eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 6/12

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
121
2003
612 Dronsch Strecker Vogel

Heikki Räisänen: Neutestamentliche Theologie? Eine religionswissenschaftliche Alternative (SBS 186). Stuttgart: Katholisches Bibelwerk, 2000,130 S.; 21,- Euro, ISBN 3-460-04861-1

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2003
Günter Röhser
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nen Werken? - 2. Unterschätzt Hecke! nicht die Bedeutung mündlicher Überlieferungsprozesse bis weit ins 2. Jh. hinein, wenn er überall nur schriftliche Texte und nur unsere, später kanonisch gewordenen Evangelien zugrunde liegen sieht? Alles in allem: Eine wichtige Studie zu einem immer wichtiger werdenden Thema mit vielen Anregungen, interessanten Details und reichhaltiger Literaturverarbeitung. Die kanonsorientierte Fragestellung als solche ist legitim und notwendig. Ich sage jedoch auch klar: Sie gehört für mich in den Bereich der historischen (patristischen) Theologie, nicht in den Bereich der neutestamentlichen. Sie hat keinen Einfluss auf die Auslegung der biblischen Einzelschriften je an ihrem geschichtlichen Ort. Und auch eine neutestamentliche Hermeneutik oder gar gesamtbiblische Theologie darf sich von ihr allenfalls ihren Rahmen, aber nicht ihre Inhalte vorgeben lassen. Die Arbeit von Theo Hecke! macht dies eindrücklich klar, wenn sie den qualitativen Sprung von der Theologie der Evangelisten zur Theologie der Vierevangeliensammlung vor Augen führt. Günter Röhser Rolf J. Lorenz/ Dietmar Mieth/ Ludolf Müller (Hrsg.) Die "Würde des Menschen" beim Wort genommen Kontakte 12, 2003, X, 180 Seiten, € 24,90/ SFr 42,- ISBN 3-7720-8002-2 In diesem Buch wird das Entstehen des heutigen Verständnisses von der "Würde des Menschen" aus historischer Perspektive dargestellt. Die in der jetzigen Bioethikdiskussion zu beobachtenden begrifflichen Zweideutigkeiten müssen aufgearbeitet werden, damit die Menschenwürde, Grundlage unserer Kultur, unserer Demokratie und unserer Moral, eindeutig bleibt. Das Buch leistet dazu einen wichtigen Beitrag in einer allgemein verständlichen Sprache. A. Francke Verlag Tübingen und Basel ZNT 12 (6.Jg. 2003) Heikki Räisänen Neutestamentliche Theologie? Eine religionswissenschaftliche Alternative (SBS 186). Stuttgart: Katholisches Bibelwerk, 2000,130 S.; 21,- Euro, ISBN 3-460-04861-1 Anders als das zuvor besprochene Werk von Theo Hecke! behandelt das kleine Buch des finnischen Neutestamentlers Heikki Räisänen keine exegetischen und historischen, sondern ausschließlich Grundsatzfragen der neutestamentlichen Disziplin überhaupt. Der Verfasser ist auf der Suche nach einer zusammenfassenden »Synthese der frühchristlichen Gedankenwelt« (11), die sowohl in inhaltlicher als auch in methodischer und darstellerischer Hinsicht den Anforderungen der Gegenwart genügt. Er macht kein Hehl daraus, dass seines Erachtens »die Einsichten der älteren Forscher denen der Generation nach Buhmann überlegen sind« (ebd.) und orientiert sich für seinen eigenen Vorschlag an der Programmschrift von William Wrede aus dem Jahre 1897 »Über Aufgabe und Methode der sogenannten Neutestamentlichen Theologie«, deren Ansatz er erstmals in dem Werk von Gerd Theißen »Die Religion der ersten Christen« (dt. 2000) einigermaßen eingelöst sieht. Bis dahin sei die geforderte Trennung von biblischhistorischer und theologisch-aktualisierender Arbeit zwar in der praktisehen Exegese, nicht aber in den großen Synthesen neutestamentlicher Theologie verwirklicht worden (15; 31). Punkt für Punkt kann man die bei Wrede aufgestellten programmatischen Oppositionen bei Räisänen wiederfinden bzw. nachvollziehen: Eigene, moderne Anschauungen müssen im Rahmen kritischer Wissenschaft von fremden und vergangenen unterschieden werden (z.B. was die Rolle der Eschatologie angeht). Nicht »Theologie« ist der eigentliche Leitbegriff neutestamentlicher Wissenschaft, sondern » Religionsgeschichte« bzw. »Religionswissenschaft«. Die Grenze des Kanons ist zugunsten der außerkanonischen Literatur zu sprengen und beide sind zusammen als urbzw. frühchristliche Schriften zu betrachten. Deswegen ist eigentlich auch der Name »neutestamentliche Theologie« zu ersetzen durch »Geschichte der urchristlichen Religion« bzw. »des frühchristlichen Denkens« (vgl. die sprechenden Titel beider Schriften). Gegenstand dieser Wissenschaft ist nicht der normative Inhalt (Lehrgehalt) kanonischer Schriften, sondern die den frühchristlichen Ideen und Gedanken zugrunde liegenden religiösen und alltäglichen »Erfahrungen« zwischen prägender frühjüdischer und hellenistischer - Tradition (überkommene »symbolische Welt«) einerseits und nachfolgender Neuinterpretation und Veränderung der Tradition andererseits (1 00ff.). Besondere Akzente setzt Räisänen bei der Wahrnehmung der frühchristlichen Vielfalt wobei diese nicht nur die außerkanonische Literatur, sondern auch die »Gegner« in den kanonischen Schriften umfassen soll - und dem Verzicht auf Harmonisierung (z.B. gegen E. Stauffer und W.G. Kümmel [26f.]) sowie bei einer angemessenen Darstellung des Judentums (in dieser Hinsicht werden W. Thüsing [46], G.B. Caird [48], R. Bultmann und L. Schenke [92f.J kritisiert.1) Räisänens Arbeit besteht im ersten Teil (12-66) darin, die Forschungsgeschichte (von J.P. Gablers Altdorfer Antrittsrede von 1787 bis zu den neuesten Veröffentlichungen) unter den angegebenen Gesichtspunkten zu sichten und kritisch zu bewerten. Die beschränkte Seitenzahl lässt schon ahnen, dass er dabei den behandelten Autoren nicht immer voll gerecht zu werden vermag (viele bekommen 79 nicht mehr als 10 oder 20 Zeilen, G. von Rad 1,5 Zeilen und 1 Fußnote! ). Ein Vorzug dieses Überblicks ist es, dass deutsche und anglo-amerikanische Autoren gleichgewichtig berücksichtigt werden. Bultmann gilt als der eigentliche »Gegenpol« (24) zu Wrede, aber auch heilsgeschichtliche und konservativ-kirchliche Ansätze beider Konfessionen sowie alle gesamtbiblischen Theologien werden als unbrauchbar verworfen. Das Urteil über die Arbeiten von Mildenberger, Childs, Stuhlmacher und Hübner ist eindeutig negativ: Sie »bestätigen, allen Unterschieden zum Trotz, dass (Gesamt-) Biblische Theologie ein durchgehend kirchlich-theologisches Unterfangen ist. In einem geistigen Milieu, wo eine kritische Distanz zum Gegenstand geboten ist (auch wenn der Gegenstand die eigene Religion ist), ist dies schwer zu rechtfertigen« (46). Andere Autoren vermag Räisänen differenzierter zu würdigen; eine besondere Konvergenz mit seinem Ansatz ergibt sich (neben den »Klassikern« Johannes Weiß und Hans Windisch) v.a. bei C.T. Craig und K. Stendahl (Unterscheidung von historischer und aktualisierender Arbeit), H. Köster (Verzicht auf den Kanon) und K. Berger (Betonung der Fremdheit, Berücksichtigung der Gegner, kein »Kanon im Kanon«). Auch den Werken von C. Rowland, H.M. Teeple und J. Gnilka vermag Räisänen viel abzugewinnen. Sein größtes Lob gilt aber G. Theißen dafür, dass er »die urchristliche Religion im Rahmen allgemeiner Theorien behandelt, die auch auf jede andere Religion angewendet werden können« (65) wenngleich er den »Systemzwang« durchaus sieht, der von diesen Theorien ausgehen kann (weswegen ich selbst Religionsgeschichte für noch wichtiger halte als Religionswissenschaft). Als »innovative, gründlich durchdachte und gut lesbare Synthese« rage Theißens Buch »weit über alle Konkurrenten heraus. Hier liegt endlich ein Werk vor, das den Bultmannschen Entwurf abzulösen vermag« (ebd.). 2 Die Stärke von Räisänens Buch liegt zweifellos nicht in der Forschungsgeschichte (der Fachkollege erfährt nicht viel Neues, für Studierende, selbst für Examenskandidatlnnen ist die Darstellung verkürzend und knapp bis zur Unverständlichkeit), sondern im zweiten Teil: »Zur grundsätzlichen Problematik« (67- 80 107), wo der Verfasser theoretische Grundsätze seines Programms erläutert und sein bereits genanntes »dialektisches Modell« der »Wechselwirkung von Tradition, Erfahrung und Interpretation« (100) vorstellt. Man erfährt zunächst, dass es in der Religionswissenschaft eine analoge Debatte zu derjenigen in der Exegese gibt: »Transzendentalisten«, nach denen der »irrationale« Charakter der Religion auch den Charakter der Religionsforschung bestimmen soll, entsprechen den theologisch orientierten Exegeten; ihnen stehen »historische Empiristen« gegenüber, zu denen sich auch Räisänen als Neutestamentler zählt. Entscheidend ist für letztere, eine Außen- und keine Binnenperspektive auf den Forschungsgegenstand einzunehmen. Die Darstellung zeigt, dass sich der Verfasser der gewöhnlich erhobenen Einwände gegen ein solches Konzept bewusst ist und sich ihnen stellt. Es wird z.B. immer wieder behauptet, eine wirklich objektive Außenperspektive auf die eigene Religion sei gar nicht möglich. Dem wird zutreffend entgegengehalten, dass dies noch lange keinen »zielbewussten Subjektivismus« rechtfertige. »Eine relative Objektivität oder eine relative Freiheit von Werturteilen ist trotz allem möglich« (71). Statt von »Objektivität« sei es aber besser, von »fair play« zu reden (82). Eine religionswissenschaftliche Theologiegeschichte des Frühchristentums darf auch nicht kirchlich gebunden, sondern muss »gesellschaftlich und global ausgerichtet« sein. »Dabei geht es um nichts weniger als um die Wurzeln unserer Kultur« (75). Geschichtliche Gestalten und Gruppen gehören in die Darstellung ebenso hinein wie theologische Texte und deren rekonstruierte Vorstufen (80). Auch wenn es »die eine und einzige Bedeutung eines Textes« nicht gibt, so ist doch darauf zu bestehen, »dass die Anzahl legitimer Interpretationen begrenzt ist« (83 ). Empathie in den Gegenstand ist nötig und möglich, ist aber etwas anderes als gläubige Zustimmung (91). Ich würde vielleicht noch stärker als Räisänen betonen, dass solche Forschung auch dem Leben der Kirche zugute kommt und insofern durchaus einen »kirchlichen« Charakter der Exegese begründen kann. Immer wieder wird J. Weiß als Vorbild dafür bemüht, dass es nötig und möglich ist, historische und normativ-theologische Arbeit zu differenzieren und als Forscher Abstand von der eigenen Überzeugung zu nehmen (17f.; 20; 82f.; 92; 108). Überlegungen zur inhaltlichen Gliederung einer Geschichte des frühchristlichen Denkens schließen den zweiten Teil ab. In Räisänens »Zweistufenprogramm« ist nach der historischen Rekonstruktion ein zweiter Arbeitsgang auf der Ebene der aktualisierenden Philosophie und Theologie vorgesehen. Dieses Thema wird lediglich in einem »Anhang« behandelt (108-110) und ist deswegen der schwächste Teil der Arbeit. Bei aller grundlegenden Sympathie für seinen Ansatz kann ich Räisänen darin nicht folgen, dass er offenbar den urchristlichen Anfängen keinen bleibenden normativen Vorsprung für alle späteren Verwirklichungen von Christsein (was m.E. etwas anderes ist als eine » Idealisierung des Ursprungs« [88]) zuzuerkennen vermag. Er kann auch keinerlei Kriterien dafür angeben, wie die von ihm geforderte »Konfrontierung ... vom heutigen Standpunkt des Auslegers her« (108) aussehen soll. Dass die Texte »an ihren Früchten zu messen« seien (109) und unsere Neuinterpretationen daran, ob sie »dem Leben dienen oder ihm schaden« (110), ist am Ende doch etwas dünn. Hermeneutik und Applikation sind also nicht die Stärken dieses Buches sollten es wohl auch nicht sein. Aber auf weitere materiale Durchführungen seines Programms nach Theißen (hoffentlich auch durch Räisänen selbst) darf man mit Fug und Recht gespannt sem. Günter Röhser Anmerkungen 1 Die zitierten Werke von Thüsing (Band 1 seiner Theologie) und Schenke (Die Urgemeinde) fehlen im Literaturverzeichnis. 2 S. auch die Besprechung von J. Zangenberg im Buchreport der ZNT 6 (2000), 65-67. ZNT 12 (6. Jg. 2003)