ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
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2003
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Dronsch Strecker VogelDie Bergpredigt - politisches Programm oder lebensferne Utopie?
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2003
Ulrich Luz
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ZNT 11 (6. Jg. 2003) 43 Eine Kontroverse wäre hübsch, wenn es einen wirklichen Streitpunkt gäbe! Aber zwischen Reinhard Feldmeier und mir gibt es eigentlich keinen. Ich konnte seinen Aufsatz drehen und wenden, wie ich wollte: Ich möchte einiges etwas anders akzentuieren als Reinhard Feldmeier und einige Aspekte hinzufügen - aber eine Kontroverse wird es nicht geben! 1 Dabei streite ich eigentlich gern, und in unserer gewiss nicht mehr von der »rabies theologorum«, sondern weit eher von ihrer Unfähigkeit zu streiten geprägten Situation tut mir unsere weitgehende Einigkeit fast leid. Oder bin ich ein zu irenischer Mensch? Eine falsch gestellte Grundfrage: »Ist die Bergpredigt ein politisches Programm oder lebensferne Utopie? « Die Grundfrage, die uns von der Redaktion gestellt wurde, geht an der Sache vorbei. Dies nicht darum, weil die Insel »Utopia« noch gar nicht erfunden war, als Matthäus seine Bergpredigt schrieb. 2 Die Sache gab es schon: Die Antike ist voll von »Utopien«, wenn man an alle Wunschwelten von den Schilderungen des Goldenen Zeitalters über Platons Staat bis zu den fernen exotischen Ländern hellenistischer Romane denkt, und zusätzlich noch an Autoren wie Euhemeros, Iambulos und Theopomp erinnert. 3 Aber der Abstand zwischen diesen nun wirklich »ort-losen« (= »u-topischen«) Träumereien und der auf Schritt und Tritt sehr konkret auf das Leben bezogenen Bergpredigt springt in die Augen. Das Gottesreich ist ja nicht ein utopischer Kontinent, sondern eine Realität, die Gott heraufführen wird (Mt 6,10). Ein »politisches Programm« - ein nicht »lebensfernes«, d.h. realistisches Programm - ist die Bergpredigt aber auch nicht. Wer war Jesus und wer die ihn verkündende matthäische Gemeinde, als dass sie ein solches hätten aufstellen können? Wer so total von politischer Macht und politischer Verantwortung ausgeschlossen ist, wie die Jesusjünger, hat weder die Möglichkeit noch die Lust, politische Programme zu machen, die ohnehin niemanden interessiert hätten. Politische Programme waren eine Angelegenheit der Kaiser und der an der Macht partizipierenden Oberschichten des Reichs und der Städte. Politische Denkansätze der von der Macht Ausgeschlossenen können höchstens den Charakter von »Gegenprogrammen« fern jeder Durchsetzungschance haben. Solche Gegenprogramme sind selten »realistisch«; aber sie sind deshalb nicht »lebensfern«, sondern im Gegenteil: Sie sind mitten aus dem Leben und dem Leiden heraus geschrieben, ganz anders als die vorher kurz erinnerten antiken Utopien. Kurz: Keine der beiden Möglichkeiten trifft irgendwie zu; die Alternative taugt nur für einen attraktiven Titel in einer Zeitschrift. Die Unerfüllbarkeit der Bergpredigt: etsi gratia non daretur Näher an die Sache kommt die alte Frage, ob denn die Forderungen der Bergpredigt erfüllbar seien. Nach Reinhard Feldmeiers erster These handelt es sich hier um eine »moralisierende Engführung« (siehe Feldmeier unter Punkt 1). Ulrich Luz Die Bergpredigt - politisches Programm oder lebensferne Utopie? Replik zu Reinhard Feldmeier »Wer so total von politischer Macht und politischer Verantwortung ausgeschlossen ist, wie die Jesusjünger, hat weder die Möglichkeit noch die Lust, politische Programme zu machen, die ohnehin niemanden interessiert hätten« 011603 ZNT 11 - Inhalt 31.03.2003 15: 02 Uhr Seite 43 44 ZNT 11 (6. Jg. 2003) Kontroverse Ihr liegt eine neuzeitliche Wahrnehmung der Bergpredigt zugrunde, die aus einer »einseitigen Konzentration auf das (mehr oder weniger autonom gedachte) Subjekt resultiert, das sich durch die Bergpredigt mit einer heteronomen Zumutung konfrontiert sieht« (siehe Feldmeier unter Punkt 2). Ich kann dem zustimmen, auch wenn ich es selber lieber anders formuliere: Die These von der Nichterfüllbarkeit der Bergpredigt taucht m.E. dort auf, wo das Fundament der Gnade, auf dem die Praxis der Bergpredigt ruht, brüchig geworden ist. Erstmals hat ja ein Nichtchrist - der Jude Trypho - die Unerfüllbarkeit der Bergpredigt betont (Justin, Dial 10,2). Bei den Kirchenvätern taucht eine solche Einschätzung kaum auf. 4 Wie sollte sie auch! Natürlich gehen alle Kirchenväter davon aus, dass die Forderungen der Bergpredigt ernst gemeint sind und keineswegs ein bloß utopisches Ideal. Über die Weisen ihrer Erfüllung wurde in den christlichen Gemeinden intensiv reflektiert, auch wenn die Grundsatzfrage nach ihrer Erfüllbarkeit selten gestellt wurde. In der Auslegungsgeschichte werden zwei Tendenzen sichtbar, die sich ergänzen: Die eine besteht darin, dass man vom Grundprinzip ausgeht, dass der himmlische Vater seinen Kindern keine unerfüllbaren Forderungen zumutet 5 - deswegen werden sie so ausgelegt, dass sie erfüllbar sind, bzw. gemildert. Die andere besteht darin, dass man sich des eigenen Versagens sehr wohl bewusst ist und eben deshalb auf Gottes Vergebung weist. Beide Male ist Gottes Gnade die Voraussetzung für die Praxis der Bergpredigt. Daneben gab es sehr viele Stimmen, die selbstverständlich voraussetzen, dass die Christen die Gebote der Bergpredigt wirklich erfüllen. Die Situation ist derjenigen des Judentums gegenüber der Torah durchaus vergleichbar. Für alle Juden galt die Überzeugung, dass die Torah als Geschenk Gottes für sein Bundesvolk eine gute Gabe und nicht eine unerfüllbare Forderung war. Von jüdischen Gruppen, welche religionssoziologisch als »perfektionistische Sekte« 6 einzustufen sind, wie etwa die Qumranessener, wurde sie als harte Forderung Gottes ausgelegt - aber ihre Erfüllbarkeit war selbstverständlich vorausgesetzt. Von den Pharisäern, welche danach strebten, die Torah als Weisung für ganz Israel auszulegen, wurde sie dem Leben angepasst und milde ausgelegt, denn sie war ja von Gott zum Leben gegeben. Ihre Erfüllbarkeit war wiederum selbstverständlich vorausgesetzt. Dass die Torah nicht erfüllbar bzw. eine Last sei, dachten diejenigen, für welche die Israel geschenkte Erwählungsgnade kein tragfähiges Fundament ihres Lebens mehr war, nämlich Paulus (Röm 3,19f.) und der Petrus der Apostelgeschichte (Apg 15,10f., vgl. Mt 23,4). Jüdische Stimmen, welche die Torah als drückende und kaum erfüllbare Last empfanden, gibt es nur ganz wenige. 7 In der Neuzeit wurzelt die These, dass die Bergpredigt nicht erfüllbar sei, in Erfahrungen der Reformatoren, taucht aber bei ihnen in dieser grundsätzlichen Form noch nicht auf. Die reformatorischen Theologen haben die paulinische Erkenntnis deutlich formuliert, dass niemand »in allem, was im Buch des Gesetzes geschrieben sei, bleiben« könne (Gal 3,10), und dies in besonderer Weise auf den Dekalog bezogen. 8 Die Bergpredigt wurde allerdings selten unter das »Gesetz« subsumiert. 9 Vielmehr wurde meist deutlich festgehalten, dass sie das Gebot des Herrn für die Gläubigen sei, deren Sünden vergeben sind. Für sie galt das »simul iustus et peccator«: Kein Mensch kann alle Gebote erfüllen, aber dies ist um das Heils zu erlangen auch nicht notwendig. Darum, so sagt Johannes Brenz sehr prägnant, erschrecken die Volksmengen, nachdem sie die Bergpredigt gehört haben (Mt 7,28), nicht aber die Jünger, denn für sie war die Bergpredigt eine Verkündigung »iuxta sententiam Spiritus sancti«, nicht nach der Weise der Pharisäer. 10 Die Erkenntnis, dass die Gebote der Bergpredigt per se, ohne Gnade, unerfüllbar seien, wurde durch die Rückkehr zur wörtlichen Auslegung unterstützt; allegorische Umdeutungen einzelner Gebote wurden jetzt abgelehnt. Wichtig war auch, dass die Reformatoren die Unterscheidung zwischen praecepta und consilia Evangelica ablehnten und daran fest- »Die These von der Nichterfüllbarkeit der Bergpredigt taucht m.E. dort auf, wo das Fundament der Gnade, auf dem die Praxis der Bergpredigt ruht, brüchig geworden ist« 011603 ZNT 11 - Inhalt 31.03.2003 15: 02 Uhr Seite 44 ZNT 11 (6. Jg. 2003) 45 Ulrich Luz Die Bergpredigt - politisches Programm oder lebensferne Utopie? hielten, dass alle Christen zur Befolgung aller Gebote der Bergpredigt aufgerufen sind. Aber dennoch wurde m.W. die These von der Unerfüllbarkeit der Bergpredigt in der Reformationszeit nie grundsätzlich formuliert. Sie war nicht entscheidend: Wer allein aus Gnade gerettet war und sich unter allen Umständen und in jeder Situation auf diese Gnade verlassen konnte, hatte die Möglichkeit, »Sünde« ernster und tiefer zu fassen als bisher. Zugleich aber musste man (im Sinne der Heilsnotwendigkeit! ) die Gebote der Bergpredigt nicht erfüllen, weil das Gesetz kein Anrecht auf diejenigen hat, die an Christus glauben, der für sie gestorben ist. 11 Zur Grundfrage wird die Frage nach der Erfüllbarkeit der Bergpredigt erst dort, wo diese von der Gnade gelöst, bzw. überwiegend unter dem Aspekt des usus elenchticus legis betrachtet wird. Die Alternativfrage »Ist die Bergpredigt politisches Programm oder lebensferne Utopie? « setzt für die meisten, die sie in dieser Weise stellen, die These von der Unerfüllbarkeit der Bergpredigt voraus. Beide Alternativmöglichkeiten sind Varianten dieser These. Bei beiden Alternativmöglichkeiten fällt die Bergpredigt als echte Möglichkeit aus dem Spiel: Dass sie nicht in einem direkten Sinn ein (»lebensnahes! «) politisches Programm sein kann, ist für jedermann unmittelbar einleuchtend, der politische Verantwortung trägt. Nur in einem mittelbaren Sinn, z.B. in Gestalt der das Gebot der Feindesliebe zugleich verallgemeinernden, mildernden und rational einsichtig machenden Goldenen Regel, kann sie Leitlinie für politisches Handeln sein. Eine Utopie mag die Bergpredigt in gewisser Weise sein - aber durch das Attribut »lebensfremd« wird sie von vornherein abgewertet. In beiden Alternativmöglichkeiten kommt die Erfahrung der Gnade nicht mehr vor, welche der Utopie ihre Lebenskraft gab und welche die Programme, die Politiker aufstellen mögen, in von Gott zum Leben geschenkte Richtungsanweisungen verwandeln. Die entscheidende Frage lautet also, wo in der Bergpredigt die Kraft zu finden ist, welche ihre Utopien mit Leben erfüllen und welche ihre programmatischen Visionen zu Wegen zum Leben werden lassen. Die Gnade in der Bergpredigt Reinhard Feldmeier formuliert als zweite These: »Die Bergpredigt will durch die Orientierung an Gottes Wesen (5,45.48) diese Welt als Gottes Welt erfahrbar ... machen und die Gegenwart so gleichnisfähig ... machen für die kommende Gottesherrschaft« (siehe Feldmeier unter Punkt 1). Ich bin mit ihm im Grundsatz einig, dass die Bergpredigt unter dem Vorzeichen der Gnade und so in einer theologischen und nicht allein in einer ethischen Perspektive gelesen werden muss. Nicht einig bin ich mit ihm darüber, wie bei Matthäus die Gnade zur Sprache kommt. Ulrich Luz Prof. Dr. Ulrich Luz, Jahrgang 1938, studierte Ev. Theologie in Zürich, Göttingen und Basel. Promotion 1967, Habilitation 1968 in Zürich. 1972-1980 Professor für Neues Testament an der Universität Göttingen, seit 1980 Professor für Neues Testament an der Universität Bern. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Matthäusevangelium und neutestamentliche Hermeneutik. »Die entscheidende Frage lautet also, wo in der Bergpredigt die Kraft zu finden ist, welche ihre Utopien mit Leben erfüllen und welche ihre programmatischen Visionen zu Wegen zum Leben werden lassen« 011603 ZNT 11 - Inhalt 31.03.2003 15: 02 Uhr Seite 45 46 ZNT 11 (6. Jg. 2003) Kontroverse Feldmeier hat in seinem Aufsatz die Grundsatzfrage nach der Erfüllbarkeit der Bergpredigt primär mit der Autonomie des neuzeitlichen Subjekts verbunden; er verbindet deshalb als Kontrapunkt folgerichtig die Gnadenperspektive der Bergpredigt primär mit der theonomen Horizont der Allmacht Gottes. Ich denke, dass diese neuzeitliche Grundfrage und die matthäische Perspektive nicht direkt konvergieren und dass sich der Evangelist nicht primär an »Gottes Wesen« orientiert. Natürlich will ich nicht bestreiten, dass an Stellen wie Mt 5,34f.45; 6,8.10 oder außerhalb der Bergpredigt etwa Mt 4,8f.; 20,25-28; 26,39.42 der biblische Gedanke der Allmacht Gottes selbstverständlich vorausgesetzt ist. Aber Feldmeier hat selbst Hinweise darauf gegeben, was mit diesem Gedanken im Ganzen des Matthäusevangeliums geschieht. Er wird mit der Geschichte des Gottessohns Jesus verbunden. Matthäus erzählt vom Gehorsam des Gottessohns angesichts satanischer Machtangebote (Mt 4,1-11), von seinem Dienst (Mt 20,28), von seiner gewaltlosen Herrschaft (Mt 21,5) und von seinem Weg ins Leiden (wo er sogar auf göttliche Machtdemonstrationen verzichtet [vgl. Mt 26,53]) und zur Auferstehung. Am Schluss des Evangeliums wird ihm, dem Machtlosen, Gehorsamen und Leidenden die Weltherrschaft übertragen (Mt 28,18). Vor allem und fast nur in dieser christologischen Zuspitzung, ja: in dieser christologischen »Umwertung« wird der Gedanke der Allmacht Gottes im Matthäusevangelium zum Ausdruck der Gnade. Es ist nicht zufällig, dass der Evangelist im Mittelteil der Bergpredigt besonders häufig nicht von der Macht Gottes, sondern von Gott als Vater spricht, 12 der gegenüber den Gläubigen als Vater handelt und sie zu seinen Söhnen machen wird (5,9). Auch daran wird die christologische »Anbindung« Gottes an denjenigen sichtbar, den Gott bereits in 3,17 als seinen Sohn proklamiert hat und den die Gemeinde als Gottessohn bekennen wird (14,33; 16,17). »Die Herrschaft Gottes« ist in der Tat »etwas qualitativ anderes (...) als die Machtausübung eines Herodes, Pilatus oder Tiberius« (siehe Feldmeier unter Punkt 3). Darauf kommt es beim matthäischen Allmachtsgedanken an. Der Schlüssel zu diesem »Anderen« ist die Geschichte des Gottessohns Jesus. Das heißt dann aber doch wohl, dass der wichtigste Schlüssel zur Deutung der matthäischen Bergpredigt die Christologie ist. Oder richtiger: Der Schlüssel zum Verständnis der Bergpredigt ist ihre Einbettung ins Ganze der matthäischen Geschichte des Gottessohns Jesus. Sie macht deutlich, dass die Bergpredigt unter dem Vorzeichen der Gnade zu lesen ist. Entscheidend ist, wer ihre Gebote vom Berg her dem ganzen Volk verkündet: • Es ist der Immanuel Jesus (1,23), der alle Tage bei seiner Gemeinde sein wird bis ans Ende der Welt (28,20). Wie diese heilvolle Gegenwart des Auferstandenen geschieht, können die Leser/ innen des Matthäusevangeliums sogleich in den auf die Bergpredigt folgenden Kapiteln 8-9 erfahren. Die dort erzählten Wundergeschichten sind transparent für die Erfahrungen der wunderbaren und tragenden Gegenwart Jesu in ihrem eigenen Leben. 13 • Es ist der gehorsame Gottessohn Jesus, der selbst »alle Gerechtigkeit« erfüllt (3,15; vgl. 5,17). Er bleibt dem Wort Gottes gegenüber gehorsam und verzichtet auf eigene Macht (4,1- »Der Schlüssel zum Verständnis der Bergpredigt ist ihre Einbettung ins Ganze der matthäischen Geschichte des Gottessohns Jesus« Wilhelm Steinhausen, Und er lehrte sie (Christus predigt auf dem Berge), 1902, Wandgemälde der Aula des Kaiser-Friedrich- Gymnasiums Frankfurt am Main, Bonn, Bildarchiv Kunsthistorisches Institut. 011603 ZNT 11 - Inhalt 31.03.2003 15: 02 Uhr Seite 46 ZNT 11 (6. Jg. 2003) 47 Ulrich Luz Die Bergpredigt - politisches Programm oder lebensferne Utopie? 11; vgl. 27,43.54). Er wird so zum Modell und Vorbild für den Weg der Gerechtigkeit. Für Matthäus schenken Vorbilder denen, die nachfolgen, Kraft und sind grundlegend wichtig. 14 • Es ist Jesus, der von Gott auferweckt und zum Weltenherrn eingesetzt wird. Er verbürgt die Wahrheit der Verheißungen, die er in den Nachsätzen seiner Seligpreisungen denen, die seine Worte hören und tun, verspricht. • Es ist also Jesus, durch den die »harten« Gebote der Bergpredigt zum »milden Joch« und zur »leichten Last« (11,30) werden. Das »Heilandswort« 11,28-30 beginnt mit einer Einladung zu dem, der selbst »sanft« und zugänglich ist und dessen Joch eben darum nicht eine untragbare, sondern eine »leichte Last« ist. So möchte ich einen Kernsatz von Reinhard Feldmeier 15 in seiner Grundintention aufnehmen, aber in seiner inhaltlichen Füllung modifizieren: »Gegen eine ... Auslegungstradition, welche in der Bergpredigt nur gebietende und verbietende Ansprüche wahrnahm ... ist vor der ethischen ... Bedeutung dieser Rede« zunächst ihre Einbettung ins Ganze des Evangeliums zu würdigen: Sie ist Teil der neuen Grundgeschichte Gottes mit Jesus, ähnlich wie die Torah Teil der alten Grundgeschichte Gottes mit Israel war. Sie wird dadurch ein den Menschen forderndes und ihm Hoffnung spendendes An-Gebot zum Leben in allen Lebensbereichen. Ein die Menschen, die zum himmlischen Vater beten, überforderndes Gebot ist sie nicht. Sie ist nicht ein politisches Programm, wohl aber ein inspirierender Denkanstoß und eine Richtungsangabe für solche. Sie ist auch nicht eine Utopie von bedrückender Lebensfremde, sondern sie ist ein Aufruf zu einem neuen Eintritt ins Leben, in dem die Gnade lebendig ist. l Anmerkungen 1 Nur den Hinweis auf Dorothee Sölle möchte ich nicht ohne weiteres gelten lassen: Die »streitbare Theologin« denkt ja nicht an den biblischen und jüdischen Ursprüngen des Allmachtsgedankens, sondern an einen dominanten Strang der Wirkungsgeschichte in der vom lateinischen Omnipotenzgedanken geprägten westlichen theologischen Tradition. 2 Der Begriff geht auf Thomas Morus zurück. 3 R. Günther / R. Müller, Sozialutopien der Antike, Leipzig 1987, bes. 75-88. 4 Vgl. U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1-7), EKK I / 1, Neukirchen / Düsseldorf 52002, 263 Anm. 40. 5 Theodor v. Heraklea fr. 40 = J. Reuss, Matthäus-Kommentare aus der griechischen Kirche, TU 61, Berlin 1967, 68. 6 Ähnlich wie die mt Gemeinde! 7 Vgl. U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 18-25), EKK I / 3, Neukirchen / Düsseldorf 1997, 303 Anm. 52. 8 Vgl. z.B. J. Calvin, Inst 2,7,5; M. Luther, Von Conciliis und Kirchen, WA 18, 656f; besonders deutlich H. Zwingli, Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit, Hauptschriften 7, Zürich 1942, 53-64 (angesichts der göttlichen Gerechtigkeit »ist keiner ... fromm« und »alle Menschen prästhafft« (ebd. 59.63). 9 Dies ist z.B. bei H. Bullinger der Fall: In sacrosanctum Iesu Christi Domini nostri Evangelium secundum Matthaeum Commentariorum libri XII, Zürich 1546, 56A (zu Mt 5,20). Das »Gesetz« wurde vom Herrn um der Sündenerkenntnis willen gegeben. 10 J. Brenz, In scriptum ... Matthaei de rebus gestis Iuesu Christi commentarius, Tübingen 1566, 372. 11 Brenz, a.a.O., 372 nach Röm 8,37-39. 12 9x in Mt 6,1-18, also in jenem Mittelteil der Bergpredigt, der deutlich macht, dass das Gebet die Innenseite ihrer Forderungen ist; 16x in der ganzen Bergpredigt. Dem stehen im ganzen übrigen Mt-Ev »nur« noch 28 Belege gegenüber. 13 U. Luz. Das Evangelium nach Matthäus (Mt 8-17), EKK I / 2, Neukirchen / Düsseldorf 31999, 64-68. 14 Im Unterschied zu heutiger Pädagogik, wo sie im Ganzen eher eine marginale Rolle spielen. 15 Siehe Feldmeier unter Punkt 5. »Sie ist nicht ein politisches Programm, wohl aber ein inspirierender Denkanstoß und eine Richtungsangabe für solche. Sie ist auch nicht eine Utopie von bedrückender Lebensfremde, sondern sie ist ein Aufruf zu einem neuen Eintritt ins Leben, in dem die Gnade lebendig ist« 011603 ZNT 11 - Inhalt 31.03.2003 15: 02 Uhr Seite 47
