ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
121
2003
612
Dronsch Strecker VogelKanon - Geschichte - Gott
121
2003
Hans Hübner
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Hans Hübner Kanon - Geschichte - Gott* 0. Vorbemerkung Die Thematik des biblischen Kanons ist eine recht komplexe und zugleich theologisch grundlegende. Sie ist für alle theologischen Einzeldisziplinen konstitutiv, angefangen von der alttestamentlichen Wissenschaft bis hin zur Praktischen Theologie. Insofern kann ein Aufsatz wie der hier gebotene nicht diese so fundamentale Problematik auch nur annähernd darstellen. Ich verfolge daher in meinen Überlegungen nur eine ganz bestimmte Argumentationssequenz und verweise zur Kompensierung des genannten Defizits auf einige Standardwerke, die zur notwendigen Komplettierung dienen können. Zunächst sei auf die einschlägigen Artikel in den theologischen und exegetischen Lexika und Wörterbüchern verwiesen. Dann darf die Anthologie wichtigster von ERNST KÄSEMANN herausgegebener Aufsätze »Das Neue Testa- 1. Hinführung zur Thematik: Das Alte Testament im Neuen Die Frage nach dem biblischen Kanon ist nicht nur eine theoretische Frage, sie ist auch eine Frage, die mit Emotionen zu tun hat.' Natürlich ist die Kanonfrage auch ein theologisch-theoretisches Problem. Aber eine theologische Theorie des Kanons ist zumeist aus dem lebendigen Umgang mit der Autorität biblischer Schriften und somit aus einer existentiellen Begegnung mit ihnen erwachsen; eine solche Theorie ist also zumeist auch Reflexion aus dem lebendigen Glauben über den Glauben. Nun ist die Kanonfrage im Bereich der christlichen Theologie deshalb so schwierig, deshalb mehrdimensional, weil der Kanon der christlichen Kirche (wer will, mag sagen: der christlichen Kirchen) bekanntlich aus zwei Teilen besteht, dem Alten und dem Neuen Testament. Damit ment als Kanon« (Göttingen 1970) nicht fehlen, ebenso nicht CHRISTOPH DOHMEN / MANFRED ÜEMING, Biblischer Kanon. Warum und wozu? (Freiburg 1992), und CHRISTOPH DOHMEN / THO- MAS SÖDING, Eine Bibel - »Es wird sich zeigen, ist aber schon das Grundproblem angesprochen. Der Kanon des Alten Testaments hat sich aus der Torah (dem Gesetz des Mose bzw. dem Pentateuch), den Prophetendaß die hermeneutische Frage die für unsere Thematik zentrale und unerläßliche Frage ist.« zwei Testamente (UTB 1893, Paderborn 1995 ). Die hermeneutische Frage spielt in diesen Werken z.T. eine erhebliche Rolle. Unter diesem Gesichtspunkt ist vor allem zu nennen: CHRISTOPH DOHMEN / GÜNTER STEMBERGER, Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments (StTh 1,2, Stuttgart/ Berlin/ Köln 1996). Es wird sich zeigen, daß die hermeneutische Frage die für unsere Thematik zentrale und unerläßliche Frage ist. Von CHRISTOPH DOHMEN stammt auch die nützliche Sammelrezension »Der Biblische Kanon in der Diskussion« (ThRev 91 [1995], 451-460). Der Kanonfrage ist im »Jahrbuch für Biblische Theologie« der Band 3 (1988) gewidmet: Zum Problem des biblischen Kanons. 1 ZNT 12 (6. Jg. 2003) Büchern und den sogenannten »Schriften« sukzessive gebildet. Als das Christentum geschichtliche Wirklichkeit wurde, fand es bereits diesen dreiteiligen Kanon vor. Es selbst machte zunächst keine Anstalten, diesem Kanon, also dem, was seine Theologen später Altes Testament nannten, christliche Schriften mit kanonischer Autorität hinzuzufügen. Vielmehr wurden solche Schriften, die erst erheblich später kanonische Autorität gewannen, indem sie als kanonische Schriften zum Neuen Testament zusammengefügt wurden, nicht in Konkurrenz zu den heiligen Schriften Israels geschrieben. Paulus schrieb seinen Römerbrief eben als Brief! nur für die Römer. Allerdings - und das ist für unsere Problematik von erheblicher Bedeutung als 3 Brief mit apostolischer Autorität! Markus schrieb sein Evangelium nicht in erster Linie als Biographie Jesu, sondern als Evangelium, dessen Verlesung Verkündigungscharakter zukam. Die nach heutiger Terminologie neutestamentlichen Schriften waren somit zwar nicht mit kanonischer Autorität geschrieben, wohl aber mit kerygmatischer Autorität! Und wenn Kerygma so viel wie Verkündigung bedeutet, nämlich die Verkündigung des Christus Gottes als eschatologischer Heilsgestalt und Verwirklichung des Heilsgeschehens, wenn ferner gerade diese Verkündigung zum Wesen kirchlichen Daseins gehört, dann ist dem Verkündigungsanspruch des Röm oder des Mk eine analoge Autorität zuzumessen wie etwa der Verkündigung des Jesaja oder des Buches Genesis. Zu der Zeit, als es noch kein Neues Testament gab, wohl aber christliche Schriften mit einer Autorität, die das Gewicht ihrer Autorität von der Autorität Gottes erhielten und deshalb Schriften göttlicher Autorität waren, gab es also den Verkündigungsanspruch der Kirche J esu Christi. Es ist der im gepredigten Kerygma gegründete Anspruch der kerygmatischen Schriften, die dann später zum Neuen Testament neutestamentliche Schrift, der 1Thess, verfaßt worden sein) keine einzige Schrift gab, die später eine Schrift des Neuen Testaments und somit Bestandteil der Schrift der Kirche wurde, war Israels Schrift in den ersten Jahrzehnten des Christentums die Schrift der Kirche. Sie war das, was erst in späterer dogmatischer Terminologie der erste Teil des Kanons der Kirche war. Gab es auch in der Frühzeit der christlichen Kirche noch nicht den Begriff des Kanons, so war doch Israels Bibel für die Kirche die Bibel in eben dem formalen Sinn wie auch für Israel. Eine christliche Diskussion über das Wesen des Kanons gab es damals in diesem formalen Sinn noch nicht. Und doch war diese Bibel für die Kirche in materialer Hinsicht etwas entschieden anderes als für Israel. Denn die Kirche hatte in ihrer christologischen Perspektive, also in materialer Hinsicht, Israels Heilige Schrift als eine genuin christliche Schrift rezipiert. Somit hatte sich die Grundperspektive verändert. Unbestreitbar ist nämlich Israels Schrift in ihrer Genese lediglich in partieller Weise eine futurisch-messianische Schrift. Jetzt aber wird sie originär als Schrift auf den christlichen Messias hin gelesen, zusammengefügt wurden. Ist doch alle kirchliche Autorität in der soteriologischen Predigt vom gekreuzigten und auferweckten Christus fundiert. Der Seins-Grund aller » Kirche ist von ihrem Anfang und Ursprung her Kirche des Wortes, des verkündigten, des wird als so verstandene Schrift verstanden und verkündigt. Christliche Verkündigung, die sich auf die Schrift Israels beruft, auf die zugesprochenen Wortes.« kirchlichen Autorität ist also ihr göttliches Wort. Kirche ist von ihrem Anfang und Ursprung her Kirche des Wortes, des verkündigten, des zugesprochenen Wortes. Kirche des Wortes zu sein ist aber ein Wesenszug der Kirche, bekanntlich in der heutigen ökumenisch-theologischen Situation kein evangelisches Spezifikum mehr. Dafür ist vor allem die Constitutio dogmatica De divina Revelatione, die Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung beredtes Zeugnis. 3 Der geschichtliche Weg ist also zunächst folgender: Der Verkündigungsanspruch der Kirche J esu Christi artikuliert sich zunächst im gepredigten Kerygma und dann in kerygmatischen Schriften, außerdem in der Heiligen Schrift Israels, deren Aussagen jedoch vom christlichen Kerygma her gelesen und folglich als Zeugen des messianischen Heils verstanden wurden. Nachdem es etwa bis zum Jahre 50 n.Chr. (um diese Zeit dürfte die älteste 4 (in griechischer Sprache) graphe, beruft sich auf eine Schrift, die nicht mehr in ihrem Literalsinn gelesen wird. Es ist daher methodisch und hermeneutisch unerläßlich, zwischen Literalsinn und Rezeptionssinn der Schrift Israels bzw. des Alten Testaments zu unterscheiden, nämlich zwischen Vetus Testamentum und Vetus Testamentum in Nova receptum. 4 Daß im Neuen Testament auch alttestamentliche Zitate zu finden sind, die den Literalsinn weitgehend oder doch zumindest in der Substanz erhalten haben, ist für diese Unterscheidung zwar unerheblich, sollte aber hier erwähnt werden.' Es ist ein unverzichtbarer Akt der Fairneß gegenüber der heutigen jüdischen Exegese und überhaupt gegenüber dem Judentum, daß wir als christliche Exegeten und christliche Kirche eingestehen, die jüdische Bibel unter einer Hermeneutik zu lesen, die mit ihrer Genese nichts zu tun hat. Wenn wir als christliche Exegeten nun feststellen, daß die neu- ZNT 12 (6. Jg. 2003) Hans Hübner Prof. ·Dr. HansHübneri, Jahrgang 193(); .NfJmO~ tiont963, Habilitatio.n 197L 197.1Dazent,.ab J974 Professor fur biblische Wissenschaften und· Efermen: eutik am Fa~hbereich R: eligionspädagogik un,.JTheologie der Evangelischen / ! ac; hhoch~ · schule Rheinland-Westfalen-Lippe, Düsseldorf. lY75 apl. Professor an der E'vangelisch-Theologischen Fakultät Bochum, 1982 Professor fü'Y Biblische Theologie an der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen, 1-,eiter der Abteilung für Biblische Theologie, dort Leiter des Projektes Wtus Testamentum in Nova. Von den. zahlreichen Veröffentlichungen seie.n nur.drei genannt: Das Gesetz bei Paulus (FRLANT 119), Göttingen 1978, 3. Aufl. 1992 (auch engl. und itaL); Biblische Theologie des Neuen Testaments, 3 Bände, Göttingen 1990- 1995 (auch ital.); Go.ethes Faust und das Neue Testament, Göttingen 2003. Seit 1995 im Ruhestand, aber weiterhin Leiter des genannten Projektes. Forschungsschwerpunkte: neben der Biblischen Theologie sind zu nennen Paulus, neutestamentliche Hermeneutik, das Verhältnis von Theologie und Philosophie. testamentlichen Autoren das des Alten Testaments zumeist nicht der Intention der alttestamentlichen Autoren entspricht, ist ein Eingeständnis, das offen ausgesprochen werden sollte. Angesichts dieser Auslegungsdifferenz sollte in der biblischen Wissenschaft die Beachtung der Differenz von Vetus Testamentum und Vetus Testamentum in N ovo schon um des Verhältnisses von Christentum und Judentum sehr ernst genommen werden. Gleichzeitig sei auch gesagt, daß diese Terminologie eine abgekürzte ist. Denn ganz korrekt müßte es heißen: Biblia populi Israel - Vetus Testamentum in Nova. Ist doch das Alte Testament für das Judentum gerade kein Altes Testament! So, wie ich soeben die Differenz zwischen jüdischem und christlichem Verstehen der Bibel Israels bzw. des Altes Testaments betont habe, dürfte dies auf der Linie liegen, die CHRISTOPH DoH- MEN herausgestellt hat. In seinem zusammen mit GÜNTER STEMBERGER verfaßten Standardwerk »Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments« 6 geht es, wie der Titel sagt, um Hermeneutik, also um jene Dimension der Theologie, die für sie zentral ist. Denn Theologie ohne Hermeneutik ist keine Theologie! Dohmen spricht mit einer m.E. glücklichen Formulierung von der Notwendigkeit einer »doppelten Hermeneutik«, nämlich der jüdischen und der christlichen. 7 Er fragt, welche Bedeutung die jüdische Auslegung der Bibel für das christliche Verstehen des Alten Testaments habe und insofern auch das der gesamten zweigeteilten Bibel des Christentums. Dohmen stimmt mir zu, daß mein Ansatz der Unterscheidung von Vetus Testamentum und Vetus Testamentum in Nova receptum etwas Entscheidendes für die Biblische Theologie aufgedeckt habe. Ich sei »dem Alte Testament in der Regel in einem christlichen - und somit den Literalsinn weithin ignorierenden! - Verständnis lesen, so gestehen wir dem Judentum zu, daß seine Bibelinterpretation dem, was die alttestamentliche Autoren wirklich sagen wollten, wesentlich näher kommt, als es zumeist in der neutestamentlichen Wissenschaft geschieht. Daß » Es ist daher methodisch und hermeneutisch· unerläßlich, zwisch~n Literalsinn und Rezeptionssinnder Schrift Israels bzw. des Alten Ansatz des Augustinus 8 voll und ganz« insofern gefolgt, als es um »die offenbare Anwesenheit des Alten im Neuen Testament« geht. Ich hätte allerdings noch offengelassen, wie ich »die nicht christianisierte Bibel Israels als Altes Testament in der christlichen Bibel, also sein Vetus Testamentum per se,« verstehe. 9 Testaments zu unterscheiden, nämlich zwischen Vetus Testamentum und Vetus Testamentum in Novo receptum« das nahezu durchgängige christliche Verständnis Diese Frage habe ich in der Tat noch zu beantworten (s.u.). ZNT 12 (6. Jg. 2003) 5 2. Vom kanonischen Wort zum Kanon der Kirche Doch jetzt zum Begriff Kanon! Das griechische Wort kanon wird im theologischen Sprachgebrauch im Blick auf seine Bedeutungskomponenten Maßstab oder Richtschnur verwendet. Maßstab, Richtschnur das ist etwas Festes, etwas Maßgebendes, das zu beachten ist, etwas, das Halt gibt und an das man sich dementsprechend, um eben diesen Halt zu haben, zu halten hat. Hat also etwas Geschriebenes kanonischen Charakter, so ist es verbindlich. Und geht es im theologischen Kontext um Kanonisches, so kommt diesem Geschehen von Gott her letztgültige Verbindlichkeit zu: Ihm eignet seine Autorität von Gott her, es partizipiert an der Autorität Gottes: Die Autorität des Kanons ist die Autorität Gottes. Von Autorität war ja bereits die Rede. Doch in welcher Weise? Haben wir es mit Geschriebenem, also mit Texten zu tun, so stellt sich notwendig die Frage: Ist das Geschriebene die Verobjektivierung des von Gott Gesagten? Verhält es sich demnach mit dem Geschriebenen so, als habe Gott persönlich geschrieben? So liest man es zuweilen in frommen Traktaten, in der sogenannten Erbauungsliteratur. Gott als Briefschreiber an die Menschheit, an den einzelnen Menschen? Hier hilft wieder der Blick auf die frühe Geschichte der Kirche. Daß Gottes Autorität mit Texten in Anspruch genommen wurde, geht z.B. aus den paulinischen Briefen hervor. Bezeichnend ist 1Kor 5,3-5, ein freilich zunächst negatives Beispiel, dann aber doch mit soteriologischen Ausgang. Mit apostolischer Autorität übergibt Paulus als der, der nicht persönlich anwesend sein kann, einen Unzüchtigen dem Satan: »Ich aber, der ich nicht leiblich bei euch bin, doch mit dem Geist, habe schon, als wäre ich bei euch, beschlossen über den, der solches getan hat: wenn ihr in dem Namen unseres Herrn Jesus versammelt seid und mein Geist samt der Kraft unseres Herrn Jesus bei euch ist (synechthenton hymon kai tou emou pneumatos syn te dynamei tou kyriou hemon Iesou), soll dieser Mensch dem Satan übergeben werden zum Verderben des Fleisches, damit der Geist gerettet werde am Tage des Herrn.« Es ist der Geist des Apostels, der sich mit der Kraft J esu zusammenfindet, um so das Urteil Gottes, zunächst das des Gerichts, dann aber das der eschatologischen Rettung, wirkkräftig auszuspre- 6 Frau, die in einen Kodex schreibt. Wandmalerei aus dem 3. Jh., Quweilbeh, Jordanien chen. Weil stellvertretend mit göttlicher Autorität handelnd, sagt der Apostel in der Gemeinschaft mit seinem göttlichen Herrn das, was Gottes Wort ist, was es wirkt. Er, der den Geist Christi hat (1Kor 2,16: noun Christou), spricht mit göttlicher Autorität das Urteil Gottes, urteilt also mit göttlicher Autorität! Er ist also in-spir-iert. Inspiration meint hier das, was Gottes und Christi Geist dem Apostel zu sagen eingibt. Inspiration, das ist die dem Apostel vom Geiste Gottes eingegebene Wahrheit Gottes. Sie ist somit das vom göttlichen Geiste vollzogene Geschehen. Kirchliches Geschehen ist Geistgeschehen, ist Geschehen des Spiritus Sanctus. Dieses Inspirationsgeschehen wirkt als sprachliches Geschehen, als Wort- Geschehen, es ist Wort-Ereignis, Sprach-Ereignis. Das Wort kann sich aber auch des Geschriebenen bedienen. Ein solches sit venia verbal - »Schreib- Geschehen« bleibt aber originär Wort-Geschehen. Es partizipiert an der Macht des gesprochenen Wortes. Und vielleicht nicht nur am Rande gesagt: Paulus schreibt seine Briefe nicht, er diktiert sie. Es ist also das gesprochene Wort des Apostels, das das Wort Gottes geschichtliche Wirklichkeit werden läßt. Das geschriebene Wort ist aber somit, was seine Macht, seine Dynamik angeht, der Würde des gesprochenen Wortesteilhaft. ZNT 12 (6. Jg. 2003) Scheiber mit seinem Werkzeug. Evangelist Matthäus, aus: Innicher Evangeliar beginnendes 10. Jd., Universitätsbibliothek Innsbruck Es ist theologisch und kerygmatisch kein allzu großer Sprung, wenn wir von lKor 5,3-5 zu dem theologisch noch wichtigeren Text Röm 1, 16/ übergehen. Ich zitiere Paulus in interpretierendparaphrasierender Weise: »Ich bekenne mit meiner ganzen Person das Evangelium. Denn es ist die Macht Gottes (dynamis theou) also der machtvolle Gott selbst! -, der im Evangelium als Seinem Wort machtvoll zugegen ist zum Heil für jeden, der glaubt zuerst für den Juden, dann aber für alle Menschen. Denn die Gerechtigkeit Gottes (dikaiosyne theou) also der gerechtmachende Gott selbst! offenbart sich in diesem sich selbst vergegenwärtigenden Gott, wenn im Glaubenden die Kraft des Glauben immer wirksamer wird. So nämlich steht es beim Propheten Habakuk also in der Schrift! als Wort Gottes geschrieben: ,Nur wer aus dem Glauben gerecht geworden ist, nur der wird leben! «< Der entscheidende Punkt meiner Paraphrase ist die Interpretation der beiden »Eigenschaften« Gottes durch das Gottesprädikat: Die Macht Gottes als der mächtige Gott, die Gerechtigkeit Gottes als der gerechte, d.h. gerechtmachende Gott. Diese Interpretation ist theo-logisch begründet. Denn es gibt ja keine von Gott separierbaren Eigenschaften! Vielmehr ZNT 12 (6. Jg. 2003) Hans Hübner Kanon - Geschichte - Gott gehört es zum Wesen des sich in der Geschichte des Alten und des Neuen Bundes offenbarenden Gottes, daß er mächtig und gerecht ist. Sind aber Macht und Gerechtigkeit Wesens-Eigenschaften Gottes, sind sie also das, was Gott in seiner Göttlichkeit ausmacht, so ist die Macht Gottes der mächtige Gott, und so ist die Gerechtigkeit Gottes der gerechte Gott! Dann aber ist das Evangelium als der sich in seinem Wort aussprechende Gott identisch mit dem mächtigen und gerechten Gott. Dann ist es auch kein theologisches Wagnis mehr zu formulieren: Paulus bekennt das Evangelium als den sich im Evangelienwort aussprechenden Gott. Im Wort des zu-gesprochenen Evangeliums ist also der sich dem glaubenden Menschen zu-sprechende Gott präsent. Im Wort des Evangeliums ist der sich aus-sprechende Gott als der den Menschen an-sprechende Gott gegenwärtig. Schon vom Alten Testament her ist das Verhältnis von Gott und Mensch das Verhältnis von Sprechen und Hören. Gott spricht zum Menschen, z.B. Gen 22,1: »Abraham! «, und Abraham erwidert: »Hier bin ich! « Und der Mensch spricht zu Gott, z.B. Ps 27,7f.: »Herr, höre meine Stimme, wenn ich rufe; / sei mir gnädig und erhöre mich! « Der Psalmist beruft sich auf Gottes Wort: »Mein Herz hält dir vor dein Wort: ,Ihr sollt mein Antlitz suchen.< Darum suche ich auch, Herr, dein Antlitz.« Gott spricht sein Ich und sein Du. Und Gott hat den Menschen nach seinem Bilde geschaffen, der deshalb sein Ich und sein Du sagen kann und sagen soll. Es ist, fundamentaltheologisch gesprochen, diese bereits im Alten Testament fundamentale Dimension des Personalen, 10 die das reziproke Verhältnis von Gott und Mensch bestimmt und die das christologisch-soteriologische und zugleich das anthropologische Fundament des kerygmatischen Geschehens ausmacht, wie es z.B. in Röm 1,16f. programmatisch zum Ausdruck kommt. Das von Paulus verkündigte Evangelium versteht sich von demjenigen Gott her, der den Menschen auf seine Rettung hin anspricht. Ist in Röm l,16f. vom Glauben die Rede, also von dem, was im Gefüge des soteriologischen Geschehens Sache des Menschen ist, dann kann von solchem Glauben nur innerhalb des personalen Parameters gesprochen werden: Gott in seinem personalen Charakter hat den Menschen als personales Wesen erschaffen. Gott gibt sich in diesem Kontext zu 7 verstehen. Gott erschließt sich als der fordernde und der begnadende Gott. Gott offenbart sich selbst. Der personhafte Gott offenbart sich dem von ihm personhaft geschaffenen Menschen. Persona ad personam loquitur! Nur die Person spricht zur Person! Gott ist also in seinem Wesen der Deus hermeneuticus, 11 der hermeneutische Gott. Zur christologischen Vertiefung noch ein Blick auf den Prolog des Johannes-Evangeliums! 12 Da ist vom Logos auf deutsch: vom Wort die Rede. Dieser Logos existiert bereits »im Anfang«, nämlich dort bei dem Gott (mit Artikel: ho the6s). »Anfang« meint aber gar nicht so sehr den chronologischen Anfang, sondern diejenige Wirklichkeit, die jenseits aller Zeit besteht, nämlich die Ewigkeit. Aus dieser jenseitigen, nämlich göttlichen Ewigkeit wird der Logos Mensch. Gott begibt sich im Logos also in dem die Menschen ansprechenden göttlichen Wort in die Zeit und die Geschichte hinein. Gott wird so trotz seiner jenseitigen, göttlichen Seinsweise ein geschichtliches Wesen. Gott hat die Zeit und die Geschichte erschaffen, und er hat die zeitlich-geschichtlichen Menschen erschaffen. Gottes Ewigkeit wurde Zeit, ohne seine Ewigkeit preiszugeben. Der göttliche Logos ist also, obwohl wesenhaft Gott (ohne Artikel in Joh 1,1: »Und Gott, the6s war der Logos«), ein zeitlich personales Wesen geworden. Mit terminologischer Anleihe an den Römerbrief formuliert: Gerade als dieser Gott ist er das menschgewordene Evangelium. Die soteriologische Evangeliums-Theologie des Paulus entspricht also in ihrer ureigenen theologischen Intention der christologischen Logos-Theologie des Johannes. Kommen wir wieder auf die Frage nach dem Kanon zurück! Er ist das Feste, das theologisch Normgebende, das den Menschen theologisch Behaftende. Der Kanon ist somit für den glaubenden Menschen verbindlich. Was ist nun aber nach Röm 1 und Joh 1 für den Menschen kanonisch? Nicht in erster Linie eine Schrift, obwohl Paulus und Johannes aus grundsätzlichem theologischem Denken an der Schrift Israels als Schrift! festhalten. Für beide neutestamentlichen Autoren ist ja die Bibel Israels auch die verbindliche Schrift der Kirche. Aber in erster Linie geht es ihnen theologisch um den in Christus sprechenden Gott, christologisch um den menschgewordenen Logos, soteriologisch-kerygmatisch um den im 8 Evangelium präsenten Gott. Dann aber können wir sagen, daß sowohl der göttliche Logos als auch das göttliche Evangelium der für den Glaubenden verbindliche Kanon ist: Der Logos ist der christologische Kanon. Das Evangelium ist der kerygmatische Kanon, wobei theologisch der Logos und das Evangelium die eine göttliche Wirklichkeit im Wort-Ereignis ausmachen. Und die kanonische Schrift, von Israel her als Kanon empfangen und von den neutestamentlichen Autoren als Autorität des sprechenden Gottes angesehen, bleibt zunächst der einzige schriftliche Kanon, der aber im Lichte des Logos und des Evangeliums gelesen und verstanden wird. Für Paulus und für Johannes steht somit auch wenn sie es nicht expressis verbis sagen und es auch nicht expressis verbis so zugäben der mündliche Kanon des Logos und des Evangeliums über dem schriftlichen Kanon. Von ihrem Anfang her, ihrem Ur-Sprung her, ist die Kirche Kirche des Wortes, nicht aber Kirche der Schrift! Kerygmatisch ist also der in seinem Ursprungssinn verstandene Kanon des Christen der in seinem Worte sich aussprechende Gott. Wir kommen zum nächsten Schritt: Das mündliche Evangelium und der Logos, der mündlich gesprochen hat, sind uns jedoch nur schriftlich überliefert. Also gerade das, was wir eben den mündlichen Kanon genannt haben, ist uns nur schriftlich zugängig! Paradox formuliert: Der mündliche Kanon in schriftlicher Gestalt! Paulus hat seinen Brief an die Römer geschrieben. Er wurde in der römischen Gemeinde (den römischen Gemeinden? ) vorgelesen, also mündlich verkündet. Der dem Sekretär diktierte, also aus der Mündlichkeit entstandene Brief wird in Rom aus seiner schriftlichen Gestalt wieder in mündliche Rede zurückübersetzt. Der Brief spricht in Kap. 1 sicher »über« das Evangelium, er ist ja seiner Intention nach die Verkündigung des Evangeliums. Der Brief bleibt erhalten. Als erhaltenes Schreiben wirkt der Brief in die Jahrhunderte, in die Jahrtausende. Der Brief als zunächst mündlich intendierter Kanon wird nun zum schriftlich verfaßten Kanon. Zwar zunächst ohne den Begriff »Kanon«, aber, aus der Perspektive unserer theologischen Terminologie gesehen, wurde er kraft der in ihm ausgesprochenen apostolischen Autorität ein »Stück« dessen, was wir heute als den Kanon des Neuen Testaments besitzen. Und ZNT 12 (6. Jg. 2003) heute heißt es auf der Kanzel: »Häret das Wort Gottes, wie es aufgezeichnet ist im Brief des Apostels Paulus an die Römer im ersten Kapitel! « Und dann »hört« die Gemeinde das Evangelium vorausgesetzt, der Prediger sagt mit theologischer Kompetenz und Verantwortung das, was Paulus vor zwei Jahrtausenden sagen wollte. Der schriftliche Kanon ist wieder zum mündlichen Kanon geworden! Der schriftliche Kanon hat wieder sein Ziel erreicht. 3. Der christliche Kanon und die Biblische Theologie Wir haben soeben das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit bedacht und dabei die Priorität des mündlichen Wortes herausgestellt. Dieses zu sprechende und dann auch gesprochene Wort ist, vom genuinen Kanongedanken her gesehen, der eigentliche theologische Kanon, die eigentliche Norm und Verbindlichkeit des christlichen Glaubens. Alle biblische Schriftlichkeit will sich ja in der Mündlichkeit, im Wort also, verwirklichen. Nun wird allerdings, geradezu im Gegenzug zu diesem Aspekt, immer wieder zur Begründung des mündlichen Wortes das schriftliche Wort der Schrift angeführt, Schrift nämlich im Sinne der später Altes Testament genannten Schrift Israels. Da heißt es z.B. »Wie geschrieben steht« oder »Wie die Schrift sagt«. Wird damit aber nicht all das, was wir eben überlegt haben, widerlegt? Ist das Christus-Geschehen wirklich deshalb Heilsrealität, weil eine Schrift dieses Geschehen legitimiert? Und selbst wenn wir nicht von der Schrift als Schrift ausgehen und uns z.B. einen Gottesdienst der ersten Gemeinden vor Augen stellen, geschieht nicht da erst recht die Umkehrung unserer oben angestellten Überlegungen? Da wird die Schrift verlesen, vielleicht aus dem ]es-Buch das Kap. 53, und dann diese Schrift-Stelle zur Voraussetzung, zum Fundament der Predigt gemacht! Lautet also das hermeneutische Grundprinzip vom Alten Testament her Scriptura fundamentum, lautet es: die Schrift ist das Fundament der Christuspredigt? Wollte man dem zustimmen, so wäre die Schrift Israels der primäre Kanon, der die Christus- Verkündigung zum sekundären Kanon abwertete! Formal trifft unbestreitbar zu, was ich gerade ZNT 12 (6.Jg. 2003) gesagt habe aber eben: nur formal! Das Problem als solches ist nämlich wesentlich schwieriger. Berufung auf die Schrift ist schließlich nicht gleich Berufung auf die Schrift. Es kommt ganz und gar auf das Wie dieser Berufung an. Warum sollte die Bibel Israels die theologische Voraussetzung für die Christusbotschaft sein? Weil sie zeitlich der kirchlichen Verkündigung vorausging? Etwa weil die Offenbarung des Logos in den alttestamentlichen Offenbarungen ihren theologischen Seins-Grund hat? Weil Israel als das ekklesiologische Fundament der Kirche J esu Christi anzusehen wäre? Ist also die Geschichte des Alten Bundes zwischen Gott und seinem auserwählten Volk Israel der theologische Grund der Geschichte des Neuen Bundes, und zwar in dem Sinne, daß Alter und Neuer Bund als uneingeschränkte Kontinuität zu sehen wären? Immerhin gilt theologisch, daß der sich im Alten Bund offenbarende Gott, nämlich J ahwäh als der sich Israel offenbarende Gott, der autoritativ in der Heiligen Schrift Israels spricht, von den neutestamentlichen Autoren als derjenige in Anspruch genommen wird, der in der gegenwärtigen eschatologischen Heilszeit die an Christus Glaubenden anspricht. Der im Alten Testament sprechende Gott Israels spricht ja im Verständnis vieler neutestamentlichen Autoren sogar noch entschiedener zu den Glaubenden des Neuen Bundes als in alttestamentlicher Zeit zu den Israeliten. Nur ein Beispiel: In Hebr 3,7ff. zitiert der Autor Ps 95,7-11. Das Zitat beginnt mit den bezeichnenden Worten: »Heute, wenn ihr seine Stimme hören werdet, so verstockt eure Herzen nicht, wie es geschah bei der Verbitterung am Tage der Versuchung in der Wüste, wo mich eure Väter versuchten! « Dieses Heute bezieht der Verfasser des Hebr auf seine christliche Gegenwart. Er sieht in diesen Worten die Adressaten seines Briefs angesprochen, Hebr 4,2: »Denn es ist auch uns verkündigt wie jenen.« Und dann in V.7: »Gott bestimmt abermals einen Tag, ein >Heute<, und spricht nach so langer Zeit durch David, wie eben gesagt: >Heute, wenn ihr seine Stimme hören werdet, so verstockt eure Herzen nicht! «< Damit ist aber eine rein chronologische Sicht abgetan. Denn die Vergangenheit ist in Hebr 4 in die Gegenwart hineingenommen. David spricht heute zu Christen. Und durch David spricht heute der Gott Israels, der damals gesprochen hat, 9 zu ihnen. Vergangenheit und Gegenwart koinzidieren. Das ist übrigens ein Zeitdenken, das bereits alttestamentlich verifizierbar ist. So spricht Mose zu den Israeliten, nachdem sie längst den Sinai, den Berg der Gesetzgebung, verlassen hatten, Dtn 5,1-3: »Und Mose rief ganz Israel zusammen und sprach zu ihnen: >Höre, Israel, die Gebote und Rechte, die ich heute vor euren Ohren rede, und lernet sie und bewahrt sie, daß ihr danach tut! Der Herr, unser Gott, hat am Horeb einen Bund mit uns geschlossen. Er hat nicht mit unsern Vätern diesen Bund geschlossen, sondern mit uns, die wir heute hier sind und alle leben.«< Wieder also das bezeichnende »Heute«! Was vor vierzig Jahren am Horeb geschehen war, das geschieht »heute« am Ende der Wüstenwanderung. Die Überwindung des rein chronologischen Denkens ist also offenkundig bereits im Alten Testament begründet. Dieses Alte Testament kennt unbestreitbar die Chronologie, kennt sie sogar sehr gut. Aber sie ist keinesfalls sein eigentliches Zeitdenken. Weil der ewige, also zeitüberlegene Gott damals und heute handelt, ist seine Ewigkeit als seine Zeittranszendenz der eigentliche Parameter seines Handelns. Von Gott her, der wesen-haft über allen Zeiten steht (Ps 90,4! ), fallen Vergangenheit und Gegenwart in eins. In Gott gibt es kein Nacheinander, in Gott ist alle Zeit zugleich. Wir nehmen dieses biblische Zeugnis zur Kenntnis; was jedoch diese Ewigkeit in ihrem transzendenten Sein besagt, das bleibt uns, weil wir nun einmal in unserem immanenten Sein zeitliche Existenzen sind, in fundamentaler Weise verschlossen. Diese biblische Koinzidenz der Zeiten muß aber zusammengesehen werden mit einer eigentümlichen Verschränkung von M ündlichkeit und Schriftlichkeit. Es ist nicht nur auffällig, sondern vor allem interpretationsrelevant, daß damit, daß auf früher Geschriebenes verwiesen wird, zugleich auf früher Gesagtes verwiesen wird. Greifen wir auf das bereits genannte Zitat von Ps 95 in Hebr 3 und 4 zurück. Die Einführungsformel lautet: »Darum, wie der Heilige Geist spricht: « Hier geht es um das Sprechen des in diesem Brief zitierten alttestamentlichen Textes. Zitate des geschriebenen Alten Testaments werden um des Hörens willen gebracht. Im zitierten Psalm findet sich der markante Imperativ »Hört! «. Das Schriftliche wird durch die Implikation des 10 Mündlichen relativiert, das Mündliche aber durch die Faktizität des Schriftlichen. Nicht nur Zeiten fließen ineinander, auch die beiden Modi des Schreiben und Redens, des Lesen und Hören werden zu einer Einheit. Und noch in einer weiteren Hinsicht wird das Vetus Testamentum in Nova receptum zum Problem. Denn auf der einen Seite gilt das ganze Alte Testament als Autorität. Auf der anderen Seite werden aber wichtige, sogar zentrale alttestamentliche Inhalte außer Kraft gesetzt. Auf der einen Seite wird im Neuen Testament die Schrift als letztgültige Autorität angeführt. Auf der anderen Seite werden in ihm aber inhaltliche Aussagen der Schrift als erledigt hingestellt. Auf der einen Seite heißt es, daß kein Jota und kein Häkchen vergeht (Mt 5,18), auf der anderen Seite fallen nicht nur Jota und Häkchen hin, sondern ganze Passagen. Wie verträgt sich das? Fügt man einmal die alttestamentlichen Zitate und Anspielungen im Neuen Testament wie Mosaiksteinchen zusammen, so bietet das auf diese Weise zusammengesetzte Alte Testament gerade kein Spiegelbild des ganzen Alten Testaments! Man mag zunächst einwenden, daß in neutestamentlicher Zeit in der mündlichen Verkündigung und Katechese ein größerer Teil des Alten Testaments zur Sprache gekommen sein könnte, als sich aus dem Neuen Testament erheben läßt. Ob allerdings dieses »Mehr«, wenn es überhaupt gegeben wäre, quantitativ und qualitativ erheblich wäre, ist äußerst unwahrscheinlich, da sich im Neuen Testament gerade diejenigen Aussagen des Alten Testaments finden, die für die neutestamentliche Christologie und Soteriologie bedeutsam sind. Von welcher Seite man auch immer die Problemlage sieht, es bleibt der Tatbestand: Das ganze Alte Testament läßt sich nicht als Fundament der neutestamentlichen Grundaussage anführen. Es bleiben Differenzen zwischen Altern und Neuem Testament, die sich nicht mit einigen raffinierten Kunstgriffen beseitigen lassen. Wenn z.B. die Speisegesetzgebung (Lev 11; Dtn 14), die immerhin massiv die Praxis des jüdischen Lebens verbindlich regelt, im Pentateuch als unbedingt gebietender Wille J ahwähs ausgesprochen ist, in Apg 10,9-16, vor allem in 10,15, aber vom Himmel her mit göttlicher Autorität außer Kraft gesetzt ist, dann sind in der neuen, der christlichen Heilsordnung Lev 11 und Dtn 14 aufgehoben und gehören nicht ZNT 12 (6. Jg. 2003) mehr zu den Teilen des Alten Testaments, die den Christen, sei er Judenchrist oder Heidenchrist, bindet. Theologisch erheblich ist vor allem die Differenz in der Soteriologie, wie sie z.B. in aller Offenheit im Hebräerbrief ausgesprochen ist: Der alttestamentliche Opferkult des Tempels wird in der Argumentation sogar vom Alten Testament her! als unwirksam hingestellt (Hebr 7-10). Das Alte Testament selbst behauptet also nach einer theologisch besonders wichtigen Schrift des Neuen Testaments seine eigene theo- Blick auf die Frage nach der Rezeption der ganzen Bibel Israels. Meine Unterscheidung dürfe »nicht verkennen lassen, daß die neutestamentlichen Autoren [...] allesamt die heiligen Schriften Israels [...] als eine Ganzheit gesehen und in dieser Ganzheit als Heilige Schrift weiterhin akzeptiert haben«. 14 An dieser Stelle besteht noch Diskussionsbedarf zwischen uns. 15 Der wichtigste Gesprächspartner für die Frage, ob das ganze Alte Testament für das theologische Verständnis der neutestalogische Aufhebung! Das unumgängliche Fazit: Wer das Neue Testament als ihn bindende Offenbarungsurkunde des Neuen Bundes anerkennt, kann zentrale Aussagen des Alten Testaments nicht anders als abrogiert verstehen. Sind somit vom Alten Testa- » Wer das Neue Testament als ihn bindende Offenbarungsurkunde des Neuen Bundes mentlichen Autoren unverzichtbar sei, ist BREVARD S. CHILDS mit seiner »Biblical Theology of the Old und New Testaments«. 16 Die Grundvoraussetzung seiner Biblischen Theologie ist die Konzeption vom canonical anerkennt, kann zentrale. Aussagen des Alten Testaments nicht anders als abrogiert verstehen.« ment her zentrale theologische Aussagen rezipiert und in die Geltung des Neuen Bundes hineingenommen, jedoch andere gerade nicht rezipiert, sondern ausdrücklich abrogiert, so besagt das, daß einerseits das Neue Testament als theologisches Kriterium des Alten fungiert, andererseits aber theologische Grundaussagen des Neuen Testaments im Alten fundiert sind. THOMAS SÖDING sieht klar, daß im Horizont Biblischer Theologie dadurch für die christliche Exegese des Alten Testaments ein Problem entsteht, daß im Neuen Testament Texte und Themen der »alttestamentlichen« Schrift zwar höchst unterschiedlich intensiv rezipiert werden, dies aber durchweg in einer christologischen Hermeneutik geschieht. Aus dieser Sicht begrüßt er meine Unterscheidung von Vetus Testamentum in se und Vetus Testamentum in Nova Testamento receptum als hermeneutisch höchst aufschlußreich.13 Damit trifft er sich in der Sache mit DoH- MENS These von der »doppelten Hermeneutik« im Blick auf die Bibel Israels als Glaubensurkunde des Judentums und als Altes Testament. Diese Unterscheidung habe ich ja als konvergent mit meiner Sicht bejaht (s.o.). Ich bin also mit Söding und Dohmen einig, daß diese Unterscheidung eine hermeneutisch relevante Unterscheidung ist. Und ich begrüße vor allem, daß beide der Hermeneutik einen so hohen Stellenwert beimessen. Different urteilen allerdings Söding und ich im ZNT 12 (6. Jg. 2003) approach, Kanon dabei verstanden als die verbindliche formale Einheit beider Testamente in ihrer geschriebenen Ganzheit. Aufgrund dieser Konzeption verlangt Childs die Anerkennung der göttlichen Autorität aller Teile des Alten und des Neuen Testaments. Wäre aber die uneingeschränkte göttliche Autorität für alle biblischen Bücher in all ihren Teilen kraft der Setzung dieses Kanonprinzips gefordert, dann gälte für das Alte Testament die gleiche Dignität wie für das Neue, dann wären per definitionem Abstriche oder Relativierungen theologisch unzulässig, wie sie in meiner Unterscheidung von Vetus Testamentum und Vetus Testamentum in Nova receptum impliziert sind. Wenn ich Childs richtig verstanden habe, dann ist der Kanon in seiner schriftlichen Zweiteilung ich sage es einmal mit meinen Worten die schriftliche Verobjektivierung des Wortes Gottes; er ist das mit Gottes Autorität Gegebene, das aufgrund seiner primären Geltung als schriftlich Gegebenes nicht hinterfragt werden darf. Gott hat sozusagen das Buch der Bibel mit seiner Autorität gegeben. Allerdings sei ausdrücklich gesagt: Auch Childs bemüht sich methodisch um die alttestamentlichen Zitate und Anspielungen im Neuen Testament. Auch er will es nicht bei diesen Zitaten und Anspielungen bewenden lassen, da ja die Zitate oft nur dann in ihrem Rezeptionssinn voll erfaßt werden können, wenn ihr jeweiliger Kontext bedacht wird. Hierin bin ich im Grundsatz mit Childs einig. 11 Methodologisch geht also Childs in wichtigen Fragen in die richtige Richtung. Aber daß sein canonical approach theologisch und hermeneutisch hinsichtlich der Bezobe des schriftlichen Corpus als Kanon zurechtfinden. Der oben beschriebene Weg vom verkündigten, gepredigten Wort des Evangeliums zur genheit beider Testamente aufeinander zu Unklarheiten führt, scheint mir auch nach seinem Aufsatz in der ThZ, in dem er sich ausführlich mit meiner Unterscheidung auseinandersetzt, nicht beseitigt.17 Es ist hier, schon allein aus Platzgründen, nicht der » Worum es aber geht, ist, daß im Neuen Testament sowohl schriftlichen Fassung 23 ist, wenn ich die Inkarnation des Logos und in deren Folge die Geschichte der Kirche - und das besagt auch: die Kirche in ihrer Geschichtlichkeit wirklich ernst nehme, konstitutiv für den Kanon-Begriff. Und was neutestamentlich in das Alte Testament in seinem Originalsinn als auch in einem mit dem Originalsinn nicht identischen Rezeptionssirm zitiert wurde.« Ort zu einem erneuten Dialog mit Childs; leider konnte die briefliche Diskussion nach der Publikation des 3. Bandes meiner »Biblischen Theologie des Neuen Testaments« 1' wegen einer damaligen Erkrankung von Childs nicht weitergeführt werden. Soviel sollte ich allerdings noch sagen: Sein Einwand gegen meinen hermeneutischen Ansatz basiert auf der inhaltlichen Totalität der hebräischen Bibel. Er selbst gibt aber zu, daß die beiden Testamente »nicht eine harmonische, bruchlose Einheit [formen], sondern [...] oft in störender Spannung« stehen. 19 Dennoch erklärt er: »Das Argument schließlich, das Alte Testament in seiner ursprünglichen Intention habe niemals Autorität besessen für die frühe Kirche, bedeutet, die hermeneutische Frage anachronistisch von einer nach-aufklärerischen Position her aufzuwerfen. Die frühe Christenheit sah keine Polarität zwischen einer rekonstruierten ursprünglichen Intention eines Textes und einer nachfolgenden Applikation.« 20 Daß die frühe Christenheit eine solche Polarität nicht sah, ist zwischen Childs und mir unbestritten. Ich habe selbst mehrfach darauf verwiesen, daß meine Unterscheidung von Vetus Testamentum und Vetus Testamentum in Nova receptum nicht die der neutestamentlichen Autoren war, ja gar nicht deren Intention sein konnte, sondern aus unserer heutigen Sicht getroffen wurde von mir aus »nach-aufklärerischen Position«. Worum es aber geht, ist, daß im Neuen Testament sowohl das Alte Testament in seinem Originalsinn 21 als auch in einem mit dem Originalsinn nicht identischen Rezeptionssinn zitiert wurde. Und eine Lösung für diese doch nicht von mir geschaffenen Schwierigkeit finde ich bei Childs nicht. 22 Ich kann mich einfach nicht mit der thetischen Vorga- 12 dieser Hinsicht zu sagen ist, hat auch Relevanz für die Sicht des Alten Testaments. Natürlich war die Bibel Israels der werdenden Kirche als »Schrift« vorgegeben. Aber gerade in der Diskussion der für die neutestamentlichen Autoren mit göttlicher Autorität sprechenden Schrift (z.B. Gal 5,30; Röm 10,19-21) muß bedacht werden, daß sie sich vom Inhalt des mit seiner göttlichen Autorität sprechenden Gottes her, nicht aber wegen eines von ihnen nicht reflektierten formalen Schriftprinzips auf diese Schrift beriefen. Es dürfte also zu wenig sein, wenn Childs den in Anm. 8 schon zitierten Satz Augustins anführt. 3.1 Anmerkungen zur Intertextualität Betrachten wir das Ganze einmal aus der Perspektive einer Methodik, die erst in jüngster Zeit, aus der literaturtheoretischen Diskussion entlehnt, in der biblische Exegese eine Rolle spielt. Ich meine die Intertextualität. 1989 erschien RICHARD B. HAYS' Monographie »Echoes of Scripture in the Letters of Paul«. 24 Man mag an diesem Werk Kritik üben, weil es die philosophischen Implikationen der Intertextualität nicht hinreichend bedacht habe. Aber eine solche Kritik ist eine bloß marginale Kritik, da dieses Buch beanspruchen darf, eine methodologisch bahnbrechende und in entscheidender Weise weiterführende Arbeit zu sein. 25 Es geht in der Intertextualität26 um die Beziehungen von Texten zueinander, geradezu um den Dialog von Texten. In dem von ihr herausgegebenen Sammelwerk über Dialogizität" unterscheidet RENATE LACHMANN hilfreich zwischen dem textontologischen und textdeskriptiven Aspekt in Untersuchungen zur Intertextualität. M.E. können beide Aspekte nicht ZNT 12 (6. Jg. 2003) getrennt werden, will man nicht den Sinn dieses methodologischen Vorgehens verkürzen. Es war kein Geringerer als UMBERT0 Eco, der in seinem Roman »Der Name der Rose« in den Erinnerungen des Adson von Melk, des Begleiters Williams von Baskerville, den dialogischen Charakter der Bücher sehr konkret vor Augen stellt. Adson wird von William belehrt, daß Bücher oft von Büchern sprechen. In der Erinnerung an seinen Lehrmeister sagt Adson im Rückblick auf sein Leben: »Nun ging mir plötzlich auf, daß die Bücher nicht selten von anderen Büchern sprechen, ja, daß es mitunter so ist, als sprächen sie miteinander. Und im Licht dieser neuen Erkenntnis erschien mir die Bibliothek noch unheimlicher. War sie womöglich der Ort eines langen und säkularen Gewispers, eines unhörbaren Dialogs zwischen Pergament und Pergament? Also etwas Lebendiges, ein Raum voller Kräfte, die durch keinen menschlichen Geist gezähmt werden können, ein Schatzhaus voller Geheimnisse, die aus zahllosen Gehirnen entsprungen sind und weiterleben nach dem Tod ihrer Erzeuger? « 2 ' Adson läßt also seine Phantasie arbeiten. Auch Phantasie steht im Dienste der Erkenntnis und des Verstehens. Wissenschaft auch Theologie! wäre ohne Phantasie ziemlich arm! Also erlaube man mir, daß ich an der Stelle weiter phantasiere, wo Adson geendet hat. Ich komme dabei auf eines meiner Spezialgebiete zu sprechen, nämlich auf das Verhältnis der beiden biblischen Testamente zueinander. Also auf unser Thema: der doppelte Kanon als Musterfall von Intertextualität! Da geht es um das Verhältnis des neutestamentlichen Galaterbriefs zur alttestamentlichen Genesis, um das Verhältnis des neutestamentlichen Römerbriefs zum Buche des Propheten Jesaja, um das Verhältnis des Hebräerbriefs zu den fünf Büchern des Mose u.s.w. Der auf dem Gebiet der Biblischen(== gesamtbiblischen) Theologie Arbeitende kann sich hier so richtig intertextuell tummeln! Also: Ich phantasiere! Ich lausche dem Dialog der biblischen Bücher. Da ist der Römerbrief. Er befindet sich sogar im Gespräch mit recht vielen Büchern des Alten Testaments. Aber mehr noch: Er befindet sich im Dialog mit denjenigen alttestamentlichen Büchern, die er in die Diskussion miteinander bringt, und zwar so, daß er sich auch selbst an ihr engagiert beteiligt. Da berichtet er in den Kapiteln 9-11 über das Verhältnis von Syna- ZNT 12 (6. Jg. 2003) goge und Kirche. In genau diesem Zusammenhang hetzt er mit einer gewissen Raffinesse zwei Bücher des Mose aufeinander. Er läßt zuerst das Buch Leviticus sprechen (Lev 18,5): »Wer sie [die Gebote des Mose] tut, der wird kraft ihrer leben! « Und er selbst, dieser Brief des Paulus, führt dieses Diktum mit folgenden theologisch brisanten Worten ein: »Denn Mose schreibt [Präsens! ] über die Gerechtigkeit aus dem Gesetz: « Doch der Römerbrief läßt das Buch Leviticus nur deshalb seine Überzeugung äußern, um ihm sofort durch das Buch Deuteronomium widersprechen zu lassen, und zwar so, daß er es in seinen theologischen Dienst stellt. Er führt nämlich das Dtn- Zitat mit den Worten ein »Die Gerechtigkeit aus dem Glauben sagt aber: « und läßt dieses Buch zunächst Dtn 9,4 sprechen: »Du sollst in deinem Herzen nicht sagen: Wer wird in den Himmel auffahren? «, um dann dieses Buch auch noch erklären zu lassen (Dtn 30, 14): »Nahe ist dir das Wort, in deinem Munde und in deinem Herzen.« Und er selbst, der Römerbrief, sekundiert dem Buch Deuteronomium, indem er das nahe Wort als dasjenige Wort bezeichnet, das der Apostel Paulus als Wort des Glaubens verkündet (Röm 10,8)." Röm 10,5-8 ist demnach ein theologisches Streitgespräch von drei biblischen Büchern. Ob der Mönch Adson von Melk es in seinem schönen Kloster oberhalb der Donau gemerkt hat, als auch er einmal wieder den Römerbrief las in seiner Erinnerung an sein Gespräch mit William von Baskerville: »Nun ging mir plötzlich auf, ... als sprächen die Bücher miteinander«? Röm 10,5ff. verdiente schon die Überschrift: Biblische Intertextualität! Das war also ein intertextuelles Spiel, allerdings ein sehr ernstes, so amüsant es auch vielleicht klingen mag, wenn vom theologischen Spiel die Rede ist. Es sei noch bei diesem intertextuellen Spiel darauf aufmerksam gemacht, daß in V. 5 nicht vom redenden, sondern vom schreibenden Mose die Rede ist. Doch die im Buche Deuteronomium geschriebene Gerechtigkeit aus dem Glauben bezeichnenderweise wird hier Mose nicht genannt! spricht. Also: Die sprechende Gerechtigkeit aus dem Glauben gegen die nicht mehr geltende! geschriebene Schrift des Mosel Was gesprochen wird, gilt; was geschrieben ist, gilt nicht. Ausgerechnet im inter-text-uellen Dialog die Abwertung des Textes! Die Gerechtigkeit 13 aus dem Glauben spricht vom Wort, betont als Wort im Munde undmehr noch! im Herzen. Das Herz aber ist bekanntlich in der biblischen Sprache das eigentliche Ich des Menschen, hier also das eigentliche Ich der intertextuell personifizierten Glaubensgerechtigkeit. Und so zielt das Ganze auf das Ende von V. 8: Dieses Wort des Glaubens ist das, was der Apostel verkündet, was er verkündend spricht - und sei es auch durch das Medium des Textes eines Briefes. Wir stellen fest, daß die hier diskutierte intertextuelle Beziehung wir blieben, um mit Renate Lachmann zu sprechen, im Bereich der textdeskriptiven lntertextualität die Texte im Ganzen von Schrift und Wort bedenkt. lntertextualität zielt über den Text hinaus. Es würde mich reizen, gerade an dieser Stelle auch die philosophische Diskussion über den textontologischen Aspekt zu führen, doch führte das zu weit über die hier abzuhandelnde Thematik hinaus. (Ende 3.1) Kommen wir wieder auf das zurück, was zum Kanon und Kanonischen zu sagen ist. Kanonisch ist, was das theologisch »Feste« und das den existentiellen Halt Gebende ist. Kanonisch ist nach Röm 10, was die Glaubensgerechtigkeit und was in ihrem Auftrag der Apostel einen Be-griff eingezwängt werden! intersubjektiv zur vermitteln vermag. Aber er hat nicht verstanden, was Paulus mit dem rechtfertigenden Gott sagen wollte, weil er nicht verstanden hat, daß der biblische Gott der Deus pro nobis ist, »der Gott für uns«. Er hat die Wirklichkeit nicht verstanden, die mit dem Wort »Gott« ausgesagt ist, auch nicht und gerade nicht die Wirklichkeit des von Gott erlösten Menschen. Er hat ohne Selbstverständnis verstanden also nicht verstanden! Das ist der hermeneutisch springende Punkt! Ein kurzer Blick noch in die Religionsgeschichte: Der katholische indische Theologe RAYMOND PANIKKAR, engagiert im Dialog zwischen Christentum und Hinduismus, hat in seinem Aufsatz »Die Ummythologisierung in der Begegnung des Christentums mit dem Hinduismus«, einem Beitrag zur Buhmann-Debatte, darauf hingewiesen, daß die geschriebenen! - Veden für den Hinduismus nicht »Heilige Schrift«, sondern sruti, d.h. das Gehörte, sind. Sie seien »nicht Schrift sondern Wort und als Wort mächtig, gebieterisch, seinshaft, selbstruhend«. 30 Und kurz danach: »Das Wort ist Symbol kat' exochen ... Das Symbol ist nicht eine andere Wirklichkeit, das Wort Gottes ist nicht etwas anderes als Gott durch den Text und das Gespräch der Texte miteinander sagen, was Paulus im Kon- Text der »sprechenden« Texte sagt. Kanonisch ist, mehr »Kanonisch ist, mehr noch: selbst, es ist der geoffenbarte Gott, es ist Gott, insofern er für uns Gott ist.« 31 Eine interessante Parallele zu unserer Kanon ist die Verkündigung des Glaubenswortes.« noch: Kanon ist die Verkündigung des Glaubenswortes. Wem dieses gesagt ist und wer so das Gesagte verstehend hört (Röm 10, 17), der aber nur der! hat dieses Wort als den ihm geltenden Kanon verstanden. Wer jedoch gegenüber einem Nichtglaubenden vom Kanon spricht, kann ihm nicht vermitteln, was Kanon in seiner Eigentlichkeit bedeutet. Er mag damit etwas Formales durchaus zutreffend zum Ausdruck gebracht haben, nämlich den Kanon einer fixierten Anzahl von Büchern. Aber sein Gesprächspartner hat nicht begriffen und konnte auch nicht begreifen, was Kanon im tiefsten wirklich meint, weil er das mit Kanon wirklich Gesagte, nämlich das theologisch mit Kanon Gemeinte, nicht existentiell aufgefaßt hat. Er hat vielleicht erkannt, daß der theologische Kanonsbegriff mit Gott zu tun hat. Er hat vielleicht erfaßt, was ein Gottes-Begriff- Gott ist aber kein Begriff! Gott kann nicht in 14 Auffassung, daß der Kanon primär Wort und nicht Schrift ist! Auch in anderen Religionen finden wir also die Priorität des gesprochenen kanonischen Wortes, also des Wortes des sich offenbarenden Gottes. 4. Kanon - Geschichte - Gott Die Kapitelüberschrift ist dieselbe wie die Überschrift über dem ganzen Aufsatz. In ihr ist vom Kanon die Rede, ebenso von der Geschichte und von Gott. Bisher haben wir zwar ausführlich über den gegenseitigen Bezug von Kanon, Geschichte und Gott nachgedacht. Dennoch dürfte es angebracht sein, im Rückblick zusammenfassend das Gesamte als theologisches Geflecht transparent zu machen. Absicht der ganzen Darlegungen war, das, was zum Thema »Kanon« zu sagen ist, als streng theo-logischen Topos herauszuarbeiten. ZNT 12 (6. Jg. 2003) Zunächst programmatisch formuliert: Wer vom Kanon spricht, spricht implizit oder explizit von der Geschichte; wer vom Kanon spricht, spricht implizit oder explizit von Gott. Alle drei Termini machen eine theologische Trias aus. 32 - In Parenthese gesagt: Ich spreche bewußt von Termini, weil es sich schon allein wegen des Wortes »Gott« verbietet, von drei Begriffen zu sprechen. Denn es wäre ja ein blasphemischer Akt, Gott als Begriff, nämlich als be-griff-enen Gott (s.o.), zu minimieren und zu depotenzieren. - Alle drei Termini machen also eine theologische Trias aus, in der die Begriffe »Kanon« und »Geschichte« jetzt ist es freilich erlaubt, von »Begriffen« zu sprechen von der Wirklichkeit Gottes her ihren eigentlichen theologischen Sinn erhalten. Was Kanon in unserer Thematik meint, wird erst von Gott selbst aus deutlich. Gott ist ja, wie wir sahen, von der Bibel beider Testamente her der sich den Menschen Offenbarende, der sich ihnen Erschließende, also der Deus hermeneuticus. Gott spricht sein »Ich«. In diesem Sinne haben wir den theologischen Kanon als worthafte Realpräsenz Gottes verstehen können, der denen, die sich diesem Kanon gegenüber verpflichtet sehen, den letztgültigen existentiellen Halt gibt. Indem sich Gott selbst in seinem kanonischen Wort dem Menschen gibt - Gott gibt nicht »etwas«, Gott gibt sich selbst in seinem Worte - und ihn so damit behaftet und in seinen Dienst nimmt, beschenkt und begnadet er ihn. Nun ist der Mensch aber auch ein soziales Wesen. Dieser Aspekt gehört wesenhaft zum Dasein als Geschöpf Gottes. Als von Gott angesprochenes und als soziales Wesen ist er aber auch ein sprachliches Wesen. Als dieses sprachliche Wesen trägt ihn die Sprache in seiner Existenz. Bei aller möglichen Kritik an Martin Heidegger wird man ihm vielleicht doch abnehmen, daß die Sprache das »Haus des Seins« ist. 33 In diesem Hause wohnt der Mensch. Und so und theologischen Sphäre seiner Existenz. Die kirchliche Gemeinschaft ist auf die religiöse und theologische Sprache angewiesen, sie benötigt gerade zur Sicherung der eigenen Identität eine verbindliche Sprache. Es ist genau dieser Aspekt der Sprachlichkeit des Menschen, der nicht nur des kanonischen gesprochenen Wortes bedarf, sondern auch des kanonischen geschriebenen Wortes. Es gehört zur Geschichtlichkeit des Menschen, daß die Kirche von ihrer Entstehung an bis hin zu ihrer geschichtlichen Existenz in den heutigen Kulturkreisen mit deren weithin schriftlicher Verfaßtheit auf den schriftlichen Kanon ihrer Glaubensurkunden angewiesen ist. Kurz: Die Kirche bedarf des Kanons der Heiligen Schrift. Der schriftliche Kanon ist also eine ekklesiologische Notwendigkeit, angefangen vom Damals des Erbes des Alten Testaments und vom Damals der Entstehung des Neuen Testaments bis zum heutigen Tage. Aber - und an diesem Aber hängt sehr viel! dieser schriftliche Kanon, in dem Gott als der seine Wahrheit Aussprechende latent oder aktuell präsent ist, ist die geschichtliche Konsequenz des eigentlichen Kanons, nämlich des in seinem Evangeliumswort, d.h. in seinem Offenbarungswort präsenten Gottes, wie es bereits im Kapitel über den Weg vom kanonischen Wort zum Kanon der Kirche dargestellt wurde. In dieser Formulierung ist aber die Geschichte in mehrfacher Weise impliziert. Gott selbst wurde in einem Menschen geschichtliche Existenz, nach J oh 1, 14 wurde die Ewigkeit Zeit und Geschichte. Geschichte ist aber seit zweitausend Jahren ebenso die Zeit der Kirche, nämlich eine Geschichte des sich immer wieder in seinem Evangeliums- und Verkündigungswort vergegenwärtigenden Gottes. Gott ist Geschichte geworden, indem er als Kanon seines mündlichen und schriftlichen Wortes das Leben seiner Kirche gnadenhaft bestimmt. Das also ist die göttlich-kanonische Trias: Gott ist Geschichte ist er darauf angewiesen, daß er als soziales Wesen innerhalb seiner Mitmenschen kraft der Sprache nicht nur Alltäglichkeiten regelt, sondern auch in seinen Existenzfragen ansprechen und ange- »Gott ist Geschichte geworden, indem er als Wort, theologisch präziser.: als Kanon seines Wortes Geschichte geworden, indem er als Wort, theologisch präziser: als Kanon seines Wortes Geschichte geworden ist. Diese Geschichte begann jedoch schon vor der Inkarnation, nämlich im Kanon des Alten Testageworden ist.« sprochen werden kann. Es bedarf also auch einer sprachlichen Kommunikation in der religiösen ZNT 12 (6. Jg. 2003) ments, das uns von seiner Geschichte her mit seinem Bleibenden - Gott sagt sich in seinem richtenden und rettenden Ich aus - 15 und seinem überwundenen -Tempelkult, Reinheitsgesetz u. dgl. als göttliches und geschichtliches Buch gegeben ist, und zwar als alttestamentliches Erbe, von dem wir heute noch zehren! Anmerkungen In memoriam Professor Udo Borse. 1 Darin auch mein Aufsatz »Vetus Testamentum und Vetus Testamentum in Novo receptum. Die Frage nach dem Kanon aus neutestamentlicher Sicht« 135-146; jetzt in: H. Hübner, Biblische Theologie als Hermeneutik. Gesammelte Aufsätze, hg. von A. und M. Labahn, Göttingen 1995, 252-271. Darin ist in programmatischer Weise vorweggenommen, was ich später ausführlich dargelegt habe in: ders., Biblische Theologie des Neuen Testaments, 3 Bände, Göttingen 1990.1993.1995, vor allem in Bd. 1, 37-76. 2 Dies hat der Schreiber dieser Zeilen selbst erfahren. Seine Theologie wurde wegen der Kanonauffassung, die in seiner Konzeption der Biblischen Theologie begründet ist, aus Emotion als »blanker Markionismus« diffamiert; dabei wurde Markion unterstellt, er habe die Kirche »judenfrei« machen wollen (wir Älteren haben noch das nationalsozialistische »judenfrei« in grauenvoller Erinnerung! ); s. Hübner, Biblische Theologie, Bd. 3,283. 3 Text in 2 LThK, Das Zweite Vatikanische Konzil, Teil II, Freiburg/ Basel/ Wien 1967, 497-583, s. vor allem Caput I, De ipsa revelatione, Die Offenbarung. 4 H. Hübner, Vetus Testamentum. 5 Dazu ders., Eine moderne Variante der mittelalterlichen Lehre vom vierfachen Schriftsinn, in: Schrift Sinne. Exegese, Interpretation, Dekonstruktion, hg. von P. Chiarini und H.P. Zimmermann, Schriftenreihe des Forum Guardini 3, Berlin 1994, 54-64; jetzt in: ders., Biblische Theologie als Hermeneutik, 286-293. 6 Ch. Dohmen/ G. Stemberger, Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments (KStTh 1,2), Stuttgart/ Berlin/ Köln 1996. 7 So z.B. im zusammenfassenden Schlußkapitel »Das Konzept der doppelten Hermeneutik«, ebd. 211-213. 8 Augustinus, CSEL 28,2, 141: »quamquam et in vetere novum lateat et in novo vetus pateat«. (»Das Neue Testament ist im Alten verborgen und das Alte im Neuen offenbar.«) ' Dohmen/ Stemberger, Hermeneutik 190f. 10 M. Buber, Das dialogische Prinzip, Heidelberg 3 1973. 11 H. Hübner, Deus hermeneuticus, in: Th. Söding (Hg.), Der lebendige Gott. Studien zur Theologie des Neuen Testaments, FS W. Thüsing (NTA 31 ), Münster 1996, 50-58. 12 S. meinen in Kürze erscheinenden Aufsatz H. Hübner, en arche egß eimi; s. auch ders., Zuspruch des Seyns und Zuspruch Gottes. Die Spätphilosophie Martin Heideggers und die Hermeneutik des Neuen Testaments, in: P. Pokorny/ J. Roscovec (Hgg.), Philosophical Hermeneutics and Biblical Exegesis (WUNT 153), Tübingen 2002, 144-175. 13 Th. Söding, Probleme und Chancen Biblischer Theologie aus neutestamentlicher Sicht, in: Dohmen / Söding, Eine Bibel-zwei Testamente, 159-177; hier: 172. 16 14 Söding, Probleme, 172, Kursive durch mich. Dohmen lehnte 1993 in »Nur die halbe Wahrheit? «, 4 lf., meine aus der Differenzierung von Vetus Testamentum und Vetus Testamentum in Nova receptum erschlossene Folgerung, daß für das theologische Verhältnis der beiden Testamente das Vetus Testamentum receptum entscheidend sei, entschieden ab. Da er aber 1996 in »Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments« (s.o.) wesentlichen Punkten meines Ansatzes zustimmte, nehme ich an, daß darin zumindest eine partielle Zurücknahme seiner Kritik von 1993 zum Ausdruck kommt. 15 Eine ältere Differenz, die wir bis jetzt noch nicht ausräumen konnten. 16 B.S. Childs, Biblical Theology of the Old and New Testaments. Theological Reflections on the Christian Bible, Minneapolis, MN 1993, deutsche Übersetzung: Die Theologie der einen Bibel, Bd. 1: Grundstrukturen, Freiburg/ Basel/ Wien 1994; Bd. 2: Hauptthemen, 1996; s. auch ders., Biblische Theologie und christlicher Kanon, JBTh 3 (1988): Zum Problem des biblischen Kanons, 13-27; zur Kritik: M. Oeming, Text - Kontext - Kanon: Ein neuer Weg alttestamentlicher Theologie? Zu einem Buch von Brevard S. Childs, ib. 241- 251. 17 Ders., Die Bedeutung der hebräischen Bibel für die biblische Theologie, ThZ 48 (1992), 392-390. 18 Dort Antwort auf ThZ 48 auf S. 278-281. 1' Childs, ThZ 48, 388. 2 ° Childs, ThZ 48, 386. 21 S. z.B. H. Hübner, Eine moderne Variante der mittelalterlichen Lehre vom vierfachen Schriftsinn: Vetus Testamentum und Vetus Testamentum receptum, in: ders., Biblische Theologie als Hermeneutik, 286-293. 22 Ich verstehe einfach nicht, was er mit folgendem Satz meint, Childs, ThZ 48, 387: »In der unabweisbaren Tatsache, daß alttestamentliche Töne oft dissonant zum Neuen Testament klingen [! ], zeigt sich die Kraft des Alten Testaments, nicht seine Schwäche.« 23 Childs selbst nimmt doch auch diesen Weg zur Kenntnis, vgl. nur z.B. ders., Biblical Theology, 219ff., das Kapitel »The Church's Earliest Proclamation«. 24 R.B. Hays, Echoes of Scripture on the Letter of Paul, New Haven & London, 1989. 25 S. dazu meine Rezension, die ich wegen der Wichtigkeit dieses Werkes zu einem größeren Aufsatz ausgebaut habe: H. Hübner, Intertextualität die hermeneutische Strategie des Paulus? Zu einem neuen Versuch der theologischen Rezeption des Alten Testaments im Neuen, ThLZ 116 (1991), 881-898; jetzt in: ders., Biblische Theologie als Hermeneutik, 252-271. 26 Ich nenne hier nur ein (aus anglistischer Intention geschriebenes) Werk: U. Broich/ M. Pfister (Hgg.), unter Mitarbeit von B. Schulte-Middelich, Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen 1985; erst ab 243 anglistischer Teil. 27 R. Lachmann (Hg.), Dialogizität, Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste, Reihe A, Bd. 1, München 1982, 8. 28 U. Eco, Der Name der Rose, München/ Wien 1982, 365f.; ausführlicher habe ich diesen Text meinem Aufsatz in ThLZ 116 vorangestellt. Zur Intertextualität s. auch U. Eco, Nachschrift zum »Namen der Rose« (dtv 580), München/ Wien 1986, vor allem 13.28.31-37. ZNT 12 (6. Jg. 2003) 29 Zur Textfrage: H. Hübner, Vetus Testamentum in Novo, Bd. 2, Göttingen 1997, 168-172; zum theologischen Problem: ders., Biblische Theologie, Bd. 2, 313- 315. Das dort vor etwa zehn Jahren Gesagte habe ich hier schon wieder in einigen Details etwas weitergedacht. 32 Wer angesichts des Wortes » Trias« die Trinität assoziiert, mag vielleicht etwas Richtiges sehen. Darf man sagen: Gott als Vater, der Kanon als der sich als Logos aussagende Sohn, Geschichte als Wirkort des Heiligen Geistes (Apg! )? 30 R. Panikkar, Die Ummythologisierung in der Begegnung des Christentums mit dem Hinduismus, in: Kerygma und Mythos VI-1: Entmythologisierung und existentiale Interpretation (ThF 30), Hamburg-Bergstedt 1963, 211-235; hier: 220. 33 M. Heidegger, Unterwegs zur Sprache, Pfullingen '1971, 166; dazu Hübner, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. 1, 203-239: Systematisch-theologische Erwägungen zur Offenbarung in der Heiligen Schrift [Diskussion mit Karl Rahner und Martin Heidegger], besonders 222.224. 31 Panikkar, Die Ummythologisierung, 221; Kursive der deutschen Worte durch mich. Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie Oda Wischmeyer (Hrsg.) Herkunft und Zukunft der neutestamentlichen Wissenschaft Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie 6, 2003, X, 279 Seiten, € 48,-/ SFr 79,30 ISBN 3-7720-8016-2 Die neutestamentliche Forschung der letzten Generation hat sich religionsgeschichtlich und methodisch exponenziell ausgeweitet. Das Fach Neues Testament wurde zu einer kaum noch überschaubaren und nach außen wenig kommunizierenden Eigenwelt. Eine Analyse von "Herkunft und Zukunft der neutestamentlichen Wissenschaft" ist ein Desiderat. Das 2. Erlanger Neutestamentliche Kolloquium ist dem Thema in elf Beiträgen inländischer und ausländischer Neutestamentlerinnen und Neutestamentler nachgegangen. Die neutestamentliche Wissenschaft braucht neben dem Bewusstsein ihrer eigenen Geschichte und der kritischen Auseinandersetzung mit ihren Methoden einen Modernisierungsschub, der sie in produktiven Austausch mit Religionswissenschaft, Sprachwissenschaft, Sprachphilosophie, Hermeneutik und Kulturwissenschaft bringt. Dieses Buch versteht sich als programmatischer Schritt in diese Richtung. A. Francke Verlag Tübingen und Basel ZNT 12 (6. Jg. 2003) 17
