eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 6/11

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
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2003
611 Dronsch Strecker Vogel

Martin Stiewe/François Vouga - Die Bergpredigt und ihre Rezeption als kurze Darstellung des Christentums (Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie Bd. 2). Tübingen/Basel: Francke-Verlag 2001, 294 S.; 29,- Euro, ISBN 3-7720-3152-8

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2003
Kristina Dronsch
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60 ZNT 11 (6. Jg. 2003) Buchreport Martin Stiewe / François Vouga Die Bergpredigt und ihre Rezeption als kurze Darstellung des Christentums (Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie Bd. 2). Tübingen/ Basel: Francke-Verlag 2001, 294 S.; 29,- Euro, ISBN 3-7720-3152-8 Man nehme drei Kapitel aus dem vorderen Teil des Matthäusevangeliums, lasse sie vor knapp 16. Jahrhunderten Kirchengeschichte gut durchziehen, füge kirkegaardensisches Entweder- Oder, reformatorische Grundsatzdiskussionen, mittelalterliche Zweistufenethik, den christologischen Imperativ dialektischer Provenienz hinzu, aufbereitet vor jeder Menge zeitgeschichtlicher Quellen und reichere dies mit dem exegetischen Know- How aus der Betheler Hochschule an. Diese Mischung auf gut 290 Seiten gehen lassen, und am Ende kommt eine lesenswerte Neukonzeption zur Thematik der Bergpredigt heraus, geschrieben von dem Bielefelder Oberkirchenrat Martin Stiewe und dem Neutestamentler François Vouga von der Kirchlichen Hochschule Bethel. Der Titel, »Die Bergpredigt und ihre Rezeption als kurze Darstellung des Christentums«, ist dabei nur halbes Programm, denn der Ansatz des Buches ist weiter zu fassen. Es wird nicht nur der Frage nachgegangen, wie die Bergpredigt in der Theologiegeschichte gelesen worden ist, sondern - und hier liegt ebenso der Schwerpunkt des Buches - wie »die Bergpredigt als die programmatische Zusammenfassung einer befreienden und sinnvollen Nachricht« (Vorwort) für heutige Leser und Leserinnen gelesen werden kann. Mit dieser zweiten Fragehinsicht reihen sich die beiden Autoren in die Riege derer ein, die schon immer überzeugt waren und sind, dass die Bergpredigt ein wesentlicher Bestandteil der christlichen Bibel ist, aber Vouga und Stiewe setzen einen eigenen Akzent bei der inhaltlichen Füllung dieser Überzeugung: Die Bergpredigt ist nicht im Sinne einer Ethik in nuce oder claritate zu verstehen, sondern »als klarer Indikativ der Verheißung und als Evangelium im paulinischen Sinne«(5). Dieser Indikativ wird von Vouga und Stiewe mittels des hermeneutischen Grundrefrains des »Geist[es] der Gabe und der Umsonstheit der Gnade Gottes« (107), der in verschiedenen Variationen (vgl. 17; 59; 64; 67; 84; 88, 90 u.ö.) immer wieder repetiert wird, ausgelotet. Unter Rekurs auf die Überlegungen Jacques T. Godbouts’ undAlain Caillés’ in ihrer Monographie »L’Esprit du don« ist die Rede des matthäischen Jesus zu verstehen als der Aufruf zu einem Wechsel der subjektiven Einstellungen des einzelnen. Das verobjektivierende System des Tausches soll zugunsten des Geistes der »Umsonstheit« Gottes aufgegeben werden. Ausgehend von dieser hermeneutischen Grundentscheidung wird in diesem Buch ein ständiger Dialog zwischen »der exegetisch-theologischen Auslegung der Rede des matthäischen Jesus und einer Untersuchung der klassischen Texte aus der Theologiegeschichte, die sich mit der Bedeutung der Bergpredigt auseinandergesetzt haben« inszeniert. Anhand dieser vielstimmigen Wirkungsgeschichte der Bergpredigt, die exemplarisch an Franz von Assisi, Thomas von Aquin, Huldrych Zwingli, Martin Luther, Jean Calvin, Leo N. Tolstoi, Fjodor M. Dostojewskij, Sören Kierkegaard, Leonard Ragaz, Karl Barth, Eduard Thurneysen sowie Dietrich Bonhoeffer entfaltet wird, wird ein thematischer Problemhorizont abgesteckt »der einen ebenso reflektierten wie sensiblen Zugang zum biblischen Text ermöglicht« (29). Kurz: hier wird der Versuch unternommen, die wirkungsgeschichtliche Mehrdeutigkeit der Bergpredigt mit der Eindeutigkeit des Evangeliums zusammenzudenken. Dieser Ansatz verdient Anerkennung nicht nur ob der m.E. bisher singulären Vorgehensweise, die Rezeptionsgeschichte der Bergpredigt durch die verschiedenen Epochen der Kirchengeschichte hindurch mitzubedenken und in ihrer Bezogenheit einer theologisch-exegetischen Auslegung zu explizieren. Doch dieser so begrüßenswerte Ansatz wirft auch Fragen auf, die die Methodologie betreffen: Kann eine Geschichte der theologischen Rezeption der Bergpredigt ohne eine rezeptionstheoretische Methodologie auskommen? In welchem Verhältnis ist die Pluralität dieser wirkungsgeschichtlichen Sinnbildungen und die exegetisch-theologischen Ausführungen der Autoren zu sehen? Mit einer nur angehauchten methodologischen Konzeption, die festhält, dass der »Akt des Lesens ... der Vorgang einer doppelten Interpretation« ist, »in welchem sich Text und Leser gegenseitig entdecken und offenbar werden« (4, vgl. ebenso 284), ist noch nicht geklärt, wie die Demarkation des »Geistes der Gabe« von dem Ungeist exegetischer oder wie auch immer gearteter Willkür vonstatten gehen soll. Anders ausgedrückt: Um nicht aus den Gesprächspartnern aus der Theologiegeschichte eine Projektionswand für die eigenen (exegetisch-theologischen) Interessen werden zu lassen, aber zugleich der Aufgabe gerecht zu werden, diesen Text aus dem Matthäusevangelium je und je wieder so auszusprechen, dass er in der jeweiligen Zeit verstanden werden kann, bedarf es einer ausgearbeiteten Rezeptionstheorie. Vorbildlich hingegen das didaktische Konzept des Buches: Die wichtigsten Quellen, die die beiden Autoren behandeln, sind in Auszügen - im Buch grau hinterlegt - wiedergegeben, zahlreiche Graphiken ergänzen den Text. Dies ist nicht nur im Sinne einer Leserfreundlichkeit lobenswert, sondern schafft einen großen Anreiz dieses Buch als Arbeitsgrundlage in Seminaren, Schulunterricht sowie im 011603 ZNT 11 - Inhalt 31.03.2003 15: 02 Uhr Seite 60 ZNT 11 (6. Jg. 2003) 61 Buchreport gemeindlichen Umkreis zu nutzen. In vier Kapiteln, unterteilt in insgesamt 26 Abschnitte, entfalten die beiden Autoren die Langzeitwirkung der Bergpredigt, nach einer Einleitung, die einerseits den Aufbau der Predigt darstellt und andererseits der Einführung der Gewährsleute der systematisch-theologischen Rezeption dient, untersucht das erste Kapitel »Die Eröffnung der Rede Jesu« (31- 50) Mt 5,1-16, während das zweite Kapitel, das den Hauptteil dieses Buches darstellt, der Rede Jesu gewidmet ist (51-233). Im dritten Kapitel geht es um den Abschluss der Rede (235-272), abgerundet wird das Buch durch das letzte Kapitel, in dem der Ertrag der systematisch-theologischen Rezeptionsgeschichte dargestellt wird (273-294). Zu jedem Kapitel werden unterschiedliche Gewährsleute und ihre Schriften, die sich mit der Bergpredigt befassen, eingeführt. Diese Reisen durch die Stationen der Kirchengeschichte vor dem Hintergrund der exegetischen Spurensicherung sind kurzweilig. Verzichtet wird auf einen extensiven Fußnotenapparat sowie ausgiebige Diskussionen aus der Sekundärliteratur. Die thematischen Entfaltungen in den einzelnen Kapiteln werden am Ende immer wieder durch kurze, prägnante Fazits auf den Punkt gebracht. Ergebnissicherung ist garantiert. Die Monographie der beiden Autoren arbeitet heraus, dass sich bestimmte Fragen an die Bergpredigt geschichtlich durchhalten, diese betreffen »vor allem den Adressatenkreis der Bergpredigt, das Verhältnis von alttestamentlichem Gesetz und der Auslegung dieses Gesetzes durch Jesus Christus, das Verhältnis von Schöpfungstheologie und Kreuzestheologie, das Verhältnis von christlicher Ethik zu anderen ethischen Entwürfen sowie das Verhältnis von Heilsverkündigung und Gehorsamsforderung« (284). Die Frage nach dem Adressatenkreis der Bergpredigt wird beantwortet unter Ablehnung einer elitären Sichtweise eines Thomas von Aquins oder Dietrich Bonhoeffers sowie der ekklesiologischen Sichtweise der dialektischen Theologie, stattdessen wird in Übereinstimmung mit den Ausführungen von Huldrych Zwingli und Jean Calvin festgehalten, dass die Bergpredigt eine universale Perspektive hat. Bei der Frage der ethischen Bedeutung bzw. der Frage nach der Erfüllbarkeit oder der Unerfüllbarkeit der Bergpredigt arbeiten die beiden Autoren exegetisch heraus, dass vom matthäischen Text her der Gefahr widerstanden werden muss, aus dem Evangelium kurzschlüssig eine Ethik machen zu wollen. Spannend sind die Ausführungen zu Mt 6,19-34 (157-208): unter den Überschriften »Mt 6,19-34 Der Grund der Gerechtigkeit: Die Schönheit als Offenbarung der Gnade Gottes« sowie »Die Schönheit der Schöpfung als Offenbarung der Überschwenglichkeit der Gnade Gottes« werden der Leser und die Leserin eingewiesen in eine matthäische Schöpfungstheologie: »Das radikale Novum und gleichsam die Modernität der Argumentation des matthäischen Jesus besteht [...] präzise darin, daß die Rede die Schönheit vom Unnützen sieht und daß sie gerade die überflüssige Sorge und Großzügigkeit des Schöpfers für das Gras, das er mit mehr Pracht als Salomo bekleidet, obwohl es heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird, als die Offenbarung des Wesentlichen dessen, was die Vorsehung Gottes kennzeichnet, versteht.« (173). Im Gespräch mit Franziskus und Kierkegaard stimmen die exegetischen Ausführungen an zum Loblied der Schöpfung; »der Geist der Gabe und die Umsonstheit der Gnade Gottes« laufen hier zu Höchstform auf. Das von Stiewe und Vouga herausgearbeitete schöpferische Wirken Gottes stellt den Zuspruch des Evangeliums auf die Überholspur eines nur proleptischen Charakters der Heilszusage. Ein wenig zu kurz kommt dagegen in den Ausführungen die Auseinandersetzung mit dem matthäischen Gerichtsgedanken. Kein anderes Evangelium droht so oft! Im Sinne des klaren Indikativs der Verheißung brechen Stiewe und Vouga diesen Gerichtsaussagen ihre Spitze, wenn sie festhalten: »Wegen des gleichen Geistes der Umsonstheit, nach welchem Gott seine Sonne über die Guten und die Bösen aufgehen und es über die Gerechten und die Ungerechten regnen läßt, gilt weiterhin die Vollkommenheit der Liebe und der Barmherzigkeit Gottes unbegrenzt für jeden, der bereit ist, sie zu empfangen« (261). Unter den Fittichen des »Geistes der Gabe und der Liebe Gottes« kann m.E. dennoch nicht einfach verdeckt werden, dass diese Gerichtsdrohung zum einen eine gewisse Heilsunsicherheit für die Betroffenen mit sich bringt, zum anderen nicht widerspruchsfrei zur ausgearbeiteten matthäischen Theologie zu denken ist. Dennoch: Das Buch von Martin Stiewe und François Vouga ist der lesenswerte Versuch, neutestamentliche Theologie am Schnittpunkt von Exegese und Kirchengeschichte wahrzunehmen. Für alle Ausführungen des Buches gilt es hervorzuheben, dass hier kein Verfallsschema zelebriert wird, bei der die Exegese als Platzanweiserin für die hinteren Plätze der Vertreter der Kirchengeschichte fungiert, sondern es wird der Versuch unternommen, interdisziplinär sich auf die Suche danach zu machen, was gilt, wenn solum evangelium der maßlose Maßstab ist. Die Lesart der Bergpredigt, die Stiewe und Vouga vorschlagen, verdankt sich einer geschichtstheoretischen Prämisse, die festhält, dass »von der Vergangenheit [...] nur das bestehen« bleibt, »was wir mit einem Sinn versehen«. 1 In einem exegetisch-theologischen Diskurs beteiligen sich die beiden Autoren an dieser Sinnsuche, die zugleich ein Ringen um die Wertigkeit dieses Sinns ist. Deutlich wird in ihren Ausführungen, dass die (neuzeitliche) Exegese bei dieser Sinnfindung mitzureden hat, aber sie ist keinesfalls eine Monopolistin - die Auslegung der Predigt des matthäischen Jesus geschah und geschieht niemals ex nihilo, sondern verdankt sich immer auch früheren Lesarten. Wofür die beiden Autoren überzeugend einstehen, ist die Wahrnehmung der Bergpredigt nicht im Schatten einer moralisierenden Engführung, sondern für eine Wahrnehmung dieser Rede im Lichte eines inspirierenden Geistes der Gabe, die von diesem Geist aus festhält, dass der matthäische Jesus gewiss keine ›billige Rede‹ hält. Kristina Dronsch l Anmerkung 1 B. Lepetit / J. Revel, Experiment gegen die Willkür, in : M. Middell / S. Stammler (Hrsg.), Alles Gewordene hat Geschichte. Die Geschichte der Annales in ihren Texten 1929-1992, Leipzig 1994, 348-355, hier: 350. 011603 ZNT 11 - Inhalt 31.03.2003 15: 02 Uhr Seite 61