eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 6/12

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
121
2003
612 Dronsch Strecker Vogel

Das Hervorwachsen des Verbindlichen aus der Geschichte des Gottesvolkes - Grundzüge einer prozessual-soziologischen Kanon-Theorie

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2003
Manfred Oeming
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Manfred Oeming Das Hervorwachsen des Verbindlichen aus der Geschichte des Gottesvolkes Grundzüge einer prozessual-soziologischen Kanon-Theorie Unter einem Kanon (gr. kanön = »Richtschnur«) versteht man eine als vorbildlich, ja dauerhaft verbindlich gedachte Sammlung dichterischer oder künstlerischer Werke bzw. eine Auswahl mustergültiger Autoren. Der Kanon der Bibel umfasst entsprechend diejenigen Schriften bzw. Autoren, deren Schriften normativ für den christlichen Glauben wurden und die Schriften dessen bilden, was wir heute Bibel nennen. Nur wer diesen Kanon als norma normans kennt, hat einen Maßstab für die »gute« Liteliehe Akzentverschiebungen aufweisen (vgl. Budde). Diese Vielfalt gab es auch schon in der Antike (vgl. Markschies). So kann z.B. der Kanon Muraturi um 170 n. Chr. die Sapientia Salomonis unter den neutestamentlichen Schriften aufzählen. Die Feststellung einer faktischen Vielgestaltigkeit der Heiligen Schrift gilt erst recht, wenn man in Anschlag brächte, welche Texte aus dem theoretisch zur Verfügung stehenden Spektrum der jeweiligen Schriftensammlungen in den jeweiligen Kirchen bei den Gemeinratur, die es wert ist, buchstabengetreu gelesen, gelernt und befolgt zu werden. Wie ist diese Sammlung normativer Schriften entstanden? TROV' degliedern wirklich bekannt sind und benutzt werden, also den »Kanon im Kanon« erhöbe. Eine entsprechende Wer hat festgelegt, welche Schriften autoritativ sind? Wann ist dies geschehen? Wo? Wie ist diese Auswahl durchgesetzt worden? 1. Zwei elementare Beobachtungen: Pluralität und Situativität A) Wer die Ausgaben der Heiligen Schrift vergleicht, die im Gottesdienst der unterschiedlichen Kirchen liturgisch verwendet werden, wird ganz leicht feststellen können, dass sie vom Umfang und Aufbau erheblich empirische Studie ist mir freilich nicht bekannt. Hier ergäbe sich ein nochmals sehr viel differenzierteres Bild. B) Wenn man »die Heilige Schrift« studiert, dann lassen viele Teile unschwer erkennen, dass sie für eine bestimmte Situation und für einen bestimmten Adressatenkreis abgefasst wurden. Wenn ein Arnos etwa in der geschichtlichen Stunde um 750 v.Chr. den fetten Basanskühen in Samaria, d.h. den vornehmen Damen der Oberschicht, das nahe Gericht ansagt oder wenn ein Paulus aus dem Gefängnis heraus an seine Gemeinde in Korinth oder Philippi schreibt, um in die dort aktuellen Streitigvoneinander abweichen. Einerseits betrifft das die sieben Bücher der sog. Apokryphen sowie einige Zusätze, andererseits Schriften wie der Äthio- »Die eine sacra scriptura gibt es nur in der konfessionellen Binnenperspektive.<< keiten einzugreifen, dann stellt sich die Frage: Wieso sollten diese Gelegenheitsschriften als heute normativ pische Henoch oder der Hirt des Hermas und die Didache. Bis in die Gegenwart hinein ist der Umfang des Kanons eine Frage der Konfession und der Region. Dabei geht es nicht um minimale Differenzen an den Rändern, sondern um erhebliche inhaltliche und umfangsmäßige Varianten. Die eine sacra scriptura gibt es nur in der konfessionellen Binnenperspektive. Die ökumenische Weite des Blickes öffnet die Augen für die Tatsache, dass es sacrae scripturae gibt, die jeweils nicht unerheb- 52 anerkannt werden? In welchem Sinne sind die Texte überhaupt normativ? Kann ein Weisheitsspruch oder eine Erzählung überhaupt »verbindlich« sein? II. Ansätze zur Lösung der Probleme Um es vorweg zu sagen: Wir wissen nicht sicher, wie, wo und warum der Kanon (bzw. die verschiedenen Kanones) entstanden sind. Das Problem ZNT 12 (6. Jg. 2003) Manfred Oeming Das Hervorwachsen des Verbindlichen aus der Geschichte des Gottesvolkes Manfred.Oeming Prof. Dr. Manfred Oeming, Jahrgang 1955, studierte Eva11gelische Theologie, Theologie, Philosophie und Pidagogik von 1.975 bis 19.80 in Wuppertal, Saarbrücken und Bonn. Promotion 1984, Habilitation 1989 in Bonn, von 1989 bis 1991 Pfarrer in Bonn: Von 1993-% Professor für Altes testament und Antikes Judentum an der Universität Osnabrück, seit 1996 Ordinarius für .alttestamentliche Theologie an der Universität Heidelberg, seit 2002 Prorektor der Hochschule für jüdische Studien in Heidelberg. Derzeitige Forschungsschwerpunkte: Ge~ schichtsschreibung in· Israel, Psalmen; Hiob, zwischentestamentliche Literatur, jüdisch~ .christlicher Dialog, Diverse Veröffentlichungen (www.uni-heidelberg.de/ institute/ fak1/ pi; rsonalpages/ oeming.html). · gleicht einem Kriminalfall, bei dem man aufgrund von Indizien einen einigermaßen plausiblen Tathergang rekonstruieren und den Täter bzw. die Täter ermitteln muss. Dabei ist zunächst klar festzustellen: Während man früher vielfach glaubte, die Schrift sei von Gott den verbalinspirierten Autoder eine dreistufige Entstehung annimmt: Zunächst sei der Pentateuch kanonisiert worden (ca. 400 v.Chr.); analog sei auch die Prophetie abgeschlossen worden (ca. 200 v.), bis schließlich auch die Schriften um 100 v. zu einem Ende gekommen seien. Die Entstehung der hebräischen Bibel bzw. von deren griechischen Übersetzungen wird in der Religion der ersten Christen als abgeschlossen vorausgesetzt (»he graphe eipen«). Dieses Modell mag Hauptschübe richtig festhalten, ist m.E. aber noch zu schematisch. Der Kanon war länger offen, auch der Pentateuch. Die Vorgänge sind stärker synchron verlaufen, wobei drei Phasen allgemein vorauszusetzen sind: A) erste Verschriftungen; B) über eine längere Zeit laufende Fortschreibungsprozesse (» kanonischer Prozess«) C) eine Phase der systematischen Abschließung (»Kanonisierung«). A) Wo liegen die ersten Anfänge der Verschriftung? In welchen gesellschaftlichen Kontexten kann die Idee entstanden sein, einen bis in den Buchstabenbestand hinein verbindlich fixierten Text zu erstellen? In der Forschung werden zumeist von modernen Analogien her gedacht mehrere Quellorte der Kanonidee erwogen: Chronologisch am weitesten zurück reicht die Annahme, dass schon in der Phase der Oralität, also in Israel noch in vorstaatlicher Zeit zwischen 1200 und 1000 v.Chr., ein normierter Text entstanden sei. Solche Textnormierungen sind im Kult gut vorstellbar, wo rituell geprägte Texte im Kontext von Feiern exakt reproduziert werden mussten. Man hat aber auch an den Bereich des Rechts gedacht. Bei Gericht brauchte man verbindliche Rechtssätze, die eine verlässliche Grundlage für Entscheidungen boten. Von ethnoren sozusagen »in die Feder diktiert« worden (vgl. 2Tim 3,16: päsa graphe theopneustos), hat man sich in der Bibelwissenschaft der letzten 200 Jahre von dieser Vorstel- » Wir wzssen nicht sicher, 'lVie, . wo und warum, de.rKdnDn. (bzw; die versthiedenep . logisch erhobenen Analogien her hat man einen Stand der Erzähler vermutet, die mit »professioneller« Präzision die Sagen und Legenden der Frühzeit an den Lagerfeuern Kanones)· e~tstanden' .sind,« lung verabschiedet und in kritischer Untersuchung erkannt, dass eine große Fülle von Faktoren zur Entstehung des Kanons beigetragen haben müssen. An die Stelle eines simplen Modells ist eine komplexe Geschichte getreten. 1 Zur Entstehung des alttestamentlichen Kanons Sehr einflussreich ist das Modell von O.H. Steck, ZNT 12 (6. Jg. 2003) oder auf den Marktplätzen erzählten und wortgetreu ihren Schülern weitergaben. Möglich ist auch, dass bestimmte Autoren als besondere Autoritäten angesehen wurden (oder werden wollten), so dass sich ihre Jünger bemühten, die Worte der Meister möglichst genau zu überliefern (etwa der paradigmatische Weisheitslehrer König Salomo oder der Psalmendichter David). Im Umkreis der Prophetenzirkel könnte als zusätzliches Mo- 53 tiv für die Sicherung der Botschaft in schriftlicher Form die Verfolgung der häufig unbequemen Unheilspredigt durch staatliche Instanzen hinzugekommen sein (vgl. Jes 8; Jer 36). Wieder ein anderer Erklärungsversuch geht vom Phänomen eines Curriculums in der Schule aus, d.h. von der etwa in Ägypten quellenmäßig gut bezeugten Tatsache, dass der Inhalt des Schulwissens, der »klassische Abiturstoff« über viele Jahrhunderte, ja J ahrtausende erstaunlich konstant blieb. Eine weitere Textsicherungsinstanz könnte der Königshof gewesen sein. Ein literarisch bezeugtes Beispiel ist der assyrische König Assurbanipal (ca. 668-631 v.Chr.). Der gelehrte, schöngeistige und ursprünglich für eine Priesterkarriere ausgebildete Monarch schreibt von sich selbst, dass er »die in geordneten Keilschriftzeichen niedergelegte Weisheit des (Schreibergottes) Nebo« auf die Tafeln geschrieben, den Text geprüft und verglichen, und die Dokumente schließlich in seinem Palast deponiert habe, damit er sie »ansehen und immer wieder lesen könne«. 1 Diese staatlich geförderte systematische Textvergleichung und Archivierung kommt einer Kanonisierung sehr nahe. Die in jedem Fall weit vorexilischen, z.T. wohl sogar vorstaatlichen protokanonischen Anfänge werden in der neueren Forschung stark bezweifelt, m.E. nicht gerade mit guten Argumenten. Mir scheint es nach wie vor äußerst plausibel, dass sich in Israel wie in seiner Umwelt auch recht früh Texte herausbildeten, die einen herausgehobenen Status hatten, weil sie das Selbstverständnis des Volkes prägten. Heilige Texte waren I dentity-Marker. B) Zum kanonischen Prozess: Die im Grundbeliebtheit der Texte beim Volk ein bestimmender Faktor gewesen sein. Dass der Rezeption auch eine Filterfunktion zukommt, hat die neuere Hermeneutik nachdrücklich herausgestellt (Gadamer). Nur das Beste, das über Generationen hinweg Eindruck zu machen in der Lage war, »kam durch«. M.E. muss man an den mannigfachen Orten der Textüberlieferung (wie Torgerichtsbarkeit, Tempel, Palast, Jüngerzirkel, Weisheitsschulen, Volksfeste) mit jeweils eigenen Entwicklungen rechnen. Der Vorgang der Herausbildung heiliger Texte ist also zunächst lokal und temporal begrenzt. Dennoch ist die Entstehung des Kanons nicht zufällig oder gar beliebig. Der Kanon ist nicht Ausdruck der kontingenten Machtverhältnisse, sondern im kanonischen Prozess waltet eine schwer zu durchschauende, im Ergebnis aber erstaunlich sinnvolle Logik. Erst im Laufe einer längeren Geschichte setzen sich die besten Traditionen immer weiter durch und gewinnen so an Wertigkeit und Verbreitung. Dieser bunte und vielgestaltige Produktions- und Rezeptionsprozess ist in den Details kaum mehr rekonstruierbar. Er trägt Züge einer Koproduktion von vielen Angehörigen eines Volkes. In seiner Summe hat er ein (unbewusst) demokratisches Element. Der Grundtextschatz ist Volkseigentum, an dem zahlreiche, nur zum geringsten Teil erkennbare Individuen gewirkt haben. C) Zur Phase der Textfixierung: Große Wahrscheinlichkeit hat die These, dass die Idee des Textabschlusses aus einer bestimmten Theologenschule stammt, deren Hauptwerk das fünfte Buch Mose ist und die man daher »deuteronomistische Bewegung« nennt und um 550 stand niedergelegten Texte erlebten im Zusammenhang ihrer über Jahrhunderte erfolgten handschriftlichen Tradierung zahlreiche Anreicherungen. Ihre Pflege und »Entwicklung« wurde von verschiedenen Gruppen getragen.Je nach literarischer Gattung vollzog sich diese »Fortschreibung« und »Gerinnung« in unterschiedlichen »Mfrscheint es nach wie vor äußerst plausibel, dass sich in lsr: aelwie in seiner Umwelt v.Chr. ff. ansetzt. Diese habe zur Durchsetzung eines national-politisch, sozial-religiösen Erneuerungsprogramms den Gedanken aufgebracht, dass das eine Volk Israel zur angemessenen Verehrung seines einen Gottes JHWH an einem auserwählten heiligen Ort eine verbindliche Schrift brauche. auch.rechtfrüh Texte herausbildeten, die einen herausgehobenen Status hatten, weil sie das Selbstverständnis des Volkes prägten. Heilige Texte waren ldentity'--Marker.« Dtn 4,2 lautet: Trägerkreisen. Man darf die Entwicklungen nicht nur bei Eliten der Oberschicht (König, Beamte, Priester, Propheten, Weise) ansetzen. Vielmehr dürfte auch die kritische Rezeption, d.h. die Be- Ihr sollt nichts dazutun zu dem, was ich euch gebiete, und sollt auch nichts davon tun, auf dass ihr bewahren möget die Gebote des Herrn, die ich euch gebiete. 54 ZNT 12 (6.Jg. 2003) Manfred Oeming Das Hervorwachsen des Verbindlichen aus der Geschichte des Gottesvolkes Der Vers muss in Zusammenhang gesehen werden mit Dtn 13,1: Jedes Wort, das ich euch befehle, sollt ihr bewahren, es zu tun, nicht sollst du zu ihm hinzufügen und nicht sollst du von ihm wegnehmen. Wir hätten es wenn die These stimmt mit einer Schrift zu tun, die schon im Bewusstsein abgefasst wurde, Heilige Schrift und ewige Ordnung für alle Zukunft zu sein. Die Kanonbildung ist Folge der fundamentalen Krise und Instrument zu deren Überwindung. Der Untergang des Staates, die Zerstörung der Paläste, des Tempels, der Schulen, die Deportation der Eliten nach Babylon haben dazu geführt, dass man systematisch zusammengetragen hat, was jetzt noch zählt. Die Herausbildung der Heiligen Schrift wäre so gesehen der Versuch, den Untergang Israels aufzuhalten; die Heilige Schrift ist der rettende Anker, an dem die Zukunft Israels hängt. Eine starke Gruppe von Alttestamentlern vertritt allerdings die Auffassung, dass der Kanon in den Zusammenhang des nachexilischen Wiederaufbaus Israels gehöre. Das Hauptunterscheidungsmerkmal zwischen dem vorexilischen und dem nachexilischen Israel erblicken sie in der Verwandlung der Kultreligion in die Buchreligion. Die radikale, nahezu vertraglich vereinbarte Treue zum Buchstaben gilt als das Hauptkennzeichen der nachstaatlichen jüdischen Frömmigkeit (vgl. z.B. Neh 10,30: »Sie sollen sich ihren Brüdern, den Mächtigen unter ihnen, anschließen und der Abmachung beitreten und sich mit einem Eid verpflichten, zu wandeln im Gesetz Gottes, das durch Mose, den Knecht Gottes, gegeben ist, und alle Gebote, Rechte und Satzungen des HERRN, unseres Herrschers, zu halten und zu tun.«). Diese neuartige Form der jüdischen Religionslehre ergibt sich dadurch, dass Israel den Verlust seiner Eigenstaatlichkeit als Strafe Jahwes für seine Übertretungen des Gesetzes interpretierte und sich deshalb nahezu ängstlich darum mühte, in Zukunft das Gesetz möglichst genau zu beachten und die Forderungen Gottes exakt zu erfüllen. Bei der Kanonisierung geht es nicht um Bewahrung des Gewesenen, sondern um Bewältigung des Zukünftigen. Nicht Konservierung der Tradition, sondern programmatische Eröffnung von Wegen ins Futurum ist die Funktion der Kanonisierung (Schüle). ZNT 12 (6. Jg. 2003) In den letzten 15 Jahren ist als neue These die sogenannte »persische Reichsautorisation« diskutiert worden. Lokale Rechtstexte sind danach von der Zentralverwaltung in Persepolis bzw. Susa als verbindliches Reichsrecht sanktioniert worden. Dieses Modell besagt, dass durch Druck von außen der kanonische Prozess abgebrochen werden musste, was wenig überzeugend ist. Einerseits ist es durch die Quellen kaum gedeckt: in den angeführten Analogiefällen wurde die Reichsregierung von den Regionen ersucht, bestimmte Rechtsunklarheiten zu regeln, niemals umgekehrt. Zudem hat die Vorstellung antijüdische Implikationen: die Tora als abgebrochenes Flickwerk? In der Zeit von 400 v. bis 200 n.Chr. hat sich an verschiedenen Orten der jüdischen Ökumene ein Schriftenbestand herausgebildet, von dem der Pentateuch unbestritten als Heilige Schrift anerkannt war, andere Texte aber gruppenspezifisch umstritten blieben. So haben z.B. die Samaritaner die Propheten und Schriften nicht mehr bzw. noch nicht als kanonisch anerkannt. Die Textfunde von Qumran bezeugen, dass nahezu alle biblischen Bücher (außer Esther) vorhanden waren, dass sehr umfangreiche Textpartien dem heutigen Text entsprechen, aber auch, dass man noch die Freiheit hatte, Texte zu verändern bzw. neue Bücher hinzuzufügen. Die Tempelrolle war wohl als »sechstes Buch Mose« gedacht, mit welchen eine bestimmte Partei ihren Anspruch auf die Herrschaft im J erusalemer Tempel durchdrücken wollte. Zudem gibt es keine erkennbaren Indizien für eine feste Abfolge der Rollen. Relativ sicher ist, dass der Untergang des Tempels und die Neukonstituierung des Judentums nach 70 n.Chr. unter der Führung der Pharisäer mit dem Zentrum im Jamnia zur Fixierung der Texte Erhebliches beitrug. Allerdings ist die Vorstellung einer »Synode von Jamnia« als anachronistische Rückprojektion aus der Zeit der Großkirche überholt (vgl. z.B. Stemberger). Die letzten Fixierungen datieren ins frühe Mittelalter und wurden von gelehrten Schreiberfamilien vorgenommen. 2 Zur Entstehung des neutestamentlichen Kanons Die Genese des neutestamentlichen Kanons ist bei allen Unterschieden im Detail nach der gleichen 55 inneren Logik abgelaufen wie die gerade umrissene des alttestamentlichen Kanons, freilich im »Zeitraffertempo«: Zunächst gab es eine Phase von ca. 40 Jahren der mündlichen Tradierung von Jesuslogien und -erzählungen sowie von wichtigen Vorgängen in der ersten Christenheit. Dabei scheint mir das Maß, wieweit man theologische Einzelstimmen erkennen kann, sehr viel geringer zu sein, als Kollege Klinghardt es annimmt. Welches Logion auf welche Gemeinde zurückgeht grundsätzlich und zeitübergreifend das Evangelium entfalten will. Aber auch in den situativen Kontexten entfaltet Paulus eine so fundamentale Reflexion über die Bedeutung des Sterbens und Auferstehens J esu, dass seine »Gelegenheitsschriften«, die an unterschiedliche Adressaten gesandt wurden, zwischen den Gemeinden ausgetauscht wurden und den Weg in die gottesdienstliche und katechetische Verwendung fanden. Die innergemeindliche Kommunikation führte nach der Aus- (Jerusalem, Samaria, Antiochien, Kleinasien oder Alexandrien sind alle mögliche Kandidaten), ist m.E. nicht mehr aufklärbar. Bei ihrem Weg von Predigt zu Predigt, von Gemeindezusammenkunft zu Gemeindezusam- »Dabei scheint mir das Maß, wieweit man theologische Einzelstimmen erkennen kann, sehr viel geringer zu sein, als KollegeKlinghardt bildung lokaler Teilsammlungen zu einer allmählichen Ausbreitung und Akzeptierung durch die immer größer werdende Kirche. Vielleicht ist dabei aber auch die eine oder andere Interpolation in die Paulus-Texte geraten, was es annimmt.« menkunft haben das Spruchgut wie auch die Erzählungen vielfache Übermalungen und Einfärbungen erhalten. So ist auch der heutige Evangelienstoff mit einem hohen Anteil anonymer Produktionen durchwoben. Ab ca. 70 n.Chr. wurden diese Überlieferungen verschriftet, wobei »Markus« eine gewisse normierende Kraft inne wohnte. Welche Person oder Gruppe sich hinter diesem Namen verbirgt, wissen wir aber nicht wirklich; das Evangelium selbst lässt es ja auch offen. Die beiden anderen Synoptiker ( oder die Kreise, die hinter den Namen stehen) scheuten sich aber in den Jahren zwischen 80 bis 90 n.Chr. noch nicht, ihre Fortschreibungen, Umakzentuierungen und Korrekturen einzubringen. Der Evangelist Johannes und der dahinter stehende johanneische Kreis unterzogen den Stoff soweit sie nicht schon andere Quellen verarbeiteten einer nochmaligen radikalen Neuinterpretation und U mformulierung. Das verblüffende Phänomen besteht darin, dass keines der vier Evangelien das andere völlig verdrängte, sondern dass die Gemeinden zu einer solchen Akzeptanz der jeweils anderen Deutungen fanden und alle vier Konzeptionen neben und miteinander zu einem Kanon verbanden. Schon aus der Zeit vor der Verschriftung der Überlieferungen über Jesus sind Dokumente erhalten, die der Apostel Paulus ab ca. 53 n.Chr. als Briefe an verschiedene Gemeinden gesandt hat; wobei der Römerbrief weniger auf konkrete Probleme der römischen Gemeinde einzugehen scheint als vielmehr in der Art einer Dogmatik 56 z.B. für 1Kor 14,33H. öfters angenommen wird. In der dritten Generation der Urchristenheit traten dann aber drei Phänomene auf, die m.E. entscheidend zum Gedanken führten, dass man den Kanon definitiv abschließen muss: a) Das Auftreten von Irrlehrern nötigte zur Festlegung des wirklich Verbindlichen. Hier sind v.a. die N omisten und die Gnostiker zu nennen, die im Namen Jesu Christi auftraten, aber ganz andere Lehren verbreiteten als Jesus und die Urgemeinden, etwa die buchstäblich genaue Befolgung der Tara oder umgekehrt die absolute Freiheit von irgendwelchen Bindungen. b) Das Auftreten von Pseudepigraphen, d.h. von Schriften, die unter falschem Namen herausgegeben wurden, setzte die Gemeinden unter Druck. c) Der römische Reeder Marcion hat um 150 n.Chr. den Gedanken aufgebracht, man müsse eine Auswahl aus dem angewachsenen Schrifttum treffen, die das Wesentliche der Lehre Jesu festhält. Marcion wollte insbesondere das Alte Testament abschaffen, das er für das Zeugnis eines anderen Gottes als des Vaters Jesu Christi hielt. Es tauchen in der Literatur Listen auf, die explizit aufzählen, welche Schriften zur Heiligen Schrift dazugehören sollen und welche nicht. Eine endgültige Festlegung erfolgte erst im Osterbrief des Athanasius im Jahre 368 n.Chr., wobei wir aber auch nicht wissen, wieweit er damit erfolgreich war. Eine wirkliche Fixierung des Wortlautes ist ohnehin erst im Zeitalter des Buchdrucks durchsetzbar geworden. ZNT 12 (6.Jg. 2003) Manfred Oeming Das Hervorwachsen des Verbindlichen aus der Geschichte des Gottesvolkes (Anmerkungsweise sei erwähnt, dass der kanonische Gerinnungsprozess im 4. Jh. n.Chr. immer noch kein Ende erreicht hatte. Im 16. Jh. hat Martin Luther durch seine Kreuzung aus hebräischem Umfang (daran lag ihm als humanistischem Philologen) mit griechischer Abfolge (daran lag ihm aus theologischen Gründen, weil die LXX die elle Leistung gelten, sondern muss für das AT als das Ergebnis eines viele Jahrhunderte langen Erschließungs-, Deutungs- und Selektionsprozesses begriffen werden. Für das NT ist ein weitgehend analoger Prozess von knapp 100 Jahren anzunehmen, der nicht durch das Wirken einer Person zu einem Abschluss gebracht werden konnte. Wer »An der so langwierigen Entstehung des biblischen Kanons haben sehr viele Menschen prophetische Gesamtdeutung der Schrift propagiert) eine Kanonform kreiert, die es bis dahin noch nicht gab. Im Gegenzug verfiel die katholische Kirche auf den abstrusen Gemitgewirkt, deren Namen wir größtenteils nicht kennen.« sollte das sein? Welche Machtmittel hatte er, um andere Texte auszuschließen oder gegen Widerstand seine Auswahl durchzusetzen? Das NT ist höchstens zur Hälfte danken, eine lateinische Übersetzung aus dem 4. Jh. n.Chr. zur kanonischen Grundlage für alle Fragen des Glaubens und der Sitten zu machen. Damit war der Kanonprozess immer noch nicht abgeschlossen. Die Aufklärung brachte im 18. und 19. Jh. den Gedanken zur Blüte, dass sich jedes autonome Subjekt seinen Kanon selber machen könne und solle, so dass wie selbstverständlich nicht die ganze Biblia als kanonisch gelten durfte, sondern nur ein jeweils konfessionell begründeter Ausschnitt. Die Postmoderne des 21. Jhs. meinte den Gedanken an den Kanon begraben zu haben, er ersteht aber mit neuer Macht wieder auf. III. Fazit in neun Thesen 1. Der kanonische Prozess, der produktiv immer neue »eminente Literatur« hervorbrachte, erstreckte sich mit unterschiedlicher Intensität der Kreativität von seinen mündlichen Anfängen bis hin zu »der Bibel« über 1500 Jahre. 2. Der Prozess der Kanonisierung, der den exakten Wortlaut der Bücher, ihre Zahl und die Abfolge fixierte, ist ebenfalls über einen längeren Zeitraum von mehreren Jahrhunderten verlaufen. Autorenliteratur (Paulus und z.T. Jesus), zur anderen Hälfte Traditionsliteratur. Die von M. Klinghardt in Fortführung von D. Trobisch vorgeschlagene Annahme eines genialen Editors ist im jetzigen Begründungszustand eine zumindest sehr gewagte Hypothese. Mit Bildern aus der Kriminalistik gesprochen: Auf der Basis wenig zwingender Indizien haben hier »Profiler« einen Täter dingfest gemacht, den es vermutlich gar nicht gibt. 5. Gewiss gaben einzelne religiöse »Genies« (Offenbarungsempfänger) entscheidende Initialzündungen, aber ihre Grundeinsichten werden von sehr vielen anonymen Theologen fortgeschrieben, umgeschrieben und in einem größeren Ganzen eingeordnet. 6. Im 19. Jahrhundert sah man unter dem Einfluss eines Geniekultes noch Individuen oder kleine Kreise von Eliten bei der Kanonbildung am Werke. Die Einsicht in die Nichtrekonstruierbarkeit der vielfädigen Kanonentstehung zwingt dazu, sich von solchem individualistischen Denken zu lösen und die Entstehung des Kanons zumindest tendenziell stärker »demokratisch« zu denken. Der Gebrauch oder Nicht-Gebrauch in den unendlich vielen Gottesdiensten der Ö kumene mit Lesungen und Predigten entschied über » Der Kanon übt in einen bestimmten Den.kstilein (vgl. Welker).' dialogisch, diskursiv, plural, mit Gegensätzen kanonisch oder nicht-kanonisch sehr erheblich mit. 3. An der so langwierigen Entstehung des biblischen Kanons haben sehr viele Menschen mitgewirkt, deren Namen wir größtenteils nicht kennen. Treibende Kräfte wavertraut.« · 7. Der Kanon übt eine starke Identifikationsfunktion aus: »Sage mir, welche Bücher dir heilig sind, und ich sage dir, wer du bist.« ren u.a. Könige, Propheten, Priester, Weise, Erzähler, Prediger, Rechtsgelehrte und viele andere Anonymi mehr. 4. Der Kanon kann daher keinesfalls als individu- ZNT 12 (6. Jg. 2003) 8. Der Kanon sorgt für eine Handlungsorientierung der Gruppenmitglieder. Der Kanon schafft ein ethisches (und kultisches) Gruppenprofil. 57 »Becoming Canon and becoming church go hand in hand.« 2 9. Bleibt zum Schluss die Frage: Warum brauchen wir überhaupt noch einen Kanon? Ergibt sich die postmoderne Kritik am Kanon nicht aus der Einsicht in den vielschichtigen Entstehungsprozess des Kanons wie von selbst? Nein! Der Kanon übt in einen bestimmten Denkstil ein (vgl. Welker): dialogisch, diskursiv, plural, mit Gegensätzen vertraut. Dass sich dies in der Kirche imponiert hat, ist Wirkung des Heiligen Geistes, der wohl weiß, was das Volk Gottes braucht. Anmerkungen 1 Vgl. H. Schmökl, Ur, Assur und Babylon, '1962, 97f. 2 P. Ricoeur, The Canon between Text and Community, in: Pokorny / Roskovec, J. (Hrsg.), Philosophical Hermeneutics and Biblical Exegesis (WUNT 153), Tübingen 2002, 7-28; hier: 16. Literaturhinweise für die Weiterarbeit Budde, A., Der Abschluß des alttestamentlichen Kanons und seine Bedeutung für die kanonische Schriftauslegung, Biblische Notizen 87 (1997), 39-55. Dohmen, Ch./ Oeming, M., Biblischer Kanon warum und wozu? (Quaestiones Disputatae 137), Freiburg u.a. 1993. Markschies, Ch., Neue Forschungen zur Kanonisierung des Neuen Testaments, Apocrypha 12 (2001), 237-262. Mühlenberg, E., Scriptura non est autentica sine authoritate ecclesiae Qohannes Eck). Vorstellungen von der Entstehung des Kanons in der Kontroverse um das reformatorische Schriftprinzip, Zeitschrift für Theologie und Kirche 97 (2000), 183-209. Oeming, M., Verstehen und Glauben. Exegetische Bausteine zu einer Theologie des Alten Testaments (Bonner Biblische Beiträge), Berlin 2003, darin bes. »Du sollst nichts hinzufügen und nichts wegnehmen« (Dtn 13,1)- Altorientalische Ursprünge und biblische Funktionen der sogenannten Kanonformel, 121-138; »Du sollst nicht abweichen weder zur Rechten noch zur Linken! « (Dtn 17, 11 ). Erwägungen zu Struktur und Geschichte einer alttestamentlichen Formel, 139-152. Ricoeur, P., The Canon between Text and Community, in: Pokorny, P. / Roskovec, J. (Hrsg.), Philosophical Hermeneutics and Biblical Exegesis (WUNT 153), Tübingen 2002, 7-28. Trobisch, D., Die Endredaktion des Neuen Testaments. Eine Untersuchung zur Entstehung der christlichen Bibel (NTOA 31), Göttingen/ Fribourg 1986. Schüle, A., Israels Sohn - Jahwes Prophet. Ein Versuch zum Verhältnis von kanonischer Theologie und Religionsgeschichte anhand der Bileam-Perikope (Num 22- 24) (Altes Testament und Modeme 17), Münster 2001. Seckler, M., Über die Problematik des biblischen Kanons und die Bedeutung seiner Wiederentdeckung, Theologische Quartalschrift 180 (2000), 30-53. Stemberger, G. u.a. (Hrsg.), Der Kanon, Jahrbuch für Biblische Theologie 3 (1986) mit zahlreichen Beiträgen aus unterschiedlichen Disziplinen. Welker, M., Das vierfache Gewicht der Schrift. Die missverständliche Rede vom »Schriftprinzip« und die Programmformel »Biblischer Theologie«, in: D. Hiller / Ch. Kress (Hrsg.), »dass Gott eine große Barmherzigkeit habe«. Konkrete Theologie in der Verschränkung von Glauben und Leben (FS G. Schneider-Flume), Leipzig 2001, 9-27. Ziegenaus, A., Kanon. Von der Väterzeit bis zur Gegenwart (Handbuch der Dogmengeschichte 1/ 32), Freibug u.a. 1990. Skizze zur Geschichte des biblischen Kanons bzw. der biblischen Kanones Entstehung AT (ca. 1000 Jahre) Entstehung NT (ca, 100 Jahre) Kanon in der Neuzeit 1200 - 1000 1000 -100 700 - 100 450 v. -200 Ab ca. 50 - 100 100 - 368 16. Jh. Gegenwart v. Chr. v. Chr. v Chr. n. Chr. n. Chr n. Chr. n. Chr. ----- -----~ --------1-------------- Mündliche Sukzessive Zeit des kanoni- Übergang vom Phase der Erstverschrifsehen Prozesses, kanonischen »Texte« z.B. tungen der d.h. Phase der Prozess zur im Torgeersten kürze- Fortschreibun- Kanonisierung, richt, in den ren und längen der Texte in d.h. allmähliche Heiligtügeren Texte unterschiedli- Fixierung des mern, an den (Erzählunchen Tradenten- Textes, Erstel- Lagerfeuern gen, Gesetze, gruppen, anolung eines un- Weisheitsnyme Glaubensveränderbaren sprüche, Liegemeinschaften Buchstabender), Orte der nutzten die bestandes; Pflege u.a. Texte und aktu- Arrangement Gerichte, alisierten sie. von festen Heiligtümer, Die »Ge- Buchabfolgen: Königshof, brauchsspuren« LXX, MT. »Schulen«, lassen sich z.T. Jüngerzirkel. klar erkennen. 58 J\us der mündlichen Durchsetzung von Luther (Biblia Postbiblisches Uberlieferung von und Textformen in be- Deutsch 1539). kre- Zeitalter? Postmoüber Jesus und die stimmten Teilen der iert in seiner Uber- <lerne Patchworkersten christlichen Kirche, allmählicher setzung einen neuen Religon; Warum Gemeinden entstehen Abschluss und Kanon: Umfang sollten wir heute die Schriften des NT's, svstematische Text- Hebräische, unser Denken die in verschiedenen hxierung. Es gab ke1- Anordnung der durch eine vorge- Gemeinden kursieren. nen formlichen Kon- Bücher griechische gebene alte Text- Aus der Gewohnheit zilsbeschluss, sondern Bibeltradition. sammlung leiten und v.a. dem gottes- »Gewohnheitsrecht«! Konzil von Trient lassen? Welche dienstlichen Gebrauch Umstritten ist die (1545-1563) Bedeutung hat es, heraus wächst der Frage, wieweit eine »heiligt« Vulgata. wenn wir immer Kanon der Urchristen Einzelperson, ein wieder vom Kanon an mehreren Orten. genialer Theologe, Neue Kanonforher Probleme lösen Gefahr durch gnostiformativ sein konnte. men, »Kanon im wollen? Es sichert sehe und nomistische Initiator Marcion? Kanon«, Kritik der Komplexität des Irrlehrer erfordert Interesse des Staates Begrenzung, auf- Denkens, Pluralität Zensur durch Fixiean fester Ordnung als geklärte Freiheit der Zugänge zu rung der Paradosis. römische Reichsvom Kanon. Gott und einen autorisation. multifaktoriellen Denkstil. © Prof. Dr. Manfred Oeming ZNT 12 (6. Jg. 2003)