ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
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2003
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Dronsch Strecker VogelDie Veröffentlichung der christlichen Bibel und der Kanon
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2003
Matthias Klinghardt
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Matthias Klinghardt Die Veröffentlichung der christlichen Bibel und der Kanon Für die Frage nach der Entstehung und Bedeutung des Kanons ist es sinnvoll, vorab das Unstrittige festzuhalten. So besteht Einigkeit darüber, dass »Kanon« eine wirkungsgeschichtliche Größe ist: Der biblische Kanon erlangt seine Autorität durch die faktische Nutzung und Rezeption ein länger andauernder Prozess, an dessen Ende die »kanonische Geltung«, d.h. die allgemeine Anerkennung steht. Tatsächlich hat es in der Alten Kirche auch keine Instanz gegeben, die eine verbindliche Schriftgrundlage festgeschrieben hat. 1 Ebenfalls unstrittig dürfte die hermeneutische Einsicht sein, dass ohne einen wie immer gearteten Referenzrahmen Verstehen nicht möglich ist, und dass vorsichtig formuliert der Kanon der christlichen Bibel ein naheliegender Rahmen für das Verständnis der biblischen Texte ist. 1. Warum die klassische Theorie nicht funktioniert Vorsichtige Formulierung ist angebracht, denn hier beginnt der Dissens: Wenn der biblische Kanon den Referenzrahmen für das Verständnis der Einzeltexte bildet, dann ist von entscheidender Bedeutung, wie er zustannach außen (Harnack; von Campenhausen) als geeignet erwiesen hatten, in die Sammlung »aufgenommen«, während andere, ungeeignete ausgesondert und »abgelehnt« wurden. Am Ende habe mit der christlichen Bibel ein autoritativer, durch »soziale Inspiration« legitimierter biblischer Kanon vorgelegen. Die Anonymität dieses Vorgangs dient dabei als Legitimitätsnachweis: Wenn keine Einzelstimme (Bischof, Synode, Konzil) diesen Prozess entscheidend geprägt hat, dann war es eben die Kirche als Ganze bzw. umgekehrt: das Wort Gottes hat sich im Kanon selbst durchgesetzt und der Geist Gottes hat in komplexen Zusammenhängen gewirkt. Indes: Die Gretchenfrage für jede Theorie zum Zustandekommen der kanonischen Sammlung der Bibel stellt sich nicht angesichts der wichtigen oder der umstrittenen, sondern angesichts der unbedeutenden Schriften. Paradebeispiel ist der 3. Johannesbrief: Wie soll man sich eine jahrzehntelange, intensive liturgische Rezeption dieses Briefes vorstellen, die zu seiner Kanonisierung geführt hätte, während gehaltvolle Texte wie die Didache oder das Thomasevangelium »es nicht in den Kanon geschafft« haben? Oder: Lässt sich eine Häresie oder Gruppierung denken, von der sich die entstehende Großkirche durch de gekommen ist und worauf sich dementsprechend sein Anspruch als Deutungsrahmen begründet. Die klassischen Arbeiten zur Geschichte des Kanons' behaupten, dass die Sammlung kanonischer Schriften in einem ano- »Die christliche Bib.el ist nicht in einem langen Sammlungs- und Selektionsprozess zusammengewachsen, sondern in einem redaktionellen Akt gerade diesen Brief hätte abgrenzen wollen? Beides ist absurd, und so scheitern die klassischen Kanonmodelle am 3Joh. Ich setze daher dagegen die These: Die christliche Bibel ist nicht in einem langen produziert worden.« nymen, ungesteuerten Prozess der Selbstdurchsetzung entstanden sei: Über mehrere Jahrzehnte hinweg seien Schriften, die sich entweder durch dauerhaften liturgischen Gebrauch (Zahn) oder aus dogmatischen Gründen der kirchlichen Selbstdefinition und Abgrenzung ZNT 12 (6. Jg. 2003) Sammlungs- und Selektionsprozess zusammengewachsen, sondern in einem redaktionellen Akt produziert worden. Nicht »soziale Inspiration« bindet ihre Einzelteile zusammen, sondern das redaktionelle Konzept des Herausgebers. 59 Matthias.Klinghardt Prof. Dr. Matthias Klinghardt, Jahrgang 1957, 1986 Promotion und 1993 Habilitation {Neues Testament) in Heidelberg, 1988/ 89 Rice University, Houston (ix), 1989 bis 1998 Assistent an der Universität Augsburg, seit 1998 Professor für Biblische Theologie an der TU Dresden. 2. Alternative Theorie: Endredaktion und Publikation der Bibel Diese These ist nicht neu, aber bisher kaum rezipiert. Sie geht zurück auf Da- Redaktion enthalten die Teilsammlungen (Evangelien; Paulus; Praxapostolos; Offenbarung) immer dieselben Schriften in immer derselben Reihenfolge. Die Kontrollfrage lautet: Wie sollten unterschiedliche Herausgeber ausnahmelos! darauf verfallen, die Apostelgeschichte nicht zum Lukasevangelium zu stellen? Oder: Wie kämen sie darauf, den Hebräerbrief immer unter die Paulusbriefe aufzunehmen? Die These besagt daher: Da alle erhaltenen Handschriften des NT denselben Umfang (27 Schriften) in derselben Reihenfolge (innerhalb der Teilsammlungen) repräsentieren, dann verweist das zwingend auf eine einzige Ausgabe. Ein weiterer, schwer zu widerlegender Beweis ist die Gestaltung der Titel der Schriften: Einerseits können sie nicht auf die Verfasser der Schriften selbst zurückgehen, andererseits sind sie in den Handschriften immer identisch bezeugt und innerhalb der Sammlungseinheiten formal einheitlich gestaltet. Auch hier zeigt sich die ordnende und vereinheitlichende Hand der Endredaktion. Das heißt: Es gibt in der handschriftlichen Überlieferung nicht die Spur eines Hinweises darauf, dass es jemals ein NT in vid Trobisch, 3 dessen Argumentation hier kurz nachzuzeichnen ist. Anders als bei der klassischen Kanonsgeschichte setzt Trobisch nicht bei der indirekten Bezeugung des NT durch die patristische Literatur an, sondern bei den » Es gibt in .der handschriftanderer als der kanonisch gewordenen Gestalt gegeben hat.4 Die behauptete »Pluralität der Bibelumfänge« (mit oder ohne Apokryphen; Stellung von Jak und Hebr) ist ein sehr! spätes Phänolichen Überlieferung nicht die Spur eines Hinweises darauf, dass es jemals ein NT in anderer als der kanonisch gewordenen Gestalt gegeben hat.« Handschriften (deren Zahl sich in den vergangenen Jahrzehnten ganz erheblich vergrößert hat). Zwei »Layout«-Phänomene sind erste Hinweise für eine Endredaktion aus einer Hand, nämlich die eigentümliche (wenn auch nicht immer einheitliche) Notierung der nomina sacra sowie die ausschließliche Verwendung der Kodex.form wie sollten unterschiedliche Herausgeber zu unterschiedlichen Zeiten auf dieselben ungewöhnlichen Layoutideen verfallen? Beides sind »unableitbare«, willkürliche Phänomene, die sich am ehesten als editorische Entscheidungen der editio princeps verstehen lassen. Wichtiger sind die Konsequenzen, die sich aus dem Umfang der Handschriften und aus der Reihenfolge der darin enthaltenen Schriften ergeben: In allen Handschriften vor der byzantinischen 60 men, das gerade nicht den Anfang kennzeichnet. 3. Das redaktionelle Konzept: Streit um Paulus Die innere Logik dieser Endredaktion ergibt sich auf verblüffend einfache Weise aus den Verfasserzuschreibungen der Titel: Die Titel, die ja sekundär (vom Herausgeber) zu den Schriften hinzugefügt wurden, legen ein ganzes Geflecht von Querverweisen innerhalb der Sammlung über die Einzeltexte, verbinden diese zu einem in sich stimmigen Ganzen und geben den Leserinnen und Lesern entscheidende Hilfen für das Verständnis. Wer z.B. wissen möchte, wer der Verfasser des »Evangeliums nach Markus« ist (der im Text des ZNT 12 (6. Jg. 2003) Matthias l(linghardt Die Veröffentlichung der christlichen Bibel und der Kanon Evangeliums ja überhaupt nicht erwähnt wird), der kann sich anhand der Angaben, die sich in den anderen Teilsammlungen finden, ein ziemlich genaues Bild verschaffen: Petrus war offenbar gut mit Markus bekannt, er verkehrt im Haus seiner Mutter (Apg 12,12) und nennt ihn »mein Sohn« (1Petr 5,13). Markus war zunächst missionarischer Mitarbeiter des Barnabas und des Paulus (Apg 12,25), aber Paulus hat sich im Streit von ihm getrennt (Apg 15,37ff.). Allerdings war dieser Streit nicht von Dauer: Paulus nennt ihn seinen Mitarbeiter (Phlm 24), er empfiehlt ihn nach Kolossä (Kol 4,10) und wünscht sich in seiner letzten Stunde die Gegenwart des Markus (2Tim 4,11). Diese Informationen, die ja nur von der Hand des Herausgebers stammen können, sind weder beliebig noch verzichtbar: Sie erzählen eine ganze Geschichte, die den Rahmen für das (kanonische) Verständnis der einzelnen neutestamentlichen Schriften bildet. Mit Hilfe der Benutzeroberfläche der Querverweise durch die Titel versucht der Herausgeber, das Leseverhalten in eine bestimmte Richdemnach: Paulus ist ein wichtiger Apostel, und sein Urteil bezüglich Gesetz und Beschneidung ist trotz der Auseinandersetzung mit den J erusalemern wichtig. Andererseits ist ein Christentum, das sich ausschließlich auf Paulus gründet, defizitär, weil es judenchristliche Traditionen nicht ausreichend berücksichtigt. Vor allem ist das apodiktisch-beleidigende Urteil des Paulus über das »andere Evangelium« (»Verdammt! «, Gal 1,8) und diejenigen, die es vertreten (»Sollen sich doch kastrieren! «, Gal 5,12) nicht sein letztes Wort in der Sache und markiert keinen endgültigen Bruch. 4. Schriftprinzip, Inspiration und Fälschung So erweist sich das sog. Schriftprinzip im Kern als literarisch-redaktionelles Phänomen: Dass die Schrift »ihr eigener Interpret« ist, indem sie sich auf sich selbst bezieht und sich selbst erklärt, liegt an den Querverweisen. Sie tung zu steuern. In diesem Fall geht es erkennbar um die Schlichtung des Streites zwischen Paulus und den Jerusalemer Aposteln, der in Gal 2 mit wünschenswerter Klarheit dokumentiert ist: Eine Hauptintention der Kanonischen » Eine Hauptintention der . Kanonischen Ausgabe li'egt darin, diese Diskrepanz zwischen Paulus und den verbinden Texte und Teilsammlungen der Kanonischen Ausgabe untereinander, zielen aber nie auf Außenliegendes. Die dadurch entstehende innere Geschlossenheit ist daher in erster Linie eine redaktionelle Leistung, die von Anfang an theologisch Jerusalemern, allen voran Petrus, zu minimieren und ihre Eintracht zu betonen.« Ausgabe liegt darin, diese Diskrepanz zwischen Paulus und den J erusalemern, allen voran Petrus, zu minimieren und ihre Eintracht zu betonen. Der Herausgeber erreicht dieses Ziel auf verschiedene Weise: Zunächst erscheint der Streit ja bereits in Apg schon deutlich heruntergespielt (Apg 15,37ff.). Sodann wird »Markus« durch die redaktionellen Verknüpfungen sowohl dem Petrus als auch dem Paulus zugeordnet: Beide bedenken ihn mit überaus freundlichen Attributen. Und schließlich stellt der Herausgeber den Paulusbriefen noch Schreiben genau dieser Jerusalemer Gruppe an die Seite (Petrus, Jakobus, Johannes und Judas) und zeichnet so ein Bild apostolischer Eintracht. Dieses Bild erschließt sich jedoch nur durch die Lektüre der ganzen Ausgabe. Die theologische Aussage nicht der Einzeltexte, sondern des redaktionellen Konzeptes ist ZNT 12 (6. Jg. 2003) verstanden werden will. Das machen vor allem der 2Petr und der 2Tim deutlich, die von besonderer Bedeutung für das redaktionelle Konzept sind. Zum einen zeigt die Analyse der Querverweise, dass beide Texte alle anderen Teilsammlungen (einschließlich des AT) voraussetzen: Sie gehören also auf die Ebene der Endredaktion. Zum anderen ist deutlich, dass es sich jeweils um die letzten - und darum besonders gewichtigen -Äußerungen der Verfasser handelt: Petrus und Paulus erwarten jeweils ihren Märtyrertod als unmittelbar bevorstehend (2Petr 2, 14; 2Tim 4,6). Vor allem aber ist nur in diesen beiden Texten von der Inspiration der Schrift die Rede, und man muss beide Aussagen aufeinander beziehen, um den ganzen Sinn zu erfassen: Was zunächst nur eine Behauptung ist, dass »die ganze Schrift von Gott eingegeben ist« (2Tim 3,16), wird durch 2Petr erläutert: Prophetie wird nicht 61 durch den menschlichen Willen getragen, sondern durch den Heiligen Geist (1,20f.). Die Richtigkeit dieser Behauptung ist plausibel, weil »Petrus« sich als Zeuge der Verklärung Jesu präsentiert (welche die Leser aus Mk 9 par. kennen! ) und daraus folgert: »Dadurch ist das Wort der Propheten für uns noch sicherer geworden, und ihr tut gut daran, es zu beachten! « (1,17ff.). So legitimieren sich die Teile der Kanonischen Ausgabe gegenseitig und beweisen zugleich die Inspiriertheit des Ganzen. Dieser »Beweis« funktionierte, solange die Leser davon überzeugt waren, hier wirklich Petrus und Paulus zu hören. Erst die historische Kritik hat beide Briefe als Fälschung erwiesen,' den Rahmen der kanonischen Lektüre beseitigt und damit den diskreten, aber wirksamen Leseanweisungen die Grundlage entzogen. 5. Einige Folgerungen 1. Endredaktion: Die wichtigste Abweichung dieses Modells von den klassischen Theorien besteht in der Unterscheidung zwischen der Entstehung der Schriftensammlung und dem Prozess, in dem sie »kanonisch« wurde: Es macht einen großen Unterschied, ob Einzelschriften kanonische Geltung erlangen und dabei zu einer Sammlung zusammenwachsen, oder ob sich ein fertiges literarisches Konzept mit einem umfassenden, theologischen Anspruch durchsetzt: Die Debatten über den theologischen Stellenwert einzelner Schriften wurden seit der Alten Kirche über Teile eines fertigen Buches geführt, nicht aber über autarke Einzelschriften. So hat Luther den Jak genauso als Teil des NT gelesen wie Origenes den Hebr, und die theologische Kritik an Einzelschriften setzt jeweils die fertige Schriftensammlung voraus: Für Luther ergab sich die theologische Devianz des Jak ja erst vor dem Hintergrund seiner kanonischen Lektüre der ganzen Bibel, und Origenes konnte die paulinische Verfasserschaft des Hebr überhaupt nur deshalb bestreiten, weil sie ihm durch die Kanonische Ausgabe vorgegeben war (die den Hebr immer unter den Paulus- Briefen überliefert). Das Konzept des Ganzen erwies sich als stärker als die Kritik an einzelnen Teilen: Niemand entfernt ein schwächeres Kapitel aus einem ansonsten überzeugenden Roman! 62 2. Die Rede vom »Abschluss des Kanons« ist daher im besten Fall irreführend, wenn nicht gänzlich unangemessen: Sofern damit die redaktionelle Zusammenstellung biblischer Schriften gemeint ist, markiert dieser »Abschluss« (noch vor der Mitte des 2. Jh.s) den Beginn (und nicht das Ende) der theologischen Debatte über seine Teile. Und falls damit die theologische Debatte um die »kanonische Akzeptanz« einzelner Schriften gemeint ist, gibt es bis heute keinen Abschluss über Einzelnes (heute eher Einzelaussagen statt -schriften) wird kontrovers debattiert, anderes wird durch selektive Wahrnehmung ausgeblendet: Obwohl der 3Joh weder in wissenschaftlichen »Theologien des NT« noch in der Reihe der Predigttexte eine Rolle spielt, ist er doch unstreitig immer Teil der Bibel. 3. Autorität: Die Durchsetzung dieser Ausgabe bestand wohl schlicht darin, dass sie sich gegen ihre Konkurrenz behauptet hat. Solche Konkurrenz ist uns nur aus der markionitischen Bibel (ein Evangelium und zehn Paulusbriefe) bekannt. Welche Gründe auch immer für die Überlegenheit der Kanonischen Ausgabe sprachen: Machtmittel zur Durchsetzung darf man dafür nicht annehmen. »Kanonische Geltung« impliziert die freie Zustimmung zu ihrem Konzept, das nicht mit »Machtmitteln« gegen »Widerstände durchgesetzt« werden will, sondern überzeugen soll; dass der Herausgeber diese Überzeugungskraft durch kleine Hilfen und Kniffe vergrößert hat, ist zugestanden. 4. Zweiteilige Bibelausgabe: Ausweislich des Titels »Das Neue Testament« war die Kanonische Ausgabe von Anfang an als zweiteiliges Werk konzipiert, das Neue macht ein Altes Testament erforderlich, auf dessen Schriften (mit unterschiedlichen Bezeichnungen) verschiedentlich verwiesen wird. Den genauen Umfang und die Anordnung des ursprünglichen AT kennen wir leider nicht. Aber es ist deutlich, dass die Einbeziehung des AT als Teil der christlichen Bibel kein Automatismus war, sondern eine bewusste Entscheidung des Herausgebers, die im Horizont der theologischen Auseinandersetzung mit der Bibel und der Theologie Markions gesehen werden muss. 5. Traditions- und Autorenliteratur: Deutlich ist schließlich auch, dass die Aufnahme des AT in das kanonische Konzept des Herausgebers relativ ZNT 12 (6. Jg. 2003) Matthias l{linghardt Die Veröffentlichung der christlichen Bibel und der Kanon unabhängig ist von der vor- und nebenchristlichen Sammlungsgeschichte der jüdischen Bibel. Die Entstehung der christlichen Bibel ist nicht die Fortführung eines den biblischen Schriften inhärenten Dranges zur Kanonbildung, sondern die Folge eines eigenständigen Redaktionsaktes. Allerdings lassen sich für alle Teile der hebräischen Bibel Redaktionsprozesse nachweisen,' die dem Verfahren der Herausgeber der Kanonischen Ausgabe ähnlich sind: Gliederung durch Überschriften (so im Psalter oder im Dodekapropheton), Querverweise auf andere Teile der Sammlung zur Lesesteuerung (z.B. durch die Verfasserzuschreibungen der Psalmen, die eine »Verortung« in der aus dem Pentateuch und den Vorderen Propheten bekannten Geschichte erlauben), Redaktion als Ausgleich unterschiedlicher Ansprüche (z.B. in der Komposition des Pentateuch') kurz: Auch wenn die Redaktion der Kanonischen Ausgabe keine Fortsetzung älterer Sammlungskonzepte ist, ist das redaktionelle Verfahren doch nicht dann spricht das weder gegen die Wahrscheinlichkeit einer solchen Publikation noch gegen den implizierten Wahrheitsanspruch, sondern eher gegen das idealistische Vorurteil, »Wahrheit« eher mit dem »Allgemeinen« zu verbinden als mit dem »Individuellen«. Am Ende ist die Wahrheit dieser Ausgabe auch nach der Dekonstruktion ihres Konzepts durch die historische Kritik seit dem 18. Jh. kaum beeinträchtigt: Wie sollte man ein Konzept, das 1600 Jahre lang gewirkt hat, nicht bewundern und darin göttliche Fügung sehen können, zumal es auch heute noch überzeugt? In Manfred Oemings Bild des Kriminalfalles: Der Täter hat die Spuren seiner Tat (die Redaktion und Publikation der christlichen Bibel) so gut kaschiert, dass sich auch heute noch professionelle Spurensammler täuschen lassen und eher an Zufall glauben als an Planmäßigkeit. Bleibt nur die Gretchenfrage: Wie kommt der 3Joh in die Kanonische Ausgabe? Antwort: Er ist schlicht authentisch! Welcher singulär. Diese literarischen Spuren redaktioneller Tätigkeit machen die Bibel in ihrer kanonischen Endgestalt selbst dann eindeutig und vollständig zu einem Stück »Autorenliteratur«, wenn dieses Buch auch Traditionsliteratur » Wie sollte man ein Konzept, das 1600 Jahre lang gewirkt hat, nicht bewundernund darin göttliche Fügung sehen können, zumal es auch heute noch überzeugt? « Herausgeber apostolischer Schriften würde wohl darauf verzichten, echte Briefe des Apostels Johannes in seine Sammlung aufzunehmen? Die Existenz dieses Briefs in der Kanonischen Ausgabe bereitet dann keine Schwierigkeienthält: Das christliche AT ist, genau wie das NT auch, Bestandteil eines Buches aus dem 2. Jh. 6. Die Erstellung der Kanonischen Ausgabe war kein anonymer, selbstgesteuerter Prozess der Kanonisierung, sondern ein individueller und punktueller Publikationsakt in einer einzigartigen historischen Situation, der sehr konkrete kirchenpolitische Ziele verfolgte (Paulus - Petrus), der handwerklich sehr gekonnt umgesetzt wurde (Querverweise; Inspirationstheorie), der eine grundsätzliche Verhältnisbestimmung des frühen Christentums zum Judentum vornahm (AT - NT), der verlegerisch eine Ausgabe mit hohem Wiedererkennungswert schuf (nomina sacra; Kodexform) und der auch vor gezielter Lesertäuschung nicht zurückschreckte (»Pseudepigraphie« ). Wenn es schwer fällt, eine theologische Leistung solchen Ausmaßes einer Einzelperson zuzuschreiben (der Herausgeber lässt sich schließlich ohne große Probleme identifizieren), ZNT 12 (6.Jg. 2003) ten, wenn man bei ihrer Redaktion einen konkreten, individuellen Herausgeber am Werk sieht. Anmerkungen 1 Zum ersten Mal überhaupt hat das Tridentinum (im Dekret über »Schrift und Tradition« vom 8. April 1546 aus Sess. IV; vgl. Denz. 783ff.) eine »kanonische Schriftgrundlage« mit umfassendem Geltungsanspruch festgesetzt: Gegen das reformatorische Schriftprinzip und seine Folgen in Übersetzung, Umfang und Anordnung wurde der Wortlaut der Vulgata für verbindlich erklärt. 2 Forschungsgeschichtlich wichtig waren seit dem 19. Jh.: Th. Zahn, Geschichte des Neutestamentlichen Kanons I/ II, Leipzig/ Erlangen 1888-1892; A. Harnack, Das Neue Testament um das Jahr 200, Freiburg 1889 (und eine ganze Reihe weiterer Einzelstudien); H. von Campenhausen, Die Entstehung der christlichen Bibel (BHTh 39), Tübingen 1968. 3 D. Trobisch, Die Endredaktion des Neuen Testaments (NTOA 31), Freiburg/ Göttingen 1996. ' Die Bezeugung auch anderer Texte (Teile der apostolischen Väter; ApcPetr; Herrn usw.) in irrtümlich sog. 63 Kontroverse »Kanones« (Kanon Muratori; Kanon Claromontanus; Stichometrie des Nikephorus etc.) spricht nicht dagegen: Diese Bibliotheks- und Schriftenverzeichnisse geben einen Einblick in das, was im frühen Christentum gelesen wurde, beschreiben aber nicht den Umfang des Neuen Testaments. 5 Vgl. die Einleitungen zum NT. Ich ziehe in diesem Fall die Bezeichnung »Fälschung« dem anderweitig gebräuchlichen Terminus »Pseudepigraphie« vor, weil hier die Täuschungsabsicht gegenüber den Lesern dominant ist. ' Die Redaktionsspuren sind nicht einheitlich, werden aber in den letzten Jahren für die einzelnen Teile verstärkt registriert und als Teil eines redaktionellen Konzepts ausgewertet. Besonders wichtig sind die Arbeiten zur Redaktion des Pentateuch von E. Blum, R. Rendtorff und anderen; für das Dodekapropheton vgl. z.B. O.H. Steck, Der Abschluss der Prophetie im Alten Testament. Ein Versuch zur Vorgeschichte des Kanons (BThS 17), Neukirchen-Vluyn 1991. 7 Für den Pentateuch ist das übersichtlich dargestellt von E. Blum, Esra, die Mosetora und die persische Politik, in: R.G. Kratz (Hrsg.), Religion und Religionskontakte im Zeitalter der Achämeniden, Gütersloh 2002, 231- 256. MAINZER HYMNOLOGISCHE STUDIEN 64 Hermann Kurzke Andrea Neuhaus (Hrsg.) Gotteslob- Revision Probleme, Prozesse und Perspektiven einer Gesangbuchreform Mainzer Hymnologische Studien 9, 2003, VIII, 237 Seiten, € 39,-/ SFr 64,50 ISBN 3-7720-2919-1 Das katholische Einheitsgesangbuch "Gotteslob" besteht nun seit fast drei Jahrzehnten, und so manches, was bei seinem Stapellauf modern war, hat inzwischen Rost angesetzt. Bei ihrer Herbstvollversammlung 2001 hat die Deutsche Bischofskonferenz deshalb beschlossen, ein neues Gebet- und Gesangbuch herauszubringen. Der Prozeß, der vermutlich Jahre in Anspruch nehmen wird, startet mit einer hymnologischen Besinnung, die aus dem Rückblick auf frühere Gesangbuchrevisionen Kriterien für den Umgang mit dem traditionellen und dem innovativen Liedgut gewinnen will. Das Buch beginnt mit einem liedgeschichtlichen und liedanalytischen Teil, wird fortgesetzt mit einem Blick auf große Gesangbuchreformen des 20. Jahrhunderts, betrachtet dann die am "Gotteslob" im Lauf der Jahre durchgeführten Reparaturarbeiten und versucht sich schließlich an einer Kriteriensammlung zur Ermittlung und Bearbeitung des Liedguts im geplanten neuen Gebet- und Gesangbuch. Cornelia Kück Hermann Kurzke (Hrsg.) Kirchenlied und nationale Identität Internationale und interkulturelle Beiträge Mainzer Hymnologische Studien 10, 2003, XII, 236 Seiten, € 48,-/ SFr 79,30 ISBN 3-7720-2920-5 Kirchenlieder sind kulturelle Identitätssymbole sowohl der Kirchen wie auch der Nationen. Die Beiträge des Bandes weisen die Funktionen von Kirchenliedern für die Ausbildung nationaler Identitäten und die jeweiligen Konstruktionen von "Fremdheit" und "Eigenheit" auf. Es zeigt sich, daß beinahe nur in Deutschland ein negatives Verhältnis zu dem Beitrag besteht, den Kirchenlieder zur kulturellen Ausgestaltung des Nationalgefühls leisten. Zu den Themen des Bandes zählen unter anderem profansakrale Transformationen; Engländer, Schotten, Waliser, Iren und die Besonderheiten ihrer Identitätsfindung; die Entwicklung religiös gestützter Nationalidentitäten in Österreich, Polen, Rumänien, Finnland und Schweden; Identitätsprobleme bei den in Österreich lebenden Slowenen sowie bei den Buren in Südafrika. Die Autoren stammen aus zwölf verschiedenen Nationen. A. Francke Verlag Tübingen und Basel ZNT 12 (6.Jg. 2003)
