ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
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2003
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Dronsch Strecker VogelDie Entstehung des Kanons: Geschichtlicher Prozess oder gezielte Publizistik?
121
2003
Stefan Alkier
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Die Entstehung des Kanons: Geschichtlicher Prozess oder gezielte Publizistik? Eine Einführung zur Kontroverse Die Bibel ist die Grundschrift christlichen Glaubens. So einfach und einleuchtend dieser Satz auch klingen mag, so komplex sind die Fragestellungen, die sich aus dieser Feststellung ergeben: Da ist zunächst einmal die alle fundamentalistische Bibelideologie unterlaufende textkritische Tatsache zu nennen, dass es kein »Original« der Bibel gibt, ja nicht einmal ein Original auch nur einer Schrift des Neuen oder Alten Testaments, sondern nur eine Vielzahl von späteren Handschriften, aus denen in kriminalistischer Kleinarbeit der Text der biblischen Schriften erst erstellt werden muss. Da ist weiterhin die Feststellung zu treffen, dass es nicht nur eine christliche Bibel gibt, sondern der Umfang der Bibel konfessionell unterschiedlich bestimmt wird und es mittlerweile auch eine innerprotestantische Kontroverse darüber gibt, ob die hebräische Bibel weiterhin den alttestamentlichen Teil des christlichen Kanons bestimmen soll oder statt dessen die im Umfang und teilweise auch im Text erheblich davon abweichende griechische Fassung der Heiligen Schriften Israels, nämlich die Septuaginta (LXX), an deren Stelle treten soll. Im Paradigma historisch-kritischer Exegese wird ferner seit William Wrede darüber diskutiert, ob dem Kanon überhaupt eine Relevanz für die Auslegung und die Theologie der biblischen Schriften zukommt, da er doch ein späteres dogmatisches Konstrukt der Kirchenväter sei. An die Stelle einer Theologie des Kanons bzw. der kanonischen Schriften solle daher vielmehr die den Kanon außer Acht lassende Religionsgeschichte des Urchristentums treten. Diejenigen Vertreter historisch-kritischer Exegese hingegen, die den Kanon nicht aufgeben wollten, suchten immer wieder nach einem »Kanon im Kanon«, der in der Vielschichtigkeit der kanonischen Schriften eine Grundorientierung geben soll. Das Konzept einer Biblischen Theologie bemüht sich darüber hinaus, den Zusammenhang beider Testamente theologisch zu bedenken. Aus diesem Anliegen heraus entwickelten sich auch gerade neue hermeneutische Impulse, die Schriften der Bibel kanonisch zu lesen. Diese Fragestellungen und Probleme bieten nur einen Ausschnitt aus der vielschichtigen Kanondebatte. Beide Kontroverspartner sind sich über die grundlegende theologische und hermeneutische Relevanz des Kanons einig. Das Thema der Kontroverse, das die Grundfrage nach der Entstehungsgeschichte des Kanons aufgreift, beantworten sie jedoch höchst unterschiedlich. Manfred Oeming verteidigt die weit vertretene Auffassung, die Entstehung des christlichen Kanons sei ein langwieriger Prozess an dem viele beteiligt gewesen seien und der bereits implizit mit der Ausgestaltung und Überlieferung der einzelnen Schriften beginne. Die These, der christliche Kanon sei eine Reaktion auf den von der Großkirche missbilligten Kanon des Markion, lehnen beide ab. Allerdings bestreitet Matthias Klinghardt die traditionelle These des anonymen langsamen geschichtlichen Herausbildens des christlichen Kanons. Er versteht mit David Trobisch den christlichen Kanon vielmehr als geniale Tat eines Einzelnen, als gezielte frühchristliche Publizistik noch vor Markion. Beide Kontroverspartner haben sich mit großem Erfolg darum bemüht, ihre Position mit gewichtigen Argumenten zu begründen und sie allgemein verständlich darzulegen. Die Qualität ihrer kontroversen Stellungnahmen zeigt nachdrücklich, wie offen die Kanonfragen auch weiterhin diskutiert werden müssen. Stefan Alkier T H E O L O G I E I M A. F R A N C I<. E V E R L A G Das komplette Programm im Internet unter <www.francke.de ► ZNT 12 (6. Jg. 2003) 51
