ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
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2004
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Dronsch Strecker VogelDer Exeget als Historiker und Theologe. Eine Positionsbestimmung
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2004
Axel von Dobbeler
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ZNT 13 (7. Jg. 2004) 11 Zum Thema Axel von Dobbeler Der Exeget als Historiker und Theologe. Eine Positionsbestimmung 1. Grundentscheidungen und These 1.1. Der Exeget hat es mit Texten zu tun. Im Rahmen der Theologie mit den Texten der Bibel und hier wiederum als Neutestamentler mit den Schriften des Neuen Testaments. Sein primärer Forschungsgegenstand ist weder allgemein die Geschichte noch das christliche Dogma. Dennoch ist er als Historiker und Theologe gefordert. Denn: 1.2. Die Schriften des Neuen Testaments sind antike Texte, die als historische Quellen Aufschluss über die Anfänge des Christentums geben. Aufgrund ihrer Kanonizität sind sie zugleich ein Teil der Heiligen Schrift, die nach reformatorischem Verständnis alleiniger Maßstab des christlichen Glaubens, der kirchlichen Praxis und der theologischen Lehre ist. 1.3. Die Arbeit des Exegeten an den Texten zielt auf deren Auslegung. Mit seiner Textauslegung will der Exeget einen Beitrag zum Verstehen dieser Texte leisten. Die Textauslegung ersetzt das Verstehen der Texte nicht, sondern kann es bestenfalls profilieren. 1.4. Im Prozess des Verstehens ist die Rolle des Exegeten nicht die des unparteiischen Mittlers zwischen den antiken Texten und den gegenwärtigen Rezipienten, sondern die eines Anwalts der Texte. Als Anwalt der Texte nimmt er ihre Interessen wahr, erläutert ihre Absichten, sorgt dafür, dass ihre Stimme gehört wird, verteidigt sie im Interpretationsstreit und bemüht sich, sie vor unangemessenen Urteilen zu schützen. 1.5. Anwalt der Texte ist der Exeget sowohl als Historiker als auch als Theologe. Den Texten ihre eigene Stimme zurückzugewinnen, ist seine historische Aufgabe, ihr im theologischen Diskurs Gehör zu verschaffen, seine theologische Aufgabe. 1.6. Wenn die exegetische Arbeit von der Frage geleitet wird: »Wie können wir so auf die Texte hören, dass wir ihre eigene Stimme wahrnehmen? «, dann setzt dies voraus: a) Texte haben eine eigene Stimme. Im Gegenüber zu radikalen dekonstruktivistischen Texttheorien halte ich die Interpretation von Texten nicht für beliebig. b) Die eigene Stimme eines Texte ist nicht einzureihen in die Polyvalenz späterer Rezeptionen und Deutungen, sondern hat gegenüber diesen eine kritische und regulative Funktion. c) Es ist zumindest approximativ möglich, den alten Texten ihre eigene Stimme zurückzugewinnen. d) Die eigene Stimme der Texte ist in ihrer Zeitgebundenheit von theologischer Relevanz. Die These, mit der ich meine Position als Exeget beschreiben möchte, lautet also: Als Historiker und Theologe ist der Exeget ein Anwalt der Texte des Neuen Testaments. Als solcher hat er die Aufgabe, den Texten ihre eigene Stimme zurückzugewinnen und ihr Gehör zu verschaffen. 2. Der Historiker als Anwalt der Texte Die Texte des Neuen Testaments sind in einer bestimmten historischen Situation entstanden. Ihnen ihre eigene Stimme zurückzugewinnen, bedeutet daher in erster Linie, den Versuch einer historischen Rekonstruktion zu wagen. Ich halte die historisch-kritische Methode nach wie vor für den sachgerechten Zugang des Exegeten zu seinem Gegenstand. Diese Einschätzung ist keineswegs unumstritten. Seit geraumer Zeit wird gefragt, ob die historisch-kritische Methode denn noch als ein taugliches Instrument der Exegese zu gelten habe. Das mag seinen Grund nicht zuletzt in einer Radikalisierung der historischen Kritik haben, die die Althistorikerin Helga Botermann zu der Bemerkung veranlasst hat: »Wenn die Althistoriker ihre Quellen so ›kritisch‹ bearbeiteten wie die meisten Theologen, müssten sie die Akten über Herodot und Tacitus schließen«. 1 In der Tat wäre bei radikal-kritischer Betrachtung »Als Historiker und Theologe ist der Exeget ein Anwalt der Texte des Neuen Testaments.« 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 11 12 ZNT 13 (7. Jg. 2004) Zum Thema der Quellen die einzig mögliche Konsequenz das radikale Schweigen, wie Martin Hengel zurecht angemerkt hat. Denn wo völlige Dunkelheit herrscht, können auch keine Beobachtungen mehr gemacht werden. 2 Wer dennoch nicht bereit ist, die Akten gänzlich zu schließen, dem bleibt als eine - so oft praktizierte wie fragwürdige - Alternative der Versuch einer historischen Rekonstruktion gegen die Quellen. Das ist ohne Zweifel von einem gewissen investigativen Reiz, und es gehört - wie Gerd Theißen gemeint hat 3 - »zum intellektuellen Vergnügen des Historikers, Quellen gegen ihre eigene Intention kritisch auszuwerten und die geschichtliche Wirklichkeit wieder zutage zu fördern«. Die methodische Fragwürdigkeit eines solchen Vorgehens liegt freilich auf der Hand. Wenn die historisch-kritische Methode nur noch dazu dient, die Intentionalität der Quellen zu erweisen, und die Geschichte dann via negationis erschlossen wird, ist der Willkür Tür und Tor geöffnet. Was dabei herauskommt, hat schon Adolf Schlatter treffend als »historische Romane« qualifiziert. 4 In jedem Falle geben solche Versuche, gegen die Quellen Geschichte zu schreiben, mehr Auskunft über die kreative Phantasie ihrer Verfasser als über die Geschichte selbst. Bleibt dem Exegeten, wenn er nicht zum Romancier werden will, also nur noch das radikale Schweigen? Ich meine Nein. Ich bin vielmehr der Überzeugung, dass die historischkritische Methode bei sachgerechter Anwendung zumindest annäherungsweise historische Rekonstruktionen erlaubt, wenn auch nur in Form hypothetischer Aussagen. Das Erkenntnisziel ist demnach nicht die »wirkliche Geschichte«, sondern erreichbar sind uns lediglich Hypothesen mit einem gewissen Grad historischer Plausibilität. Das ist weniger als man sich in Zeiten des Historismus erhofft hatte, aber auch mehr als das Schweigen eines radikalen Skeptizismus. Voraussetzung hierfür ist eine bestimmten Haltung des Exegeten, die ich der eingangs verwendeten Metapher entsprechend als Ethos eines guten Anwalts beschreiben möchte. Ein guter Anwalt bringt seinem Mandanten ein gewisses Maß an Vertrauen entgegen; er wird zwar immer auch kritische Distanz wahren, aber er misstraut ihm eben auch nicht grundsätzlich. Radikale Skepsis müsste zur Mandatsniederlegung führen. M.a.W. nur wer sich den Schriften des Neuen Testaments mit der Erwartung nähert, in ihnen auch auf historisch glaubwürdige Informationen zu stoßen, kann das Wagnis einer historischen Rekonstruktion begründet eingehen. Dieses Verfahren hat deutlich experimentellen Charakter und setzt die Bereitschaft zu einem gewissen Maß historischer Kombinatorik voraus. Solange dies in methodisch nachvollziehbaren Schritten und an den Quellen entlang geschieht, halte ich es aber für den legitimen Versuch einer Gratwanderung zwischen dem radikalen Schweigen und dem historischen Roman. 2.1. Die historisch-kritische Methode, die Welt der Texte und die Autonomie der Rezipienten Wenn ich die historische Fragestellung unter den geschilderten Einschränkungen für exegetisch sinnvoll halte, so ist dies noch einem weiteren Einwand gegenüber zu begründen. Dieser Einwand lautet: Da es sich bei dem Forschungsgegenstand des Exegeten um Texte handelt, ist die historische Fragestellung eine unsachgemäße Form der Bearbeitung; sachgemäß wäre vielmehr eine Auslegung nach literaturwissenschaftlichen Gesichtspunkten. Das bedeutet: Nicht die Intention eines historischen Autors oder die sozialen oder geschichtlichen Bedingungen, unter denen ein Text entstanden ist, sind für die Erschließung seines semantischen Gehalts entscheidend, sondern entwe- »Ich bin vielmehr der Überzeugung, dass die historisch-kritische Methode bei sachgerechter Anwendung zumindest annäherungsweise historische Rekonstruktionen erlaubt, wenn auch nur in Form hypothetischer Aussagen.« »... nur wer sich den Schriften des Neuen Testaments mit der Erwartung nähert, in ihnen auch auf historisch glaubwürdige Informationen zu stoßen, kann das Wagnis einer historischen Rekonstruktion begründet eingehen.« 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 12 ZNT 13 (7. Jg. 2004) 13 Axel von Dobbeler Der Exeget als Historiker und Theologe der der Text selbst als ein gegenüber seinem Verfasser und seinen Lesern autarkes Gebilde oder der Akt des Lesens bzw. das lesende Subjekt, wie es die verschiedenen rezeptionsästhetischen Texttheorien voraussetzen. Gemeinsam ist diesen literaturwissenschaftlichen Ansätzen, dass sie den empirischen Autor sowie die konkrete historische Situation der Textproduktion als für die Textanalyse irrelevante Größen verabschieden. Hier wie dort ist der Autor im Blick auf seinen Text mit einem Wort des französischen Semiotikers Roland Barthes als ein »Enteigneter« 5 zu betrachten und mit ihm der historische Kontext der Textentstehung. Der von Barthes verkündete »Tod des Autors« 6 lässt die historische Lektüre gegenüber der tendenziell ahistorischen rezeptionsorientierten Lektüre als die unangemessenere Zugangsweise erscheinen. Ich halte eine solche Entgegensetzung von geschichtlicher und literaturwissenschaftlicher Fragestellung weder für sinnvoll noch für notwendig. Es liegen mittlerweile eine ganze Reihe von leserorientierte Studien 7 vor, die zeigen, dass sich historische und rezeptionsorientierte Textanalyse durchaus sinnvoll verbinden lassen, wenn die historische Perspektive durch die Frage nach der Erstrezeption der Texte zur Geltung gebracht wird. Die Rezeptionsvoraussetzungen der Erstleser hängen ja aufs Engste mit den soziokulturellen Faktoren zur Zeit der Textentstehung zusammen und können daher nur auf dem Weg der historischen Forschung ermittelt werden. Ihre hypothetische Rekonstruktion setzt die Auswertung textueller und außertextueller Faktoren voraus und damit die Anwendung des gesamten Methodenspektrums der klassischen historisch-kritischen Arbeitsweise. Wichtig ist mir aber darüber hinaus die Einbeziehung der intentio auctoris in das rezeptionsästhetische Paradigma, bzw. seine Ausweitung zu einem kommunikationstheoretischen Modell. Die Erkenntnisse der Rezeptionstheorien müssen m.E. keineswegs mit dem Tod des Autors bezahlt werden. So berechtigt die rezeptionstheoretische Kritik an einer ausschließlichen Konzentration auf die Intention des Autors sein mag, so wenig sehe ich darin einen Grund, die Frage nach der intentio auctoris nun ganz fallen zu lassen, auch wenn diese sich aufgrund der Quellenlage nur selten von der aus dem Text selbst zu ermittelnden intentio operis wird abheben lassen. Ich verstehe die Texte des Neuen Testaments also als Dokumente von Kommunikationsprozessen, die jeweils zwischen einem Autor und seinen Erstrezipienten verliefen, und gehe davon aus, dass sich die Intention des Autors in der konkreten Gestalt eines Textes niederschlägt und die Erstrezeption durch die intentio auctoris zwar nicht festgelegt, wohl aber gelenkt wurde. Wenn ich in diesem Zusammenhang für einen Methodenpluralismus 8 plädiere, der es vermeidet, die historische und die literaturwissenschaftliche Fragestellung gegeneinander auszuspielen, so vor allem deshalb, weil ich der Überzeugung bin, dass die Komplexität historischer Phänomene, die wir nie zur Gänze werden nachzeichnen können, eine Vielfalt unterschiedlicher Betrachtungsweisen und Erschließungsformen geradezu erfordert. Die einzelnen Fragestellungen beleuchten unter- Axel von Dobbeler PD Dr. Axel von Dobbeler, Jahrgang 1953, Studium der Evangelischen Theologie in Bonn, Promotion 1984 in Heidelberg, Habilitation 1998 ebenfalls in Heidelberg. Seit 2000 Privatdozent an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn. Veröffentlichungen zur paulinischen Theologie, zur Apostelgeschichte, zum Matthäusevangelium, zur frühchristlichen Mission sowie prosopographische Studien. »Wichtig ist mir aber darüber hinaus die Einbeziehung der intentio auctoris in das rezeptionsästhetische Paradigma, bzw. seine Ausweitung zu einem kommunikationstheoretischen Modell.« 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 13 14 ZNT 13 (7. Jg. 2004) Zum Thema schiedliche Aspekte eines historischen Phänomens und führen uns zu verschiedenen Deutungen, die nicht gegeneinander auszuspielen, sondern als Mosaiksteine eines freilich immer unvollendet bleibenden Bildes zusammenzufügen, die Kunst des Historikers ist. 2.2. Der Erkenntnisgegenstand der historischen Fragestellung Wenn es das Ziel der exegetischen Textanalyse ist, die Kommunikation zwischen einem historischen Autor und seinen Erstlesern nachzuzeichnen, so ist damit zunächst nur eine formale Beschreibung gegeben, die noch keinen Aufschluss darüber gibt, was den Exegeten inhaltlich an diesem Kommunikationsprozess interessiert. M.a.W. wir haben uns der Frage zu stellen: Worauf wollen wir eigentlich hinaus, wenn wir historische Rekonstruktionen wagen? Hier wäre wohl im weitesten Sinne vom Glauben der frühen Christen zu sprechen. Dabei scheint mir die von Gerd Theißen 9 vorgeschlagene Verwendung allgemeiner religionswissenschaftlicher Kategorien zur Beschreibung des urchristlichen Glaubens hilfreich, für die u.a. die Überzeugung maßgeblich ist, dass die Interpretation theologischer Gedanken aus ihrem realen Lebenskontext heraus zu geschehen hat, weil Religion kein Ideengebäude, sondern Ausdruck des ganzen Lebens ist. Zu fragen ist daher nach den religiösen Erfahrungen, die im Hintergrund der Texte stehen. Ich rede damit nicht psychologisierenden Varianten der Textauslegung das Wort, schon gar nicht einer tiefenpsychologischen Exegese. Mit dem Begriff der religiösen Erfahrung möchte ich nicht psychische Befindlichkeiten oder archetypische Bilder beschrieben wissen, sondern viel pragmatischer die konkreten alltäglichen oder unalltäglichen Lebensvollzüge und die darin sich auswirkende Dynamik des Glaubens. Mir ist die Kategorie der religiösen Erfahrung vor allem deshalb wichtig, weil sie dazu nötigt, noch konkreter nach dem historischen Ort eines Textes bzw. nach seiner historischen Individualität zu fragen. Die Schwierigkeiten, die damit verbunden sind, liegen freilich auch auf der Hand: Die Texte bieten uns ja nicht die religiösen Erfahrungen selbst, sondern lediglich eine Form ihrer verobjektivierenden Darstellung. Selbst wenn man die Gültigkeit der von Klaus Berger betonten prinzipiellen Konsubstantialität religiöser Erfahrungen und ihrer Ausdrucksformen 10 voraussetzt, ist es doch nur in einem spekulativen Verfahren möglich, Rückschlüsse von der Textebene auf die Erfahrungsebene zu wagen. Begründet eingehen lässt sich dieses Wagnis m.E. dort, wo wir in der Lage sind, aufgrund antiker Texte die »Alltagserfahrung« nachzuzeichnen, die im Hintergrund einer aus den Texten erschlossenen religiösen Erfahrung gestanden haben könnte. Ich will versuchen, das an einem Beispiel zu erläutern. 11 In Mk 1,12f. wird berichtet, dass der Geist Jesus im Anschluss an die Taufe durch Johannes plötzlich »hinauswirft« in die Wüste, wo er vierzig Tage den Versuchungen des Satans zu widerstehen hat. Das griechische Verb ekballein kann sowohl hinausstoßen, hinauswerfen, hinaustreiben bedeuten und damit einen mehr oder weniger gewaltsamen Vorgang beschreiben, als auch die Bedeutung hinausführen, aussenden haben, die völlig frei von solchen Gewalt-Konnotationen ist. Es ist also zumindest lexikalisch möglich, diese Stelle so auszulegen, wie z.B. Joachim Gnilka es in seinem Markus-Kommentar 12 getan hat, und ekballein nicht im Sinne der Gewalt, eines Hinausstoßens oder Hinauswerfens zu verstehen, sondern schlicht als »Führung« des Geistes. Gemeint sei lediglich - so Gnilka -, dass Jesus sich auf »Anregung Gottes« in die Wüste begeben habe. 13 Ich halte diese Auslegung nicht nur deswegen für zweifelhaft, weil sie die eindeutig unanstößigere Bedeutungsvariante wählt, sondern vor allem auch deshalb, weil sie so eingängig glatt ist, dass sie gar nicht mehr nach eventuell im Hintergrund stehenden religiösen Erfahrungen fragen lässt. Diese könnten jedoch in zwei Richtungen gesucht werden: Erstens in Richtung des Exorzismus und zweitens in Richtung der pneumatischen Entrückung. Beide Vorstellungszusammenhänge konvergieren darin, dass sie den Geist als eine bis ins Physische hinein wirkende Macht sehen. Sieht man in dem Verb ekballein mit Walter Schmithals einen terminus technicus der Exorzismussprache, 14 der das gewaltsame Hinauswerfen der Dämonen durch den heiligen Geist beschreibt, so wäre der religiö- 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 14 ZNT 13 (7. Jg. 2004) 15 Axel von Dobbeler Der Exeget als Historiker und Theologe se Erfahrungshintergrund, von dem her der Wüstenaufenthalt Jesu verständlich gemacht werden soll, die Erfahrung der destruktiven Mächtigkeit der Dämonen bzw. der Befreiung von dieser dämonischen Macht durch einen gewaltsamen, auch physisch sich auswirkenden pneumatischen Akt. Wenn man dies dann allerdings mit Walther Schmithals so auslegt, dass der Weg Jesu in die Wüste »aus der Nacht des Unheils in das Licht Gottes« führt, »das dem leuchtet, der nicht mehr auf das Verfügbare traut«, 15 dann wird dabei nicht mehr mit einer uns vielleicht fremden religiösen Erfahrung gerechnet, die sich in der Vorstellung vom Hinausgetriebenwerden durch den Geist ausdrückt, sondern diese illustriert dann nur auf mythologische Weise etwas von uns längst zuvor Gewusstes: dass nämlich das Heil in einem neuen Selbstverständnis liegt, das nicht mehr auf Verfügbares traut. Damit wird dem alten Text aber jede innovative Potenz genommen. Er sagt nur auf seine etwas skurrile Art, was wir längst wissen. Ich halte es im übrigen für wahrscheinlicher, dass Mk 1,12f. auf die Vorstellung einer physischen Entrückung durch den Geist deutet, die prophetischen Kreisen entstammt. Für diese Vorstellung ist kennzeichnend, dass der Geist Gottes als eine physisch wirksame Kraft gesehen wird, die Menschen räumlich-real über Distanzen hinweg befördert, und zwar so, dass die Distanzen nicht erlebt werden. Die pneumatische Entrückung wird dabei als ein heftiges und plötzliches Geschehen dargestellt. Der Entrückte wird abrupt hinweggerissen, emporgehoben, fortgeschleppt und an einen anderen Ort geschleudert. Visionäre Erlebnisse können die Entrückung begleiten. Welche konkreten Erfahrungen könnten hier im Hintergrund stehen? Die Aufnahme der Vorstellung in Ez 3,14; 8,3 und 11,1 und im Hirten des Hermas (v) 1,1,3 und 2,1,1 legen es nahe, an spezielle Reise-Erfahrungen bzw. eine besondere Weise der Wanderschaft zu denken: Beim Wandern wird durch Formen der Doxologie bzw. der Meditation ein Zustand erzeugt, in dem Wege äußerster Schwierigkeit wie im Flug überwunden werden. Die konkrete Erfahrung eines in seiner Länge und in seiner Beschwerlichkeit nicht mehr wahrgenommenen Weges könnte auf der Erzählebene, die dieses Erleben als objektives Geschehen darstellt, dann als Entrückung durch den Geist beschrieben worden sein. Wichtig ist mir bei diesem Erklärungsversuch, dass er nicht im Sinne einer rationalistischen Auslegung verstanden wird; vielmehr ist davon auszugehen, dass der Geist Gottes durchaus real als eine physisch wirksame Macht erfahren wurde. Darauf deuten in den Berichten schon die Heftigkeit und die Unberechenbarkeit des Geschehens, auf die der Prophet z.T. mit Angst oder auch mit totaler Erschöpfung reagiert. Unser Ziel kann es nicht sein aufdecken zu wollen, was denn wirklich geschah, wenn die Alten von einer pneumatischen Entrückung sprachen, sondern umgekehrt zu zeigen, in welchen Erfahrungsfeldern diese pneumatische Macht als so leibhaftig erlebt werden konnte. Und ein solches Erfahrungsfeld scheinen Wanderungen oder Reisen gewesen zu sein. Ein kurzer Abschnitt aus den Jüdischen Altertümern des Flavius Josephus könnte darüber hinaus die Alltagserfahrung dokumentieren, die im Hintergrund der vermuteten prophetischen Erfahrung stand: In JosAnt 8,124 wird von Pilgern berichtet, die sich auf dem Heimweg befinden. Durch Gebete, Frohlocken und Singen von Hymnen legen sie den Weg so zurück, dass sie dessen Beschwernisse nicht empfinden. In prophetischen Kreisen scheint nun die hier beschriebene Erfahrung von Pilgergruppen zu einer noch verfeinerter Praxis gesteigert worden zu sein. Hier traten an die Stelle des Singens und Betens Formen der Meditation und des visionären Erlebens, die in noch stärkerem Maße die Mühen des Weges vergessen ließen, so dass die Wanderschaft als ein körperlich reales Hinweggerissenwerden durch den Geist erfahren wurde. Als sozialgeschichtlichen Hintergrund der Trägergruppen dieser Tradition werden wir von daher die Lebenspraxis wandernder Propheten und Pneumatiker anzunehmen haben. Die Vorstellung der pneumatischen Translokation bot die Möglichkeit, Erfahrungen der Wanderschaft und der z.T. wohl als äußerst heftig erlebten Wirkungen des Geistes aufeinander zu beziehen. »Dem Text seine eigene Stimme wiederzugewinnen« bedeutet, Mk 1,12f. als einen Niederschlag oder eine Ausdrucksform jener Erfahrung der körperlich-realen Mächtigkeit des Geistes zu hören, die in bestimmten prophetischen Kreisen 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 15 16 ZNT 13 (7. Jg. 2004) Zum Thema zuhause gewesen zu sein scheint. Näherhin wird diese Erfahrung hier funktional zur Kennzeichnung der Bedeutsamkeit Jesu verwandt; Jesus wird im Rahmen des skizzierten Erfahrungsfeldes prophetischer Pneumatiker beschrieben: Er erscheint dadurch als ein Geistträger, an dem sich die Macht des heiligen Pneuma körperlich-real auswirkt, seine besondere Stellung wird mit den Kategorien der dieser Geisterfahrung zugeordneten Vorstellung einer pneumatischen Entrückung geschildert. Im Kommunikationsprozess zwischen Markus und den Erstrezipienten seines Evangeliums wäre dies dann als ein Akzent der intentio auctoris zu verstehen, die beim Evangelisten und seinen Lesern eine Vertrautheit mit diesem Feld religiöser Erfahrung und damit ein prophetisch-pneumatisch bestimmtes theologisches Milieu voraussetzt. 3. Der Theologe als Anwalt der Texte Dass Exegese in dem beschriebenen Sinn Anwältin der Texte zu sein hat, ist nicht nur mit der Redlichkeit historischen Forschens zu begründen, sondern setzt voraus, dass die Texte des Neuen Testaments im Rahmen von Theologie und Kirche eine autoritative Funktion und einen normativen Wert haben. Zwar hat die historische Forschung des Exegeten an die Texte des NT grundsätzlich keine anderen Maßstäbe anzulegen als an außerkanonische - christliche und nichtchristliche - Texte, als theologische Disziplin kann die Exegese aber von der besonderen Geltung, die diese Texte für Theologie und Kirche haben, auch nicht absehen. Zu fragen ist daher: Welche Bedeutung hat die Exegese im Rahmen der Theologie? Worin liegt die theologische Aufgabe des Exegeten? Meine These lautet: Als Theologe partizipiert der Exeget an der hermeneutischen Aufgabe der Schriftauslegung, die der Theologie insgesamt aufgetragen ist. Auch als Theologe ist der Exeget Anwalt der Texte des Neuen Testaments; sein hermeneutischer Beitrag liegt in der kritischen Konfrontation von Kirche und Theologie mit ihren eigenen Anfängen, also nicht jenseits seiner historischen Arbeit, sondern in ihr. Als Historiker ist der Exeget Theologe. Die theologische Bedeutung der Exegese basiert auf ihrer strikt historischen Arbeitsweise. Darin, dass sie den Texten ihre eigene Stimme zurückgewinnt und ihr Gehör verschafft, liegt ihr kritisches Potential für die gesamte Theologie. 3.1. Die »Zeugnisse des Anfangs« und die antidoketische Zielrichtung der Exegese Zurecht hat Wolfgang Schenk auf die Bedeutung der Tatsache hingewiesen, dass kein Text des Neuen Testaments als kanonischer Text entstanden ist. 16 Deswegen kann sich die Exegese nicht damit begnügen, die theologische Dignität der ntl. Schriften in dem Faktum ihrer späteren Kanonisierung begründet zu sehen. Klaus Berger hat die besondere theologische Relevanz der Schriften des Neuen Testaments dadurch zu fassen versucht, dass er sie als »Zeugnisse des Anfangs« bezeichnet hat. Berger meint damit, dass die Schriften des frühen Christentums unseren einzigen Zugang zu Jesus Christus als dem Zentrum des christlichen Glaubens bilden, 17 und versucht so, ihre theologische Würde nicht nur vom Formalprinzip ihrer Kanonizität herzuleiten, sondern inhaltlich zu begründen - und zwar unter Berücksichtigung ihrer Historizität. 18 M.a.W. ihr theologischer Wert liegt nicht in ihrer zeitlosen oder übergeschichtlichen Qualität, sondern gerade in ihrer historischen Gebundenheit. Die konsequent historische Arbeitsweise des Exegeten und die Würdigung der ntl. Schriften als »Zeugnisse des Anfangs« hat theologisch eine antidoketische Zielrichtung. Sie präsentiert die Texte des NT nicht als Dokumente übergeschichtlicher Wahrheiten, sondern als originäre Produkte ihrer Zeit, die das Wirken und Geschick Jesu von Nazareth in einer z.T. sehr unterschiedlichen Weise deutend reflektieren. Die Würdigung gerade der Zeitgebundenheit der Texte ist theologisch vom Gedanken der Inkarnation her zu begründen. Die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus ist weder bloße Idee noch zeitloser Mythos, sondern historisches »Als Theologe partizipiert der Exeget an der hermeneutischen Aufgabe der Schriftauslegung, die der Theologie insgesamt aufgetragen ist.« 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 16 ZNT 13 (7. Jg. 2004) 17 Axel von Dobbeler Der Exeget als Historiker und Theologe Ereignis, sie hat ein konkretes Datum und einen konkreten geschichtlichen Kontext. Damit hat das Christentum von seinem Zentrum her einen historischen Haftpunkt. Das Beharren darauf hat theologische Qualität, weil es vor jeder Form des Doketismus schützt. Indem die Exegese die Stimme der alten Texte in ihrer zeitgebundenen Eigenart historisch zu rekonstruieren sucht, erinnert sie im Gespräch mit den anderen theologischen Teildisziplinen an die Bedeutung der konkreten Geschichte für Theologie und Glauben. Wenn sich die Wahrheitsfrage theologisch nur von der Person Jesu Christi her entfalten lässt, so schließt das m.E. notwendig eine Hinwendung zur historischen Konkretion ein. Ich plädiere also für eine theologische Rehabilitierung der Dimension der konkreten Geschichte. Sie als »krude Historie« abzutun, die für den Glauben ohne Bedeutung ist, entspricht m.E. nicht dem biblischen Denken und birgt die Gefahr einer Verflüchtigung der christlichen Religion in einen zeitlosen Mythos oder in eine philosophische Anthropologie. 19 Der Exeget insistiert als Anwalt der historischen Eigenart der »Zeugnisse des Anfangs« auf der in diesen Zeugnissen zutage tretenden theologischen Relevanz der Historizität dieses Anfangs. 3.2. Die »Zeugnisse des Anfangs« und der Reichtum der Pluralität Der Rekurs auf den Anfang des Christentums birgt freilich selbst wieder Gefahren in sich. Er wird dort problematisch, wo er einhergeht mit dem Versuch, die Einheitlichkeit dieses Anfangs zu erweisen. So unaufgebbar aus meiner Sicht das Festhalten an der Bedeutung des historischen Jesus für Theologie und Glauben ist, so sehr gebietet es die historische Redlichkeit anzuerkennen, dass die Zeugnisse des Anfangs uns ein sehr vielgestaltiges Bild vermitteln. Der Exeget wird daher allen Versuchen, einen fiktiven einheitlichen Ursprung des Christentums festzulegen, ein Veto entgegensetzen. Historisch lässt sich nur die ursprüngliche Vielfalt des Christentums ermitteln, und auch die dritte Runde der Frage nach dem historischen Jesus hat nur erneut gezeigt, dass es aus Gründen der methodischen Sauberkeit und der historischen Redlichkeit nicht möglich ist, die uns in den Quellen begegnende Vieldeutigkeit auf eine ersehnte Eindeutigkeit des Ursprungs zurückzuschneiden. Die Erkenntnis und Anerkenntnis der Pluralität des Anfangs ist aber nicht nur Ausdruck einer gewissen Resignation des Historikers, der angesichts der Quellenlage seine Grenzen sieht, sondern hat m.E. eine sich vom Evangelium selbst herleitende theologische Qualität, steht sie doch allen Bemühungen entgegen, das Evangelium als Orthodoxie zu definieren. In einer für mich überzeugenden Weise hat François Vouga gezeigt, dass die ursprüngliche Vielfalt zum Wesen und zur Identität des Christentums gehört und seine Einheit nicht bedroht, sondern qualifiziert. 20 Vouga sieht im paulinischen Verständnis des Evangeliums das Programm eines pluralistischen Universalismus und universalistischen Pluralismus grundgelegt, das sich ekklesiologisch in der Leib- Christi-Metapher und in der Organisation der paulinischen Mission niederschlägt. 21 Im Zentrum des Evangeliums steht für Paulus die Botschaft, dass jeder von Gott als Person unabhängig von seinen Eigenschaften und deswegen auch mit seinen Eigenschaften bedingungslos anerkannt wird und dass die Einheit der Christen sich von ihrem Einssein in Christus her bestimmt, also eine die Verschiedenheiten nicht aufhebende, sondern sie umgreifende Einheit darstellt. Dadurch ist für Vouga das Evangelium als ein Überzeugungssystem qualifiziert, das »so strukturiert ist, dass die Pluralität Bestandteil seiner Einheit ist«. 22 Unter diesem Blickwinkel sind »Einheit und Vielfalt keine konträren Größen [...], die sich gegenseitig bedrohen oder begrenzen«, sondern Größen, die sich umgekehrt geradezu verstärken. 23 Die Vielfalt des Anfangs kann dann auch in ihren Spannungen und Widersprüchlichkeiten als ein theologischer Schatz entdeckt werden, steht sie doch ideologiekritisch allen Versuchen einer Monopolisierung der Wahrheit entgegen und weist die Theologie gerade unter dem Gedanken der Einheit der Christen auf den Weg des Dialogs. 3.3. Die »Zeugnisse des Anfangs« und die Frage der Verbindlichkeit Dass die Exegese durch ihre historische Forschung Pluralität als einen Reichtum entdecken lässt, ist aber nicht nur hinsichtlich der innerneutestamentlichen Vielfalt zu betonen, sondern auch 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 17 18 ZNT 13 (7. Jg. 2004) Zum Thema im Blick auf die Kanonfrage 24 . »Zeugnisse des Anfangs« sind ja keinesfalls nur die später kanonisierten Schriften, und die historische Arbeit des Exegeten endet daher nicht an den Grenzen des Kanons. Dass die Frage, wie denn dann historisch Grenzen zu ziehen sind und in welchem Zeitraum wir mit »Zeugnissen des Anfangs« zu rechnen haben, berechtigt ist, ist nicht zu bezweifeln. Wie schwer sie sachgerecht zu beantworten ist, zeigen die recht unterschiedlichen Vorschläge, die es dazu jüngst gegeben hat. Aber unabhängig davon, wie man sich hier entscheidet, bleibt es eine wesentliche theologische Aufgabe des Exegeten, den Blick über die Grenzen des Kanons hinaus zu weiten und damit die Frage des verbindlichen theologischen Redens offen zu halten. Die Suche nach sachgerechten Kriterien für die Verbindlichkeit theologischer Aussagen wird damit als eine permanente Aufgabe der Theologie hervorgehoben. Die Exegese löst diese Aufgabe nicht, sie profiliert sie aber in einer notwendigen Weise. 3.4. Die »Zeugnisse des Anfangs« im Spannungsfeld von historischer Explikation und theologischer Applikation Gleiches gilt auch für die Frage des Verhältnisses von historischer Explikation und theologischer Applikation. Auch hier sehe ich den Beitrag des Exegeten nicht in einer Problemlösung, sondern in einer Profilierung der hermeneutischen Aufgabe. Die Exegese kann nicht mit den Mitteln der historischen Forschung die einzig gültige Auslegung der Schriften liefern. Die Ergebnisse exegetischer Arbeit können die wissenschaftlich-theologische oder auch die naiv-gläubige Applikation biblischer Texte weder ersetzen noch sind sie in der Lage, den Königsweg der Interpretation zu weisen. Ihr theologisches Gewicht liegt vielmehr darin, dass sie durch die historische Rekonstruktion der eigenen Stimme der Texte eine Art Widerlager bereitstellen oder ein Gegengewicht oder Gegenpol zu jeder möglichen Applikation. Nicht die Spannung zwischen Text und Applikation aufzulösen, ist die Aufgabe des Exegeten, sondern sie bewusst zu machen. Der Exeget ist nicht Richter über die Schrift, sondern ihr Anwalt. Er urteilt nicht über das rechte Verständnis der Schrift, er besteht nur gegenüber jeder Applikation auf dem »audiatur et altera pars«. Dies ist nur dort zu gewährleisten, wo die eigene Stimme der Texte und das ihr eigentümliche Profil weder durch die Reduktion auf eine hinter den Texten vermutete »Sache« noch durch eine Verschmelzung der Horizonte des Auslegers und des Interpretanden abgeschliffen wird. Vielmehr wird der Exeget seine Aufgabe darin sehen zu gewährleisten, dass »wirklich zwei Horizonte miteinander kommunizieren«, 25 dass das Gespräch von Kirche und Theologie mit ihren eigenen Anfängen ein zur Veränderung hin offener Prozess bleibt und aus dem Dialog kein Monolog wird. In diesem Zusammenhang halte ich die von Klaus Berger ins Zentrum seiner hermeneutischen Überlegungen gestellte Kategorie der »Fremdheit der Texte« 26 für besonders hilfreich. 27 Der hermeneutische Beitrag des Exegeten ist es, einen Dialog zwischen der fremden Welt der Texte und der eigenen gegenwärtigen Weltsicht zu ermöglichen. In der Konfrontation mit dem Fremden und Anderen wird die eigene Glaubenshaltung herausgefordert und erst dadurch werden innovative Evidenzerfahrungen möglich. Aufgabe der Exegese ist es also nicht, in einem ersten Schritt die Zugänge zu den Schriften zu erleichtern, denn das würde sie nur verfügbar machen - die Texte wären dann kein kritisches Korrektiv mehr. Vielmehr gilt umgekehrt: Exegese bemüht sich, durch konsequent historische Forschung den Texten in ihrer Welt gerecht zu werden, in ihrer Eigenart, in ihren Fragen und Vorstellungen, in ihrer Fremdheit. Exegese bemüht sich also, davor zu bewahren, dass das NT nur zu einer Selbstbestätigung bestimmter theologischer oder kirchlicher Haltungen und Einstellungen »benutzt« wird. Das ist ihre ideologiekritische Funktion. 3.5. Die »Zeugnisse des Anfangs« und die Frage der christlichen Identität »Zeugnisse des Anfangs« sind die ntl. Schriften nicht nur, weil sie Person und Geschichte Jesu Christi deutend reflektieren, sondern noch in »Nicht die Spannung zwischen Text und Applikation aufzulösen, ist die Aufgabe des Exegeten, sondern sie bewusst zu machen.« 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 18 ZNT 13 (7. Jg. 2004) 19 Axel von Dobbeler Der Exeget als Historiker und Theologe einer weiteren Hinsicht. Sie sind auch Dokumente der Konsolidierung christlicher Identität und damit einer Zeit, in der sich in unterschiedlicher Intensität die Ablösungs- und Verselbständigungsprozesse vom Judentum vollzogen. Das Ineinandergreifen von Identitätsbildung und Differenzierung prägt die Anfänge des Christentums in entscheidender Weise. Insofern ist das frühe Christentum, näherhin die in Texten erhaltene Darstellung religiöser Erfahrung früher Christen, für die Frage der christlichen Identität zentral und zwar in der Ambivalenz von Kontinuität und Diskontinuität. Für eine Antwort auf die Frage, welchen Grad der Ausdifferenzierung die einzelnen Texte repräsentieren, ist aus meiner Sicht die von Dietrich Ritschl ins Gespräch gebrachte Kategorie der impliziten Axiome 28 hilfreich. Gemeint sind damit regulative Sätze, die ein religiöses System steuern und die auch dort, wo sie nicht explizit genannt sind, grundlegenden Charakter für dieses religiöse System haben. Die Veränderung solcher für das Judentum maßgeblicher impliziten Axiome kann als ein Indikator für den Grad der Ausdifferenzierung betrachtet werden. 29 Ich möchte dies abschließend an einem Beispiel 30 verdeutlichen: Im Zusammenhang der Frage nach den historischen und theologischen Wurzeln des christlichen Antijudaismus, gerät neben dem JohEv zunehmend auch das MtEv ins Blickfeld, u.a. wegen seiner massiven antipharisäischen Polemik. Ist es das Dokument eines urchristlich bereits ausgeprägten Antijudaismus oder umgekehrt gegen seine antijudaistische Wirkungsgeschichte in Schutz zu nehmen? Für diese Frage ist entscheidend, welchen Standort wir für das erste Evangelium im Prozess von Identitätsbildung und Ablösung ermitteln können. In der Forschung der letzten Jahrzehnte finden wir dazu die gesamte Bandbreite der denkbaren Antworten: von der Verortung »intra muros« des Judentums bis zur These einer rein heidenchristlichen Herkunft. Betrachten wir in diesem Zusammenhang als ein wichtiges Kriterium die Frage, inwieweit das für jüdische Identität zentrale Axiom der besonderen Stellung Israels im Gegenüber zu den Völkern im MtEv bewahrt oder verändert ist, so ist dies vor allem an den beiden Sendungsaufträgen in Mt 10,5b.6 und Mt 28,18-20 zu überprüfen. Nach Mt 28 werden die Jünger bekanntlich durch den Auferstandenen ausdrücklich zu allen Völkern gesandt; nach Mt 10,5b+6 ist ihnen dies jedoch ebenso ausdrücklich untersagt: »Nicht auf eine Straße der Heiden und nicht in eine Stadt der Samaritaner geht, sondern geht vielmehr zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel«. Wie ist das Verhältnis von exklusivem Partikularismus der Israel-Sendung und universaler Sendung zu den Völkern zu fassen? Gemeinhin wird angenommen, dass die Sendung zu Israel entweder durch den Missionsbefehl Mt 28 substituiert oder aber zu diesem hin ausgeweitet wird. In beiden Fällen wäre dann das Axiom einer besonderen Stellung Israels in der Völkerwelt für das MtEv nicht mehr gültig, und das würde bedeuten, dass die mt Gemeinde durch die Öffnung gegenüber der Heidenwelt auf dem Weg war, ihren Standort extra muros des Judentum zu suchen, christliche Identität sich mithin hier bereits im Gegenüber zum Judentum artikulierte. Unter diesen Voraussetzungen wären die massive mt Polemik gegen die Pharisäer Mt 23 und die Eintragung des sog. Blutwort des Volkes in die mt Passionsgeschichte Mt 27,25 in der Tat als Wurzeln eines originär christlichen Antijudaismus zu kennzeichnen. M.E. lässt sich aber zeigen, dass das Verhältnis der beiden Sendungslogien weder durch den Begriff der Substitution noch durch den der Entschränkung zu fassen ist, dass vielmehr beide Sendungsaufträge als komplementäre Wirkungen des Messias Jesus zu betrachten sind und einander aus der Sicht des ersten Evangelisten nicht widersprechen, sondern nebeneinander in Geltung bleiben. 31 Da die beiden Sendungslogien nicht nur unterschiedliche Zielgruppen anvisieren (Israel / Völker), sondern auch unterschiedliche Ziele verfolgen und entsprechend unterschiedliche Aufträge beinhalten, widersprechen sie einander nicht, sondern ergänzen sich. Sie unter dem Stichwort Mission zusammenzufassen, ist daher irreführend; vielmehr geht es im Blick auf Israel um die Restitution des am Boden liegenden Volkes, das aufgerichtet und so für die Herrschaft seines Gottes bereitet werden soll. Bei den Heiden geht es dagegen darum, sie allererst unter die Herrschaft des einen Gottes zu bringen, und das bedeutet: sie von den toten Götzen zu dem lebendigen Gott zu bekehren. Restitution Israels und Bekehrung der Heiden wären demnach die kom- 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 19 20 ZNT 13 (7. Jg. 2004) Zum Thema plementären Aspekte der einen messianischen Sendung, Mt 10 und Mt 28 mithin Aspekte einer Position, die die Gültigkeit des angenommenen impliziten Axioms der besonderen Stellung Israels in der Völkerwelt unberührt lässt. Dann ist der Standort des MtEv anders zu beschreiben: Das mt Christentum ist demnach im Rahmen der jüdischen Konsolidierungsbestrebungen nach der Katastrophe der Tempelzerstörung zu begreifen, und wir haben in der mt Gemeinde Juden zu sehen, die sich in der Nachfolge der messianischen Sendung Jesu zur Restitution Israels und zur Bekehrung der Heiden beauftragt wussten, ihre Identität selbstverständlich im Judentum sahen und dies gegenüber innerjüdischer - namentlich pharisäischer - Kritik zu verteidigen hatten. Im MtEv läge damit ein Modell christlicher Identitätsbestimmung vor, das eine Alternative zu der in der weiteren Geschichte des Christentums dann dominant gewordenen Form der Selbstdefinition auf Kosten Israels darstellt. Unter der Voraussetzung, dass die vorgetragene These historische Plausibilität besitzt, hat der Exeget die Stimme des ersten Evangeliums als eine jüdische Stimme zu Gehör zu bringen und das Verdikt des Antijudaismus strikt abzulehnen. Er kann sich freilich nicht darauf beschränken, die »Reinheit« des Anfangs herauszustellen, sondern muss sich theologisch auch der Wirkungsgeschichte des MtEv stellen, die zweifelsohne in einer dann mehrheitlich heidenchristlichen Kirche antijudaistische Züge getragen hat. Dem Exegeten wird es dabei darauf ankommen, nicht das eine gegen das andere auszuspielen, also weder die antijudaistischen Züge der Wirkungsgeschichte aufgrund der Reinheit des Anfangs intra muros des Judentums zu relativieren noch das MtEv selbst aufgrund seiner Wirkungsgeschichte als desavouiert zu betrachten. Das kritische Potential der Exegese für die Theologie liegt vielmehr gerade darin, dass sie die Spannungen zwischen den Anfängen und den Wirkungen nicht auflöst, sondern als eine theologische Herausforderung bewusst macht und damit den Rahmen absteckt, in dem gegenwärtige Entwicklungen in Kirche und Theologie eingeordnet und kritisch beurteilt werden müssen. Dazu würde bei unserem Beispiel dann auch die in letzter Zeit wieder heftiger gewordene Diskussion um die Judenmission gehören. l Anmerkungen 1 H. Botermann, Das Judenedikt des Kaisers Klaudius, Stuttgart 1996, 24 A. 39. 2 M. Hengel, Die johanneische Frage. Ein Lösungsversuch (WUNT 67),Tübingen 1993, 5. 3 G. Theißen, Hellenisten und Hebräer (Apg 6,1-6). Gab es eine Spaltung in der Urgemeinde? , in: H. Cancik / H. Lichtenberger / P. Schäfer (Hgg.), Geschichte-Tradition- Reflexion. FS M. Hengel, Bd. 3 (frühes Christentum), Tübingen 1996, 323-343, hier: 323. 4 A. Schlatter, Atheistische Methoden in der Theologie, BFchTh 9 (1905), Heft 5, 236f. [= Zur Theologie des Neuen Testaments und zur Dogmatik. Kleine Schriften (TB 41), München 1969, 139]. 5 R. Barthes, Die Lust am Text (BS 378), Frankfurt a.M. 1974, 7 1992, 43. 6 R. Barthes, »The Death of the Author«. Modern Criticism and Theory. Ed. David Lodge, London / New York 1988, 166-172 (= »la mort de l´auteur«. Le bruissement de la langue: Essais critiques IV, Paris 1984, 61-67). 7 Vgl. z.B. M. Mayordomo-Marín, Den Anfang hören. Leserorientierte Evangelienexegese am Beispiel von Matthäus 1-2 (FRLANT 180), Göttingen 1998; H. Frankemölle, Matthäus Kommentar 1.2, Düsseldorf, 1994.1997; M. Gielen, Der Konflikt Jesu mit den religiösen und politischen Autoritäten seines Volkes im Spiegel der matthäischen Jesusgeschichte (BBB 115), Bodenheim 1998. 8 Vgl. dazu H. Merklein, Integrative Bibelauslegung? Methodische und hermeneutische Aspekte, BiKi 44 (1989), 117-123. 9 G. Theißen, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000, 17-44. 10 K. Berger, Exegese des Neuen Testaments, Heidelberg 1977, 189; vgl. ders., Einführung in die Formgeschichte, Tübingen 1987, 72-84 11 Vgl. zum folgenden A. von Dobbeler, Der Evangelist Philippus in der Geschichte des Urchristentums. Eine prosopographische Skizze (TANZ 30), Tübingen 2000, 127-147. 12 J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus (Mk 1-8,26), EKK II/ 1, Zürich u.a. 1978, 56-60. 13 Gnilka, Markus, 56. 14 W. Schmithals, Das Evangelium nach Markus, Kapitel 1-9,1, ÖTK 2/ 1, Gütersloh / Würzburg 1979, 91. 15 Schmithals, Markus, 91. 16 Hermeneutik III (W. Schenk), TRE XV, Berlin / New York 1986, 144-150 17 K. Berger, Hermeneutik des Neuen Testaments, Tübingen / Basel 1999, 78. 18 Berger, Hermeneutik, 135. 19 Vgl. Berger, Hermeneutik, 74-76. 20 F. Vouga, Einheit und Vielfalt des frühen Christentums, ZNT 6 (2000), 47-53. 21 Vouga, Einheit, 48f. 22 Vouga, Einheit, 49. 23 Vouga, Einheit, 49. 24 Vgl. hierzu die Beiträge des Themenheftes »Kanon« ZNT 12 (2003). 25 M. Frank, Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und -interpretation nach Schleiermacher, Frankfurt / M. 1977, 34. 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 20 ZNT 13 (7. Jg. 2004) 21 Axel von Dobbeler Der Exeget als Historiker und Theologe 26 Hermeneutik, 76ff. 27 Vgl. auch S. Alkier, Fremdes Verstehen - Überlegungen auf dem Weg zu einer Ethik der Interpretation biblischer Schriften, ZNT 11 (2003),48-59. 28 D. Ritschl, Die Erfahrung der Wahrheit. Die Steuerung von Denken und Handeln durch implizite Axiome, in: ders., Konzepte, München 1986, 147-166. 29 Vgl. Theißen, Religion, 24f. 30 Vgl. zum folgenden A. von Dobbeler, Die Restitution Israels und die Bekehrung der Heiden. Das Verhältnis von Mt 10,5b.6 und Mt 28,18-20 unter dem Aspekt der Komplementarität. Erwägungen zum Standort des Matthäusevangeliums, ZNW 91 (2000), 18-44; ders., Wo liegen die Wurzeln des christlichen Antijudaismus? , ZNT 8 (2001), 42-47. 31 Vgl. zur Begründung von Dobbeler, Restitution, 18-44. Johann Albrecht Bengels „Gnomon“in neuer Studienausgabe A. Francke Verlag Tübingen und Basel Johann Albrecht Bengel Der Gnomon Lateinisch-deutsche Teilausgabe der Hauptschriften zur Rechtfertigung: Römer-, Galater-, Jakobusbrief und Bergpredigt. Nach dem Druck von 1835/ 36 herausgegeben und übersetzt von Heino Gaese 2003, 679 Seiten, gebunden, 148,-/ SFr 234,- ISBN 3-7720-8018-9 Seiner kritischen Ausgabe des Neuen Testaments im griechischen Urtext 1734 schloss der schwäbische Theologe Johann Albrecht Bengel (1687-1752) 1742 einen wissenschaftlichen Kommentar in lateinischer Sprache an, bedeutendes Zeugnis des Pietismus. Aus dem Werk in seiner ursprünglichen Gestalt werden hier die Hauptschriften zur Rechtfertigungslehre in einer neuen Studienausgabe vorgelegt. Wie der ganze Gnomon wurden sie bisher weder als Auslegung noch theologiegeschichtlich noch kirchengeschichtlich in Bezug auf die zeitgenössischen Kontroversen je eigentlich gewürdigt. Auch das geistesgeschichtliche Interesse, das sich unter Philosophen und Germanisten an den Namen Bengel knüpft, kann durch die Edition neue Nahrung finden. Die Übersetzung nimmt auf Bengels deutsche Schriften Rücksicht, weist auf Abweichungen der Auflagen hin und gibt traditionsgeschichtliche Hinweise. Zu Text und Übersetzung kommen Einleitung, Bibliographie sowie ein dreifaches Register. 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 21
