ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
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2004
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Dronsch Strecker VogelSchriftverständnis und Intertextualität bei Paulus
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2004
Richard B. Hays
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Hermeneutik und Vermittlung Richard B. Hays Schriftverständnis und lntertextualität bei Paulus 1 »Dies aber widerfuhr jenen typologisch. Es wurde aber geschrieben uns zur Ermahnung, auf die die Enden der Zeiten getroffen sind.« (1Kor 10,11) 1. Einleitung: Paulus als Leser der Schrift in 1. Korinther 10 Im 1. Korintherbrief 10 erzählt Paulus die Geschichte von Israels Aufenthalt in der Wüste. Der Bericht des Paulus enthält jedoch mehrere merkwürdige Elemente. Wie beispielsweise die ersten vier Verse: »Ich will euch aber, liebe Brüder, nicht in Unwissenheit darüber lassen, daß unsre Väter alle unter der Wolke gewesen und alle durchs Meer gegangen sind; und alle sind auf Mose getauft worden durch die Wolke und durch das Meer und haben alle dieselbe geistliche Speise gegessen und haben alle denselben geistlichen Trank getrunken; sie tranken nämlich von dem geistlichen Felsen, der ihnen folgte; der Fels aber war Christus.« (1Kor 10,1-4) Erstens bemerkt man mit Überraschung, dass Paulus sich auf Israel in der Wüste als »unsre Väter« bezieht, obgleich er zu der hauptsächlich heidnischen Gemeinde in Korinth schreibt. Obwohl diese heidnischen Konvertiten nicht physische Nachkommen von Israel sind, redet Paulus sie als die Angehörigen des Bundesvolk Gottes an. Er möchte sie davon überzeugen, dass sie ihre Identität in der Geschichte Israels begreifen. In der Tat schreibt er sie in diese Geschichte ein, damit sie lernen können, dass sie selbst Nachkommen der Figuren sind, die in den alttestamentlichen Schriften erscheinen. Zweitens ist der Ausdruck »auf Mose getauft worden« (die Worte sind ohne Anhalt im Exodustext und ohne Beispiel in der jüdischen Tradition) der entscheidende Hinweis, dass Paulus die Geschichte von Israels Aufenthalt in der Wüste so liest und interpretiert, dass Analogien zwischen den Erfahrungen Israels und der Lage der korinthischen Gemeinde während der Zeit des ZNT 14 (7. Jg. 2004) Paulus deutlich werden. Weil die Korinther mit Streitigkeiten zum Umgang mit Götzenopferfleisch befasst sind, stellt Paulus sie metaphorisch in derselben Lage wie die Generation Israels dar, die sich in der Wüste mit der Versuchung des Götzendienstes konfrontiert sahen. Also betrachtet Paulus das Meer und die Wolke der Exodus- Geschichte als figürliche Zeichen der christlichen Taufe und interpretiert das Manna und das wunderbare Wasser vom Stein in der Wüste als Vorabbildungen des Abendmahls (»geistliche Speise und geistlichen Trank «) . Drittens sagt Paulus ziemlich überraschend, dass der Fels in der Wüste (Ex 17,6; Num 20,7-11) »ihnen folgte« und interpretiert diesen Felsen als Christus. Die Legende, nach der der Fels Israel während der Wanderungen folgte, ist nicht in den biblischen Texten zu finden, aber ist in späteren rabbinischen Überlieferungen gut bezeugt (als Folgerung des Tatbestands, dass sich Erzählungen über das Wasser vom Fels in zwei verschiedenen Abschnitten im Pentateuch finden lassen). Außerdem findet sich diese Tradition auch noch in einer Quelle aus dem 1. Jh. n.Chr. (Pseudo-Philo, Liber Biblicarum Antiquitatum 11.15 ). Bemerkenswert ist, dass Paulus sich auf diese Erzähltradition in einer so beiläufigen Weise bezieht, die den Schluss nahe legt, dass sie seinen Lesern schon bekannt ist. Seine Interpretation vom Fels als Christus ist zugegebenermaßen eine christliche Neuerung, aber sie setzt wahrscheinlich eine Identifizierung vom Fels mit der göttlichen Weisheit voraus, die schon in den Schriften Philos von Alexandria, ein jüdischer Zeitgenosse des Paulus, erscheint. Philo behauptet, »der feuersteinhaltige Fels ist die Weisheit Gottes ... aus der er die Durst habenden und Gott liebenden Seelen sättigt« (Leg. All. 2.86). Auch wenn Paulus annimmt, dass seinen Lesern diese Interpretation bekannt ist, gestaltet er sie angesichts seiner Überzeugung, dass nur Christus die echte göttliche Weisheit ist (1Kor 1.30), um. Wie diese wenigen Beobachtungen andeuten, ist der 1Kor ein komplexes intertextuelles Dokument. Um ihn zu verstehen, bedarf es der Auf- 55 H ermeneutik und Verm ittlung merksamkeit auf die alttestamentlichen Zitate und direkte Zitate aus eiern Alten Testament zusätzlich Anspielungen, die ineingeweb t wurden in den zu einer großen Anzahl von Anspielungen. Dennoch gab die kritische Exege paulinischen Diskurs, und die Leser müssen erke nen, dass der paulinische ebrauch dieser alttestam n tl ichen Referenzt exte einen an dauern den int erpretieren den Aus tausch über das Verstehen der » \X 1 ie diese wenigen Beobachtungen andeuten, ist der 1 Kor ein komplexes intertextuelles Dokumem. « se paulinischer Theologie relativ wenig Acht auf das Vorhandensein des Alten Testaments als intertextueller Stimme in den Briefen, trotz der Geschi cht e Israels Y oraussetzt eine Konversation sowohl innerhalb der jüdischen Tradition des Paulus als auch innerhalb der frühen christlichen Gemeinden des Mittelmeerraumes. N ic ht nur die von Paulus ber: utzt en Quellen müssen erkannt werden, sondern auch die Wege, wie Paulus diese umformt und verä dert, indem er diese Texte in einen Dialog mit der Welt der korinth ischen Gemeinde bringt. l Kor 10 ist daher nur ein Beispiel für lntertextua lität, die sich in fast jedem Kapitel dieses Briefes finde lässt. Doch dieses Beispiel ist besonders wichtig, denn Paulus offerie rt in 1 Kor 10 eine explizite hermeneutische Rechtfertigung für seine Lesestrategie. Sein metaphorisches Verständnis der Exodus - Geschichte ist von der Überzeugung getragen, dass die Ereignisse aus der Vergangenheit Israels als Vorab bildungen der Erfahrungen der Kirche in der p aulin ischen Zeit geschrieben wurden: »Diese Dinge a ber sind als Vorbilder (typoi) für uns geschehen« (lKor 10,6). Der schriftliche Bericht von ihr en Erfahrungen » wur de geschrieben uns zur Enna nung, auf die die Enden der Zeit getroffen sind. « (10,11 ) Anders gesagt, stehen Paulus und seine L ser im kulminierenden eschatologis c hen Zei tp unk t. G o tt hat die ganze Geschichte [history] Israels als eine Erwartung dieses Zeitpunktes bereit et, und man darf in der Tat muss die ganze Geschichte [story] Israels angesichts d es Off enbarungsaktes Gottes in Chr is tus neu lesen. Eine de r manifesten seelsorgerisch en Strategien des Paulu s in lKor ist es deshalb, seine Leser zu lehren, ihre eigene Erfahrung angesichts dieser eschatologis ch en intertextuellen Perspektive aufs Neue zu verstehen . 2 II. lntertextualität bei Paulus: status quaestionis Die paulinischen B riefe enthalten mindestens 89 56 Häufigkeit schriftlicher Zitate in den Hauptbriefen des Paulus. Dieser etwas überraschende Befund darf teilweise als Hinterlassenschaft der Reformation gesehen werden, die die hermeneutische Vorrangstellung der Antithese von Gesetz und-Evangelium zum hermeneutischen Krisralisationspunkt paulinischer Theologie erhob und so Paulus als den großen Verfechter der Freiheit vom Judentum darstellte. Diese Tendenz ist in ADOLF VON HARNACKs einflussreichem Aufsatz »Das Alte Testament in den Paulinischen Briefen und in den Paulinischen Gemeinden« zum Ausdruck gebracht worden. Harnack behauptete, dass »Paulus das A. T. nicht als das christliche Quellen- und Erbauungsbuch von vornherein den jungen Gemeinden gegeben hat.« Nach Harnack schrieb Paulus seinen Kirchen in den Briefen nur da: rn mit Bezugnahme auf das Alte Testament, »wenn sie in Gefahr standen, dem judaistischen Irrtum zu verfallen«, d.h., n r wenn der Apostel von judaisierenden Gegner gezwungen wurde. 3 Diese Ansicht ist nur haltbar, wenn viele Evidenzen (z.B. die häufigen alttestamentlichen Verweise in lKor, in denen es keine Anzeicher_ von judaisierer: den Gegnern gibt) ignoriert oder aber die alttestamentlichen Zitate einer vorpaulinischen Ebene der Tradition zugeschrieben werden. (Vertreter dieser Auffassung schlugen vor, in lKor 10,1-13 ein Stück eines traditionellen jüdischen Midraschs zu sehen, den Paulus in seinen Brief einfach einarbeitete und mit mehreren redaktionellen Zusätzen, wie die Verweise auf Christus in 10,4.9, versah. Die unausgesprochene Implikation dieser Hypothese ist, dass der vorpaulinische Midrasch nicht paulinischen Ursprungs sein kann.) Nach dieser Ansicht war die Predigt des Paulus ein reines Evangelium über die Rechtfertigung durch den Glauben, die keinen wesentlichen Bezug auf die Schrift Israels nahm. In RUDOLF BULTMANNs »Theologie des Neuen Testaments«, um noch ein prominentes Beispiel anzuführe: : i, wird ebenso wenig Aufmerksamkeit ZNT 14 (7. Jg. 2004) Richard B. Hays Richard B. Hays, Jahrgang 1948, Professor für Neues Testament an der Duke University in Durham, North Carolina, USA. Vorher Associate Professor für Neues Testament an der Yale Divinity School. Sein Forschungsansatz ist interdisziplinär, Hays' Augenmerk liegt auf der Erarbeitung biblisch-theologischer Fragen mittels literaturwissenschaftlicher Methoden. Sein Hauptforschungsgebiet sind die paulinischen Briefe sowie neutestamentliche Ethik. Diverse Veröffentlichungen zu denen »The Faith of Jesus Christ«, »Echoes of Scripture in the Letters of Paul«, »The Moral Vision of the New Testament«, »First Corinthians (IC)« und »The Letter to the Galatians (NIE)« zählen. Zur Zeit arbeitet Richard B. Hays an einem Forschungsprojekt zur IdentitätJesu sowie an einem Buchprojekt über die vier Evangelisten als Interpreten der Schriften Israels. dem Alten Testament als Erzählmatrix für die Darstellung paulinischer Gedanken gewidmet. Gleichzeitig beobachteten andere N eutestamentler die häufigen Bezugnahmen des Paulus auf das Alte Testament, aber waren über den Graben zwischen der paulinischen Interpretation dieser Texte und ihrer ursprünglich historischen Bedeutung verängstigt. Folglich versuchten sie, durch apologetische Rechtfertigungen die paulinischen Revisionen seiner Lektüren der biblischen Schrift zu erklären. Oft behaupteten solche Kritiker, Paulus benutze anerkannte midraschartige oder rabbinische Auslegungsmethoden, weil diese Auslegungen, wie seltsam es uns auch erscheinen mag, der Legitimitätssicherung seiner Person in Anbetracht der interpretatorischen Konventionen seiner Zeit dienten. Beispielsweise behaupte Paulus in Gal 3,16, dass die singularische Form des Substantives sperma (»Same«, »Nachkomme«) ZNT 14 (7. Jg . 2004) Richard B. Hays Schriftverständnis und lntertextualität bei Paulus anzeige, dass sich die dem Abraham und seinem Samen (seinem Nachkommen) gegebene Verheißung Gottes auf einen einzigen Erben der Verheißung bezieht, einen Erben, den Paulus als Christus identifiziert. Obgleich diese Interpretation höchst künstlich wirkt, ist die messianische Auslegung der Verheißung an Abraham vielleicht ein Beispiel für den rabbinischen Kunstgriff von gezerah shawah (das Vernetzen von Stichwörtern), die Gen 13,15 (»Denn all das Land, das du siehst, will ich dir und deinen Nachkommen [sperma] geben für alle Zeit«) im Lichte der Verheißung Gottes an David aus 2Sam 7,12 auslegt (»will ich dir einen Nachkommen erwecken, der von deinem Leibe kommen wird; dem will ich sein Königtum bestätigen«). Die Untersuchung von E. EARL ELLIS, »Paul's Use of the Old Testament«, die lange das mustergültige englischsprachige Werk zu diesem Thema war, betont die Wichtigkeit solcher rabbinischen Kunstgriffe für das Verständnis des paulinischen Umgangs mit dem AT.4 Letzten Endes sind jedoch die paulinischen Auslegungen der Schrift zu mannigfaltig und überraschend, um sie mit den Regeln der rabbinischen Hermeneutik gänzlich erklären zu können, ganz zu Schweigen von der Tatsache, dass Paulus die alttestamentlichen Texte in einer Art und Weise liest und interpretiert, die mit jüdischen Auslegungen in grundsätzlichem Konflikt steht. In den letzten 20 Jahren hat die Forschung zur Intertextualität bei Paulus beträchtliche Fortschritte gemacht. 1986 veröffentlichte DIETRICH- ALEX KOCH seine Habilitationsschrift »Die Schrift als Zeuge des Evangeliums: Untersuchungen zur Verwendung und zum Verständnis der Schrift bei Paulus«, ein übergreifender kritischer Überblick der Zitate des Paulus. Dieser Untersuchung folgte 1992 eine Monographie von CHRIS- TOPHER D. STANLEY mit dem Titel »Paul and the Language of Scripture: Citation Technique in the Pauline Epistles and Contemporary Literature«, die etwas enger angelegt war. Beide Werke arbeiteten zwar innerhalb des traditionellen historischkritischen Paradigmas neutestamentlicher Wissenschaft, aber zusammen gesehen bieten sie eine zuverlässige und präzise Grundlage für weitere Untersuchungen.' Von einer anderen Perspektive aus setzte mein 1989 veröffentlichtes Buch »Echoes of Scripture 57 t·lerm eneutik und Vermi-ttlung in the Letters of Pau l« an, die Frage nach alttestamentlichen Ans? ielungen unc. Echos in den Briefen des Paulus zu erforschen, indem es von der Literaturwissenschaft entliehene Methoden für die Unters uchung er Intertextualität verwendete.6ln meiner Unter suchung wurde darauf hingewiesen, dass die vo Paulus verwendeten Verweise nicht einfach aus dem ursprünglichen Kontext gerissene Belegstellen sind; sond ern sind im Gegenteil oft so ge stalt et, dass sie Elemente früherer Texte wieder ins G edächtnis rufen, ge rade außerhalb des ausfüh: -lic Zitierten. D ie Interpretation solcher Anspiebngen erfordert es, dass der Leser diese unzitierten El mente wieder ins Gedächtnis zurückruft oder entdeckt. Z.B. der einzige in lKor 10,1-13 ausführlich zitierte alttestamentliche Text ist Ex 32,6: »Danach setzte sich das Vo~k, um zu essen und z1.: . trinken, u nd sie standen auf, um ihre Lust zu treiben .« Dieses Zitat macht nur für den Leser Sinn, der erkennt, dasss es aus dem Erzählzu ammenhang der Geschiebe vom goldenen Kalb st ammt. In diesem Fa] vernetzt das versteckte Zitat das E ssen und Trinken aus dem korinthischen Zusammenhang mit der Praxis des Götzen ' ienstes ein Verne: zen, das spezifisch rhetorisches Gewicht in der Argumentation des Paulus hat, dass die Korinther im paganen Tempel nicht essen und trinken sc-llen. Die Leser in Korinth sollen sich den Kontext des Zitates ins Gedächtnis zurückrufen und erkennen, dass sie in Gefahr stehen, G ottes Gesuchungen von HANS HüBNER, BRIAN ROSNER und J. Ross WAGNER erinnert. 7 Von einem anderen Gesichtspunkt aus, wurden augerdem Arbeiten vorgenommen, die im Rahmen des gesamten paulinischen Opus die Verwendung spezifisch Bibelstellen und Bücher untersuchte. Die wichtigste Monographie zu diesem Feld ist bis jetzt von FLORIAN WILK unter dem Titel »Die Bedeutung des Jesajabuches für Paulus« verfasst worden. 8 Durch solche Untersuchungen ist ein umfassenderes Verständnis von Paulus als Leser der Schrift und von seinen Briefen als komplexe intertextuelle Leistungen erreicht worden. Eine vollständige bibliographische Übersicht würde den Rahmen dieses Aufsatzes zwar sprengen, aber wir sollten noch einige wichtige Beobachtungen zum Thema Intertextualität und schrikiche Auslegung bei Paulus anführen. III. Paulus als intertextueller Theologe A. Ekklesiozentrische Hermeneutik. Wie die Dis kussion um Israel in der Wüste in lKor 10 illustriert, besteht Paulus darauf, dass die Erzählungen der Schriften Israe. ls die Situation der Kirche präfigurieren, die durch seine eigene Mission zu den Heiden entstanden ist. Im Gegensatz zum Evan gelisten Matthäus, der im Alten Testament nach christolog~schen Belegstellen =>prooftexts,J gräbt, richt auf sich zu laden, ebenso wie die Verehrer des goldenen Kalbs. Dieser Kun stgriff, bei dem ein Autor Echos unzitierter Teile eines vorherigen Textes hervorruft, wird als Metalepsis bezeichnet, in An- »Daher benutzt Paulus eine ekklesiozentrische Hermeneutik: liegt das paulinische Augenmerk bei seiner Auslegung des Alten Testaments darauf, dass das AT auf die Kirche als das Volk Gottes hinweist und deshalb als Anleitung für die Handlungen der Kirche zu Eine Auslegungsstrategie, die auf die Kirche und ihre Situation fokussiert ist. .z lehnung an die Verwendung des Begriffs bei dem Literaturwissenschaftler JOHN H0LLANDER. Viele nachfo lgende Untersuchungen nahmen die methodische Herangehensweise von »Echoes of Scripture in the Letters of Paul« auf, mit dem Ergebnis, dass »Intertextualität« ein weit diskutiertes Thema in der paulinischen Forschung wurde. Mehr ere wichtige Monogr; ; .phien sollen deshalb auch nicht unerwähnt bleiben, die sich dem paulinischen Gebrauch der alttestamentlichen Schrift innerhalb eines einzelnen Briefes oder Briefabschnitts widmeten. Besonders sei an die Unter- 58 verstehen ist. Daher benutzt Paulus eine ekklesiozentrische Hermeneutik: Eine Auslegungsstrategie, die au: : die Kirche und ihre Situation fokussie rt ist. Beispielsweise gibt Paulus eine allegorische Auslegung der Erzählung von Abraham, Sara, und Hagar. Nun wäre es zu erwarten, dass behauptet würde, da.ss Saras Kind, Isaak, Abrahams legitimer Erbe sei, der als Opfer dargebracht wurde, und dieses Opfer ein allegorisches Vorbild Jesu Christi sei. J cdoch interpretiert Paulus Isaak stattdessen als Urbild der (unbeschnittenen) heid nischen C: iristen: »Ihr aber, liebe Brüder, seid wie ZNT 14 (7. Jg. 2004) Isaak Kinder der Verheißung.« (Gal 4,28) Weil die heidnischen Bekehrten des Paulus »nicht Kinder der Magd, sondern der Freien« sind, müssen sie weder beschnitten werden noch unter der Herrschaft des Gesetzes leben. Sie sollen daher das Wort der Schrift als eine an sie adressierte Direktive verstehen: »Stoß die Magd hinaus mit ihrem Sohn.« (Gal 4,30, Zitat aus Gen 21,10) Im Kontext der Argumentation des Paulus im Galaterbrief bedeutet das: »Treibt die jüdisch-christlichen Missionare heraus, die euch mit ihren Lehren stören, die Beschneidung sei für die Zugehörigkeit zum Bundesvolk notwendig.« Bemerkenswerter Weise erwähnt Paulus Jesus Christus nicht einmal in seiner allegorischen Auslegung der Erzählung von Sara und Hagar. Isaak ist nicht ein christologisches Symbol, sondern ein Vorläufer jener heidnischen Bekehrten, die den versprochenen Segen außerhalb des Gesetzes und »des Fleisches« bekommen. Dieses Beispiel vermag deutlich das ekklesiozentrische Muster illustrieren, das die paulinische Exegese dominiert. Paulus entwickelt seine ekklesiozentrische Auslegung in charakteristischer Weise, so dass die Kontinuität zwischen Israel und der Kirche betont wird. In lKor 10 stellt Paulus keinen Vergleich zwischen der Untreue Israels einerseits und der Treue der Kirche andererseits dar. Stattdessen warnt er seine Leser davor, dass sie genau in derselben Lage wie die Israeliten sind und demselben Gericht unterstehen. Die Argumentation des Paulus hängt von der metaphorischen Identifikation seiner Leser mit Israel ab, nicht von einer Entfremdung von Israel. Auch wird im 1 Kor nicht vorgeschlagen, Israel durch die Kirche zu ersetzen. Im Gegenteil ist Israel als »unsere Väter« bezeichnet, und die Leser sollen zu der Sichtweise gelangen, die sie ihr Leben durch die Ereignisse in der Geschichte Israels kodiert sehen lässt. Genauso wie Israel in Versuchung war, das goldene Kalb zu verehren, stehen die Korinther in der Versuchung, in paganen Tempeln zu schlemmen. In beiden Fällen werden die, die den Herrn versuchen, den Zorn auf sich laden. Es ist nicht überraschend, dass der paulinische Lesefokus sich so stark auf die Beziehung des Alten Testaments zur Kirche konzentriert, denn die in den paulinischen Briefen kontroversen Fragen handeln von der Identität und der Praxis der Kirche. Es liegen keine Auseinandersetzungen um ZNT 14 (7.Jg. 2004) Richard B. Hays Schriftverständnis und lntertextualität bei Paulus Detail einer Paulusstatur von Jacob Cressant, 1740 christologische Lehren mit seinen Gemeinden vor. Wie Koch richtig bemerkt: »Fraglich war nicht die christologische Grundlage, strittig waren die Konsequenzen, die Paulus daraus in seiner Interpretation der dikaiosyne theou, in der Beurteilung des Gesetzes, in der Frage der Berufung der ethne, in der Eschatologie (lKor 15! ) oder für das Apostelamtes zog.« 9 Präzise an diesen Momenten, wenn Paulus auf solche strittigen Fragen kommt, orientiert er sich an schriftlichen Argumenten, deren Logik von seinen Lesern ein intertextuelles Vernetzen zwischen der Geschichte Israels und der Geschichte der entstehenden heidnischen Kirche erfordert. B. Christologische Auslegung der biblischen Schrift. Obgleich Paulus das Alte Testament für umfangreiche christologische Argumentationen nicht explizit benutzt, ist dennoch sein Verständnis der Bedeutung J esu Christi tief intertextuell, wie es sich in den Formulierungen des von ihm gepredigten Evangeliums zeigen lässt: »Denn als erstes habe ich euch weitergegeben, was ich auch empfangen habe: Dass Christus gestorben ist für unsere Sünden nach der Schrift; und dass er begraben worden ist; und dass er auferstanden ist am dritten Tage nach der Schrift; und dass er gesehen worden ist von Kephas, danach von den 59 1-l ermeneuti k und Verm it t lung Zwölfen« (lKor 1 ,3-5). Die Überzeu gung, dass Tod und Auferstehung Chris ti kata t as graphas (»nach der Schrift«) passierte, ist das Herzstück vom p aulinischen kerygma. Paulu s erläutert nicht, an welche Bibelstellen er denkt, aber diese Bekenntnisformulierung lädt die Hörer ein, die Bedeutung dies er weltverändernden Ereignisse zu interpretieren, inde sie im Lichte der Geschichte Israels gesehen werden. Als die relevc.nteste alttestamentliche Schrift für die Rede von Tod und Auferstehung Jesu Christi darf d er Psalter a gesehen werden, in welchem dem Geschick des leidenden Gerechten Ausdruck verliehen wird, der von G ott schließ_ich gerechtfertigt und erh ..ht wird. In lKor 15 selbst benutzt Paulus Anspielungen an Ps 110,1 und Ps 8,6, um den endgültigen eschatologischen Triumph Christi zu schildern (lKor 15,24-28). Woanders kann P aulus ohne Erklärung annehmen, d as s es Christus ist, der die sprechende Stimme ist, die im Psalter gehört wird (R ·· m 15,3, Zitat von Ps 69,9). Alle dies e Beobacht ngen füh ren zu dem Schluss, dass das Bild des L idens und der Rehabilitierung des Leidenden in den David zu ge schriebenen Psalmen einen ent cheidenden Schlüssel für das paulinische Vers tändnis vom Evangelium des gekreuzigten : W.: ess i as liefert. Die ser Vorschlag gewinnt zusätzlich an Stichhaltigkeit, wenn au ch beachtet wird, dass Paulus im Röm mindeste s zweimal Jesus al s Davididen identifiziert. Der Brief b eginnt mit einer Erklärung des Pa lus, dass er »ausgesondert« wurde »zu predigen das Evangelium G ottes, das er zuvor verheißen hat durch seine Propheten in der heiligen Schrift, die von seinem So hn Jesus C hristus handelt, unserm H errn, der geboren ist aus dem Geschlecht David s nach dem Fleis ch ... « (Röm 1,1 -3). 10 Am Sc luss der Argumentation des Briefes interpretiert P aulus das We rk Chris ti, ind em er Jes 11 ,10 zitiert: •>Und wiederum sp richt Jesaja: >Es wird kommen der Sproß au s der Wurz el lsais und wird aufstehen, um zu herrschen ü ber die Heiden; auf den werden die Heiden hoffen«< (Röm 15,12: vgl. Röm 15,9, Zitat von Ps 18,49, in dem Jesus wieder er implizite Sprecher ist). Diese me ssianische Metapho rik ist auch implizit in Paulu s' Darstellun g vo n Jesu als dem aus Zion kommende Errete r (Röm 11 ,26-27). D ie Darstellung J esu als c.avidischen Messias klammert die Argumentation des Römerbrie fe s ein und ford ert 60 den Leser auf, über die Sichtweise der Identität Jesu intertextuell nachzudenken, in der besonders die Psalmen Davids herangezogen werden. An anderen Stellen entwick elt Paulus eine Interpretation Jesu Christi in typologischer Antithese zu der biblischen Figu Adams (Röm 5,12- 21, lKor 15,20-23. 45-49). Er kann Christus ebenso als Passalamm (lKor 5,7), als Gnadenthron im Tempel ([hilasterion] Röm 3,25), als Stein des Anstoßes, der in Zion gelegt wurde (Röm 9,32-33 ), als »Erstling«, der Gott gegeben wurde (lKor 15,23), oder wie wir oben sahen, als Fels in der Wüste (lKor 10,4) sowie als der in der Verheißung Gottes an Abraham erwähnte »Samen/ Nachkommen« (Gal 3,16) darstellen. Diese Beispiele zeigen, dass Paulus das Alte Testament mit einer lebendigen metaphorischen lmagination 11 liest und oit der Erwartung, dass sich ein christolo gisches Zeugnis in vielen Teilen der Schrift finden lässt. Vielleicht gehört es zu den aufregendsten Entdeckungen, dass Paulus sich sogar die Sprache zu Eigen machen kann, die im AT allein als Gottesrede erscheint, um so die eschatologische Exaltation von Jesus als kyrios zu beschreiben: »jedes Kn ie sich beuge ... und jede Zunge b ekenne.<• (Phil 2,10-11, ein Echo vonJes 45,23). Obwol: l Paulus uns keine systematische von der Schrift aus entwickelte christologische Argumentation gibt, setzt er bei jedem Schritt voraus, dass die Identität J esu und die Bedeutung seines Todes unc: . Auferstehung in Beziehung zu Bildern, Typoi und Katagorien des Alten Testaments zu verstehen sei. Er lädt seine Leser zu einer imaginativen christologischen Interpretation der Schrift Israels angesichts der hermeneutisch umgestaltenden Ge~; chichte des Kreuzes und der Auferstehung ein. C. Das Zeugnis des Alten Testaments für die Rechtschaffenheit Gottes. Die paulinische Schriftauslegung legt eindringlich und überzeugend immer wieder dar, dass der Gott des Alten Testaments Verheissungen und Bundesschlüsse gab, die unvergänglich und zuverlässig sind, trotz aller menschlischer Untreue. Das ist das große Thema des Römerbriefs: »die Gerechtigkeit Gottes« die c.ls die Re: .: htscha : ff enheit des Gottes zu verstehen ist, der die Verheißungen des Bundes Israel gab und der gleichzeitig seine rettende Macht für die ganze Welt geoffenbart hat. 12 Diese Gerechtigkeit Gottes, obgleich sie jetzt ohne das Gesetz, son- ZNT 14 (7. Jg. 2004) dern durch Jesus Christus geoffenbart wird, ist »bezeugt durch das Gesetz und die Propheten« (Röm 3,21-22). Daher müht sich Paulus im Röm ab, immer wieder zu zeigen, dass Gott sein Volk nicht verlassen hat und das Wort Gottes weder hinfällig geworden ist noch sich als launenhaft erwiesen hat (z.B. Röm 3,1-8; 9,6; 11,1-6.25-36; 15,7-13). Das ist einer der Gründe für die Fülle alttestamentlicher Zitate und Anspielungen in diesem Brief. Die These, mit der der Brief beginnt (Röm 1, 16-17), ist reich an intertextuellen Echos, die die rettende Gerechtigkeit Gottes aufzeigen: »Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist die Kraft Gottes zum Heil für alle die glauben, die Juden zuerst und ebenso die Griechen. Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit Gottes, welche kommt aus Treue für Treue (ek pisteös eis pistin); wie geschrieben steht: ,Der Gerechte wird aus Treue (ek pisteös) leben.«< Das Zitat stammt aus Hab 2,4. Um Paulus' Erklärung zu verstehen, ist es jedoch ebenso wichtig, die starken Echos von vielen Schriftstellen des Psalter und Jesaja zu hören, die die Offenbarung der rettenden Kraft Gottes erklären. Z.B. ist an Ps 97,2 LXX zu denken: »Der Herr hat kundgetan sein Heil; vor den Augen der Nationen [ethnön] macht er seine Gerechtigkeit offenbar.« Dieselben Themen erscheinen in J es 51,4-5: »Mein Urteil wird als Licht zu den Nationen ( ethnön) hingehen. Meine Gerechtigkeit kommt schnell heran, und mein Heil wird als ein Licht hingehen, und auf meinen Arm werden die Nationen ( ethne") hoffen«. Was Paulus in Röm 1,16-17 ausspricht, ruft diese unüberbietbaren Erklärungen von der Treue Gottes und von seiner rettenden Macht zurück, um so zu versichern, dass der Gott des paulinischen Evangeliums derselbe Gott ist, dessen rettendes Wort in neuen und unerwarteten Weisen weiterhin ergeht. Die hier unterschwellig ertönenden Themen tauchen deutlich später im Brief auf, besonders in Röm 3,21-26, 9,27-23, 11,26-27 und 15,7-13. NILS DAHL nannte die Gotteslehre als »de[n] vernachlässigte[n] Faktor in der Theologie des Neuen Testaments.«! } Als Heidenmissionar ist Paulus davon überzeugt, dass das Verständnis von Gott keineswegs als gegeben angenommen werden kann. Paulus besteht darauf, dass die Identität des gepredigten Gottes erst durch ein aufmerksames Lesen der Schrift zu erkennen ist - ZNT 14 (7 . Jg. 2004) Richard B. Hay s S chriftver st ä ndnis und lntertextualität be i Paulus Miniaturmalerei: Apostel Paulus, 11. Jahrhundert d.h., durch eine intertextuelle Fusion der Geschichte Israels mit der Botschaft des Evangeliums. IV. Eine methodische Frage: Die Freiheit des Paulus als Leser Bei näherer Betrachtung paulinischer Benutzungsweise biblischer Schriften wird deutlich, dass Paulus diese Texte mit großer Freiheit las. Es ist schwierig, irgendeine festgelegte Methode zu erkennen, die seine Interpretation regelt. Stattdessen ist Paulus in der Welt der Schrift Israels ganz tief verwurzelt und es ist ihm ein Leichtes, auf die Elemente dieser Welt zu rekurrieren, um überraschende Metaphern in den Dienst an seiner Evangeliums-Verkündigung zu stellen. Seine Überzeugung, dass die Schrift Zeugnis für das Evangelium ablegt, bringt damit auch zum Ausdruck, dass dieselbe Schrift von bildlichem und anspielendem Charakter sein muss. Die alttestamentlichen Texte müssen als immenser Bereich verborgener Verheißung gelesen werden, und die Verheißung muss durch interpretative Strategien aufgedeckt werden, die das versteckte Wort zu verdeutlichen erlauben. 61 H ermeneuti k und Verm i ttlung Daher sind Paul s' intertextuelle Exkursionen notwendigerwei se revidierend. Er interessiert sich nicht für die urspr··ngliche Absicht der Autoren; stattdessen ist es sein Anliegen, die alttestamentlichen Texte d rc das Vexierglas des Evangeliums zu lesen un ihnen so neue Bedeutungen zukommen zu lass n, so dass sie in unvorhersehbaren Weisen zu der Kirche der paulinischen Zeit sprechen. Jene , die diese Texte noch in ihrem synagogalen Zu sa menhan g le sen, haben »eine Decke vor ihrem H erzen«. Erst, »wenn man sich zum Herrn wende t, wird die Decke w eggenommen« (2Kor 3,15-16). Diese Schriftstelle zeigt in beispielhafter Manier diesen Anspruch, denn sie ist ein lockeres Zitat von Ex 34,34. Daher wird das Wegnehmen der Decke genau durch ein schriftliches Zicat beschrieben, d as die Verwand lung aufführt, auf ie es hinweist: Der Berich im Pentateuch, in dem Mose die Decke wegnimmt, wird zu einem Beispiel für die hermeneutische Erläuterung der christlichen Les e r, die sich an den heiligen Geist we den und den Text mit neuen Augen lesen. 14 Wie diese Schriftstelle hervorhebt, ist Paulus nicht bloß ein spielerischer Dolmet scLer, der sich an Polyvalenzen v rgnüg t, und die Freiheit der Interp r etation um ihrer selbst willen hochhält. Im Ge genteil sind seine revidier enden Interp r etationen eine lo gische Auswirkung seiner apokalyptischen theologischen Überzeugungen, wie 1Kor 10,11 belegt: »Dies aber widerfuhr jenen typologisch (typikös). Es wurde aber geschrieben uns z ur Mahnung, auf die die Enden der Zeit en getroffen sind<,. Paulus ist überzeugt, dass er und seine Leser auf dem Schnittpunkt zwischen dem alten und dem n euen Ä on stehen, weshalb er behaupten kann, Aber dennoch sind inmitt~n von Paulus' freien und innovativen Interpretationen einige beständige Tendenzen zu erkennen. Erstens sind seine intertextuellen Verweise nicht gleichmäßig über den alttest.amentlichen Kano n verteilt; sie häufen sich an gewissen Stellen an. Die drei Bücher, die am häufigsten von Paulus zitiert werden, sind Gen, Ps und Jes, besonders Jes 40-55. Diese Vorliebe ist unschwer zu erklären. Die Zitate aus Gen konzentrieren sich auf die Figur Abrahams, dem ein e entscheidende Rolle in dem paulinischen Gedanken des ursprünglichen Empfängers der Verheißung Gottes zukommt, da die Verheißung der Beschneidung und dem Empfangen des Gesetzes vorausgeht. Die Psalmen nehmen in ihrer poetischen Sprache das Schicksal des gekreuzigten und gerechtfertigten Messias vorweg. Und Jesaja ist der Prophet, dessen Worte die eschatologische Mission z·.1 den Heiden vorwegnehmen, von der Paulus glrnbt, dass es seine Aufgabe sei, sie zu Ende zu führen. Zweitens, wie oben schon erwähnt, sind die meisten Zitate und Anspielu: igen des Paulus nicht isoliert. Sie setzen den Kontext voraus, aus dem sie genommen sind und erfordern, dass der Leser etwas vom Kontext zurückbringt, um die vollständige Intention dieser intertextuellen Vernetzung zu erfassen. Deshalb ist die Metalepsis (wie von Hollander ab gegrenzt) eine der charakteristischen rhetorischen Kunstgriffe des Paulus. 15 Die Leser können nur die paulinische intertextuelle hermeneutische Praxis nacl-_vollziehen, wenn sie selbst mit den von Paulus vorausgesetzten Erzählungen und Symbolen vertra ut sind. Oder anders gesagt: Für die Produktion und Rezeption der paulinischen Briefe in dem kulturellen Setting der Welt des frühen jüdischen dass die ganz e Geschich te Israels angesichts ieses apokalyptischen Zeitpunktes neu gelesen werden muss . Die Texte sind neu zu lesen, weil Gott durch das apokalyptische Ereignis des Todes und der Auferstehung Jesu, eine »neue Schöpfung« vor Augen geführt hat. Angesichts dieser »Die Leser können nur die Christentums ist eine »Enzyklopädie« anzunehmen, die sich aus den Traditionen der Schriften Israels speist. 16 paulinisch e intertextuel! e hermeneutische Praxis nach-vollziehen, wenn sie selbst mit den 'Von Paulus vorausgesetzten Erzählur.gen und Symbolen vertraut sind.« Drittens versteht Paulus die Schrift als ein lebendiges Wort m it der fortwirkenden Fähigkeit zu sprechen. Die Schrift verkündigte das Evanfundamentalen Wende erleben alle, die an das Evangelium glauben, eine Verwandlung der Imagelium dem Abraham voraus (Gal 3,8), und sie spricht zugleich zu den Galatern, um ihnen zu sagen, d2.ss sie die Missionare eines konkurrienden Evangeliums der Beschneigination. 62 ZNT 14 (7.Jg. 2004) dung hinausstoßen sollen (Gal 4,30). Die Schrift »sagt es denen, die unter dem Gesetz sind, damit allen der Mund gestopft werde und alle Welt vor Gott schuldig sei« (Röm 3,19). Und die Schrift spricht, um zu offenbaren, dass der eschatologi sche »Tag des Heils« ganz in der Nähe ist. Es ist genau diese Fähigkeit der Schrift, direkt zum Leser sprechen zu können, die die andauernde Freiheit und Flexibilität der paulinischen intertextuellen Interpretation garantiert. Und schließlich, gerade weil die Schrift zu den paulinischen Gemeinden weiter spricht, garantiert sie einen intertextuellen Dialog mit der kulturellen Enzyklopädie der heidnischen Leser. Zum Beispiel bringt Paulus die Erzählung von Israel in der Wüste in einen kritisch gesehenen Zusammenhang mit der Situation der Korinther, die unter dem Einfluss von alltäglicher kynischer und stoischer Philosophie sagen, panta moi exestin (»Alles ist mir erlaubt «, lKor 6,12, 10,23). Eine vollständige und umfassende Untersuchung der Intertextualität bei Paulus muss darüber nachdenken, wie die Briefe des Paulus Bedeutung aus der intertextuellen Verschmelzung von mindestens drei Faktoren generieren: ( 1) die Schriften Israels, (2) die Geschichte Jesu und andere frühchristlichen kerygmatischen und liturgischen Überlieferungen (z .B. Paulus' Bericht vom Abendmahl in lKor 11,17-34), und (3) die »Texte«, die die hellenistische kulturelle Welt gestalteten, in der seine Leser lebten und sich bewegten. V. Paulus als hermeneutisches Beispiel Die Untersuchung der lntertextualität in den Briefen des Paulus führt zur Frage, ob die paulinische Strategie ein Beipiel ist für unser eigenes Lesen der Schrift. Die Alternativen sind klar zu benennen: Einerseits die Aus - Richard B. Hays Schriftverständnis und lntertextualität bei Paulus Schrift Israels als grundlegend für das Leben der Kirche: »Für den christlichen Glauben ist das Alte Testament nicht mehr Offenbarung, wie es das für die Juden war und ist. Wer in der Kirche steht, für den ist die Geschichte Israels vergangen und abgetan .... Israels Geschichte ist nicht unsere Geschichte, und sofern Gott in jener Geschichte gnädig gewaltet hat, gilt diese Gnade nicht uns .... Die Ereignisse, die für Israel etwas sagten, Gottes Wort waren, sagen für uns nichts mehr. .. . Israels Geschichte ist für den christlichen Glauben nicht Offenbarungsgeschich- " te. « Historisch gesehen ist die Sichtweise von Origenes unter Christen weit verbreitet, aber die Ansicht Bultmanns - oder zumindest eine sanftere Variante davon ist in der Modeme einflussreich gewesen, besonders in den theologischen Ausbildungsstätten, die den Abstand zwischen der ursprünglichen historischen Bedeutung der alttestamentlichen Texte und den Interpretationsstrategien des Paulus schmerzhaft spürten. Die begeisterte christliche Interpretation des Alten Testaments bei Paulus erscheint historisch anachronistisch und in gewisser Weise anmaßend zu sein. Trotz dieser Schwierigkeiten möchte ich vorschlagen, dass Paulus einige unabkömmliche Instruktionen für die christliche Auslegung der biblischen Schrift erteilt. In meinem Buch »Echoes « vers uchte ich darzulegen, inwiefern paulinische Textauslegung ein lehrreiches hermeneutisches Vorbild liefert, 18 einige Hauptthesen in geraffter Form möchte ich zum Schluss erwähnen: 1.) Paulus entwickelt eine Schriftauslegung, die von einer Kontinuität des Gottes Israels und dem Gott, der sich in Jesus Christus geoffenbart hat, ausgeht. 2.) Paulus stellt eine Schriftauslegung vor, die die alttestamentliche Schrift sage von Origenes, Paulus sei der große »Lehrer der Heiden «, ein Lehrer, der »die von den Heiden versammelte Kirche lehrte, wie sie die Bücher des Gesetzes vers tehen sollen « (Predigten über Exodus 5.1). Anderseits finden wir »Paulus entwickelt eine Schriftauslegung, die von einer Kontinuität des Gottes Israels und dem Gott, der sich in Jesus als eine Geschichte der Erwählung und Verheißung versteht (nicht als ein Gesetzesbuch oder als Erzählung religiösen Strebens ). Christus geoff enbart hat, ausgeht.« 3.) Paulus weiß sich einer Schriftauslegung verpflichtet, die der Verkündigung dient (d.h ., das Alte Testament ist kein Buch der antiken Historie ohne Gegenwartsbezug); seine Auslebei Rudolf Buhmann eine komplette Verwerfung der paulinischen Strategie von der Aneignung der ZNT 14 (7 . Jg. 2004) 63 H ermeneuti k und Verm i ttlung gung ni mmt die Leser mit in diese Erzählungen hinein. 4.) Pau lus stellt eine Schriftau slegung vor, die sich bildlicher Freiheit verpflichtet we iß . Daher lädt die pau linische intertext ue lle Ausle gung u ns ein, d ie ganze Schrift eschatologisch zu interpretieren als bildliches Zeugnis fü : das Evangeli um J esu Ch risti . Alle, die sich auf den Pfaden theo lo gischen Den ·ens bewegen wo llen, müssen diese Einladung ernst nehmen. Anm erkungen 1 Übersetzt von Leroy Andrew Huizenga. 2 Siehe R.B. Hays , T e Conversion of the Imagination: 64 Scrip ture and Eschatology in 1 Corinthians, NTS 45 (1999), 391·412 . Vorschau auf Heft 15 (Themenheft »Mission«) ZNT aktuell: Thomas Schmeller, Überblick zu □ Thema » Mis sion im : -JT « Zum Th ema: Jürg en Zangenberg, Mission im Judentum und in der Antik e Wirlr ied Löl: r, Mission in der Alten Kirche w·erner Kahl, Wunder und Mis s ion in ethnologischer Perspektive Kontrovers e: Ri.c~-i tet sich der 1-I issionsauftr ag in Mt 28,19 auch an Israel ? Hubert Frankemölle vs. Florian Wilk Hermeneutik und Verm ittlung : R obert J ewett, Biblische Wurzeln des amerikanischen Messianismus Buchreport: J am es A. Kehlhoffer, Miracle and Mission. The Au thent: cation of Missionaries a nd Their : W: : essage in the Longer Ending of Mark (WUNT Reihe 2, 112), Tübingen 20J0. 3 A. von Harnack, Das Alte Testament in den Pauli· nischen Briefen u n d in den P.mlinischen Gemeinden, Sitzungsberichte der Preussischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse (1928), 124-141. Zitate von S. 137 und 5. 130. • E. Earl Ellis, Paul's Use of the Old Testament, Edinburgh 1957. 5 D.-A. Koch, Die Schrift als Zeuge des Evangeliums: Untersuc: 1.ungen zur Verwendung und zum Verständnis der Schrift bei Paulus (BHT 69), Tübingen 1986; und Ch.D . St: anley, Paul and the Language of Scripture: Citation Technique in the Pauline Epistles and Contemporary Literature (SNTSMS 69), Cambridge 1992. 6 R.B. Hays, Echoes of Scripture in the Letters of Paul, New Haven/ Lonclon 1989. 7 H. Hübner, Gottes Ich und Israel. Zum Schriftgebrauch des Paulcs in Römer 9-11 (FRLANT 136), Göttingen 1984; B.S.. Rosner, Paul, Scripture and Ethics : A Study of 1 Corimhians 5-7 (AGJU 22), Leiden 1994; J.R. Wagner, Heralds of the Good News: Isaiah and Paul »In Concert« in the Letter to the Romans (NovTSup 101), Leiden 2002 . 8 F. Wilk, Die Bedeutung des Jesajabuches für Paulus (FRLANT 179), Göttingen 1998. ' Koch, Schrift als Zeuge, 286. 10 Die Übersetzung dieser Verse ist strittig. Die meisten moderne: : i Übersetzungen verstehen die Präpositionalphrase »von seinem Sohn« als abhängig von »das Evangelium Gottes« (V: 1) . Die angemessenere Ü bersetzung des Griechischen ist jedoch die oben gegebene Übersetzung, in der die Phrase »von seinem Sohn« in Beziehung zu den Wön: ern steht, d: e ihr unmittelbar vorangehen (»i: : i der heiligen Schrift.« ). 11 Im Deutochen »Einbildungskraft«, »Vorstellungskraft« oder »Fantasie«. Die deutsche Sprache hat kein genaues Synonyrr. für dieses mehrdeuti 5e englische Wort. 12 Für eine Verteidigung dieser Interpretation der »Gerechtigkeit Gottes«, vgl. Hays, Echoes, 34-73. 13 N.A. Dahl, The Neglected Factor in New Testament Theology, in: N.A. Dahl, Jesus the Christ: The Historical Origi: : is of C hristological Doctrine, hg. v. D .H. Juel, Minneapolis 1991,153-163 . 14 Für eine umfassende Diskussic,n dieser Stelle, vgl. Hays, Echoes, 122-53. 15 J. Hollander, T he Figure of Echo: A Mode of Allusion in Mi! ton and After, Berkeley ~ 981. 16 Dieser Gebrauch des Terminus "Enzyklopädie« stammt von Umberto Eco . Für eine Anwendung in einem intertextuelle: : i Paradigma, vgl. S. Alkier, Intertextualität - Annäherungen an ein texttheoretisches Paradigma, in: D. Sänger (Hg.), Heiligkeit und Herrschaft: Intertextuelle Stud: en zu H eiligkeitsvorstellungen und zu Psalm 110 (BTh.3t 55), Neukirchen-Vluyn 2003, 1-26, hier: 21-26 . 17 R. Buhmann, Die Bedeutungs des Alten Tes taments für den christlichen Glauben, in: ders ., Glauben und Verstehen Bd. 1, Tübingen 1933, 313-336, hier: 333f. Eine englische Übersetzung liegt ebenfalls vor: The Significance of the o: d Testament for Christian Faith, in B.W. Anderson (Hg.), The Old Testament and Christian Faith, New York 1963, 8-35, hier: 31-32. 18 Vgl. Hays, Echoe~, 178-92. ZNT 14 (7. Jg. 2004)
