eine höchst seltsame Mitte, eine Mitte am Rande eine Hinrichtung in einer relativ unbedeutenden kleinen Provinz im Osten des römischen Reiches. Wir haben im ersten Punkt gesehen, dass Aussagen des Neuen Testaments mit dieser Hinrichtung die Vorstellung von Gottes universaler Friedensstiftung verbinden. Damit prallen in der sachlichen Mitte des Neuen Testaments, dem Zeugnis von Tod und Auferweckung Jesu, zwei völlig entgegengesetzte Weisen von Frieden aufeinander. Auf der einen Seite steht unterbrechende, ja abbrechende Gewalt - »Unterbrechung der Gewalt« als Unterbrechung und Abbruch durch Gewalt -, steht die Pax Romana, ein vom damaligen Zentrum der Macht vor allem mit militärischen Mitteln hergestellter und gesicherter Frieden, eine von der Metropole ausgehende und auf sie ausgerichtete Ordnung. Auf der anderen Seite steht Unterbrechung der Gewalt als unterbrochene, ja abgebrochene Gewalt, steht Frieden als Versöhnung von Gegensätzen und Aufhebung von Feindschaft, als neue Schöpfung, die am Rande der Gesellschaft Gestalt gewinnt in kleinen Gruppen und Gemeinden. Von daher wäre es m.E. ein wesentlicher Aspekt christlichen Friedenshandelns, den Blick von den Rändern her einzuüben und die Marginalisierten ins Blickfeld zu rücken. Orte der Peripherie gibt es im Zeitalter der Globalisierung zunehmend auch in den Zentren. An dieser Peripherie müsste spezifisch christliches Friedenshandeln von seinem eigenen Zentrum her ansetzen. Dabei wäre von der biblisch-jüdischen Tradition her auch das spannungsvolle Aufeinanderbezogensein von Universalität und Partikularität in die Globalisierungsdebatte einzubringen. Gegen den einseitigen Drang zur Universalisierung und zur Universalisierbarkeit geht es konstitutiv um die Rettung des Partikularen als des Besonderen und Unterschiedenen. In mSan 4,5 ist eine Antwort auf die Frage, warum Adam, der erste Mensch, einzeln geschaffen wurde: »... wegen des Friedens unter den Menschen, sodass kein Mensch zu seinem Mitmenschen sagen kann: Mein Vater ist größer als dein Vater.« An den Schluss meines Beitrags stelle ich einen Hinweis auf die Feier des Abendmahls. Als ein Symbol von Frieden und Gerechtigkeit »Von daher wäre es m.E. ein wesentlicher Aspekt christlichen Friedenshandelns, den Blick von den Rändern her einzuüben und die Marginalisierten ins Blickfeld zu rücken« 011603 ZNT 11 - Inhalt 31.03.2003 15: 02 Uhr Seite 19 20 ZNT 11 (6. Jg. 2003) Zum Thema enthält sie m.E. ein starkes Orientierungspotential für christliches Friedenshandeln: Sie proklamiert Versöhnung und praktiziert sie untereinander; sie gewährt gleichberechtigte Teilhabe an dem, was elementar notwendig ist und also die Not wendet, wofür das Brot steht, aber zugleich gewährt sie auch Teilhabe an sozusagen elementarem Luxus: der Freude, die der Wein schenkt; im Teilen miteinander bekommen alle daran Anteil und jede und jeder genug; sie bekommen die Gaben dieser Feier als Wegzehrung für unterwegs, damit sie ihre Schritte auf den Weg des Friedens lenken. Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie A. Francke Verlag Tübingen und Basel Eve-Marie Becker Schreiben und Verstehen Paulinische Briefhermeneutik im Zweiten Korintherbrief Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie 4, 2002, XII, 319 Seiten, 48,-/ SFr 79,30 ISBN 3-7720-3154-4 Im 2. Korintherbrief äußert sich Paulus am umfassendsten zum Thema “Kommunikation des Apostels mit einer Gemeinde”. In Briefform entwirft er eine eigene briefhermeneutische Konzeption. Er wählt dabei eine metakommunikative Sprachebene. Dies führt zu Fragen, die schon die antiken Autoren kannten und die heute Exegeten und Sprachwie Literaturwissenschaftler bewegen: Überlegungen zum Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, zur Briefproduktion und -rezeption und zu einer Brieftypologie. Die Studie untersucht weiterhin mit Hilfe von Philologie, Papyrologie und Sprach- und Literaturwissenschaften die allgemein-antiken Produktions- und Rezeptionsbedingungen des 2. Korintherbriefes. Sie entwickelt ein eigenständiges literarhistorisches Modell, das den 2. Korintherbrief als eine nachträgliche Brief-Sammlung erklärt, die aus ursprünglich vier bis fünf Einzelbriefen bestand. Jörn-Michael Schröder Das eschatologische Israel im Johannesevangelium Eine Untersuchung der johanneischen Israel-Konzeption in Joh 2-4 und Joh 6 Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie 3, 2002, XVI, 380 Seiten, 49,-/ SFr 81,- ISBN 3-7720-3153-6 Welche Funktion hat die jüdisch-alttestamentliche Ursprungstradition für die Selbstdefinition des Christentums? Eine Bestimmung der impliziten Lesergemeinde als “eschatologisches Israel” ist die Anwort, die Jörn-Michael Schröders Studie für das Johannesevangelium aufzeigt. Joh 2-4 und Joh 6 werden dabei als metaphorischer Entwurf der johanneischen Israel-Konzeption entfaltet. Daraus ergeben sich neue Perspektiven sowohl für die johanneische Selbstwahrnehmung des Christentums in Bezug auf die jüdisch-alttestamentliche Tradition als auch für die kontrovers diskutierte Rolle der “Juden” im Johannesevangelium. Die johanneische Leserlenkung und Strategie wird dabei durch Erwägungen zur historischen Kontextualisierung seiner Israel-Konzeption deutlich profiliert. In einem Ausblick wird der Ertrag der Untersuchung für das gegenwärtige jüdisch-christliche Gespräch festgehalten. 011603 ZNT 11 - Inhalt 31.03.2003 15: 02 Uhr Seite 20