ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
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2004
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Dronsch Strecker VogelLiterarische Rezeptionen des »neuen Jerusalem« (Offb 21f.) als Impuls für Theologie und Praxis
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2004
Rita Müller-Fieberg
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ZNT 13 (7. Jg. 2004) 33 »Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde. [...] Und die heilige Stadt, das neue Jerusalem, sah ich herabkommen aus dem Himmel von Gott [...].« Was Johannes von Patmos in der Schlußvision seiner »Apokalypse« (Offb 21,1-22,5) als Szenario endzeitlichen Heils vor Augen stellt, ist an motivischer Vielfalt kaum zu übertreffen: Eine Stadt wie ein Würfel mit kosmischen Ausmaßen (Offb 21,16), ganz aus Gold (Offb 21,18) und übersät mit kostbarsten Steinen (Offb 21,19f.), gesegnet mit den Gütern des Paradieses (Offb 22,1f.), fernab allen irdischen Leids (Offb 21,4) und so durchdrungen von Gottes lichter Gegenwart, daß sie der Sonne und des Mondes nicht mehr bedarf (Offb 21,23; 22,5). Zu schön, um wahr zu sein? Oder anders gefragt: Offeriert dieser Text am Ende unseres christlichen Bibelkanons noch ein nachvollziehbares eschatologisches Denkmodell für uns WesteuropäerInnen zu Beginn des 21. Jh.? Welchen Stellenwert besitzt Offb 21f. in unserer theologischen Rede von Heil und von Zukunft heute? Ist es überhaupt wünschenswert, in der kirchlich-schulischen Praxis christliche Hoffnung gerade an diesem Text zu exemplifizieren? 1. Hermeneutischer Testfall einer Exegese zwischen Text- und Rezipientenorientierung In der Tat erweist sich die Jerusalemvision wie auch die Offb insgesamt als besonders geeignet, G.E. Lessings vielzitierten »garstigen breiten Graben« zwischen dem Damals und dem jeweiligen Jetzt offenkundig zu machen. Einige ihrer Bilder mögen über die Jahrtausende hinweg unmittelbar zugänglich sein. Andere erscheinen heutigen Lesern bestenfalls fremd, oft aber auch mißverständlich oder gar abstoßend. Doch als ein Text, der die existentiellen Fragen von Sinn und Ziel unserer Geschichte berührt, läßt sie sich nicht unter »ferner liefen...« beiseiteschieben - wenngleich das mit dieser unbequem anderen Schrift in der Theologiegeschichte immer wieder geschehen ist. Zweifelsohne besteht ein unverzichtbarer Beitrag zu einem wissenschaftlich verantwortbaren Zugang darin, den literarischen Kontext und die historische Situation der Jerusalemvision zu erhellen. Die traditionsgeschichtliche Analyse von Offb 21f. 1 zeigt, wie stark der judenchristliche Seher in Kontinuität zur jüdischen Zukunftshoffnung steht. Mit prophetischem Selbstverständnis und im Horizont der frühjüdischen Apokalyptik rezipiert er v.a. die atl. Propheten (vgl. die »Leittexte« Jes 65,17-20 und Ez 40-48) sowie den Pentateuch. In kreativer Weiterentwicklung läßt er eine eschatologische »Collage« entstehen, die durch seine vom Christusereignis geprägte Perspektive gleichwohl eine neue Stoßrichtung erhält. Mit seiner Heilsvision will er den angeschriebenen kleinasiatischen Christen am Ende des 1. Jh. eine Alternative zum ständigen Paktieren mit den Kräften des Imperium Romanum aufzeigen und greift kompromißlos-rigoros in das damalige Ringen um christliche Identität zugunsten einer strikten Abgrenzung von der paganen Umwelt ein. 2 Für eine heutige Wertschätzung heißt das: Offb 21f. stellt nur einen (wenn auch bedeutenden) Knotenpunkt im Geflecht eines langen Traditionsprozesses dar. Fast zweitausend Jahre vor unserer Zeit appliziert ihr Autor die Hoffnungen seiner Vorgänger und Zeitgenossen auf die konkrete Situation seiner Adressaten. Das Kennenlernen der historischen Hintergründe mildert manche Zugangsschwierigkeiten ab. Das Gewahrwerden des immensen historischen Abstands schärft gleichzeitig aber das Bewußtsein für die Distanz zwischen dem orientalischen Text der Antike und uns heutigen Rezipienten. Es Zum Thema Rita Müller-Fieberg Literarische Rezeptionen des »neuen Jerusalem« (Offb 21f.) als Impuls für Theologie und Praxis »Das Gewahrwerden des immensen historischen Abstands schärft gleichzeitig aber das Bewußtsein für die Distanz zwischen dem orientalischen Text der Antike und uns heutigen Rezipienten.« 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 33 34 ZNT 13 (7. Jg. 2004) Zum Thema läßt nicht selten selbst das, was wir unmittelbar zu verstehen glaubten, in einem neuen, fremden Licht erscheinen. So wichtig die Erfahrung unvereinnahmbarer Fremdheit auch ist, kann sie doch - wenn wir von der bleibenden Lebensrelevanz der Bibel überzeugt sind - nur die eine Seite unseres Umgangs mit biblischen Texten darstellen. Genauso bedeutsam ist es, die Seite der LeserInnen in ihrer jeweiligen geographischen, historischen und kulturellen Verortung in den Interpretationsprozeß mit einzubeziehen. Nur wenn wir auch im exegetischen Alltag realisieren und statt als Manko als Chance erkennen, daß eine jede Rezeption subjektiv-zeitgebunden ist, kann der »ferne« Text uns naherücken, kann der »alte« Text in unserer Wirklichkeit Neues in Gang setzen. Die Vision des neuen Jerusalem in Offb 21f. belegt besonders eindrucksvoll, daß sich der Prozeß des Rückgriffs auf biblische Traditionen bis heute fortsetzt. Neben dem Weiterleben in bildender Kunst und Architektur läßt ihre ästhetisch-poetische Formung noch einen bisher weniger beachteten Bereich ins Blickfeld treten: denjenigen der literarischen Rezeption. Der in den letzten Jahrzehnten intensivierte Dialog zwischen Theologie und Literatur(wissenschaft) hat die Produktivität einer Konfrontation biblischer Zeugnisse mit ihren literarischen Fortschreibungen zutagetreten lassen. Seismographisch vermögen literarische Texte die Fragen, Ängste und Sehnsüchte ihrer Zeit anzuzeigen. Gerade darum eröffnen sie oft frische Zugänge zu einem schon antiquiert geglaubten Text und können der exegetisch-theologischen Diskussion neue Impulse verleihen. 3 Am Beispiel von Offb 21f. sollen einige Ertragspotentiale eines solchen Dialogs aufgezeigt werden. Zwei Denkhorizonte sind dabei leitend: Zum einen sei die Frage aufgeworfen, in welchem Licht literarische Texte die christlicheschatologische(n) Perspektive(n) generell erscheinen lassen. Zum anderen muß Hoffnung, will sie nicht im luftleeren Raum verharren, immer in konkrete Formen gegossen werden. Wie wird diejenige, die der Seher Johannes fand - eine mit vielen Details versehene Stadtbeschreibung - durch die Jahrhunderte hinweg rezipiert? Wo liegt es, das »Jerusalem« der Schriftsteller? 2. Die »kupierte Apokalypse« - oder: Die christliche Hoffnungsperspektive auf dem Prüfstand Können wir auf »Heil«, auf Erlösung von allem Leid und allen Unzulänglichkeiten menschlicher Existenz hoffen? Die Antwort des Sehers lautet: Gott wird alle feindlichen Mächte besiegen und endgültig Gerechtigkeit schaffen. Mit ungebrochener Schöpferkraft läßt er eine neue Stadt vom Himmel herabkommen, die anders ist als alles, was ihr bisher kennengelernt habt! Die Antwort der Literaten fällt wesentlich uneindeutiger aus. Bis in die Gegenwart hinein besteht eine an Offb 21f. orientierte Linie traditioneller christlicher Jenseits- und / oder Endzeitrede. Bei affirmativer, oft wörtlicher Bindung an die biblische Vorgabe gedeiht die biblische Stadt zu der Himmelsschilderung schlechthin, besonders eindrucksvoll z.B. in John Bunyans Erbauungsbuch »The Pilgrim’s Progress from this World to that which is to come« (1678/ 1684) oder in den schlaraffenlandähnlichen Jenseitsschilderungen des Angelus Silesius (»Die ewige Freude der Seligen«). Inmitten von Naziterror und Zweitem Weltkrieg wählen christliche Schriftsteller wie Jochen Klepper (»Kyrie«, 1938) oder Reinhold Schneider (»Apokalypse«, 1943) die Bilder der Jerusalemvision, um in starker Antithese von gegenwärtiger Gerichtszeit und ewiger Heilsstadt die unverstellte Gottesnähe (vgl. u.a. Offb 22,3f.) tröstlich in Aussicht zu stellen. Zwei Trends sind den genannten Texten gemeinsam. Zum einen wird das »neue Jerusalem« als streng jenseitige Größe gezeichnet, zum anderen geht mit diesem Ansatz fast immer eine starke Individualisierung der Heilshoffnung einher, die die eschatologische Fragestellung auf das Ergehen des Einzelnen nach seinem persönlichen Tod reduziert. Daß es auch im christlich-literarischen Spektrum andere Stimmen gibt, belegt das in den fünf- »Der in den letzten Jahrzehnten intensivierte Dialog zwischen Theologie und Literatur(wissenschaft) hat die Produktivität einer Konfrontation biblischer Zeugnisse mit ihren literarischen Fortschreibungen zutagetreten lassen.« 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 34 ZNT 13 (7. Jg. 2004) 35 Rita Müller-Fieberg Literarische Rezeptionen des »neuen Jerusalem« ziger Jahren des 20. Jh. entstandene Gedicht »Apocalipsis« des nicaraguanischen Priesters und Politikers Ernesto Cardenal. Konsequent überträgt Cardenal die biblische Apokalypse bei formaler Kontinuität in die aktuelle Erfahrungswelt und paßt sie dem wissenschaftlichen Kenntnisstand seiner Gegenwart an. Sowohl Untergang als auch Neuschöpfung erhalten dabei ein modernes Gesicht. »Y vi en la biología de la Tierra una nueva Evolución«, 4 so lautet der mit Offb 21,1 korrespondierende Vers. An die Stelle des Dualismus von Alt und Neu, von Diesseits und Jenseits rückt ein innerweltlicher Vervollkommnungsprozeß, der in der »Biologie der Erde« angelegt ist und nur noch entfaltet werden braucht. Das Bild der Stadt weicht demjenigen einer Zelle mit kosmischen Dimensionen, in der jeder einzelne seine persönliche Freiheit behält und doch alle zusammen einen einzigen harmonischen Organismus bilden. Beachtlich ist, daß zumindest im christlichen Binnenkontext die Vision des Johannes bis in die Gegenwart hinein ein reaktivierbares Identifikationsangebot darstellt. Wie der biblische Seher in Bedrängnis die Zuversicht auf die Herrschaft Gottes nicht aufgibt, üben solche Texte besonders in Situationen politischer oder wirtschaftlicher Unterdrückung Trost- und Ermutigungsfunktion aus, bei Cardenal auch mit dem Impuls zum Handeln verbunden. Was aber, wenn die klare Heilsperspektive als solche brüchig wird und die Evokation einer ewig-glückseligen Stadt nur noch den schalen Beigeschmack des Eskapismus hat? Stellvertretend für andere explizite Infragestellungen der biblischen Heilsvision sei hier aus Stefan Heyms Roman »Ahasver« (1981) zitiert. Den Bogen von der Schöpfung bis zur endgültigen Vernichtung der Erde spannend, läßt der von Geburt jüdische Autor in der »apokalyptischen« Schlußszene den »Rabbi« Jesus einem gleichgültigen Gott entgegentreten, dem die eigene Schöpfung entglitten ist: »Dieser GOtt ist nirgends; [...] und ich, des Menschen Sohn, bin GOtt an seiner Statt, und ich will tun, was Er geschworen, aber nie erfüllt hat; ich will einen neuen Himmel schaffen und eine neue Erde [...].« 5 Doch seine Hoffnung, der Zerstörung möge sich die verheißene Neuschöpfung anschließen, wird nicht erfüllt: »Aber immer noch stürmte der Rabbi vorwärts, und sein Heerscharen ihm nach, auf der Suche nach dem himmlischen Jerusalem, welches aus Jaspis ist und lauterem Golde und zwölf Tore hat [...] und über ihnen der große Tempel aus weißem Marmelstein, in dessen Allerheiligstem GOtt selber thront auf einsamem Thron [...]; doch nirgendwo fand sich eine solche Stadt...« 6 Nichts als eine abgedroschene Utopie bleibt von den Hoffnungen auf ewiges Heil. Letztlich bleiben wir, so Heym, gefangen in den Ambivalenzen des hiesigen Daseins. Der Roman Heyms ist ein Beispiel für die »apokalyptische Literatur«, die sich im deutschsprachigen Raum des 20. Jh. in drei großen Schüben abzeichnete: Zur Zeit des Ersten Weltkrieges gaben v.a. Expressionisten wie Georg Trakl oder Johannes R. Becher ihrer Sehnsucht nach umwälzender Veränderung Ausdruck, doch erscheint dort, wo die Motivik von Offb 21f. anklingt, das Ersehnte diffus und losgelöst von der ursprünglichen jüdisch-christlichen Weltdeutung. Auf die Schrecken des Dritten Reiches reagierten neben christlichen Autoren (s.o.) v.a. auch jüdische Dichter wie z.B. Nelly Sachs oder Paul Celan. Und in der bislang jüngsten Welle »apokalyptischer Literatur« im Zeichen von atomarer Bedrohung und befürchtetem Ökozid zeichnen Autoren wie Christa Wolf (»Störfall«, 1987) oder Günter Grass (»Die Rättin«, 1986) das Bild von Rita Müller-Fieberg Rita Müller-Fieberg, Jahrgang 1968, studierte Katholische Theologie, Französisch und Germanistik in Mainz, Toulouse und Bonn. 1. und 2. Staatsexamen für das Lehramt der Sekundarstufen II/ I. Promotion 2003 in Bonn über Offb 21f. im Kontext von alttestamentlich-frühjüdischer Tradition und literarischer Rezeption. Seit 1998 wissenschaftliche Mitarbeiterin für Neues Testament am Institut für Katholische Theologie der Justus-Liebig-Universität Gießen. 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 35 36 ZNT 13 (7. Jg. 2004) Zum Thema der Unweigerlichkeit einer von Menschenhand herbeigeführten Katastrophe. Entgegen der ursprünglichen Semantik (apokalypsis = »Offenbarung«, »Enthüllung«) ist dem Begriff in der »apokalyptischen Literatur« jedoch eine bedenkenswerte »Kupierung« 7 widerfahren: Die Zerstörung, in den biblischen Texten nur Voraussetzung für die Entstehung neuen Heils, stellt nun das eigentliche Finale dar, die Hoffnung auf die Errichtung einer neuen Welt hingegen fehlt. Der Bildkomplex von Offb 21f. erscheint höchstens noch in Motivsplittern und wird an den Rand gedrängt. »Der Katastrophe gewinnt die Literatur der Moderne allemal mehr ab als dem Glück. Konkretisierungen des kommenden idealen Reiches wie noch in den alt- und neutestamentlichen Apokalypsen sind der Trivialität verdächtig. [...] Wir erlauben uns nicht mehr, das neue Reich zu denken.« 8 Ist eine noch größere Herausforderung an eine christliche Eschatologie vorstellbar? 3. »Translatio Hierosolymae«- oder: »Jerusalem« ist überall (und nirgends? ) Nicht alle literarischen Texte greifen das Motiv der Gottesstadt im Kontext der traditionellen Jenseits- und Endzeiterwartung auf. Gerade die Entwürfe jüdischer Schriftsteller verweisen immer wieder auf die Fokussierung der heiligen Stätte im irdischen Jerusalem, wenngleich auch hier fließende Übergänge und Ambivalenzen zu finden sind, die »Jerusalem« zu einer multivalenten Metapher der Sehnsucht werden lassen: »Ich suche allerlanden eine Stadt, / Die einen Engel vor der Pforte hat.« 9 Christlicherseits dagegen läßt sich von Anfang an ein starker Trend zur Entkonkretisierung und Spiritualisierung erkennen, verbunden mit der Loslösung von der irdischen Stadt und einer »translatio Hierosolymae« 10 auf andere Örtlichkeiten und Erfahrungen: »If the true Jerusalem is located in heaven or elsewhere upon earth, the Old City upon the hills of Judaea has lost its unique signification.« 11 3.1. Projektion auf andere Städte und Länder Nachhaltigen Einfluß übte die Vision des Johannes auf den Städtebau aus, wobei das Motiv einer »neuen Welt« auch die Dimension ganzer Länder oder Kontinente mit einbezieht. So verlagert William Blake in seinem Versepos »Milton« (1809) das neue Jerusalem in die englische Heimat. Schon vor dem »Sündenfall« der Menschheit hätten England und Jerusalem eine Einheit gebildet, in der Gott und Lamm gegenwärtig gewesen seien: »And did those feet in ancient time Walk upon England’s mountains green? And was the holy Lamb of God On England’s pleasant pastures seen? And did the Countenance Divine Shine forth upon our clouded hills? And was Jerusalem builded here Among these dark Satanic mills? « 12 Aus dieser Vorstellung erwächst ein leidenschaftlicher Appell zu einer erneuten Aufrichtung der »heiligen Stadt« in englischen Gefilden: »I will not cease from mental fight, Nor shall my sword sleep in my hand, Till we have built Jerusalem, In England’s green and pleasant land.« 13 Blakes ursprünglich die Folgen der industriellen Revolution kritisierendes Gedicht gedieh im 20. Jh. zu einer Art zweiter englischer Nationalhymne, mit Inbrunst gesungen bei Versammlungen der Labour Party, bei Arbeiterstreiks oder bei Kundgebungen der Frauenbewegung. Es stellt so Heinrich Bünting (1545-1606), ein lutherischer Theologe aus Hannover, verfasste unter anderem das Werk Itinerarium Sacrae Scripturae, welches eine biblische Geographie darstellt und bis zu zwölf Karten enthält. Die gezeigte Karte stellt die Welt als Kleeblatt dar. Den Mittelpunkt bildet das heilige Land, darin eingebettet befindet sich Jerusalem. 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 36 ZNT 13 (7. Jg. 2004) 37 Rita Müller-Fieberg Literarische Rezeptionen des »neuen Jerusalem« ein eindrucksvolles Zeugnis für die (literarisch vermittelte) suggestive Kraft des Jerusalemmotivs dar - freilich unter der von der Bibel abweichenden Prämisse, das »neue Jerusalem« sei nicht gänzlich Gottesgabe, sondern von Menschenhand zu erkämpfen und zu errichten. Auch in Charles Baudelaires »Rêve parisien« (1881) entspringt die »Traumstadt« allein dem Rausch des mit einem Künstler verglichenen lyrischen Ichs. In starker Parallelität zum neuen Jerusalem verfügt sie über immense Ausmaße und besteht aus den edelsten Materialien. Der Eindruck ihrer Kostbarkeit wird potenziert durch den Wasserreichtum, dessen Glanzeffekte der Stadt ein kristallines Angesicht verleihen. Wie das Jerusalem der Offb bedarf die Traumstadt keiner Gestirne mehr. Doch trotz ihrer Ausstrahlung von Zeitlosigkeit und Unendlichkeit läßt sich kein größerer Gegensatz zur Gottesstadt der Offb denken. Nicht die»Doxa Gottes« (Offb 21,23) bewirkt das selbständige Leuchten der Stadt, und anders als der »Strom von Wasser des Lebens« (Offb 21,6; 22,1) erfüllen die Gewässer dort keinerlei lebensspendende Funktion. Alles Natürlich- Kreatürliche ist der perfekten Monotonie und Regelmäßigkeit, der Kälte und Sterilität gewichen. Das »Neue« bringt dem Träumer keine Erlösung, unweigerlich folgt die Rückkehr in den trostlosen Alltag. Bleibende Erfüllung kann weder das reale noch das geträumte Paris bieten. 3.2. Transposition in die Liebesbeziehung An einer anderen wesentlichen Aussage von Offb 21f. knüpfen Literaten an, die die verheißene unmittelbare Gott-Mensch-Beziehung auf zwischenmenschliche intime Beziehungen übertragen. David Herbert Lawrence z.B. läßt in »New Heaven and Earth« (1917) die Ehefrau des lyrischen Ichs als exotisches »neues« Land erscheinen, als lebensspendende Kraft und Befreiung aus narzistischer Selbstfixierung. An die Stelle der Gottesbeziehung rückt die im irdischen Hier und Jetzt erfahrbare erotische Liebe. Auch in Paul Celans spätem Gedicht »Die Pole«, 1976 posthum veröffentlicht, werden die Geliebten einander zum »Jerusalem«, gewinnen sie ihre Identität erst im Loslassen ihrer selbst und antizipieren auf diese Weise die eschatologische Wirklichkeit. Die im Zentrum des Gedichts stehende Aufforderung »sag, daß Jerusalem i s t« 14 wird dabei zum Inbegriff der Sehnsucht nach einer anderen Wirklichkeit jenseits der die conditio humana bestimmenden Polaritäten von Ich und Du, Tod und Leben, Immanenz und Transzendenz. 3.3. »Jerusalem« zwischen Alptraum und Traum Immer wieder wurde die Jerusalemvision auch zum Ausgangspunkt utopisch-phantastischer Entwürfe. Während die klassischen frühneuzeitlichen Stadtutopien wie Campanellas »La Città del Sole« (1602) oder Andreaes »Christianapolis« (1619) noch optimistisch-alternative Ordnungen in Anlehnung an Offb 21f. entwarfen, verwandeln sich neuere »Utopien« v.a. des 20. Jh. häufig in »Anti-Utopien«, die sie der modernen »apokalyptischen« Literatur immer ähnlicher werden lassen. So liest sich z.B. der Roman »Die andere Seite« (1909) von Alfred Kubin zunächst wie eine typische Utopie. Das Traumreich »Perle« (Offb 21,21), das der fiktive Ich-Erzähler auf Einladung des Herrschers Patera besucht, erinnert hinsichtlich seiner Mauer und Tore sowie seiner äußeren Harmonie an die Stadt der Offb und erweist sich erst beim näheren Kennenlernen als dessen Antitypos: Im Gegensatz zur biblischen neuen Schöpfung existiert in Perle nur Altes. Ohne Sonne und Mond und nur notdürftig künstlich beleuchtet, ist die Stadt in ständiges Zwielicht getaucht, erscheint farblos, stumpf und tot. Der gottähnliche Patera ist für die Bewohner nirgendwo wirklich greifbar, und doch erdrückt seine Allgegenwart jegliches Eigenleben. Pateras Gegenspieler Bell will die Bewohner aus dem Zustand der Lethargie herausreißen und ruft zur Revolte auf. Unter seinem Einfluß nimmt die Stadt Züge Babylons an, wandelt sich die ohnehin schon ambivalente Utopie zur »Apokalypse«. In einem großen Endkampf siegt Bell über den sterbenden Patera, doch hat »An einer anderen wesentlichen Aussage von Offb 21f. knüpfen Literaten an, die die verheißene unmittelbare Gott-Mensch- Beziehung auf zwischenmenschliche intime Beziehungen übertragen.« 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 37 38 ZNT 13 (7. Jg. 2004) Zum Thema auch er mit der Vernichtung Perles alles verloren, wofür er kämpfte. Kubins Roman kehrt nicht bloß die in der Offb vorfindliche Reihenfolge von Untergang und »Heilszustand« um, vielmehr handelt es sich um ein prinzipielles Oszillieren zwischen »Himmel« und »Hölle«. »Jerusalem« und »Babylon« fließen ebenso ineinander wie die am Ende miteinander verschmelzenden Antagonisten Patera und Bell. Das Scheitern der Illusion einer »heilen Welt« ist verbunden mit der Erkenntnis, »daß sich dies widersprechende Doppelspiel in uns fortsetzt.« 15 Leben und Tod, Gott und Teufel ringen, so die Botschaft des Romans, in einem jeden Menschen miteinander, ohne daß jemals das eine in Reinform ohne das andere zu haben wäre. Auch Doris Lessing verlegt in »Shikasta« (1979) ihren Entwurf an einen fernen Ort, nämlich in die Science-Fiction- Welt der Planeten und Sterne. Doch folgt sie ganz dem biblischen Erzählduktus vom Sündenfall bis zu einem anbrechenden Neubeginn. Der einst so fruchtbare Planet »Rohanda« wird durch die Hybris seiner Bewohner gegenüber der sie regierenden Intelligenz des Sternenreichs Canopus zu »Shikasta«, dem »verwundeten« und schließlich in einer globalen Katastrophe weitgehend vernichtet. Doch steht in den schlimmsten Wirren schon fest, daß Canopus für diejenigen Rettung bereithält, die sein Zeichen tragen (Offb 7,3ff.). So wohnen die Überlebenden der Errichtung von Städten bei, die in unendlicher Vervielfachung das neue Jerusalem spiegeln. Sie zeichnen sich aus durch harmonische Symmetrie und einen Platz mit einem sprudelnden Springbrunnen in ihrer Mitte (Offb 22,1f.). Unfriede, Angst und Verzweiflung erscheinen so weit weg, als ob sie nie existiert hätten (Offb 21,4). Die Bewohner spüren ihre Lebendigkeit, fühlen sich gereinigt und geheilt von den Leiden der Vergangenheit, sind eins mit sich selbst und miteinander. Zwar haben sie selbst die neuen Städte errichtet, doch auf eine höhere Eingebung hin, die sie zunächst die Quelle finden läßt, um die sie bauen können. Ganz im Sinne von Offb 21,6 speisen ihre Städte sich aus einer »Quelle des Lebens«, bleiben sie letztlich Geschenk. 4. Theologische Schlußfolgerungen Bereits die kleine Textauswahl spiegelt etwas von der großen Vielfalt der Rezeptionspotentiale, die aus der Mehrdimensionalität der Jerusalemsymbolik erwachsen. Welche Impulse können von diesem vielgestaltigen Fortleben des biblischen Motivkomplexes für die heutige Exegese und Theologie von Offb 21f. ausgehen? 4.1. Gratwanderung zwischen den Extremen Ein tiefes Unbehagen und Abgrenzungstendenzen gegenüber dem als »suspekt« empfundenen Phänomen der Apokalyptik (oder dem, was man darunter zu verstehen glaubt) sind christlicherseits oft geblieben. Die Intensität, mit der die Schriftsteller bis heute auf apokalyptische Motive zurückgreifen, zeugt dagegen von deren nicht totzuschweigender Virulenz und fordert die christlichen Kirchen heraus, sich jenseits einer fundamentalistisch-biblizistischen 1: 1-Übertragung verantwortungsvoll mit diesem integrativen Bestandteil ihres Erbes auseinanderzusetzen. Besonders drei Anfragen erwachsen aus der Begegnung von Offb 21f. mit literarischen Texten. 4.1.1. Wider die Schwarz-Weiß-Malerei Die biblische Jerusalemvision trägt den für die Apokalyptik typischen dualistischen Grundzug. Selbst in der Heilsschilderung wird das nicht mehr existente »Alte« noch einmal in Erinnerung gerufen (Offb 21,1.4), wird alles »Unreine« ausgeschlossen (Offb 21,27) und mit handfesten Konsequenzen gedroht (Offb 21,8). Sicherlich: Ihr Autor steht mit dem Rücken zur Wand. Doch birgt eine solche Schwarz-Weiß-Dynamik ins Allgemeine gewendet nicht ein enormes Gefahrenpotential der Simplifizierung, der Ausgrenzung und Dämonisierung Andersdenkender? Texte wie diejenigen von Heym oder von Kubin zeigen, daß menschliche Existenz immer auch ein Leben in Ambivalenzen bedeutet, und stellen so ein wichtiges Korrektiv für die zumindest einseitige Position des Johannes von Patmos dar. »Ein tiefes Unbehagen und Abgrenzungstendenzen gegenüber dem als ›suspekt‹ empfundenen Phänomen der Apokalyptik (oder dem, was man darunter zu verstehen glaubt) sind christlicherseits oft geblieben.« 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 38 ZNT 13 (7. Jg. 2004) 39 Rita Müller-Fieberg Literarische Rezeptionen des »neuen Jerusalem« 4.1.2. Radikalabwertung der Schöpfung? Ferner sieht Johannes die Gegenwart so sehr von den Mächten des Bösen beherrscht, daß aus ihr unmöglich Heil erwachsen könnte. Offb 21,1.5 zeugen von einem Diskontinuitätsbewußtsein, das von den Erneuerungsvorstellungen der atl. Propheten deutlich abweicht und auch im frühjüdisch-apokalyptischen Spektrum eine Extremhaltung darstellt. Die Basis für eine engführende Interpretation des neuen Jerusalem als streng endzeitlich-jenseitige Größe war gelegt. Viele literarische Zeugnisse setzen wiederum einen Kontrapunkt. So kann die in modernen Texten beobachtete »Kupierung« verhindern, daß christliche Rezipienten allzu rasch über die Ernsthaftigkeit des »Untergangs« und des Todes angesichts der in Aussicht gestellten »Herrlichkeit« hinweggehen. Ebenso wie z.B. das zum Handeln auffordernde Gedicht Blakes rufen sie dazu auf, den realen Leiden der Gegenwart in Verantwortung zu begegnen. Und Cardenals »evolutionistischer« Entwurf eines Ineinanders von alter und neuer Welt erinnert daran, daß bereits die Schriften des NT eine spannungsvolle Bipolarität von präsentisch und futurisch orientierten Heilsvorstellungen bezeugen. Unter ihnen stellt die Offb zwar vorrangig ein Dokument futurischer Eschatologie dar und bleibt als solches auch unentbehrlich. Denn indem sie das neue Jerusalem einer Welt nach der bestehenden vorbehält, verheißt sie, daß Gottes Zukunft mehr ist als die unendliche Verlängerung der Gegenwart. Nichtsdestotrotz kommt die Gottesstadt auf die (neue) Erde herab (Offb 21,2.10), bleibt der Seher in den Schilderungen ihrer baulichen, farblichen und paradiesischkreatürlichen Pracht dieser Welt stärker verbunden, als es zunächst den Augenschein hat. 4.1.3. Allmächtiger Gott - ohnmächtige Menschen? Eng verbunden mit der Frage der Diesbzw. Jenseitigkeit der Gottesstadt ist diejenige nach ihrem Urheber. Die Jerusalemvision spiegelt den theozentrischen Grundzug der gesamten Offb: Gott allein, der Pantokrator (Offb 21,22), der auf dem Thron Sitzende (Offb 21,5; 22,1.3), der seine Feinde Verurteilende (Offb 21,8), ist der Neuschöpfer (Offb 21,5). Allein ein solch machtorientiertes Gottesbild fordert schon zu Widerspruch heraus. Bei Kubins gottgleichem Patera z.B. folgt aus dessen Allmacht für die Bewohner Unfreiheit und Kontrolle, wird Allgegenwart zur drückenden Last. Gerade weil ein Gott, dessen Auge alles sieht, so oft als moralische Keule in der religiösen Sozialisation eingesetzt wurde, erfordert die theologische Analyse und Vermittlung des Gottesbildes von Offb 21f. differenzierendes Feingefühl. Es gibt auch hier einen Gott zu entdecken, der den Menschen unmittelbar nah ist, 16 dies aber als Ausdruck seiner fürsorglichen Zuwendung. 17 Allmacht und Herrschaft sind kein Selbstzweck, sondern Vorbedingung für die Durchsetzung des Heiles gegen die feindlichen Mächte - eine Notwendigkeit, die für Johannes und seine Adressaten auf der Hand lag. Indem die meisten modernen literarischen Texte statt auf einen aktiv handelnden Gott auf menschliches Handeln bauen, können sie vor der Versuchung süßlicher Jenseitsvertröstung warnen. Daß es aber auch hier »Zwischentöne« gibt, indizieren Texte wie diejenigen von Cardenal, wo Gott ungenannt zurücktritt als in den Menschen wirkende Kraft der Liebe, oder von D. Lessing, wo die Menschen auf die »Inspiration« einer höheren Macht hin handeln. Und wieder gilt es, die Offb differenziert wahrzunehmen. Sicherlich vertritt ihr Autor eine Art »Durchhalteethik« 18 in bedrängter Lage, die vorrangig der Konsolidierung der Gemeinde statt der Veränderung sozialpolitischer Strukturen dienen soll. Doch ist »Durchhalten« nicht gleichbedeutend mit passivem Warten, vielmehr forderte der Aufruf zu Ausschnitt aus der Ebsdorfer Weltkarte, die wahrscheinlich von Gervasius, Probst in Ebsdorf, in der ersten Hälfte des 13. Jh. verfasst wurde. Die Karte, die 13 Quadratmeter groß ist, zeigt in ihrer Mitte das himmlische Jerusalem (abgebildet in der Mitte des unteren Randes), als Nabel der Welt. In Jerusalem integriert ist Christus mit west-östlicher Orientierung. 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 39 40 ZNT 13 (7. Jg. 2004) Zum Thema »siegen« (Offb 21,7) konkrete Taten mit schmerzlichen Konsequenzen. Das »neue Jerusalem« aber als Inbegriff vollkommenen Heils ist nichts von Menschen Machbares, kommt auf uns zu, bleibt ein Geschenk (Offb 21,6). Die Schlußvision der Offb erweist eindrucksvoll christlichen Glauben als »Mut zu einer Hoffnung wider alle Hoffnung«. 19 4.2. Jerusalem? - Jerusalem! Eine andere Frage in der Konfrontation mit literarischen Verarbeitungen stellt sich hinsichtlich der Konkretisierung der Hoffnungsperspektive. Kann die Schilderung des Johannes von Patmos noch unseren Lebensnerv treffen, sind seine Bilder die unseren? 4.2.1. Monotonie und kalte Pracht? Baudelaires Motivselektion zeigt, daß die Gottesstadt leicht den Eindruck eines wenig wohnlichen Ortes von gigantischen Ausmaßen und monoton-kalter Pracht hinterläßt. Exegetisch wie auch didaktisch ist es daher notwendig, die vielen Details als Ausdruck des kultisch-sakralen Charakters der Stadt verständlich zu machen. Ferner wird deutlich, welche perspektivischen Verengungen unsere Wahrnehmung heute prägen bzw. welche »unterbelichteten« Seiten der Vision wieder neu ins Licht gerückt werden sollten. Denn mit den Paradieseselementen in Offb 22,1f. ist die natürlich-kreatürliche Welt ja in die Stadt integriert. Und stellt nicht gerade der Terminus »Leben« ein zentrales Moment des Textes dar (Offb 21,6.27)? 4.2.2. Wider die individualistische Verengung der Heilsperspektive Eine ähnliche Gefühlsambivalenz wie die Edelsteinpracht des neuen Jerusalem kann das Motiv der Stadt als solches auslösen, das in der Moderne oft mit einem lebensfeindlichen Großstadtmoloch konnotiert wird. Nicht umsonst ersetzt es Cardenal durch das organische Bild der Zelle. Andererseits kann eine Rückbesinnung auf das Bild der Stadt als einem Beziehungsgefüge der sich v.a. in traditionellen christlichen Werken spiegelnden individualistischen Verengung auf die persönliche »Glückseligkeit« hin entgegenwirken: Offb 21f. spricht von den »Menschen« im Plural und als »Volk« und stellt die Adressaten vor die »politische« Wahl zwischen Babylon und der »Polis« Gottes. Heilvolles Leben ist notwendig zurückgebunden an die Gemeinschaft mit anderen, in der sich auch der Einzelne geliebt fühlen kann, wie es das Bild der Braut (Offb 21,2) als Symbol der intimen Zuwendung ausdrückt. Dichter wie Celan oder Lawrence verweisen durch die Übertragung der Motivik auf die Beziehung zwischen Mann und Frau, daß wir in begrenztem Maße schon in der Gegenwart einander zu »Heilsbringern« werden und darin das uns verheißene Heil vorausahnen können. Sie erschließen damit eine Dimension von Offb 21f. neu, die in der langen Rezeptionsgeschichte oft verdrängt wurde: Nicht Sterilität und ätherische Reinheit bestimmen die biblische Vision, sondern Lebensfreude und Leidenschaftlichkeit. Das Doppelbild von Stadt und Braut bietet eine Perspektive, die unser soziales, geistigspirituelles und körperlich-sinnliches Sehnen zu einer untrennbaren Ganzheit vereint. 4.2.3. Jerusalem - Zentraltopos oder austauschbare Chiffre? Johannes von Patmos kann sich trotz seiner Ambivalenz gegenüber der irdischen Stadt (Offb 11,8) das endgültige Heil nur in Verbindung mit der heiligen Stadt der Juden, mit Jerusalem vorstellen. Von einer solch zentralen Bindung kann zumindest bei Autoren mit einer im weitesten Sinne christlichen Sozialisation keine Rede mehr sein. »Kupierte Apokalypsen« und eng am biblischen Text verbleibende Dichter sind sich darin einig, daß sie Jerusalem nicht einmal mehr namentlich erwähnen. Auch die diversen Spielarten einer »translatio Hierosolymae« abstrahieren von der irdischen Stadt. Hat also Jerusalem als Heils- »Die Schlußvision der Offb erweist eindrucksvoll christlichen Glauben als ›Mut zu einer Hoffnung wider alle Hoffnung‹«. »Das Doppelbild von Stadt und Braut bietet eine Perspektive, die unser soziales, geistig-spirituelles und körperlich-sinnliches Sehnen zu einer untrennbaren Ganzheit vereint.« 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 40 ZNT 13 (7. Jg. 2004) 41 Rita Müller-Fieberg Literarische Rezeptionen des »neuen Jerusalem« topos von christlicher Seite aus ausgedient? Gewiß: Was diese Stadt den Juden bedeutet, läßt sich von uns »Heidenchristen« nur rudimentär nachempfinden. Doch zeigt sich an diesem Beispiel besonders stark die Angewiesenheit christlichen Glaubens auf die jüdische Wurzel. Eine »Jerusalemvergessenheit« der Christen läßt auch Offb 21f. »in das Vakuum eines heilsgeschichtlich nicht vermittelten Eschatons« 20 fallen. Nur wo sich Christen die Hoffnungen und Enttäuschungen vor Augen führen, die in der jüdischen Geschichte immer wieder an diese Stadt geknüpft waren, wird sichtbar, daß die Hoffnung auf ein »neues Jerusalem« mitten aus dem Leben der Menschen, aus ihren Erfahrungen mit der realen Stadt erwachsen ist. Traditionsgeschichtliche Aufklärungsarbeit in Wissenschaft und Praxis ist daher das Gebot der Stunde, damit auch die christliche Hoffnung ihre »Bodenhaftung« nicht verliert. 5. Konsequenzen für Hermeneutik und Vermittlung Offb 21f. stellt nach wie vor für die christliche Eschatologie in Wissenschaft und kirchlich-schulischer Praxis einen zentralen Bibeltext dar. Von einem Einsatz diesbezüglicher literarischer Texte sind v.a. zwei große Impulse zu erwarten: 1. Die Konfrontation mit der Rezeptionsgeschichte macht Mut zu einer differenzierenden wie auch relativierenden Sicht von Offb 21f. Sie führt dazu, genau zu lesen und auch die leiseren, »verschütteten« Aussagen neu zu entdecken. Sie deckt einseitige, vielleicht sogar bedenkliche Aspekte der Vision auf und erweist die Notwendigkeit, den Einzeltext in das größere Ganze anderer theologischer Ansätze der Bibel zu stellen. Erst mit der Einsicht in die Kontingenz der Perspektive der Jerusalemvision kann man ihr ureigenes Verdienst im Chor der biblischen Eschatologien würdigen, kann auch wahrnehmen, wo die biblische Vision unaufgebbare Korrektiv- und Kontrastfunktion für die heutige Zeit hat. 2. Dem Dialog von Bibel und Rezeptionsgeschichte kann in Gemeinde und Schule die Einsicht erwachsen, daß Offb 21f. zu allen Zeiten ein Text war, der gleichermaßen inspirierte und Anstoß erregte. Und noch mehr: Nicht nur die Schriftsteller greifen transformierend und selektierend auf das biblische Material zurück und integrieren die alten Bilder in ihre eigene Welt. Auch der Autor der Offb entwickelt seine Zukunftsvision im Dialog mit den Traditionen seines jüdischen Volkes und wagt eine gezielte Neuinterpretation - eben weil er an deren lebendige Wahrheit glaubte. Diese Erkenntnis macht uns heute Mut, im Gespräch mit der Bibel nach unseren ureigenen Worten und Bildern zu suchen, die unserer Hoffnung Ausdruck verleihen. l Anmerkungen 1 Die Frage nach den traditionsgeschichtlichen Zusammenhängen greifen alle neueren Dissertationen zu Offb 21f. auf. Vgl. U. Sim, Das himmlische Jerusalem in Apk 21,1-22,5 im Kontext biblisch-jüdischer Tradition und antiken Städtebaus (Bochumer Altertumswissenschaftliches Colloquium 25), Trier 1996; P. Söllner, Jerusalem, die hochgebaute Stadt. Eschatologisches und Himmlisches Jerusalem im Frühjudentum und im frühen Christentum (TANZ 25), Tübingen / Basel 1998; P. Lee, The New Jerusalem in the Book of Revelation. A Study of Revelation 21-22 in the Light of its Background in Jewish Tradition (WUNT 129), Tübingen 2001; R. Müller-Fieberg, Das »neue Jerusalem« - Vision für alle Herzen und alle Zeiten? Eine Auslegung von Offb 21,1-22,5 im Kontext von alttestamentlich-frühjüdischer Tradition und literarischer Rezeption (BBB 144), Berlin / Wien 2003. 2 Daß es auch andere Positionen gab, belegen sowohl die in den Sendschreiben an Ephesus, Pergamon und Thyatira erkennbaren Konflikte (Offb 2) als auch der etwa zeitgleiche, ebenfalls an kleinasiatische Gemeinden gerichtete 1Petr (v.a. 2,13). 3 Damit sei keinesfalls einer wissenschaftlichen oder didaktischen Verzweckung das Wort geredet. Erst der Respekt vor der unaufhebbaren Verschiedenheit und notwendigen Autonomie von Theologie und Literatur ermöglicht einen ehrlichen und gegenseitig bereichernden Dialog. 4 E. Cardenal, La noche illuminada de palabras. Obras completas 1. Managua 1991, 205. 5 S. Heym, Ahasver. Roman, Frankfurt a.M. 1983, 242. 6 Heym, Ahasver, 242. Heym verzichtet anders als Offb 21,22 nicht auf ein sichtbares Tempelgebäude und ordnet diesem einen äußerst distanzierten, »einsamen« Gott zu. »Dem Dialog von Bibel und Rezeptionsgeschichte kann in Gemeinde und Schule die Einsicht erwachsen, daß Offb 21f. zu allen Zeiten ein Text war, der gleichermaßen inspirierte und Anstoß erregte.« 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 41 42 ZNT 13 (7. Jg. 2004) Zum Thema 7 Zur »kupierten Apokalypse« vgl. K. Vondung, Die Apokalypse in Deutschland, München 1988, 12. 8 W. Braungart, Apokalypse und Utopie, in: G.R. Kaiser (Hg.), Poesie der Apokalypse, Würzburg 1991, 63-102: 94f. 9 So der berühmte erste Vers des »Gebets« (1917) von E. Lasker-Schüler, Sämtliche Gedichte, München 1977, 25. Vgl. Offb 21,12. Zu anderen Beispielen der modernen hebräischen Literatur vgl. G. Oberhaennsli-Widmer, Jerusalem als Frauenfigur und heiliger Ort in der hebräischen Literatur, Freiburger Rundbrief NF 6 (1999), 179-184. 10 G.G. Stroumsa, Mystical Jerusalems, in: L.I. Levine (Hg.), Jerusalem. Its Sanctity and Centrality to Judaism, Christianity, and Islam, New York 1999, 349-370: 352. 11 Stroumsa, Mystical Jerusalems, 351. 12 W. Blake, The Complete Poems. Second Edition. Edited by W.H. Stevenson (Longman Annotated English Poets), London / New York 2 1989, 491. 13 Blake, Poems, 492. 14 P. Celan, Gesammelte Werke 3: Zeitgehöft. Verstreute Gedichte. Prosa. Reden. Hg. v. B. Allemann und S. Reichert unter Mitwirkung von R. Bücher (suhrkamp taschenbuch 1331), Frankfurt 1983, 105. 15 A. Kubin, Die andere Seite. Ein phantastischer Roman, Reinbek bei Hamburg 1994, 251. 16 Vgl. die bundestheologische Interpretation der Schekina-Vorstellung (Offb 21,3), die metaphorische Übertragung des Tempelbegriffs auf Gott (Offb 21,22) sowie die verheißene Gottesschau von Angesicht zu Angesicht (Offb 22,4). 17 Vgl. das Abwischen der Tränen (Offb 21,4), die Gabe des Lebenswassers »umsonst« (Offb 21,6), die Verheißung des »Erbes« (Offb 21,7) sowie das »Erleuchten« der Stadt (Offb 21,23; 22,5). 18 K. Erlemann, Endzeiterwartungen im frühen Christentum (UTB 1937), Tübingen / Basel 1996, 123. 19 U.H.J. Körtner, Weltangst und Weltende. Eine theologische Interpretation der Apokalyptik, Göttingen 1988, 383. 20 H. Merklein, Jerusalem - bleibendes Zentrum der Christenheit? Der neutestamentliche Befund, in: Zion Ort der Begegnung, FS L. Klein (BBB 90), Bodenheim 1993, 47-61: 59. Neues Testament aktuell: Michael Wolter, Neues zur Paulusforschung Zum Thema: Margaret Mitchell, Paulus in Amerika Peter Arzt-Grabner, Die Paulusbriefe im Lichte der Alltagspapyri Ute Eisen, Politik und Herrschaft bei Paulus Kontroverse: Rechtfertigungstheologie-Zentrum paulinischer Theologie? : Hendrik Boers vs. Hans- Joachim Eckstein Hermeneutik und Vermittlung: Richard B. Hays, Schriftverständnis und Intertextualität bei Paulus Buchreport: Peter Busch rezensiert Robert Jewett, Saint Paul Returns to the Movies. Triumph Over Shame, Grand Rapids 1999. Michael Schneider rezensiert Udo Schnelle, Paulus. Leben und Denken, Berlin/ New York 2003. Vorschau auf Heft 14 (Themenheft »Paulus«) Oda Wischmeyer (Hrsg.) Herkunft und Zukunft der neutestamentlichen Wissenschaft Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie 6, 2003, VIII, 284 Seiten, 48,-/ SFr 82,50 ISBN 3-7720-8016-2 Die neutestamentliche Forschung der letzten Generation hat sich religionsgeschichtlich und methodisch exponenziell ausgeweitet. Das Fach Neues Testament wurde zu einer kaum noch überschaubaren und nach außen wenig kommunizierenden Eigenwelt. Eine Analyse von “Herkunft und Zukunft der neutestamentlichen Wissenschaft” ist ein Desiderat. Das 2. Erlanger Neutestamentliche Kolloquium ist dem Thema in elf Beiträgen inländischer und ausländischer Neutestamentlerinnen und Neutestamentler nachgegangen. Die neutestamentliche Wissenschaft braucht neben dem Bewusstsein ihrer eigenen Geschichte und der kritischen Auseinandersetzung mit ihren Methoden einen Modernisierungsschub, der sie in produktiven Austausch mit Religionswissenschaft, Sprachwissenschaft, Sprachphilosophie, Hermeneutik und Kulturwissenschaft bringt. Dieses Buch versteht sich als programmatischer Schritt in diese Richtung. A. Francke Verlag · Tübingen und Basel NET - Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 42
